Die Frauen von Brewster Place - Gloria Naylor - E-Book

Die Frauen von Brewster Place E-Book

Gloria Naylor

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Beschreibung

Tropfende Rohre, quietschende Türen, kaputte Aufzüge. Brewster Place, das ist die Straße mit den Schlaglöchern und der Mauer am Ende, hinter der man die schicken Gegenden der amerikanischen Großstadt nur erahnen kann. Mattie Michael und Etta Johnson wohnen schon ewig hier, und sie wissen absolut alles, was in den Häusern der anderen so passiert. Kiswana Browne nervt mit ihren Black-Power-Parolen; Cora Lee kriegt in der Hoffnung auf morgen immer mehr Kinder, und die zwei Neuen irritieren die anderen mit ihren verstohlenen Zärtlichkeiten. Die Gerüchteküche brodelt und treibt den Geruch von Begierde und Fürsorge, von Hoffnung und Verzweiflung durch die Straße. Gloria Naylor erzählt furios und einfühlsam von diesen Frauen und mit ihnen von den schwarzen Frauen Amerikas.

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Seitenzahl: 335

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Über dieses Buch

Mattie Michael und Etta Johnson wohnen schon ewig in Brewster Place und wissen absolut alles, was bei den anderen so passiert. Über Kiswana Browne mit ihren Black-Power-Parolen, oder Cora Lee, die immer mehr Kinder kriegt. Die Gerüchteküche brodelt und treibt den Geruch von Begierde und Fürsorge, Hoffnung und Verzweiflung durch die Straße.

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Gloria Naylor (1950–2016), geboren in New York, studierte Anglistik und African-American Studies. Ihr vielschichtiges Werk kreist um das Leben Schwarzer, um ihre Kämpfe und Hoffnungen, in einer Welt, in der Weißsein alles bedeutet. Sie erhielt u. a. den National Book Award.

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Sibylle Koch-Grünberg (1947–2020) übersetzte aus dem Englischen, unter anderem Werke von Tillie Olsen, Jill Tweedie und Terence McKenna.

Zur Webseite von Sibylle Koch-Grünberg.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Gloria Naylor

Die Frauen von Brewster Place

Roman

Aus dem Englischen von Sibylle Koch-Grünberg

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Originalausgabe erschien 1982 bei Viking Penguin Inc.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1984 im Verlag Droemer Knaur, München.

Für die vorliegende Ausgabe wurde die Übersetzung von Patricia Reimann nach dem Original durchgesehen und überarbeitet.

Übersetzung der Zitate auf S. 145, 163, 169 von Frank Günther, © by Hartmann & Stauffacher, Köln.

Originaltitel: The Women of Brewster Place

© by Gloria Naylor 1980, 1982

Diese Ausgabe erscheint in Vereinbarung mit Viking, Imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Colin Jones (TopFoto)

Umschlaggestaltung: Phillip Hailperin

ISBN 978-3-293-31132-9

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 23.09.2022, 02:03h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

DIE FRAUEN VON BREWSTER PLACE

DämmerungMattie Michael1 – Wie eine riesige grüne Schnecke kroch der klapprige …2 – Zwei Tage lang hatte Matties Vater weder mit …3 – Eine Woche später fuhr der Greyhoundbus Richtung Norden …4 – Als Mattie am Sonntagmorgen aufstand, waren im Haus …5 – Mattie schlief unruhig in dieser Nacht, und sie …Etta Mae JohnsonKiswana BrowneLucielia Louise TurnerCora LeeDie ZweiDas StraßenfestAbenddämmerung

Anmerkungen

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Über Gloria Naylor

Über Sibylle Koch-Grünberg

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Für Marcia, die mir den Traum eingab,Lauren, die an ihn glaubte,Rick, der ihn nährte und ihm Gestalt gab,und George, der ihm am heftigsten applaudierte.

Was geschieht mit einem aufgeschobenen Traum?

Vertrocknet er

wie eine Rosine in der Sonne?

Oder schwärt er wie eine Wunde –

und eitert dann?

Stinkt er wie verfaultes Fleisch?

Oder bekommt er eine zuckrige Krustewie eine klebrige Süßigkeit?

Vielleicht sackt er einfach weg

wie eine schwere Last.

Oder explodiert er gar?

LANGSTON HUGHES

Dämmerung

Brewster Place war das illegitime Kind mehrerer heimlicher Treffen zwischen dem Stadtrat des Sechsten Bezirks und dem Generaldirektor der Unico-Wohnungsbaugesellschaft. Letzterer musste dringend den Polizeichef des Sechsten Bezirks loswerden, da dieser zu ehrlich war, Bestechungsgelder anzunehmen, und daher beharrlich gegen die Spielkasinos vorging, die dem Direktor gehörten. Der Stadtrat seinerseits wollte, dass die Wohnungsbaugesellschaft ihr neues Einkaufszentrum auf dem Grundstück seines Cousins im Norden der Stadt errichtete. Sie trafen sich, machten Vorschläge, handelten miteinander und arbeiteten Schritt für Schritt die Erfüllung ihrer jeweiligen Wünsche aus. Dann kamen sie nachträglich noch überein, auf einem Stück wertlosen Bodens in dem schlimm übervölkerten Bezirk vier Doppelwohnblocks zu errichten. Das würde dazu beitragen, die seitens der irischen Bevölkerung zu erwartenden Proteste anlässlich der Entlassung des Polizeichefs abzuschwächen; und da die Stadt die Kosten übernähme und der Stadtrat den Bau beim kommenden Wahlkampf für seine Kandidatur um das Bürgermeisteramt nutzen konnte, würde es beiden Männern nicht schaden. Und so wurde, in einem klammen, rauchgeschwängerten Raum, Brewster Place gezeugt.

