Linden Hills - Gloria Naylor - E-Book

Linden Hills E-Book

Gloria Naylor

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Beschreibung

Linden Hills – wer hier lebt, hat es geschafft. Elegante Häuser und perfekt gepflegte Rasen säumen die acht Ringstraßen, die sich den Hügel hinabwinden. Lester und sein bester Kumpel Willie, beide verflucht knapp bei Kasse, verabscheuen die noble Klientel, reinigen aber für ein paar Dollar ihre Auffahrten und Pools. Vorbei an glänzenden Fassaden und übertünchten Rissen arbeiten sie sich Straße für Straße den Hügel hinunter. Bis ganz nach unten, wo Luther Nedeed, das Epizentrum der Macht, ein finsteres Geheimnis hütet. Gloria Naylor enthüllt, wie die Menschen für den American Dream mit ihrer Seele bezahlen und wie das funkelnde Versprechen eines besseren Lebens in schneidende Niedertracht zersplittert.

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Über dieses Buch

Linden Hills – wer hier lebt, hat es geschafft. Lester und sein Kumpel Willie verabscheuen die noble Klientel, reinigen aber für ein paar Dollar ihre Auffahrten. Straße für Straße arbeiten sie sich den Hügel hinunter, bis ganz nach unten zum finsteren Luther Nedeed, wo das Versprechen eines besseren Lebens in schneidende Niedertracht zersplittert.

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Gloria Naylor (1950–2016), geboren in New York, studierte Anglistik und African-American Studies. Ihr vielschichtiges Werk kreist um das Leben Schwarzer, um ihre Kämpfe und Hoffnungen, in einer Welt, in der Weißsein alles bedeutet. Sie erhielt u. a. den National Book Award.

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Angelika Kaps (*1950 in Berlin) studierte Germanistik und Politologie, anschließend war sie u. a. als freie Film- und Literaturkritikerin tätig. Sie übersetzt aus dem Englischen, u. a. die Werke von Garrison Keillor, Gloria Naylor, Joanna Trollope und Tatiana de Rosnay. Kaps lebt in Berlin.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Gloria Naylor

Linden Hills

Roman

Aus dem Englischen von Angelika Kaps

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Originalausgabe erschien 1985 bei Ticknor and Fields, Boston.

Walt Whitman, »Wer du auch bist, der mich jetzt in Händen hält«, aus dem Englischen von Jürgen Brôcan, aus: Grasblätter, Carl Hanser Verlag, München 2009.

T. S. Eliot, »Gerontion«, aus dem Englischen von Eva Hesse, aus: Gesammelte Gedichte, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.

Lektorat: Patricia Reimann

Originaltitel: Linden Hills

© by Gloria Naylor 1985

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Max4e Photo (Alamy Stock Foto)

Umschlaggestaltung: Phillip Hailperin

ISBN 978-3-293-31131-2

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 23.09.2022, 01:50h

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LINDEN HILLS

19. Dezember20. Dezember21. Dezember22. Dezember23. Dezember24. Dezember

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Zum Thema USA

Für meine Eltern –

Roosevelt und Alberta Naylor

Großmama Tilson, ich fürchte mich vor der Hölle.

Da gibts nichts zu fürchten, kommt vor, die Hölle auf Erden.

Ich meine, die echte Hölle, wo man nach dem Tod hinkommen kann.

Du musst nicht sterben, um in die echte Hölle zu kommen.

Nein?

Ah-ah. Du musst nur den silbernen Spiegel verkaufen, den Gott in deine Seele gepflanzt hat.

An wen verkaufen – den Teufel?

Nah, nur an den höchsten Bieter, Junge. Den höchsten Bieter.

Jahrelang hatte es Streit über die genaue Lage von Linden Hills gegeben. Jeder, der irgendwie mit Wayne County verbunden war, hatte sich daran beteiligt: das US Postoffice, Volkszähler, Stadtvermesser, Immobilienmakler und die ganze Menagerie aus Schwarzen und Weißen, die seit einhundertsechzig Jahren an seinen Randzonen lebten. Die ursprüngliche Vermessung aus dem Jahr 1820, die Luther Nedeed in seinem Bankschließfach aufbewahrte, beschrieb es als ein v-förmiges Stück Land – dessen Grenzen von dem Bach aus, der Putney Waynes hoch gelegene Weideflächen säumte, entlang einem steilen, felsigen Abhang aus Dornengestrüpp und Lindenbäumen zweieinhalb Kilometer weit nach Süden verliefen –, bevor sie eine Kurve durch den städtischen Friedhof machten und in einem spitzen Winkel an der Straße vor Pattersons Apfelgarten endeten. Linden Hills war keine Hügelkette, es war nicht einmal ein kompletter Hügel, sondern bloß der wertlose nördliche Abhang eines fruchtbaren Plateaus. Aber es trug unbeirrt die Bezeichnung Linden Hills, während seine Grenzen über die Jahre hinweg schrumpften und sich ausdehnten und mal niemanden und dann praktisch jedermann in Wayne County einschlossen.

Niemals jedoch bestritt irgendjemand, dass die Nedeeds schon immer hier gelebt haben. Luthers Ururgroßvater hatte die gesamte Nordseite des Plateaus gekauft, die sich vom jetzigen First Crescent Drive bis hinunter zum Tupelo Drive erstreckte – bei dem es sich tatsächlich nur um die letzten drei der acht Ringstraßen handelte, die sich den Hügel hinunterwanden. Aber Luthers Ururgroßvater, der aus Tupelo, Mississippi, stammte, wo das Gerücht ging, er habe seine ein Achtel schwarze Frau und die sechs Kinder verkauft, sich mit dem Geld nach Norden aufgemacht und davon das Hügelland erworben, hatte diesen ganzen unteren Abschnitt Tupelo Drive genannt. Und damals juckte das die weißen Farmer nicht kein bisschen, wie er sagte, weil wenn irgendein verrückter Nigger harte Goldtaler für ein karges Stück Land hinlegen wollte, das nicht mehr hergab als ein paar Lindenbäume, die einem kaum ein Zehntel dessen einbrachten, was man für einen Klafter Eiche oder Birke bekäme – soll er doch. Und der ganze untere Teil des Geländes ist vom städtischen Friedhof gesäumt. Muss beschränkt sein – wer will denn Land neben einem Friedhof besitzen, noch dazu ein Darky, der, wie jeder weiß, sich bei Geistern und so was gleich vor Angst ins Hemd macht? Sie steckten Nedeeds Geld ein und lachten sich eins: Beim ersten Vollmond an Allerheiligen würden diese Geister aufmarschieren, und er würde angerannt kommen und darum betteln, dass sie das Land zurückkauften. Das heißt, falls er bis dahin nicht verhungert war. Konnte schlecht die Lindenbäume essen, und beim Herrn, er würde aus diesem Land kein Körnchen rausholen. Außer jede Menge Sand. Schenkel wurden geklopft, und Kehlen verschluckten sich an Kautabak. Jep, er würde jede Menge Sand rausholen bei dem Versuch, ein Fuhrwerk samt Mannschaft durch das Buschwerk zu manövrieren, um Vorräte ranzuschaffen.

Aber Nedeed versuchte gar nicht, Linden Hills zu bewirtschaften. Er baute eine Hütte mit zwei Zimmern am unteren Ende des Abhangs – genau in der Mitte –, deren Tür und Fenster zu dem steilen Hang hinaufblickten. Nachdem die Hütte fertig war, konnten sie ihn davor sitzen sehen, eine Stunde in der Morgendämmerung, am Mittag und in der Abenddämmerung, wobei sein dunkles Gesicht mit unbeweglicher Miene langsam zwischen den Grabsteinen, dem dichten Dornengestrüpp und dem hoch gelegenen, düsteren Waldstreifen hin und her wanderte. So saß er dort sieben Tage lang – seine schweren, geschwollenen Lider hoben, senkten und verengten sich über Augen, die präzise die Tiefe und Länge des Lichts zu messen schienen, das die Sonne seinem Keilstück der Welt zuteilwerden ließ.

»Schätze, er versucht, mit Wunschdenken sein tägliches Brot aus dem Land zu holen.« Aber ihr Triumph wich bald einer Ratlosigkeit, als sie Nedeed dabei beobachteten, wie er den Lauf der Sonne beobachtete. Niemand gab zu, dass ihnen der Mut fehlte, einfach hinüberzugehen und ihn zu fragen, was er da tat. Es war etwas an Luther Nedeeds kleinem, gedrungenem Körper, was diese Männer davon abhielt, ihn wie einen Nigger zu behandeln – und etwas in seinen Augen, das sie umgehend davon abhielt, dieses Wort auch nur zu denken. Es hieß, seine vorstehenden Augen könnten beliebig die Farbe wechseln, und im Laufe seines Lebens wurde ihnen jede Farbe zugeschrieben außer Rot. Tatsächlich waren sie dunkelbraun – ein monotones Braun –, aber da niemand den Mut aufbrachte, sein Gesicht mit mehr als nur einem flüchtigen Blick zu streifen, denn diese riesigen, unergründlichen Kugeln konnten die verborgensten Gedanken ihres Gegenübers durchdringen, blickten schwarze Männer auf seine Füße oder Hände, und weiße Männer schauten über seine Schulter hinweg zum Horizont.