Drei Monate später wurde das Balg in der Stadtverwaltung geboren, und da im Dunkeln blieb, wer die wirklichen Eltern waren, trat zwei Jahre später die halbe Gemeinde zu seiner Taufe an. Alle applaudierten stürmisch, als der lächelnde Stadtrat eine Flasche Sekt an der Ecke eines der Häuser zerschellen ließ. Er war vor lauter ohrenbetäubenden Hurrarufen kaum zu hören, als er mit Tränen in den Augen erklärte, das Mindeste, was er tun könne, sei mitzuhelfen, für alle ihre patriotischen Jungs, die aus dem Großen Krieg auf dem Weg nach Hause seien, einen Platz zu schaffen.

Als Brewster Place noch jung war, hatten die grauen Backsteine der Häuser einen mattsilbernen Ton. Die Straße war zwar nicht gepflastert – nach einem schweren Regen musste man bis zu den Knöcheln im Schlamm waten, um nach Hause zu kommen –, doch sie hatte etwas Vielversprechendes. Die Stadt wuchs und florierte; es gab Pläne, nördlich der Straße einen neuen Boulevard zu bauen, und es sah so aus, als sollte Brewster Place Teil der Hauptverkehrsader der Stadt werden.

Die Gegend um den Boulevard entwickelte sich zu einem wichtigen Geschäftsviertel, doch um den Verkehr steuern zu können, mussten einige der Nebenstraßen durch eine Mauer abgeriegelt werden. In der Stadtverwaltung kam es zu heftigen Auseinandersetzungen: Viele kämpften für diese kleinen Versorgungsadern, wissend, dass es hier um den Lebenssaft ihres Viertels ging; für Brewster Place jedoch setzte sich niemand ein. Dort lebten jetzt lauter Leute, die ohne politischen Einfluss waren; Leute mit dunklen Haaren und sanft getönter Haut – Menschen mediterraner Herkunft, die in gutturalen, murmelnden Lauten miteinander sprachen und ausländische Lebensmittel in die Läden des Viertels brachten. Die älteren Anwohner nahmen Anstoß an dem beißenden Geruch kräftiger Käse und geräucherter Fleischwaren, der nun in der Luft des Viertels hing. So also wurde die Mauer gebaut und Brewster Place zu einer Sackgasse. Bei dieser Taufe gab es keine Menschenmenge, sie fand um drei Uhr morgens statt, als Mrs Colligans Sohn, der betrunken nach Hause torkelte und die Existenz der Mauer vergessen hatte, seine Nase daran blutig schlug und sich dann an den neuen Backsteinen übergab.

Brewster Place – die Sackgasse – hatte in ihren mittleren Jahren der zweiten Generation weniger zu bieten, tat aber für sie, was sie konnte. Im Zuge des sogenannten WPA-Arbeitsbeschaffungsprogramms wurde die Straße schließlich gepflastert, und eine neue Wohnungsbaugesellschaft übernahm die Hypothek, die auf den Häusern lag. Von den zentralen Aktivitäten der Stadt abgeschnitten, entwickelte die Straße einen ganz eigenen Charakter. Die Menschen dort hatten ihre eigene Sprache und ihre eigene Musik und ihre eigenen Regeln. Sie waren stolz auf die Tatsache, dass Mrs Fuellis Laden der einzige in der Stadt war, in dem man scungilli und grüne fettuccine bekommen konnte. Doch Mrs Fuelli brach es das Herz, als ihr Sohn aus dem Krieg kam und sich nicht in Brewster Place niederließ, und auch der Sohn ihrer Cousine nicht, oder der ihrer Nachbarin aus dem zweiten Stock. Und es gab Söhne, die überhaupt nicht wiederkamen. Brewster Place trauerte mit diesen Müttern, denn auch die Straße hatte Kinder verloren – durch den Ruf eines komfortableren Lebens und aus Angst vor jenen Kindern, die heute die Straße bevölkerten, einst Fremde, jetzt aber alles, was sie besaß. Brewster Place wurde mit Mrs Fuelli und den wenigen alt, die nicht mehr wegziehen wollten oder konnten.

Ein Jahr bevor die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der Sache »Brown gegen die Schulbehörde von Topeka« das ganze Land wieder in zwei Lager spaltete, kam die sogenannte Integration auf den gebeugten Schultern eines untersetzten, braunhäutigen Mannes nach Brewster Place, der als Hausmeister und Gebäudemanager angestellt worden war. Er zog ins Souterrain von Nummer 312, und wenn er nach seinem Namen gefragt wurde, pflegte er zu antworten: »Nennen Sie mich einfach Ben.« Und das war alles, was bis zu seinem Tode von ihm in Erfahrung gebracht wurde. Es gab kaum Protest dagegen, dass er im Block wohnte, denn es hatte sich bald herumgesprochen, dass er ein anständiger Farbiger war, der niemals irgendwem zu nahe trat. Und wenn der Vermieter nichts als ein Postfach in einer anderen Stadt war, und die Heizung leckte, oder der Abfluss verstopft war, oder die Arthritis einen daran hinderte, die Eingangsstufen zu kehren, war es angenehm, jemanden an der Hand zu haben, der sich um diese Dinge kümmerte, selbst diesen Mann mit seinem merkwürdigen Haar und seiner merkwürdigen Haut, dessen Atem schal nach Alkohol roch.

Ben und die mediterranen Bewohner von Brewster Place wurden aus der Ferne recht vertraut miteinander. Sie lernten, dass er, wenn die melancholischen Klänge von Swing Low, Sweet Chariot sie weckten, einen seiner morgendlichen Saufanfälle hatte, und dass es an diesem Tag keinen Sinn hatte, ihn um irgendetwas zu bitten – er würde einen mit seinen Jawolls nur zur Verzweiflung treiben und dann doch nicht auftauchen. Und er lernte, dass sie ihm mit kalten und argwöhnischen Blicken begegneten, wenn er ohne Schraubenschlüssel oder Besen in der Hand an ihre Tür klopfte, ganz egal wie groß die Mengen selbst gekochter Gemüsesuppen und Honigkuchen waren, die die alten Damen – voll Mitgefühl wegen seines frauenlosen Daseins mit der Zunge schnalzend – ihm sonst vorbeibrachten. Warum Ben trank, erfuhr nie jemand. Die Aufmerksameren unter ihnen konnten vorhersagen, wann wieder einmal eines dieser frühen Besäufnisse fällig war; immer an dem Morgen, nachdem der Briefträger die Stufen zum Souterrain von 312 hinabgestiegen war. Und wenn sich jemand am nächsten Tag nahe genug heranwagte, konnte er hören, wie Ben etwas von einer untreuen Frau und einer hinkenden Tochter vor sich hin brummelte, oder war es eine hinkende Frau und eine untreue Tochter? Keiner konnte sie je auseinanderhalten. Wenn sie sich die Mühe gemacht hätten zu fragen, hätte er es ihnen wahrscheinlich erzählt. Nach einer Weile stieg der Briefträger nicht mehr die Stufen hinunter; Ben aber trank immer noch.

Ben und seine Sauferei wurden allmählich zu einem Teil von Brewster Place, genau wie die Mauer. Bald schien es dumm, die Existenz des einen oder des anderen zu hinterfragen – sie waren einfach da.

Und sie waren das Erste, was die dritte Generation von Brewster Place zu Gesicht bekam. Langsam hatten sie den Block erobert und den Exodus der noch übrigen Südländer vorangetrieben. Brewster Place frohlockte über diese »afrikanischen« Kinder mit ihren vielen Hautfarben, die sie im Alter hatte. Sie arbeiteten so schwer wie die Kinder ihrer Jugend, waren so leidenschaftlich und hinsichtlich ihrer Gerüche, ihres Essens und ihrer Regeln so verschieden vom Rest der Stadt wie die Kinder der mittleren Jahre. Sie klammerten sich an die Straße und akzeptierten verzweifelt alles an ihr. Denn alles war besser als die elenden Südstaatengebiete, aus denen sie geflohen waren. Anders als ihre anderen Kinder – das wusste Brewster Place – würden die wenigen, die für immer fortgingen, eher die Ausnahme als die Regel sein, denn sie waren gekommen, weil sie keine andere Wahl hatten, und würden aus ebendiesem Grund auch bleiben.

Besonders liebte Brewster Place mit der Zeit ihre farbigen Töchter, die – beherzten Geistwesen gleich – sich durch den Verfall schlugen und versuchten, daraus ein Heim zu machen. Muskatfarbene Arme stützten sich auf Fenstersimse, knorrige Ebenholzbeine trugen die Last von Einkäufen zwei Treppen hoch, und safranfarbene Hände hängten feuchte Wäsche auf die Leinen in den Hinterhöfen. Ihr Schweiß mischte sich mit dem Dampf aus brodelnden Töpfen voll geräuchertem Schweinefleisch und Suppengrün und umkräuselte den scharfen Geruch von Essigspülungen und Paris-Night-Parfum, der, wo sie zusammenstanden, die Straße durchzog – schön gewachsene, rundbäuchige Frauen mit hohem Hintern, die beim Lachen den Kopf zurückwarfen und, die Hände in die Hüften gestemmt, starke Zähne und dunkles Zahnfleisch zeigten. Sie verfluchten, piesackten, verehrten und teilten sich ihre Männer. Ihre Liebe brachte sie dazu, ein Geschirrtuch durch die Küche einer anderen zu schleudern, damit er mit der Miete rumkam, oder mit heißer Waschlauge um sich zu spritzen, damit er dieses Biest hinter der Ladentheke von der Kaufhalle vergaß. Sie waren außen hart, innen weich, brutal fordernd und leicht zufriedenzustellen, diese Frauen von Brewster Place. Sie kamen, sie gingen, wuchsen heran und wurden älter, als sie es den Jahren nach waren. Wie ein Ebenholzphönix hatten sie alle eine Geschichte, eine jede zu ihrer eigenen Zeit.

Mattie Michael

1

Wie eine riesige grüne Schnecke kroch der klapprige Umzugswagen Brewster hoch. Ein ramponiertes, unregistriertes Taxi, das ebenfalls vorsichtig über die verborgenen, vereisten Stellen unter dem Tage alten Schnee fuhr, flankierte ihn. Gerade als die kleine Karawane das letzte Haus des Blocks erreichte, fing es wieder an zu schneien. Die Umzugsmänner sprangen aus dem Führerhaus des Transporters und begannen, ihn hinten zu entladen. Mattie bezahlte den Fahrer und stieg aus dem Taxi. Die feuchte Luft war so schwer wie der Seufzer, der sich ihrem üppigen Busen entrang. Die aschfahlen Häuser verschmolzen langsam mit der sanften Decke des pelzartigen Schnees, der vom sich verdunkelnden Himmel fiel. Hinter dem bleiernen Abendhimmel konnte man die ersterbenden Strahlen der Sonne eher fühlen als sehen, und allmählich blieb Schnee in den Spalten der Mauer hängen, die nur zwei Meter von Matties Haus entfernt stand.

Mattie sah, dass die Mauer genau oberhalb der Wohnungen im zweiten Stock endete. Das bedeutete, dass ihre Pflanzen vom Nordlicht abgeschnitten waren. All die prächtigen Pflanzen, die einst in dem Heim, für das sie dreißig Jahre ihres Lebens gegeben hatte, einen ganzen Wintergarten für sich alleine gehabt hatten, würden jetzt auf einem viel zu engen Fenstersims um Licht kämpfen müssen. Sie bedauerte die Pflanzen; Selbstmitleid und den Gedanken, dass auch sie in dieser übervölkerten Straße würde sterben müssen, weil ihr nicht mehr genug Leben blieb, um noch einmal von vorn anzufangen, lehnte sie ab.