Als die Sonne am siebten Tag seiner Wache unterging, schloss Luther Nedeed langsam die Augen und lächelte. Patterson sagte, er habe seine Äpfel vom Feld geholt, und als er Nedeed da sitzen und wie eine dieser heidnischen, ägyptischen Mumien grinsen sah, habe er sich vor Schreck fast in die Hose gemacht, und zu Hause angekommen, seien alle Scheffel zu Nedeeds Straßenseite hin von Würmern befallen gewesen. Damit rechtfertigte er den zwei Meter fünfzig hohen Zaun, den er an der Nordseite seines Apfelgartens errichtete. Es wäre der Wahrheit wahrscheinlich nähergekommen, wenn er zugegeben hätte, dass er einfach den Anblick der ganzen Leichen nicht ertragen konnte, die Nedeed in seinen Hof schleppte. Denn einen Tag nach dem von Patterson beklagten angeblichen Wurmbefall zog Nedeed los und kaufte ein Pferdegespann, einen kastenförmigen Karren und gründete ein Bestattungsunternehmen im hinteren Raum seiner Hütte. Wegen der Nähe zum städtischen Friedhof hatten die Pferde und der Leichenwagen wenig Umstände, und Nedeed wusste, dass man sich im Norden, anders als im Süden, nicht darum scherte, wenn Schwarze und Weiße zusammen beerdigt wurden, solange sie nicht zusammen lebten. Entsetzt von den Berichten über die Missstände jenseits der Mason-Dixon-Linie und der dortigen Parole, »nur ein toter Nigger ist ein guter Nigger«, gab Wayne County bekannt, dass jeder seiner schwarzen Brüder, der gut und tot war, gerne ein christliches Begräbnis neben einer weißen Person bekomme – dienstags, donnerstags und samstags, an den für Schwarze bestimmten Bestattungstagen.

Dann baute Nedeed Hütten auf dem oberen Teil des Hügels, der sich vom jetzigen First Crescent Drive bis hinunter zum Fifth Crescent Drive erstreckt, und vermietete sie an ortsansässige Schwarze, die zu arm waren, um Landwirtschaft zu betreiben, und ihren Unterhalt in den Sägemühlen oder in der Teergrube verdienten. Er wollte auch Hütten entlang des Tupelo Drive vermieten, aber neben dem Friedhof mochte niemand wohnen. Es war schlimm genug, so arm dran zu sein und in den Hills leben zu müssen, aber sie mussten nicht auch noch in der Nähe von diesem sonderlichen Nedeed neben einem Totenacker leben. Meldungen, jemand sei in die Hills gezogen, ernteten stets heftigen Protest: Sie lebten oberhalb von Linden Hills; nur Nedeed lebte unten in Linden Hills. Und der weiße Farmer, dem das Weideland oberhalb des Bachs auf dem Hügelkamm gehörte, wehrte sich vehement gegen jede Behauptung, er habe Land in Linden Hills: Das war Neger-Land, und er besaß dort keinen einzigen Grashalm; er befand sich jenseits von Linden Hills.

Die Tatsache, dass niemand mit seinem Land in Verbindung gebracht werden wollte, kümmerte Luther Nedeed nicht. Sein Geschäft blühte, das lag in der Natur der Sache. Und nach einigen Jahren war er in der Lage, ein großes weißes Schindelhaus mit umlaufender Veranda und einer solide gemauerten Leichenhalle im Keller zu bauen. Im Frühjahr 1837 verschwand er für eine Weile und brachte dann eine Ehefrau mit nach Hause, die ein Achtel schwarz war. Es ging das Gerücht, er habe unten in Mississippi die Frau zurückgekauft, die er seinerzeit einem Cajun-Gastwirt abgetreten hatte. Aber das Mädchen, das nun den Haushalt des Bestatters führte, konnte nicht älter als zwanzig sein, und zu der Zeit besaß Nedeed Linden Hills schon seit beinahe siebzehn Jahren. Sie gebar ihm im darauffolgenden Jahr einen Sohn – klein, gedrungen, dunkel und mit unbeweglicher Miene schon von Geburt an. Er wuchs auf mit dem Vornamen, der breiten Brust und den krummen Beinen seines Vaters. Großer Frosch und kleiner Frosch, tuschelte die Stadt hinter ihrem Rücken.

Luther hinterließ das Land und das Geschäft seinem einzigen Sohn, und alle wetteten darauf, dass der es verkaufen würde, noch bevor sein alter Herr kalt war, denn der kleine Luther war auf eins dieser noblen Internate geschickt worden und hatte bestimmt mehr Verstand als der verrückte alte Luther – er würde nicht an diesem wertlosen Hügel festhalten. Aber der Sohn kehrte zu dem Land und dem Bestattungsunternehmen zurück und ertrug es mit Fassung, wenn er wegen dem Besitz seines Vaters die Hucke vollkriegte. Nachdem der alte Luther 1879 gestorben war, schien es beinahe, als wäre er gar nicht gestorben, vor allem, wenn sie mit seinem Sohn sprachen, und erst recht, wenn sie diese dicken Lider sahen und den Blick in diese unergründlichen Augen mieden. Auch er brachte eine ein Achtel schwarze Frau nach Hause, die ihm nur einen Sohn schenkte – einen weiteren Luther Nedeed.

Alles blieb unverändert in dem weißen Schindelhaus am Fuße von Linden Hills. Es gab eine nächste Generation großer Frosch und kleiner Frosch, die jeden Ersten des Monats durch die Hills zogen und die Miete einsammelten. Was sich langsam veränderte – sehr langsam –, war das Gesicht von Wayne County. Farmen verschwanden, und kleine Ortschaften entstanden auf ehemaligen Feldern und Obsthainen. Putney Waynes Sohn hatte ein Viertel seines Weidelands an eine Schuhfabrik verkauft, und rußige Asche wehte über das ganze Feld, setzte sich in der Schafwolle fest und färbte das Gras bläulich grau. Aus diesem Grund hielt Waynes Enkel den Preis, den ihm ein walisischer Bauunternehmer für das Land bot, für ein Wunder, schnappte sich das Geld und fuhr mit der wundersamen Geschwindigkeit von fünfundfünfzig Stundenkilometern auf der neuen Eisenbahnstrecke nach New York und kehrte nie wieder zurück. Der zweitreichste Mann in Wayne County kaufte sich ein Curved Dash Oldsmobile und verkündete stolz, dass er jetzt die Stärke von drei Pferden habe, aber nur ein Zehntel der Haferkosten für deren Fütterung aufbringen müsse.

Doch der reichste Mann in Wayne County saß am Fuß von Linden Hills und beförderte noch immer Holzsärge mit Pferd und Karren auf den Friedhof. Der Sohn des alten Luther hatte sich Unterlagen aus England von einem neuen Automobil-Unternehmen namens Rolls-Royce kommen lassen, das bereit war, eigens für ihn einen Leichenwagen als Sonderanfertigung zu bauen, mit einem Armaturenbrett aus Mahagoni und echten Silbergriffen. Er verschloss die Unterlagen in seinem Schreibtisch, ging zum zweitreichsten Mann und kaufte dessen Cleveland-Bays-Gespann zu einem unglaublich niedrigen Preis. Nedeed wusste, dass er warten musste, bis selbst die allerärmste weiße Familie in Wayne County ein Automobil besaß, bevor Schwarze – und seien sie noch so tot – in Mahagoni und Silber fahren durften.

Dem Sohn des alten Luther gelang es schließlich, Hütten entlang des Tupelo Drive zu vermieten. Diese Mieter schien es nicht zu stören, von einem Friedhof eingekesselt zu sein. Es hieß, sie seien alle einst Mörder, Medizinmänner und falsche Prediger gewesen, die man aus dem Süden vertrieben hatte, und die das kurze Gedächtnis der Toten und die langen Schatten der Linden für ihre zwielichtigen Machenschaften gut gebrauchen konnten. Nedeed war es egal, womit sie ihre Miete bezahlten, solange er sie pünktlich am Ersten des Monats bekam. Als ein Gebiet von zwei Hektar um sein Beerdigungsinstitut herum besiedelt war, legte er einen künstlichen See an (eigentlich einen Burggraben), der in einer Breite von achtzehn Metern sein Haus und Grundstück umgab. Er füllte ihn mit Sumpfgräsern, Welsen und Enten. Nun befand sich der einzige Zugang zu seinem Haus an der Rückseite über eine Zugbrücke aus Backstein und Holz, und obwohl sie immer heruntergelassen war, empfanden die Nachbarn den Anblick der Flaschenzüge an der Brücke als unmittelbare Kränkung. Schien wohl zeigen zu wollen, dass er sich für was Besseres hielt als andere Leute – ja, schien sich von dem Abschaum absondern zu wollen. Jedermann wusste doch, dass er diese ganzen schicken Anbauten an seinem Haus – zusätzliche Räume und ein zweites Stockwerk – nur hatte machen können, weil er vor Jahren Waffenschmuggler in den Südstaaten finanziert hatte. Ein Nigger, der mit Rebellen sympathisiert und jetzt den großen Mann markiert mit seinem verdammten Geld. Sie nannten den See insgeheim Warzenweiher – absolut passend für den Ort, wo er mit seinem froschäugigen Sohn hockte.