Im ersten Stock kochte jemand, und der Duft drang durch das beschlagene Fenster und zog an ihrer Nase vorbei. Einen Moment lang roch es wie frisch geschnittenes Zuckerrohr, und sie atmete in kurzen, schnellen Zügen ein, um diesen Geruch wieder einzufangen. Doch er war verflogen. Sie musste sich sowieso geirrt haben. In Brewster gab es kein Zuckerrohr. Nein, das war in Tennessee gewesen, in einem Sommer, der tief unter den Gräbern von einunddreißig Jahren verborgen lag, die nur in der Erinnerung wieder geöffnet werden konnten.

Zuckerrohr und Sommer und Dad und Basil und Butch. Und der Anfang – der Anfang ihrer langen, verschlungenen Reise nach Brewster.

»He, Baby!«

Ein zimtfarbener Mann beugte sich über den vorderen Zaun der Michaels und schnalzte leise zu Mattie hinüber, die im Hof stand und die Küken fütterte. Sie ignorierte ihn absichtlich, ließ die Finger in der Schüssel mit der Maische kreisen und fuhr fort, die Küken zu locken. Er schnalzte im gleichen Takt mit ihr und rief noch einmal, ein wenig lauter: »He, Baby, hörst du nicht?« 

»Ich hab dich schon gehört, Butch Fuller, aber ich hab auch einen Namen, verstehst du«, sagte sie, ohne zu ihm hinüberzublicken.

Sein großer Mund, der immer bereit schien zu lächeln, verzog sich zu einem breiten Grinsen. Er lief zum anderen Ende des Zauns und machte eine übertrieben tiefe Verbeugung vor ihr. 

»Also dann ’tschuldigen Se mich armen, dummen Nigger, Miss Mattie, Ma’am, oder soll ich sagen, Miss Michael, Ma’am oder Miss Mattie Michael oder …« Und er warf ihr über die gekrümmten Schultern einen Blick zu, die perfekte Imitation der aufgesetzten Höflichkeit, mit der sie den Weißen begegneten.

Mattie musste laut lachen, und Butch richtete sich auf und lachte mit ihr.

»Butch Fuller, du bist der geborene Narr, und als Narr wirst du auch sterben.«

»Na, dann hat der Pfarrer wenigstens etwas Gutes bei meiner Beerdigung zu sagen – dieser Mann war konsequent.« Und wieder lachten sie – Butch aus vollem Hals und Mattie zögernd, denn ihr wurde klar, dass sie da in ein Gespräch mit einem Mann verwickelt wurde, vor dem ihr Vater sie wiederholt gewarnt hatte. Dieser Butch Fuller ist ein Taugenichts und Herumtreiber, und keine anständige Frau würde sich sehen lassen, wie sie mit ihm redet. Doch Butch hatte ein Lachen wie die Sonne im April, kurz bevor sie untergeht – durchscheinend und verwirrend. Man wusste, es konnte nicht ewig dauern, und doch würde man stundenlang stehen bleiben, in der Hoffnung, nur einen Schimmer davon noch einmal zu erleben.

»Jetzt, wo ich das alles durchexerziert hab, kann ich hoffentlich das kriegen, was ich eigentlich gewollt hab«, sagte er langsam und schaute ihr dabei direkt in die Augen.

Das Blut schoss Mattie ins Gesicht, und gerade als sie den Mund aufmachte, um ihm eine Beschimpfung entgegenzuschleudern, da blickte er gelassen zu der Tonne neben dem Haus hinüber. »Einen Becher von diesem kühlen Regenwasser.« Und er lächelte listig.

Hastig schloss sie den Mund wieder, und er senkte den Blick, trat den Staub von den Schuhen und tat so, als bemerke er ihre Verlegenheit nicht.

»Tja, bei so ’ner brüllenden Hitze wie heut kann einem die Zunge im Hals verdorren.« Und er schaute unschuldig auf.

Mattie warf die Futterschüssel zu Boden und ging schmollend zur Regentonne hinüber. Butch beobachtete aufmerksam die kreisenden Bewegungen ihres hohen, runden Hinterteils unter dem dünnen Sommerkleid und folgte dem sich über die prallen dunklen Waden hebenden Saum, als sie sich niederbeugte, um das Wasser zu schöpfen. Aber als sie sich umwandte, inspizierte er gerade eine Schließe seines Overalls.

»Da hast du dein Wasser.« Sie schüttete es ihm fast ins Gesicht. »An einem Tag wie heut könnt ich nicht mal einem Hund den Schluck Wasser verwehren, aber wenn du’s getrunken hast, gehst du besser dahin, wo du hingewollt hast, bevor du hier stehn geblieben bist.«

»Gott, ihr Michael-Frauen habt doch die schärfsten Zungen in der ganzen Gegend, aber ich kann mir einen schlimmeren Tod denken, als von so einem schönen Mund zerschnitten zu werden.« Und er warf den Kopf zurück und trank das Wasser.

Mattie beobachtete, wie das Wasser seinen langen Hals hinunterlief, und sie bewunderte widerstrebend die starken, braunen Umrisse seines Nackens und seiner Schultern. Seine Haut sah aus, als glühten feurige Pünktchen darin, und die Sonne ließ die roten Lichter an seinem Körper aufleuchten. Seine Bewegungen hatten etwas Klares, Gefälliges und schienen zu aller Welt zu sagen: Hier bin ich, und darüber gibt’s nichts zu meckern, also warum tut ihr’s dann?

»Danke, Miss Mattie, Ma’am.« Er gab ihr den Becher mit einem Lächeln zurück, das aufgrund des heimlichen Scherzes, den sie nun miteinander teilten, um Freundschaft bat.

Mattie verstand, nahm den Becher und erwiderte sein Lächeln.

»Und da du mich nach meinem Woher und Wohin gefragt hast …«

»Hab ich doch gar nicht.«

Ohne auf ihren Einwand zu achten, fuhr er fort: »Ich bin zum Sumpf unterwegs und will mir ein paar wilde Kräuter holen. Und dann hab ich vor, mal beim Zuckerrohrfeld der Morgans vorbeizugehen. Die haben grad geerntet, und es steht noch das eine und andere hübsche dicke Zuckerrohr rum. Wenn du also mitkommen und dir ein paar aussuchen willst, werd ich sie dir liebend gerne heimtragen.«

Fast sagte Mattie zu. Sie mochte Zuckerrohrsirup, und wenn sie ein paar wirklich gute fand, konnte sie sie in Stücke schneiden und auskochen, und es würde wahrscheinlich mindestens ein, zwei Liter Sirup geben. Doch ihr Vater würde sie umbringen, wenn er erführe, dass man sie mit Butch Fuller umherspazieren sah.

»Wenn natürlich eine so erwachsene Frau wie du Angst hat, was ihr Vater wohl dazu sagt …«

Als Mattie klar wurde, dass er ihre Gedanken gelesen hatte, wurde sie schnippisch.

»Ich hab vor gar nichts Angst, Butch Fuller. Und außerdem ist Dad heut Nachmittag mit Mum in die Stadt gefahren.«

»Na, so was, tja, das mein ich doch auch … Eine so erwachsene Frau wie du hat doch nicht den geringsten Grund, Angst davor zu haben, was ihr Dad wohl sagt. Und was die schmutzigen Gedanken der alten Krähen dort oben angeht, die vielleicht mit einem Haufen Lügen zu ihm hinrennen – warum gehn wir nicht einfach hintenrum zum Zuckerrohrfeld?

Es ist doch ganz und gar überflüssig, dass sie sich einen Sonnenstich holen, wenn sie runterrennen, um jemandem, der eigentlich noch nicht mal da ist, was zu erzählen, was eigentlich gar nicht erzählenswert ist – stimmt’s?« Seine Stimme war so weich und einschmeichelnd wie sein Lächeln.

»Stimmt«, sagte sie, und dann sah sie ihm gerade in die Augen und fügte langsam hinzu: »Ich geh nur schnell noch ins Haus und hol Dads Machete.« Sie wartete, bis in seinen Augen ein leicht überraschtes Flackern erschien, und fuhr dann fort: »Um damit das Zuckerrohr zu schneiden – was denn sonst?«

»Was denn sonst.« Und die Aprilsonne ging unter in ihrer ganzen Pracht.

Die Straße, die hintenrum zum Damm führte, war gewunden und staubig. Und der August in Rock Vale war die Zeit der stechenden, trockenen Hitze – der »schleichenden Hitze«, wie die Leute sie nannten. Die Luft ohne jede Feuchtigkeit fühlte sich fast angenehm an, doch dann kroch langsam der Schweiß aus den Achselhöhlen und pappte einem die Kleider am Rücken fest. Und in der Lunge dehnte sich die heiße Luft aus, bis man das Gefühl hatte, gleich platze sie, weshalb man mit leicht geöffnetem Mund keuchte, um sie zu entlasten.

Mattie dachte nicht an die Hitze, als sie neben Butch ging. Sie waren ein fast perfektes Gespann, denn er redete gern, und sie war eine kluge Zuhörerin, die intuitiv wusste, wann der Moment war, ihm mit eigenen Beobachtungen über irgendwelche Personen und Orte ins Wort zu fallen. Er unterhielt sie mit leicht geglätteten Geschichten über das, was in den Bumslokalen der Stadt so vor sich ging – Orte, die ihr so fremd waren wie Istanbul oder Paris. Und er schockierte sie mit seinem Wissen aus erster Hand, wer sich mit wessen Ehegespons unten bei der Eisenbahn traf, und das nur Stunden, bevor sie am Sonntagmorgen in Matties Kirche auftauchten. Er erzählte ihr diesen Klatsch, ohne zu urteilen oder zu spotten, sondern mit der gleichen gutmütigen Billigung, die er allem im Leben entgegenbrachte. Und Mattie bekam auf einmal gezeigt, wie man über Dinge lachen konnte, die daheim für zu unanständig und grässlich galten, um überhaupt erwähnt werden zu dürfen.

Sie war so mit Butch ins Gespräch vertieft, dass sie das näher kommende Maultiergespann erst bemerkte, als es fast schon auf ihrer Höhe war.

»O nein, das ist Mister Mike, der Diakon unserer Kirche«, flüsterte sie Butch zu. Sie machte einen großen Schritt von ihm weg und fing an, im Gehen die Machete zu schwingen.

Das Maultiergespann hielt neben ihnen. »Tag, Mattie. Tag, Butch.« Der alte Mann spuckte einen Mundvoll Tabaksaft über die Seitenwand des Wagens.

»Hallo, Mister Mike«, rief Butch laut.

»Wir gehn Zuckerrohr schneiden, Mister Mike«, rief Mattie mit heller Stimme und schwang abermals die Machete.

Mister Mike grinste. »Dass ihr mit dem Messer Welse angeln geht, hab ich auch nicht gedacht, Mädel. Aber wenn ihr zum Damm wollt, macht ihr da nicht einen Umweg?« Er saß da, beobachtete sie und kaute langsam seinen Tabak.

Mattie fiel nichts darauf ein, und sie schwenkte die Machete, als läge die Antwort in dem weiter werdenden Bogen, den das Messer beschrieb.

»Zu viel Sonne auf der Straße«, sagte Butch leichthin. »Und da schwarz hier in der Gegend gleich arm ist – Himmel, noch ärmer zu werden, wär nichts für mich.« Butch und Mister Mike lachten, und Mattie gab sich Mühe, nicht so elend auszusehen, wie sie sich fühlte.

»Mädel, jetzt hör schon auf, so mit dem Messer rumzuwedeln, du wirst dir noch das Bein abhacken«, sagte Mister Mike. »Willst wohl Zuckerrohrsirup kochen?«

»Ja, Sir, Mister Mike.«

»Na, sehr gut, wenn’s genug wird, kannst du mir am Sonntag ein Schüsselchen mitbringen. Ich liebe frischen Zuckerrohrsirup zu meinen Brötchen.«

»Aber sicher, Mister Mike.«

Er ließ die Zügel schnalzen, und die Maultiere setzten sich in Bewegung. »Grüß deine Eltern von mir.«

»Ja, Sir.«

»Bis Sonntag in der Kirche, Mattie.« Und über die Schulter rief er: »Und bis zum Jüngsten Gericht, Butch.«

»So ungefähr, Mister Mike.«

Der alte Mann lachte stillvergnügt in sich hinein und spuckte wieder über das Seitenbrett des Wagens.