Aber sie zahlten ihm weiterhin Miete und ließen ihn ihre Toten beerdigen. Und während die Gesichter auf dem Hügel wechselten und aus der alten Stadt mit der Bebauung des letzten Ackerlandes eine junge Stadt wurde, saß Nedeed auf seiner Veranda-Schaukel und sah dem immer gleichen Lauf der Sonne über seiner Welt zu. Er dachte an seinen Vater und war dankbar, dass dieser lange genug gelebt hatte, um zu sehen, wie sich seine Worte praktisch in die karge Landschaft des Countys gemeißelt hatten: Lass sie denken, was sie wollen; lass sie sagen, was sie wollen – schwarz oder weiß. Sitz einfach nur hier, und sie machen dich zu einem reichen Mann mit den beiden Dingen, um die sie nicht herumkommen: leben und sterben. Nedeed beobachtete die Sonne, das zwanzigste Jahrhundert, und den Wert seines unfruchtbaren Hügels, der so langsam und unabwendbar aufstieg wie das letzte Lachen aus dem Grab eines toten Mannes.

Die junge Gemeindeverwaltung zeigte bald Interesse an Linden Hills und hätte es Alt-Luthers Sohn, der inzwischen selbst sehr alt war, gerne abgekauft. Als er sich weigerte, verschaffte das Archivstöberern, Stadtvermessern und öffentlichen Bausachverständigen über Monate hinweg Arbeit. Die Lage von Linden Hills rechtfertigte keine Enteignung zwecks Errichtung einer Brücke, eines Tunnels oder irgendwelcher anderen »gemeinnützigen Bauwerke«. Nedeed sagte den Sachverständigen, wenn sie ihm einen Entwurf für irgendein kommunales Projekt vorlegen könnten, würde er ihnen das Land schenken – Wurzel bis Baumkrone. Setzten sie aber einen einzigen Backstein auf sein Land für irgendein aufgeblasenes privates Bauprojekt, dann – er deutete mit einem knorrigen Finger auf den gedrungenen Amtskappel neben ihm – würde er persönlich Wayne County den ganzen Weg bis vor den Supreme Court zerren. Die Archivstöberer und Vermesser wurden daraufhin losgeschickt, um vergessene Bundesgesetze und verblassende Urkunden auszugraben und irgendeine Klausel zu finden, die Nedeeds Anspruch auf die Hills entweder ungültig machte oder einschränkte. Schließlich stieß ein ehrgeiziger junger Anwalt auf eine Verordnung aus dem siebzehnten Jahrhundert, die es Negern verbot, Eigentum an Grund und Boden in Wayne County zu besitzen, zu verpachten oder zu übertragen – bedauerlicherweise untersagte dasselbe Gesetz es Hebräern, Katholiken und Teufelsanbetern, ein öffentliches Amt zu bekleiden. Bürgermeister Kilpatrick berief eine Dringlichkeitssitzung des Stadtrates ein, und sie votierten mit sechs zu null Stimmen für die Annullierung dieses Gesetzes. Der Bürgermeister bedankte sich, dass sie der Einberufung so kurzfristig gefolgt waren; dann, nachdem er dem jungen Anwalt dringend angeraten hatte, sich außerhalb von Wayne County nach Arbeit umzusehen, beschloss er, die Angelegenheit von Linden Hills auf sich beruhen zu lassen.

Nachdem Nedeed gesehen hatte, wie energisch die Regierung und die Bauunternehmer hinter seinem Land her waren, beschloss er, sicherzustellen, dass sie es nie in die Finger kriegen würden. Zusammen mit seinem Sohn lief er den ganzen Hügel ab, angefangen am First Crescent Drive bis hinunter zum Fifth Crescent Drive, und verkaufte das Land für praktisch nichts an die Schwarzen, die in den Hütten hier lebten. Er verpachtete es ihnen für tausend Jahre und einen Tag – mit der einzigen Bedingung, dass sie es an ihre Kinder weitergaben. Und wenn sie es verkaufen wollten, mussten sie es an eine andere schwarze Familie verkaufen, oder die Eigentumsrechte würden wieder an die Nedeeds zurückfallen. Und wie es schien, würde es immer Nedeeds geben, denn die hellhäutige Frau seines Sohnes war hochschwanger. Es überraschte niemanden, als sie einen Jungen gebar, der das Aussehen, die vorstehenden Augen und den Vornamen seines Vaters hatte – inzwischen entsprach das den Erwartungen.

Nedeed gab dieselbe Tausend-Jahre-und-einen-Tag-Pacht den Mietern entlang dem Tupelo Drive, aber ihretwegen musste er sich keine Sorgen machen. Sie konnten nicht weg, weil nur er sie auf seinem Land duldete. Linden Hills wunderte sich über Nedeeds Verhalten. Wieso war er so nett zu den Schwarzen, wo doch sein Daddy ein Sklavenhändler gewesen war und er selber Waffen an die Konföderierten verkauft hatte? Wollte wahrscheinlich an seinen Leuten etwas wiedergutmachen, bevor der Herr ihn zu sich rief. »Gott segne dich«, hauchte eine alte Frau über ihrem Pachtvertrag. Möge er dich segnen – du wirst es brauchen, dachte Nedeed, während er sich ausdruckslos abwandte.

Wie sein Vater erkannte er, wie die Zukunft Wayne Countys – die Zukunft Amerikas – aussehen würde. Sie würde weiß sein; weißes Geld, das Kriege für weiße Macht unterstützte, weil die Erde selbst weiß war – sieh doch nur – weißes Gold, weißes Silber, weiße Kohle, die weiße Eisenbahnen und Dampfschiffe befeuerte, weißes Öl, das weiße Automobile antrieb. Unter der Erde – auf der Erde – und eines Tages über der Erde. Ja, der Himmel selbst würde weiß sein. Er wusste nicht genau, wie, aber es war der einzige Ort, wo sie noch hinkonnten. Und wenn sie dort ankamen, dann würden sie keine Schwarzen mitnehmen – warum sollten sie auch? Diese Leute, seine Leute, waren immer aus dem Tritt, einen Schritt zurück oder einen Schritt voraus, jammerten und klagten noch immer über die Sklaverei, hängten Porträts von Abraham Lincoln in ihren elenden Hütten auf. Sie konnten nichts machen, weil sie Sklaven waren oder im Himmel sein würden. Sie beteten und sangen zu einer Macht jenseits des Himmels – »Gott segne dich« –, schlag deine verdammte Bibel auf, Frau, und du wirst sehen, dass sogar die Bilder deines Gottes weiß sind. Ja, bitte, versuche nur weiter, deinen Frieden mit diesem weißen Gott zu machen, klage nur weiter und gib den Nedeeds weiter einen halben Jahreslohn, um einen Haufen verrottendes Fleisch stilgerecht gen Himmel zu schicken, anstatt das Geld in Anleihen oder in ein Stück Land zu stecken oder es für eineinhalb Prozent Zinsen auf die Bank zu bringen. Ja, schließe deinen Frieden mit dem weißen Gott, der jenseits des Himmels wohnt – er für seinen Teil würde Geschäfte mit dem weißen Gott machen, dem dieser Himmel eines Tages gehören würde. Und du und deinesgleichen werdet ihm dabei helfen. 

Sicher, sie hielten ihn für einen Narren – kein Wunder, wenn man sich diese Narren ansah, die er als seinesgleichen bezeichnen musste. Wenn sie über sie lachten, lachten sie über ihn. Nun, er würde es ihnen zeigen. Dieses Stück Erde gehörte ihm – er konnte vielleicht kein Herrscher, aber er konnte ganz sicher ein Spielverderber sein. Er konnte das Haar in ihrer Suppe sein, ein Fleck auf dem gebleichten Laken, und mit seiner Vision von Linden Hills würde er das beweisen. Er hatte seinen Leuten etwas vom teuersten Grundbesitz im County überlassen. Das Land gehörte ihnen für ein Jahrtausend. Nun lass sie darauf hocken und das tun, was sie am besten können: die Kohle eines anderen Mannes ausgraben, das Haus eines anderen Mannes putzen, das Baby eines anderen Menschen wiegen. Und lass sie genug Rechnen lernen, um die monatliche Versicherung zu bezahlen, denn sie konnten schon genug lesen, um zu glauben, dass der Himmel noch immer wartete, während sie gerade genug schreiben konnten, um diese Versicherungsprämien auf ihn zu übertragen. Als er seine dicken Lider schloss, baute sich vor seinem geistigen Auge eine letzte Vision auf, das Bild von Wayne County, deren Bewohner gezwungen waren, an Linden Hills vorbeizufahren, wo ihnen die Mägde, Mamis und Maultiere zuwinkten, die den Preis all ihres Schweißes seinem Land und seinen Händen darbrachten. Eine Ladung Spucke – eine wundervolle schwarze Ladung Spucke mitten in das weiße Auge Amerikas.