Die nächsten fünf Minuten gingen Mattie und Butch stumm nebeneinanderher.

Auf seinem Gesicht lag immer noch ein schiefes Lächeln, und sein steifer Gang sagte ihr, dass er wütend war. Er schien seine Seele vor ihr verschlossen zu haben.

»Meine Güte, Butch, du bist wirklich schlagfertig«, meinte sie anerkennend, um ihn wieder versöhnlich zu stimmen. »Mir ist einfach keine Ausrede eingefallen.«

»Warum überhaupt eine Ausrede!«, platzte er heraus. »›Wir gehn Zuckerrohr schneiden, Mister Mike‹«, äffte er sie mit hoher Stimme nach. »Warum hast du nicht gleich das Kleid hochgehoben und ihm gezeigt, dass deine Unterhose noch fest an den Beinen klebt? Das hast du doch gemeint, oder nicht?«

»Also, warum musst du jetzt so eklig werden? Kein Mensch hat an so was gedacht.«

»Nun lüg doch nicht, Mattie. Glaubst du denn, ich weiß nicht, was diese scheinheiligen Leute wie dein Vater über mich sagen?«

Mattie fühlte sich bemüßigt, ihren Vater zu verteidigen. »Also hör mal, du hast aber auch wirklich einen schlechten Ruf.«

»Und warum? Weil ich mein Leben lebe und andere Leute ihres leben lasse? Weil, wenn ich ein hübsches, schwarzes Girl wie dich zur Tochter hätte, ich sie nicht bald einundzwanzig werden ließ, ohne mal eine Verabredung hier und da, damit sie nicht so unbedarft bleibt und ihren Arsch nicht vom Ellbogen unterscheiden kann? Wofür hebt er dich eigentlich auf – für sich selbst?« 

Mattie blieb abrupt stehen. »Dad hat doch recht gehabt. Du bist einfach ein ordinärer Rumtreiber! Und ich muss nicht mehr alle Tassen im Schrank gehabt haben zu denken, ich könnt einen anständigen Nachmittag mit dir verbringen.« Und sie drehte sich um und wollte nach Hause gehen.

Butch fasste ihren Arm. »Good Lord, ich muss mich in seinen Augen gebessert haben! Er hat Versager vergessen. Meinst du, das ist Ermutigung genug, dass ich am Sonntagabend mal vorbeikommen kann?« Er sagte das mit einer gespielten Unschuld, die jeden Sarkasmus geschickt vermied.

Mattie konnte nicht anders, sie musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht zu lächeln. »Zu Ihrer Information, Mister Fuller, sonntags bin ich immer schon verabredet.«

»Mit wem?«

»Mit Fred Watson.«

»Mädchen, das ist keine Verabredung. Das ist eine Totenwache.«

Das unterdrückte Lächeln brach sich Bahn, trotz ihrer zusammengepressten Lippen, als sie an die langweiligen Abende mit dem Ölgötzen Fred Watson dachte, doch der war der einzige Mann in der Gemeinde, den ihr Vater als gut genug für sie befand.

»Und ich wollte schon so richtig eifersüchtig werden, doch da kommst du mir mit dem alten, vertrockneten Fred. Also, ich könnte glatt reinkommen und dich mitsamt zwei vollen Koffern klauen, bevor Fred auch nur einmal zwinkert. Ist dir mal aufgefallen, dass er zum Zwinkern doppelt so lange braucht wie die meisten Leute?«

»Das ist mir noch nicht aufgefallen«, log Mattie.

Butch schaute sie von der Seite an. »Also, das nächste Mal, wenn du mit Fred bei deinem Vater vorn auf der Veranda sitzt und ihr eine von diesen heißen, leidenschaftlichen Freierssitzungen habt, dann achte mal drauf, wie er zwinkert – bevor du endgültig einschläfst.«

Ich werde nicht lachen, wiederholte Mattie immer wieder im Stillen, ich werde nicht lachen, und wenn ich platze.

Als sie das Zuckerrohrfeld erreichten, nahm Butch ihr die Machete ab, ging durch das hohe Gras und suchte die besten Stängel aus. Sie beobachtete seinen sehnigen, schlanken Körper, wie er sich niederbeugte und mit dem breitklingigen Messer gegen die grünen und bräunlichen Zuckerrohrstängel hieb, und verspürte eine beunruhigende Erregung tief im Bauch und in den Fingerspitzen.

Jedes Mal, wenn er einen besonders reifen fand, hielt er ihn hoch, auf seinen muskulösen Armen glitzerte der Schweiß, und er rief laut: »Der ist für dich, Mattie – prall und zuckersüß«, oder: »Gott, jetzt seh sich doch mal einer an, wie dieses Superweib mich rannimmt.«

Sie wusste, das alles war Geplänkel. Alles an Butch war wie Luftblasen und Zuckerwatte, doch es entzückte sie trotzdem jedes Mal, wenn er sich aufrichtete, um ihr durch das hohe Gras etwas zuzurufen.

Als er etwa ein Dutzend Zuckerrohre abgeschnitten hatte, hob er sie auf und brachte sie zum Feldrand. Er kniete sich hin, holte eine Schnur aus der Tasche und band die Stängel zu zwei Bündeln zusammen. Als er sich wieder aufrichtete, roch er wie eine Mischung aus sauberem Schweiß, frischem Zuckerrohrsaft und Ackerkrume. Er nahm unter jeden Arm je ein Zuckerrohrbündel.