Aber Nedeed hatte nicht die Große Depression vorhergesehen, die sein Enkel erleben musste. Diese Jahre brachten den Einzug einer weiteren hellhäutigen Braut in das Schindelhaus, den Bau einer gesonderten Begräbnishalle und Kapelle, eine Dreiergarage und die ersten vollautomatisierten Leichenwagen. Außerdem brachten sie eine Welle an Gerüchten, dass Nedeed deshalb so gut durchkam, weil er einen Tag vor dem Schwarzen Freitag seine gesamten Aktien und Anleihen verkauft hatte und sein Geld in einem Sarg aufbewahrte, wo es wuchs wie die Zehennägel eines toten Mannes, weil er es mit von Babygräbern abgesammeltem Staub berieselte.

Luther Nedeed kümmerte es nicht, was Linden Hills über die Herkunft seines Geldes dachte, aber er überlegte mehrere Jahre lang, wo es hingehen sollte. Als er Amerikas Nervenzusammenbruch in den Dreißigern beobachtete, erkannte er, dass nichts der fixen Idee und Identität des Landes so nahekam wie der Erfolg. Nun erfuhr er aus der Sonntagszeitung, was die Sonne seinen toten Vätern über den Zyklus der Menschen erzählt hatte: Das Leben steckt im Materiellen – in allem, was hoch, weit, tief ist. Erfolg bedeutet die Steigerung von alldem. Und der Tod sieht zu, wie jemand anderer all das bekommt. Der Traum seines Großvaters konnte noch immer wirklich werden – die Tatsache, dass ihnen dieses Land gehörte, war eine lästige Blase für die Gemeinde, aber um sie eitern und aufplatzen zu lassen, musste Linden Hills ein Schaukasten werden. Er musste es in ein Juwel verwandeln – ein Ebenholz-Juwel, das die Seele von Wayne County widerspiegelte, aber schwarz widerspiegelte. Lasst sie den Marmor und Backstein sehen, das Rasante und Elegante, ja, und all diese Brocken von Macht, für die sie ihre Söhne in Uniformen steckten und in den Tod schickten, zehnfach vergrößert und strahlend hell – so hell, dass sie ins Träumen gerieten von dunklen Königen mit dunklen Beratern, die dunkle Armeen anführten gegen die weißen Götter und eine Vergeltung übten, die vielleicht nicht gerecht, aber längst überfällig war. Ja, eine Helligkeit, die sie in schrecklichen Wachträumen erkennen ließen, zu was die Nedeeds fähig waren. Und die Narren würden niemals merken – er blickte hinunter zu seinem Sohn, der mit einem Spielzeugdrachen spielte –, dass es nichts weiter war als Licht von einem Hügel voller Marionetten.

Es würde kein Problem sein, seine Vision zu finanzieren. Es bedurfte genau dreier Telefonanrufe und eines Briefes, um die behördliche Genehmigung zu erhalten, die die neue Tupelo-Grundstücksgesellschaft brauchte, um private Projekte zu finanzieren, zu bauen und zu verkaufen. Nedeed zweifelte nie daran, dass er in der Lage war, die Häuser zu bauen; das eigentliche Problem war zu entscheiden, wer in Linden Hills sie besitzen sollte. Das konnte er nicht seinen Anwälten überlassen, daher besuchte er zusammen mit seinem Sohn sämtliche Hütten auf dem Hügel und sprach mit seinen Mietern. Er lief durch Linden Hills, wie es einmal sein würde – über sanft gewundene Straßen, gepflegte Mittelstreifen und ansteigende Wiesen. Er stand unter Fassaden im Stil von Schweizer Chalets, British Tudor und Georgian-Townhouses, umgeben von überwucherten Lauben voller Prachtwinden, Glyzinien und Geißblattranken. Mimosenbäume säumten die Auffahrten, im Schatten von Ulmen und Tulpeneichen standen Pavillons, und Lavendel und Ringelblumen umrahmten die Sockel von Marmorbrunnen und Volieren. Bedächtig durchschritt er seine Vision, wissend, dass er mit äußerster Vorsicht jeden aussortieren musste, der drohte, eine Saat aufgehen zu lassen, die seiner Gemeinde das Licht rauben würde. Und leere Kelche ließen das meiste Licht durch, dachte Nedeed, als er anfing, an die Türen entlang dem Tupelo Drive zu klopfen.

Er begann bei denjenigen, die den größten Eifer aufbringen würden, um mit ihm die Zukunft von Linden Hills zu gestalten. Die Kinder der Schmarotzer und Ausgestoßenen aus dem Süden, die nur von den Toten jenseits ihrer Häuser willkommen geheißen wurden, wünschten sich nichts mehr, als zu vergessen und ihre Vergangenheit vergessen zu machen. Manche hatten bereits mit dem stattlichen Einkommen ihrer Familien Holzhäuser auf ihrem Land gebaut und die gepflegten Gärten vor und hinter dem Haus mit Drahtzäunen umgeben. Abgesehen von dem Geld, das sie von ihren Eltern bekommen hatten, wussten sie nichts anzufangen mit dem getrübten Erbe aus Weihrauch, Blut und gebranntem Alkohol, aus dem die Wände gebaut waren, die sie unentwegt weißelten und übertünchten, als würden sie Flecken entfernen. Ja, sie würden bereitwillig mit jedem Dollar gleichziehen, den die Tupelo-Grundstücksgesellschaft in den Aufbau ihrer Gemeinde investierte, damit ihre Kinder einst stolz darauf sein könnten. Damit ihre Enkel später gerne an Linden Hills zurückdachten. Sollte ihr Weg sie wieder hierher zurückführen, dann zu dem Ort aus Marmor und Backstein, den sie mit der Hilfe dieses Mannes errichten würden. Starke, solide Mauern und schwere, marmorne Treppen – die besten in der neuen Gemeinde –, solide genug, eindrucksvoll genug, um alles Nachdenken über ihre Anfänge hier für immer zu begraben. Die Tupelo-Grundstücksgesellschaft bot ihnen diese Chance, und ihrer zu gedenken, war ein kleiner Preis dafür.

Nedeeds Arbeit am Tupelo Drive war schnell getan, aber oben am Hang musste er behutsamer vorgehen. Die meisten Menschen hier waren stolz auf jeden lausigen, vom Schweiß ihrer Eltern noch feuchten Cent, den sie in ihre Tausend-Jahre-und-einen-Tag-Pachtverträge investiert hatten. Die gestrichenen Wände, die angebauten Schlafzimmer und ungepflasterten, geharkten Höfe waren die Arbeit von Menschen, die die Hoffnung hegten, auf ihrer Vergangenheit aufzubauen, nicht über sie hinweg. Eben diese Narren würden den meisten Schaden anrichten, wenn er sie bleiben ließe. Etliche da oben hatten in dem Glauben Wurzeln geschlagen, Afrika könnte mehr als ein Wort sein; die Sklaverei sei überwunden, Erlösung liege in Jesus und Heil im Blues. Sicher, Nedeed könnte ihnen sagen, dass man echten Fortschritt in weißen Großbuchstaben schrieb, aber ihre Eltern hatten nie Lesen gelernt, und doch saßen sie hier als der lebende Beweis dafür, dass man trotzdem durchkommen konnte. Nein, Menschen wie sie blickten ein Jahrtausend zurück, und könnten sie ein Jahrtausend in Linden Hills hocken, würden sie Kinder produzieren, deren Traum eine echte Schwarze Macht wäre, die sich über die Nedeeds hinweg ausbreiten würde; Kinder, die versuchen würden, dieses Stück Erde in eine Waffe gegen den weißen Gott zu verwandeln. Er würde keine Hitzköpfe wie diesen Sklavenaufständler Nat Turner oder einen politischen Aufwiegler wie Marcus Garvey in Linden Hills fördern – das würde sie alle nur wieder zurück in den Staub werfen.

Er wusste, wie er dem Einhalt gebieten konnte, bevor es begann. Selbst ein Kelch mit der dunkelsten Flüssigkeit ließ Licht hindurch – wenn sie genug verdünnt war, dachte Nedeed, während er sich und seinen Sohn sorgfältig für ihren Besuch im restlichen Linden Hills ankleidete. Als er seine polierten Wingtip-Schuhe auf ihre durchgesackten Eingangsveranden setzte, beobachtete er sie beim Begutachten der scharfen Falten seines Leinenanzugs, beim Zählen der Glieder seiner goldenen Uhrkette und beim Abschätzen der Qualität der Gabardine-Knickerbocker seines Sohnes. Er merkte sich, wessen Augen mit Respekt und nicht Argwohn zu seinem dunklen Gesicht zurückkehrten, und wählte still diejenigen aus, die unter einem Vorwand ihre spielenden Kinder von der Straße oder aus dem Haus holten, damit sie ruhig danebenstehen und zuhören konnten, während er über alles redete, vom Wetter bis zu den Seifenpreisen. Ihnen konnte er nun gefahrlos von der Tupelo-Grundstücksgesellschaft erzählen mit ihren Niedrigzins-Hypothekendarlehen und Stipendienfonds für die Fisk- und Howard-Universitäten, denn er wusste, sie riefen ihre Kinder herbei, damit sie einem Zauberer zusahen: Kommt her, seht und lauscht, und vielleicht werdet ihr lernen, aus der Erinnerung an eure Eisenketten Goldketten zu schmieden. Die Baumwollfelder, die euren Großeltern das Kreuz gebrochen haben, können eures mit Gabardine einkleiden. Seht her, der Weg zur Erlösung kann mit Lederschuhen beschritten und in leinenen Chorroben besungen werden. Nedeed musste beinahe lächeln über ihre Einfalt. Ja, sie würden ihre Vergangenheit investieren und ihre Kinder bei der Zukunft von Linden Hills in die Lehre geben, wobei sie vergaßen, dass die größte Kunst eines Zauberers nicht darin besteht, Dinge zu verwandeln, sondern sie verschwinden zu lassen. 

Nedeed entledigte sich der unerwünschten Mieter, indem er ihnen ihre Pachtverträge abkaufte oder abluchste. Es gelang ihm schließlich, den größten Teil des oberen Hanges freizukriegen, doch am First Crescent Drive angekommen, bekam er ein Problem mit Grandma Tilson.

»War früher oft angeln mit deim Daddy unten im Teich, Luther, und er hat mir das Land hier gegebn, und ich gebs nich wieder her. Also schaff deine froschäugige Wenigkeit mitsamt deim froschäugigen Sohn von hier weg. Kenn die üblen Tricks von dir – von euch allen. Und wenn du vorhast, mein Haus abzubrennen mit mir zufällig grade drin, hab ich die Urkunde unds Testament beim Gericht hinterlegt. Dein Daddy war kein Dummkopf nich, und iss auch mit keim Dummkopf nich angeln gegangen.«

Mamie Tilsons erwachsene Kinder hatten sie noch nicht zur Großmutter gemacht, aber sie trug diesen Spitznamen schon seit Jugendzeiten, weil sie mit einem alten Gesicht in der Farbe geölten Käseleinens zur Welt gekommen war. Ihre helle Haut erlaubte es den Menschen, den festen Charakter dahinter zu erkennen. Sie hatte nie Probleme, einen Nedeed niederzustarren, denn ihr gefiel, was sie in deren unergründlichen Augen über sich lesen konnte. Als daher Nedeed seinen Fuß auf die oberste Stufe ihrer Veranda setzte und mit leisem Flüstern fragte, ob sie ihre Position noch einmal überdenken wolle, hielt sie einen Moment inne und schickte dann eine Ladung Tabakspucke neben seine Wingtips. Das besagte, dass sie ihre Position noch einmal überdacht hatte und hoffte, er habe ihre Antwort endlich verstanden.

Nedeed nahm die Hand seines Sohnes und verließ ihr Grundstück. Sollte die hasserfüllte alte Hexe doch hier hocken bleiben und verrotten. Eines Tages würde sie sterben und sein Sohn dann mit ihren Kindern verhandeln. Die Tupelo-Grundstücksgesellschaft würde um sie herum bauen und auch über sie hinweg, falls nötig. Tief drinnen in seinem Juwel würde er diesen Makel begraben, und niemand würde etwas merken.

Nedeed hatte nicht das Vergnügen, Grandma Tilson zu beerdigen, die noch zehn Winter lang an seinem Grab vorbeischlurfte. Aber er sah die Konturen seines Traums Gestalt annehmen, ein als Bauland ausgewiesenes Gebiet aus acht sichelförmigen Straßen, an denen sich einige der feinsten Häuser des Countys befanden – in denen die wohlhabendsten schwarzen Familien lebten. Als die Stadt anfing, ihre Viertel aufzuteilen, wurde aus Putney Waynes ehemaligem Weideland die Wayne Avenue. Und nachdem zwei weiße Kinder in dem Bach ertranken, der die Grenze zwischen Linden Hills und der Avenue bildete, wurde entlang beiden Seiten ein marmornes Geländer errichtet. Die acht Ringstraßen, die sich in Schlangenlinien den Hügel hinunterwanden, erhielten die Bezeichnungen First Crescent Drive, Second Crescent Drive und Third Crescent Drive, und der Verwaltungschef hätte damit gerne weitergemacht bis hinunter zum Eighth Crescent Drive. Aber die Familien der nun als Sixth, Seventh und Eighth Crescent Drives bezeichneten Abschnitte legten beim Verwaltungschef Protest ein. Ihr Gebiet sei immer als Tupelo Drive bekannt gewesen, und das solle auch so bleiben, und außerdem seien sie durch den alten Stadtfriedhof von der anderen Seite des Plateaus abgeschnitten, sodass es ohnehin keine acht kompletten Ringe gebe. Der Verwaltungschef richtete sich in seinem mit Tweed bezogenen Drehstuhl auf und sagte ihnen unmissverständlich, dass er bei der Planung bleibe, und wenn ihnen das nicht passe, könnten sie gerne zur Hölle fahren. Worauf sie zu Nedeed gingen, der nach Washington, D. C. fuhr und den städtischen Friedhof samt Tupelo Drive als ein historisches Wahrzeichen ausweisen ließ.

Diese Nachricht schickte die von Pattersons Urenkelin geleitete Wayne County Bürgerallianz zum Büro des Verwaltungschefs mit der Frage, warum ihre Seite des Plateaus nicht ebenfalls als historisches Wahrzeichen ausgewiesen wurde. Ihre Familien hatten dort lange vor den Nedeeds Land besessen. Patterson schleppte sogar ihre Familienbibel an, mit Namen und Daten, die zurück bis zum Unabhängigkeitskrieg reichten. Der verärgerte Verwaltungschef sagte ihnen, er könne leider nichts tun. Anscheinend halte Washington die ehemalige Hütte irgendeines Ex-Sklaven auf diesem Stück Land für amerikanischer als den ehemaligen Schafdung auf dem Grund und Boden ihrer Eltern. Und solange dieser Sozialist mit seiner nigger-loving Frau im Amt sei, war daran nun mal nicht zu rütteln. Und nein, sie konnten jetzt nicht damit anfangen, ihr Ende vom Plateau Tupelo Drive zu nennen. Waren seine Straßenpläne nicht schon vermurkst genug?

Das hielt die weißen Familien auf der anderen Seite des Plateaus nicht davon ab, verirrten Touristen zu erzählen, dass sie natürlich in Linden Hills lebten – dem wahren Linden Hills. Und selbst als Nedeed und Grandma Tilson gestorben waren, gaben einige von ihnen weiterhin LINDEN HILLS als Postadresse an. Das schuf weitere Verwirrung bei dem Postamt, das für die armen schwarzen Familien auf der anderen Seite der Wayne Avenue im Putney-Wayne-Bezirk zuständig war, deren Adresse ebenfalls LINDEN HILLS war. Die Bewohner von Putney Wayne erzählten den Volkszählern, den Schulleitern und jedem, der es hören wollte, dass sie ebenfalls in Linden Hills wohnten, und zwar seit die Linden Road durch Linden Hills nach oben verlief, dort die Wayne Avenue kreuzte und fünf Kilometer durch ihr Viertel weiter nach Norden führte. Waren nicht beide Gebiete ausschließlich von Schwarzen bewohnt? Und der Versuch, ihren Bezirk Wayne County zu nennen, war nur ein weiteres Beispiel für das Bestreben dieser ganzen miesen Rassisten in Wayne County, schwarze Leute kleinzuhalten.

Weil die Linden Road am Fifth Crescent Drive oberhalb des Friedhofs endete, konnte Tupelo Drive nur von der Mitte des Fifth Crescent erreicht werden, und die Tupelo-Anwohner bauten eine Privatstraße mit einem blumenbepflanzten Mittelstreifen und zwei drei Meter fünfzig hohen Backsteinsäulen. Dann brachten sie eine bronzene Plakette an den Säulen an, auf der in der Schrifttype Times New Roman die Worte LINDEN HILLS eingraviert waren. Das veranlasste die Anwohner der First bis Fifth Crescent Drives, umgehend ein Holzschild – WILLKOMMEN IN LINDEN HILLS – hinter dem Marmorgeländer am Bach, der sie von der Avenue trennte, aufzustellen. Sie wussten nicht, was die Leute vom Tupelo Drive da abzuziehen versuchten; vielleicht waren ihre Häuser da unten ja größer und moderner, aber ihnen musste klar sein, dass sie hier oben auch in Linden Hills wohnten. Sie besaßen die Papiere – echte Urkunden –, die besagten, dass dieses Land ihnen gehörte, solange sie darauf hockten, und hocken würden sie bleiben.