»Mattie, lang mal in die Brusttasche von meinem Overall, da ist mein Taschentuch drin. Der Schweiß macht mich ganz blind.«

Sie war sich der Härte seiner Brust unter ihren tastenden Fingern wohlbewusst, als sie das Taschentuch suchte, und als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um seine feuchte Stirn abzuwischen, streiften ihre Brustwarzen den rauen Denimstoff seines Overalls, und plötzlich spürte sie, wie sie gegen ihr dünnes Kleid rieben. Diese unbekannte Erregung verwirrte Mattie, und sie hatte das Gefühl, dass sie sich irgendwie zu weit hinaus in unbekanntes Gewässer hatte treiben lassen, und wenn sie nicht bald umkehrte, würde sie völlig vergessen, in welcher Richtung die Küste lag – oder schlimmer, es wäre ihr einfach egal.

»Also gut, jetzt haben wir unser Zuckerrohr. Dann können wir ja gehen«, sagte sie abrupt.

»Also, ist das nun nicht typisch Frau!« Butch verlagerte die schweren Stängel. »Erst bringt sie einen dazu, dreimal so viel Zuckerrohr zu schneiden, wie man für sich braucht, und dann soll man im Eiltempo nach Hause zurück, ohne auch nur ein Minütchen Pause und ohne die wilden Kräuter, für die man eigentlich den ganzen weiten Weg gemacht hat.«

»Na gut.« Mattie hob ungeduldig die Machete auf. »Wo wachsen die Kräuter?«

»Da drüben bei der Lichtung im Wald.«

Im Schatten des dichten, verfilzten Hartriegels war es mindestens zehn Grad kühler, und dunkelgrünes Basilikum und wilder Thymian bildeten auf der bemoosten Erde eine duftende Decke. Butch ließ das Zuckerrohr fallen und sank mit einem Seufzer zu Boden.

»Gott, ist das angenehm«, sagte er, schaute sich um und sog tief die kühle Luft ein. Er schien erstaunt zu sein, dass Mattie immer noch dastand. »Mein Gott, Baby, tun dir nicht die Füße weh nach all der Lauferei?«

Mattie setzte sich vorsichtig hin und legte die Machete ihres Vaters zwischen sie. Die erfrischende, feuchte Waldluft half wenig gegen die prickelnde Hitze unter ihrer Haut.

»Du fluchst zu viel«, sagte sie gereizt. »Man soll den Namen des Herrn nicht unnütz im Munde führen.«

Butch schüttelte den Kopf. »Ihr Leute mit eurem Du-sollst-nicht. Du sollst dieses nicht und jenes nicht. Deshalb bin ich nie Christ geworden – für mich heißt das, dass man das Leben nicht genießen kann, und da wir nur einmal hier auf Erden sind, wär das doch jammerschade.«

»Es hat doch keiner gesagt, dass man das Leben nicht genießen darf, aber vermutlich heißt genießen für dich, dass du jeder Frau nachstellst, die dir in die Quere kommt.« Mattie versuchte verzweifelt, sich in einen rechtschaffenen Zorn auf Butch hineinzusteigern. Sie brauchte etwas, das die Nachwirkung seiner Berührung und seines Geruchs aufheben würde.

»Ich lauf gar nicht so vielen Frauen nach, Mattie, ich bleib nur nicht so lange, dass das Schöne bitter werden kann. Verstehst du, bevor wir zwei uns festfahren und miteinander streiten, an uns herumzerren und aneinanderklammern, weil wir vergessen haben, wie man loslässt. Siehst du, alle Frauen, die ich gekannt hab, können sich nur an gute Tage mit mir erinnern. Und wenn sie dann bei diesen Männern hängen geblieben sind, die sie nicht beachten oder sie verprügeln oder betrügen, dann sitzen sie hinten auf der Veranda, pulen Erbsen und denken an den alten Butch und sagen: Ja, das war doch mal ein sweet red nigger – all die Tage, die wir zusammen hatten, der reinste Sonnenschein; vielleicht war’s ja kurz, aber es war immerhin eine gute Zeit.«

Was er sagte, leuchtete Mattie ein, doch irgendwie stimmte seine Beweisführung nicht ganz, aber sie konnte nicht recht ausmachen, wo der Haken lag.

»Jetzt denk mal scharf nach«, sagte er, »wie viele Frauen, mit denen ich gegangen bin, haben je was Hässliches über mich zu sagen gehabt? Vielleicht ihre Mum oder ihr Dad«, er schaute verschmitzt lächelnd übers Gras, »oder ihr Mann – aber sie nie. Denk mal nach.«

Sie überlegte hin und her, aber ihr fiel kein einziger Name ein.

Butch grinste triumphierend, als er ihr Gesicht beobachtete – er konnte die Checkliste, die sie im Geiste durchging, förmlich sehen.

»Na«, fuhr Mattie ihn an, »es wird schon noch die eine oder andere geben, von der ich nichts weiß.«

Butch warf lachend den Kopf zurück. »Gott, das liebe ich so an euch Frauen – ihr seid doch fast nie um ein Wort verlegen. Mattie, Mattie Michael«, sang er sanft und leise, und seine Augen streichelten ihr Gesicht. »Wo hast du eigentlich so einen Männernamen wie Michael her? Müsste es nicht Michaels heißen?«

»Nee, Dad hat erzählt, als die Befreiung kam, war sein Dad noch ein kleiner Bub und hat schlecht gehört, und so haben sein Herr und alle andern auf der Plantage immer zweimal rufen müssen, bis er es mitbekommen hat. Und da er Michael hieß, haben sie ihn immer Michael-Michael gerufen. Und als der Zähler der Nordstaaten kam und die Schwarzen registriert hat, hat er gefragt, wie mein Großvater hieß, und da haben die Leute ihm gesagt, Michael, mehr wüssten sie auch nicht. Also hat der dumme Yankee das hingeschrieben, und von da an hießen wir Michael.« Matties Vater erzählte ihr diese Geschichte immer sehr gerne, und sie ihrerseits erzählte sie mit Vergnügen jedem, der sie wegen ihres merkwürdigen Nachnamens befragte. Während sie redete, achtete Butch darauf, seinen Blick nicht tiefer als bis zu ihrem Hals wandern zu lassen. Er wusste, sie saß dort drüben wie ein verängstigtes Vögelchen, bereit, sofort davonzufliegen. Und die kleinste Bewegung von ihm würde sie ein für alle Mal verschrecken.