Jetzt wollte also praktisch jeder Schwarze in Wayne County zu Linden Hills gehören. Dass ein Fotograf vom Life-Magazin gekommen war, um die japanischen Gärten und marmornen Swimmingpools der Häuser in Tupelo Drive zu fotografieren, war nicht der einzige Grund, weshalb sie dort wohnen wollten. Es gab andere schwarze Gemeinden mit Vorzeigehäusern, aber es nach Linden Hills geschafft zu haben, bedeutete irgendwie, »es geschafft zu haben«. Die Tupelo-Grundstücksgesellschaft war überaus wählerisch hinsichtlich der Familien, die ein Hypotheken-Darlehen bekamen. Vom Beruf hing es offensichtlich nicht ab, denn in Tupelo Drive lebte der Hausmeister einer Highschool direkt neben einem Amtsrichter. Und selbst das Einkommen war nicht ausschlaggebend, denn unterstützte die Gesellschaft nicht diese jamaikanische Familie am Tupelo Drive, die fast am Hungertuch nagte, damit zwei ihrer Kinder zum Studium nach Harvard gehen konnten? Nein, nur »ganz bestimmte« Leute sollten in Linden Hills wohnen, und die Schwarzen in Wayne County wussten nicht, worin genau dieses bestimmte Etwas bestand, aber sie schickten unermüdlich Anträge an die Tupelo-Grundstücksgesellschaft – und sie hofften unermüdlich. Hofften darauf, nach Linden Hills und von dort aus weiter hinunter nach Tupelo Drive und näher zu Luther Nedeed ziehen zu können.

Ja, Linden Hills. Der Name hatte sich weit über Wayne County hinaus verbreitet, und es kamen Bewerber von überall aus dem Land, sogar aus der Karibik. Linden Hills – hier hatten Menschen hart gearbeitet, hart gekämpft und hart für das Privileg gespart, im lieblichen Schatten dieser herzblättrigen Bäume zu weilen. In Linden Hills konnten sie vergessen, dass die Welt sagte, schwarz werde grundsätzlich klein buchstabiert. Bitte, sie hatten Großes erreicht, und alles um sie herum war Beweis dafür. Die Welt hatte ihnen nichts gegeben, außer der Chance zu scheitern – aber sie waren nicht gescheitert, denn sie waren in Linden Hills. Sie hatten eintausend Jahre und einen Tag, um hier zu bleiben und zu vergessen, was es bedeutete, schwarz zu sein, dass es bedeutete, sich zu Tode zu schuften, nur um keinen Schritt voranzukommen. Nun hatten sie die Chance, in Linden Hills weiter nach unten zu ziehen – ganz hinunter, da, wo Luther Nedeed am Fuße des Hügels lebte, hinter dem See und einer ganzen Reihe von Menschen, die Wayne County gezeigt hatten, was man mit ein bisschen Geduld und mit einer Menge Arbeit alles erreichen konnte. Sie wollten, was Luther Nedeed hatte, und er hatte ihnen vorgemacht, wie man es bekam: Bleib einfach hier; machst du einen Schritt raus aus Linden Hills, machst du einen Schritt hinein in die Geschichte von jemandem, der seine Chance nicht zu nutzen wusste. Also würden sie Linden Hills niemals verlassen. Es hielt so vieles für sie bereit. In eintausend Jahren würden es ihre Kinder bestimmt schaffen, weiter hügelabwärts zu ziehen oder sich sogar hinunter Richtung Tupelo Drive und Luther Nedeed zu verheiraten. 

Tupelo Drive und Luther Nedeed: Das war wie das Losungswort für einen dunklen Siegeszug der Schwarzen außerhalb und innerhalb Linden Hills. Und der ultimative Sieger saß vor seinem Haus und an seinem See und schaute nach oben auf den Nedeed-Traum. Endlich war er zu dem Juwel geschliffen worden, doch er trug ihn wie einen Mühlstein um den Hals. Etwas war ganz schrecklich schiefgelaufen mit Linden Hills. Er wusste, was seine toten Väter mit diesem Land und seinen Bewohnern vorgehabt hatten. Diese Menschen sollten die Nedeeds in allen Facetten widerspiegeln, und die Nedeeds würden diese Spiegelsplitter nehmen und zu einem Trugbild der Macht zusammenfügen, um eine Welt zu peinigen, die es gewagt hatte, sie für dumm zu halten – oder schlimmer, für vollkommen unfähig. Aber es gab in Linden Hills keine Pein für den weißen Gott, gegen den seine Väter ihre Fäuste geschüttelt hatten, denn es gab keinen weißen Gott, und es hatte nie einen gegeben.

Sie schauten auf die Erde, aufs Meer und zum Himmel, dachte Luther traurig, und hielten die davon Beherrschten für deren Beherrscher. Sie betrachteten nur das Erschaffene und glaubten, Gott zu sehen – sie hätten auf den Schaffensprozess achten sollen. Hätten sie mit Gott vor einem Fernseher sitzen können, der ihren ganzen winzigen Planeten einfing, ihr ganzes Universum bis zu den Universen jenseits der Sonne und die Umstände, die ihr Handeln geleitet hatten, wüssten sie um die Vergeblichkeit ihrer Rache. Denn wenn Menschen anfangen in einem Vakuum, das sich bis in die Unendlichkeit ausdehnt, für ihre Rechte mit Krallen aufeinander loszugehen, dann wird sehr schmerzhaft klar, dass das allgegenwärtige, allgewaltige, allmächtige Göttliche nichts weiter ist als das Verlangen nach Besitz. Es hat die Erde in die Hände von nur einigen wenigen gegeben und würde dasselbe auch mit dem Kosmos machen.

Ein weißer Gott? Luther schüttelte den Kopf. Wie konnte er irgendeine Farbe haben, wenn er allen, die sich an seinem Altar opferten, die Haut, das Geschlecht und die Seele abstreifte, bevor er ihnen seinen Segen erteilte? Seine Väter hatten einen fatalen Fehler gemacht: Sie hatten Linden Hills das Verlangen nach Besitz gegeben und es damit an eben den Gott verloren, den sie zu bekämpfen suchten. Wie konnten diese Menschen jemals die Nedeeds widerspiegeln? Linden Hills war nicht schwarz; es war erfolgreich. Die glänzenden Oberflächen ihrer Karrieren, Messinggeländer und Automobile peinigten sein Auge, denn sie reflektierten nichts weiter als ihre grelle innere Leere. Natürlich hatte Wayne County in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Frieden mit Linden Hills gelebt, denn es begriff nun, dass sie beide demselben Gott dienten. Wayne County hatte zugesehen, wie sein Stück Land praktisch unsichtbar wurde – ebenso wie ihre bedauernswerten Seelen. 

Die Einzigen, die nicht zu wissen schienen, was in Linden Hills vor sich ging, waren die unzähligen Schwarzen, die ihm jedes Jahr ihre Anträge schickten. Und da er sein Land nicht weiter ausdehnen und darauf nichts weiter bauen konnte, würde er die Dummköpfe einfach weiter herkommen lassen. Sollen sie doch glauben, es erwarte sie hier der ultimative Hauptgewinn. Sollen sie doch glauben, sie könnten die Welt, sich selbst oder ihn irgendwie von ihrer Bedeutung überzeugen. Anders als seine Väter nahm er auch die auf, die dachten, sie hätten persönliche Überzeugungen und wären tief in ihrer Vergangenheit verwurzelt, weil er mit Vergnügen ihre Bestürzung registrierte, wenn das alles umso mehr dahinschmolz, je weiter hinunter sie kamen. Bewerbungen von irgendwelchen künftigen Baptistenpfarrern, politischen Aktivisten und Absolventen von Elite-Universitäten wurden jetzt vorrangig behandelt, weil ihresgleichen schneller als andere unten ankamen und oben wieder Platz machten. Und hatten sie es in die Tupelo-Zone geschafft, verschwanden sie schließlich wieder. Aufgezehrt von ihrem eigenen Ehrgeiz, war ihnen nicht ausreichend Menschlichkeit geblieben, um damit ein echtes Zuhause zu schaffen, und bald stand die Immobilie zum Verkauf. Luther wunderte sich oft, warum es keinen der Bewerber misstrauisch machte, dass es immer Platz gab in Linden Hills. 

Aber sie waren zu beschäftigt für irgendwelches Misstrauen – sie waren so damit beschäftigt, hierherzukommen. Und Luthers allumfassendes Bestreben war es, dafür zu sorgen, dass sie es weiterhin taten. Sie herzuholen, ihnen ihre Urkunden zu geben und sie beim Abstieg zu beobachten. Die Pläne und Visionen seiner Väter mochten fehlgelaufen sein, aber die Nedeeds lebten weiter als eine Macht, mit der man rechnen musste – wenn auch nur in Linden Hills. Sein dunkles Gesicht am Fuße der Hills diente als Signalfeuer, um die Schwarzen anzulocken, die als Antrieb für diesen kontinuierlich sterbenden Traum benötigt wurden. Und über seinen Sohn könnte das ewig so weiterlaufen. Doch wann immer Luthers Blick auf seinen Sohn fiel, wurde ihm eng ums Herz.

Luther hatte sich nicht an das Muster seiner Vorväter gehalten und keine hellhäutige Frau geheiratet. Denn er wusste, dass bei der Wahl dieser Frauen die Blässe ihres Gemüts und nicht die ihrer Haut ausschlaggebend gewesen war. Sie sollten langsam vor den weiß gestrichenen Schindeln des Nedeed-Hauses verschwinden, sobald sie empfangen und ihren Sohn dem Einfluss und der Führung des Vaters übergeben hatten. Er musste tatsächlich einen Moment nachdenken, um sich an den Vornamen seiner Mutter zu erinnern, denn alle – auch sein Vater – hatten sie immer nur Mrs Nedeed genannt. Und sie selbst hatte sich auch immer so genannt. Luthers Frau war noch besser als blass – ein mattbrauner Schatten, der ihm einen Sohn geboren hatte, aber einen weißen Sohn. Die gleichen gedrungenen O-Beine, die gleichen vorstehenden Augen und aufgeworfenen Lippen, aber eine geisterhafte Erscheinung, die wie ein Hohn auf alles war, was seine Väter aufgebaut hatten. Wie konnte Luther sterben und ihm die Zukunft von Linden Hills überlassen? Er betrachtete die Blässe und sah fünf Generationen zerstört. In seinen ersten fünf Lebensjahren blieb das Kind namenlos und wurde von seinem Vater gemieden. Luther versuchte zu ergründen, was dieses Unheil in sein Haus gebracht hatte.

Er holte die Bücher und Berichte heraus, die in dem alten Rollschreibtisch in seinem Arbeitszimmer verschlossen waren. Wochen verbrachte er damit, die Daten und Zeiten von Penetration, Empfängnis und Geburt eines jeden Nedeeds in Linden Hills nachzuverfolgen. Dann verglich er alles mit dem Stand der Sterne und der Erdachse in diesen Momenten, und fand bestätigt, was ihm über die Tatsachen des Lebens überliefert worden war: »Mit Eintritt des Widderpunktes muss fünf Tage lang Penetration erfolgen, und der Sohn wird geboren, wenn die Sonne untergegangen ist.«

Luther knallte die Bücher zu. Er hatte genau das getan – alles buchstabengetreu befolgt. Wie jeder Nedeed vor ihm, hatte er seinen Samen erst beim Frühlingsäquinoktium abgegeben, damit das Kind im Sternzeichen der Ziege kommen konnte, wenn das Winterlicht am schwächsten war. Über Generationen hinweg war diese Methode unfehlbar gewesen, was also war schiefgelaufen? Er nahm sogar die Demütigung auf sich, zu einem Arzt zu gehen, um sich zu vergewissern, dass mit seinen Reproduktionsorganen alles in Ordnung war. Als die Untersuchungsergebnisse bestätigten, dass alles normal und gesund sei, hatte er damit den Beweis für etwas, das er schon lange in seinem Herzen gefühlt hatte: Dieses Kind konnte unmöglich sein Sohn sein.

Und während sich das Kind draußen am Tupelo Drive kaum mehr von den Schindeln abhob, ruhte Luthers Blick auf dem Schatten, der drinnen im Haus über die Teppiche glitt. Er nahm jetzt Gestalt an. Er sah, wie er sich bückte und umherging und sich setzte. Er hörte den singenden Tonfall, wenn er sprach. Er nahm die unterschiedlichen Farben wahr, die an der kleinen Gestalt hingen, und roch den Puderduft, wenn sie an ihm vorbeiging. Er konnte die bernsteinfarbenen Sprenkel in den lang bewimperten Augen sehen, die winzige Narbe rechts an den Lippen. Den langen Hals, die kleinen Brüste, die dicke Taille. Frau. Sie wurde zu einem permanenten Ärgernis für Luther, und ihre Anwesenheit machte ihm täglich mehr zu schaffen. Irgendwie musste sie mit einem tiefen inneren Makel behaftet sein, sonst wäre sie zu einem solchen Verrat nicht fähig gewesen. Alles, was sie besaß, hatte er ihr gegeben – sogar den Namen –, und so hatte sie ihm das gedankt? Seine Gereiztheit quälte ihn, und er wusste, er musste sich davon befreien, oder er würde verrückt werden. Er könnte sie morgen hinauswerfen; es gab in diesem Land kein Gericht, das ihm dieses Recht absprechen würde, aber noch nie ist jemand in seiner Familie geschieden worden. Und sie musste lernen, warum sie nach Tupelo Drive gekommen war. Offensichtlich hatte er eine Hure in sein Haus geholt, aber er würde eine Ehefrau aus ihr machen.

Und so schloss er wieder die alte Leichenhalle in seinem Keller auf. Er arbeitete allein und mit methodischem Zorn, installierte Rohre und Lichtleitungen, stapelte Truhen und Kisten an den feuchten Wänden. Schmieriger Schweiß brannte ihm in den Augen, als er ein Metallregal aufbaute und eine Gegensprechanlage anschloss. Er wuchtete Kartons mit Milchpulver und trockenen Getreideflocken nach unten, und zitternd vor Erschöpfung schleppte er schließlich zwei kleine Pritschen die zwölf Betonstufen hinunter. Er stand in der Mitte des Kellers und betrachtete sein Werk.

Nun, soll sie mal ein paar Tage hier unten mit ihrem Bastard verbringen und darüber nachdenken, was sie getan hat. Darüber nachdenken, mit wem sie hier Spielchen trieb. Er ging die Treppe hinauf und prüfte den Eisenbolzen an der Tür. Glaubte sie wirklich, sie könnte diese Lüge als seinen Sohn ausgeben? Seine Väter hatten sich abgerackert, um Linden Hills und dieses Haus zu bauen, das sie zu zerstören versucht hatte. Es hatte über einhundertundfünfzig Jahre gebraucht, das aufzubauen, was er nun hatte, und eher würde die Hölle einfrieren, als dass er zusah, wie eine Frau das alles vernichtete.

Es war kalt. Tatsächlich war es die kälteste Woche des Jahres, als White Willie und Shit sich auf der Wayne Avenue mit den Händen abklatschten und ihre Reise hinunter nach Linden Hills antraten.

19. Dezember

Das Geschäftsviertel der Wayne Avenue umfasste fünf Blocks im nördlichen Teil der Straße. Es gab eine Bibliothek, eine Reinigung, einen Supermarkt und zwei Delikatessenläden (von denen einer besseres Marihuana als Olivenbrot verkaufte und einen Fahrdienst anbot, wenn der Taxistand geschlossen war). Es gab drei Spirituosengeschäfte und drei kleine Straßenkirchen – der Tabernakel of the Saint grenzte direkt an Harrys Discount-Weinkellerei. Dazwischen waren etliche Immobilienmakler verstreut, in deren verstaubten Schaufenstern bunt gezeichnete Aushänge Gartenwohnungen in Linden Hills anpriesen. Aber die Wohnungen, die sie tatsächlich vermieteten, befanden sich gleich auf der anderen Seite der Wayne Avenue – abzüglich der Gärten und des gepflegten Zustands aus der Zeit, als noch weiße Familien dort gelebt hatten. Diese Gebäude waren die Enklave der Hoffnungsvollen, die aus den überfüllten Regionen von Putney Wayne und den Gassen von Brewster Place geflohen waren. Sie kamen sich jetzt ungemein vorstädtisch vor, zwei mitgenommene Bäume schmückten das Ende eines jeden Blocks, und von ihren rückwärtigen Fenstern aus hatten sie tatsächlich Sicht auf Linden Hills. Die Wayne Junior Highschool mit ihrem großen asphaltierten Schulhof, den Handballfeldern und Basketballkörben nahm einen ganzen Block auf dieser Straßenseite ein. 

Willie und Lester kamen sich drüben beim Schulhof entgegen. Willie hatte gerade die Straße von einem der Spirituosenschäfte aus überquert und sein kleines braunes Päckchen in der Tasche seiner Caban-Jacke verstaut.

»Hey, Shit.«

»Hey, White.«

Willie streckte die linke Hand mit der Handfläche nach oben aus und grinste Lester an.

»Nimms mit der Linken.«

Lester grinste zurück, ließ seine linke Handschuh-Hand auf Willies klatschen und hielt die rechte Handfläche hoch. »Nimms mit der Rechten.«

Das Ritual wurde mit Willies rechtem Handklatscher beendet. Dann die Arme hoch – »Nimm alles, wenns passt« –, vier Hände bildeten zwei Fäuste. Und die Jungs lachten.