Also hörte er ihr zu, den Blick aufmerksam auf ihr Gesicht gerichtet, während seine Gedanken den Ebenholzhals hinabglitten, der gerade füllig genug war, um die Nase darin vergraben und winzige Stückchen Fleisch ansaugen zu können, die fast so glatt waren wie die Haut ihrer vollen, runden Brüste mit den Brustwarzen, die hoch standen und unglaublicherweise noch dunkler wären als die Brüste, sodass man, wenn man sie mit der Zunge berührte, das Gefühl hatte, man trinke sahnigen, starken Kakao. Allein dort konnte ein Mann sich ein Leben lang aufhalten, doch auch der sanfte Hügel ihres Bauches flüsterte ihm zu, und seine Gedanken wanderten dort hinunter und massierten ihn sanft, so sanft, bis er weich und nachgiebig war und voller Erwartung. Und dann spielte seine Zungenspitze in der kleinen Höhlung in der Mitte ihres Bauches, rund und rund, während seine Hände versuchten, jede Wölbung und Beschaffenheit der Schenkelinnenseite auswendig zu lernen, die Schenkel leicht auseinanderzupressen, sodass sie hindurchgreifen und sich in der unendlichen Weichheit ihres Hinterns verlieren konnten. Und sie würde warten und warten, voller und voller werden und ihn dann schließlich anflehen, etwas zu tun – irgendetwas –, um dieses Dehnen zu stoppen, bevor sie aus ihrer Haut fahren und in tausend Stücken zwischen den Wurzeln der Bäume und den Blättern des winzigen Basilikums liegen würde. 

Als Mattie mit ihrer Geschichte zu Ende war, schaute Butch auf das Zuckerrohr hinunter und ließ den Griff seines Klappmessers an den dicken, wulstigen Ringen entlanggleiten.

»Weißt du, wie man Zuckerrohr isst, Mattie?«, fragte er und war immer noch mit den Wülsten beschäftigt. Aus Angst, sie könne es in seinen Augen lesen, vermied er es, sie anzuschauen.

»Du bist doch ein verrückter Nigger, Butch Fuller. Erst fragst du mich nach meinem Namen, und dann kommst du mit einer so abwegigen Frage wie dieser. Ich hab mein Leben lang Zuckerrohr gegessen, du Dummkopf!«

»Nee«, sagte Butch, »’s gibt Leute, die sterben und haben noch nicht gelernt, wie man Zuckerrohr richtig isst.« Er kam hoch auf die Knie, brach einen der Stängel ab und fing an, ihn mit seinem Messer zu schälen. Er sprach so leise, dass Mattie sich zu ihm beugen musste, um ihn zu verstehen.

»Weißt du«, sagte er. »Zuckerrohr essen ist wie das Leben leben. Man muss wissen, wann man mit dem Kauen aufhören muss – wann man aufhören muss, auch noch das letzte bisschen Süße aus einem Stück herauszuholen, sonst hat man plötzlich den Mund voll mit stachligem Stroh, das ins Zahnfleisch und in den Gaumen sticht.«

Die breite Klinge des Messers glitt unter die grüne Hülle des Stängels, und klare Tröpfchen Saft sprühten unter der Schneide auf und glitzerten in der versinkenden Nachmittagssonne.

»Der Trick ist«, sagte er und schnitt eine Scheibe der zähen, gelben Fasern ab, »das Stück auszuspucken, wenn es noch fest ist, sodass dieses letzte bisschen Saft – das, von dem du glaubst, dass es am Ende das süßeste sein wird – der Zunge entgeht. Es ist hart, aber du musst es genau dann ausspucken … Du weißt, was ich meine, Mattie?«

Endlich schaute er ihr direkt ins Gesicht, und Mattie sah sich weit, weit in dem Meer seiner braunen Iris dahintreiben, wo die Worte – Küste und Anker – zu Unverständlichkeiten irgendeiner fremden Sprache wurden.

»Hier«, sagte er und hielt ihr ein Stück von der Zuckerrohrscheibe hin, »versuchs mal so, wie ich dir gesagt hab.« Und sie versuchte es.

2

Zwei Tage lang hatte Matties Vater weder mit ihr noch mit seiner Frau auch nur ein Wort gesprochen. Die quälende Stille im Haus war viel schlimmer als das Unwetter, mit dem Mattie gerechnet hatte, nachdem ihre Mutter ihm von der Schwangerschaft erzählt hatte.

Samuel Michael war nie ein Mann vieler Worte gewesen, doch seine ruhigen, unveränderlichen Gewohnheiten hatten ihrem Heim ein Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit gegeben. Mattie war das einzige Kind seiner späten Jahre, und solange sie sich erinnern konnte, war er ein alter Mann mit einer starren und strengen Art gewesen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter erhob er die Stimme nie; und wenn die beiden eine Meinungsverschiedenheit hatten, tobte ihre Mutter durchs Haus, grummelte vor sich hin und klapperte laut mit den Töpfen, wohingegen er einfach im Schaukelstuhl auf der Veranda saß und in seiner Bibel las.

Einmal hatte sich Mattie ein Paar Kunstlederpumps gewünscht, wie die Mädchen in der Stadt sie trugen, und die Mutter hatte gemeint, sie seien zu teuer und für ihre staubigen Landstraßen zu unpraktisch. Sam lehnte es ab, in dem Streit um die Schuhe, der wochenlang dauerte, Position zu beziehen, doch dann verdingte er sich einen Monat lang samstags auf den Süßkartoffelfeldern, brachte die Schuhe heim und ließ sie ihr in den Schoß fallen – trag sie nur sonntags, waren seine ersten und letzten Worte in dieser Angelegenheit.