So begrüßten sie sich seit ihrer gemeinsamen Zeit auf der Schule, vor der sie jetzt standen. Nach ihrem Abschluss dort hatten sie getrennte Wege eingeschlagen – Lester ging zur Spring Vale High, und Willie trieb sich auf den Straßen rum. Aber auf der Junior High waren sie unzertrennlich gewesen, und aus der Zeit stammten ihre Spitznamen und ihrer beider Wunsch, Dichter zu werden. Willie K. Mason war so schwarz, dass die Kinder sagten, wenn er noch eine Spur dunkler würde, könnte er nur noch in die umgekehrte Richtung weitergehen. Wurde nicht Eis so kalt, dass es heiß wurde? Und wenn man Kohle verbrannte, wurde sie zu Asche; wenn also Willie noch einen Hauch dunkler würde, müsste er zwangsläufig weiß werden. Willie glaubte eine Weile daran und lief im Sommer mit langärmeligen Hemden und einem riesigen Panamahut herum. Er fürchtete sich davor, eines Tages weiß aufzuwachen, denn seine Mutter würde ihn aus dem Haus werfen, und bei den wirklich tollen Sisters würde er keinen Stich mehr machen. Und so bekam der dunkelste Junge auf der Wayne Junior High den Spitznamen White Willie. Mit Lester Tilson freundete er sich in der siebten Klasse an, nachdem er ihm beim Kampf gegen einen Neuntklässler beigestanden hatte, der Lester wegen seines milchiggelben Hauttons »Babyshit« genannt hatte. Der Junge war doppelt so groß wie sie und begrüßte Willies Eingreifen, weil er dadurch seine Knöchel schonen und Willies Kopf gegen Lesters Kinn einsetzen konnte. Als Lester und Willie mit blutigen Nasen, die ihre Hemden volltropften, wieder aufstanden, sagte Willie zu dem Jungen: »Davon haben wir noch ’ne Menge mehr auf Lager, wenn du ihn noch mal Baby Shit nennst. Er iss kein Baby.« 

»Er sieht halt aus wie Babyshit. Sag ihm, er soll sich eine Windel aufs Gesicht binden.«

Lester war bereit, sich noch mal zu schlagen, aber Willie fand, es sei Zeit für einen Kompromiss. »Hör mal, ich will nicht, dass dich mein Kumpel hier umbringt. Nenn ihn einfach Shit, und wir belassens dabei.«

Er überzeugte Lester davon, dass der Name cool sei. Überleg mal – Shit. Ein echtes Schimpfwort, und niemand kriegt Ärger mit dem Direktor oder so, wenn er es benutzt: Wenn es sein Name ist, ist es halt sein Name, was sollen die Lehrer da schon machen? Lester war nicht ganz überzeugt von Willies Logik, aber er wusste, was ihm blühte, wenn er jeden Tag mit einem zerrissenen Hemd nach Hause käme. Und da seine Mama dafür bekannt war, einen härteren rechten Haken zu haben als sämtliche Jungs in Wayne – inklusive der Neuntklässler –, ließ er es dabei bewenden.

Sie besuchten zusammen die achte und neunte Klasse, tauschten Baseballkarten, 45er-Platten von Smokey Robinson und Schwindeleien über Eroberungen unnahbarer Mädchen in Wayne, bekannt für ihren Vorsatz, sich vor der Ehe nicht herzugeben – oder zumindest nicht vorm College, denn wenn sie schon schwanger würden, dann wenigstens von einem Kerl mit Hochschulabschluss. Willie hatte Lester sein erstes Kondom gezeigt. Wenn nur die Hälfte von Lesters Geschichten wahr wäre, könnte der ihm hoffentlich die richtige Anwendung dieser kleinen Gummischeibe so fachmännisch erklären, dass er die anderen Jungs vom Wahrheitsgehalt seiner eigenen Geschichten – zumindest einiger – überzeugen konnte.

»Mach schon, Shit, ziehs über.«

Lester starrte ebenso verwirrt auf die schlaffe Gummihülle wie sein Freund. »Näh, Mann.«

»Ah, bitte. Zeigs mir nur einmal. Hör mal, ich hab das Mädchen echt so weit. Aber sie hat Angst, ’n dicken Bauch zu kriegen. Und die andern Male hab ichs immer ohne gemacht. Aber diese eine hier wills nur machen, wenn ich das benutze.«

Lester nahm das Kondom mit klopfendem Herzen und kämpfte gegen seine zittrigen Hände an. Er untersuchte es bedächtig, während Willie gebannt jede seiner Bewegungen beobachtete. Schließlich schüttelte Lester den Kopf und schnippte es zurück zu Willie.

»Mann, das iss zu klein. Das krieg ich nich drüber.«

»Ja?« Willie betrachtete seinen Freund mit neuem Respekt. »Aber es dehnt sich.«

»Iss mir egal – iss die falsche Größe für mich. Sinnlos, ein heiles Gummi kaputt zu machen.«

»Gott«, sagte Willie, als er den schlaffen Schlauch langsam zu seinen vollen zweiundzwanzig Zentimetern auszog, »du musst da echt ’n beachtliches Teil haben.«

Und Lester hatte Willie seine ersten Gedichte gezeigt. Sie lernten gerade gemeinsam für eine Geometrie-Prüfung zu Hause bei Lester am First Crescent Drive. Immer wieder hob Lester den Blick zu Willies dunklem Krauskopf, der über ein schmuddeliges Papier mit Dreiecken und Linien gebeugt war. Er fingerte nervös an den lose hinten ins Lehrbuch gestopften Blättern herum und hoffte, dass er heute endlich den Mut aufbrachte, sie hervorzuziehen.

»White?«

»Ja.«

»Nichts.« Lester seufzte und steckte den Kopf wieder ins Buch. Gedichte schreiben galt als waschlappig bei der Clique, mit der er und Willie abhingen – außer es war etwas über Miss Thatchers schirmförmiges Hinterteil; eventuell kam man am Valentinstag damit durch, wenn die damit bedachte Sister heiß genug war. Aber so ein Quark über Sonnenuntergänge und Blumen und wie er sich manchmal im Dunkeln noch immer ein bisschen fürchtete, oder über seinen Wunsch, später mal wie Malcolm X zu sein, für ihn die größte historische Persönlichkeit überhaupt? Oder über das Gefühl, das einen überkam, wenn man Hank Aarons kraftvollen, muskulösen Körper beim Schwingen des Schlägers herumwirbeln sah? – verdammt. Er wollte nicht, dass Willie ihn für schwul hielt oder so.

»White?«

»Shit, hör auf, mich zu nerven, wenns nich was Wichtiges ist. Ich glaub, ich hab die alte Thatcher hier echt dran. Ich kann beim Test morgen beweisen, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten nicht eine gerade Linie ist.«

»Hier.« Lester stieß ihm die Blätter ins Gesicht. »Lies das mal.« Sein angehaltener Atem brannte ihm in der Lunge, während Willie die verkrumpelten Blätter glatt strich und zu lesen begann. Dann sah er die Mundwinkel seines Freundes leicht nach oben zucken.

»Wenn du lachst, so wahr mir Gott helfe, nehm ich von hier Anlauf und verpass dir ’n Tritt in den Hintern. Und wenn du irgendwem in der Schule was davon erzählst, werd ich dich einen Lügner nennen, White Willie – und, und ich werd dir noch mal in den Hintern treten. Ich kann dich und praktisch alle andern Jungs verprügeln, außer Spoon, aber nur, weil der unfair kämpft. Gib das Zeug wieder her!«

Willie hielt die Gedichte außerhalb Lesters Reichweite. »Hey, mach dich locker, Mann. Die sind echt gut.«

Lester wurde heiß vor Freude, aber das durfte er sich auf keinen Fall anmerken lassen. Dann wäre er echt ein Schwuli. Er schnalzte mit der Zunge. »Ach, sind nix Besonderes.«

»Ohne Quatsch, Shit. Du musst ’n Haufen Zeit da reingesteckt haben.«

»Zwei Sekunden – nicht mehr. Weniger Zeit, als du zum Pinkeln brauchst.«

»Ja, also, jedenfalls brauch ich ’n ganzes Stück länger, um meine zu schreiben, und die sind nicht mal so gut.«

»Ja?« Lester spürte seine Gesichtszüge entgleiten, aber er riss sich zusammen. »Mach halblang. Ich hab dich noch nie ’n Gedicht schreiben sehen, nicht mal über Miss Thatcher.«

»Ich hab dich auch nie gesehen, aber hier sind sie.«

So leicht ließ sich Lester nicht ins Bockshorn jagen. »Okay, wo sind sie? Komm schon, lass sehen, lass uns gleich zu dir nach Hause gehn.«

»Du kannst sie nicht lesen, Shit.«

»Ja, hab ich mir gedacht.«

»Nein, sie stehen nich auf Papier. Sie sind alle hier drin.« Willie tippte an seinen Kopf. »Du kennst mein Zuhause; ich hab kein eignes Zimmer wie du. Wenn meine Brüder mich sehen würden, wie ich Gedichte schreibe, würden sie mich für schwul halten, und das wär sofort in der ganzen Schule rum, und jeder Nachhauseweg wär ’n Spießrutenlauf. Du weißt doch, die meisten Jungs halten einen für tussig, wenn man so ’n Kram mag.«

»Ja.« Lester nickte. »Ich weiß. Aber um solche Versager darfst du dich nich kümmern. Worüber sind deine?«

Also fing Willie an, sie Lester aufzusagen. Derbe, quirlige Verse über einen Ort namens Bedford-Stuyvesant in New York, der Lester ziemlich ähnlich wie Putney Wayne vorkam. Versteckspiele in Mülltonnen. Saufbrüder, die Weisheiten kundtaten. Und Willie fuhr fort – wie es sich anfühlte, wenn dein Vater deine Mutter schlug, und wie die Tränen auf deinem Gesicht aussahen. Mit Sonnenuntergängen und Blumen hatte Willie bisher nicht viel zu tun gehabt, aber auch er fürchtete sich noch manchmal im Dunkeln. Und einmal war ihm beim Anblick der Oberschenkel eines New-York-Knicks-Center-Spielers genauso kribbelig zumute gewesen wie beim Berühren der hübschen Janie Benson.