Links, wo das Herz schlägt - Rainer Hank - E-Book

Links, wo das Herz schlägt E-Book

Rainer Hank

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Beschreibung

Was ist eigentlich heute noch links?

Noch immer steht in unserem Land „links“ für „gerecht“, „ökologisch“, „sozial“. Jeder will es sein, doch wer ist es wirklich? Rainer Hank schaut zurück auf die eigene „linke“ Geschichte und die seiner Generation und konfrontiert diese mit dem Stillstand der Gegenwart. Damit leistet er die überfällige Inventur einer großen, wirkungsmächtigen politischen Idee.

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Rainer Hank

Links, wo das Herz schlägt

Inventur einer politischen Idee

Knaus

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Copyright © der Originalausgabe 2015 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling ISBN 978-3-641-15094-5V002
www.knaus-verlag.de

I. Warum man manches sieht, aber Entscheidendes übersieht. Warum es gut ist, eine Weltanschauung zu haben, und wie meine Eltern zu einer Spülmaschine gekommen sind.

Was wirklich los ist, sieht man nicht. Oder erst viel später. Dass das Jahr 1972, als ich endlich mein Abitur in der Hand hielt, nicht nur für mich, sondern auch für die Weltgeschichte eine entscheidende Zäsur war, habe ich nicht bemerkt. Und meine Zeitgenossen auch nicht. Hätten wir es bemerkt, hätten wir nicht nur unsere Reife, sondern auch das definitive Ende der Nachkriegsparty ausgelassen feiern müssen. Besser würde es nicht mehr werden.

Mit dem Jahr 1972 nämlich verabschiedete sich das »Wirtschaftswunder« aus Deutschland, dieser historisch einmalige Boom der Nachkriegsjahre, welcher den Deutschen anhaltende Vollbeschäftigung, viel Konsum und ein jährliches sattes Wirtschaftswachstum bescherte. Der emsige Fleiß einer von Krieg, Niederlage, Flucht oder Gefangenschaft traumatisierten Generation und eine glückliche Konstellation der Weltwirtschaft waren die Väter dieses Erfolgs. Gastarbeiter, deren Kinder wir in unserer Grundschulklasse Jugos und Itaker nannten, halfen den Deutschen, die viele Arbeit in den Fabriken zu machen, die nötig war, um die Konsumwünsche und Sozialansprüche einer zu Wohlstand gekommenen Gesellschaft zu befriedigen.

Schon Ende der fünfziger Jahre konnten sich meine Eltern wenigstens ein halbes Auto leisten; die andere Hälfte gehörte Tante und Onkel, die um die Ecke wohnten. Später dann, Mitte der sechziger Jahre, gab es zum Radio ein Fernsehgerät (»Nordmende«), schließlich dann sogar eine Spülmaschine, mit der die Eltern immer fremdelten, so als müssten sie sich gegen den Vorwurf zur Wehr setzen, sie wollten sich aus Faulheit um den Abwasch drücken. Und statt nach Österreich in die Frühstückspension waren auch wir Mitte der sechziger Jahre mit vielen anderen Deutschen nach Rimini gefahren, wo es für die Adria-Variante der Alpenpensionen leider nur in der dritten Reihe gelangt hatte – zu Eisenbahn- statt Meeresblick. Wie auch immer: Wir hatten es zu etwas gebracht, ich am Ende sogar zum Abitur.

1972 war das letzte gute Jahr. Danach ist unsere Gegenwart angebrochen, so wie wir sie heute kennen. Inflation und Arbeitslosigkeit kamen in unsere Welt, das Wachstum hat sich verabschiedet. Das war eine ökonomische Umwälzung, die das Land und die Menschen verändert hat. Erst ist die Sorge gekommen, dann die Skepsis. Und der Fortschritt hat sich verflüchtigt. Eltern bangen um die Zukunft der Kinder, fürchten, dass sie den erreichten sozialen Stand nicht werden halten können. Viele haben Angst, die Menschen könnten die Schöpfung dauerhaft ruinieren. Wo aber die Angst umgeht, da nimmt das Bedürfnis nach Sicherheit zu, und die Lust, Risiken einzugehen, schwindet.

Es hat gedauert, bis man es merkte, dass alles anders war. Historische Zäsuren, wenn sie nicht mit Kriegen verbunden sind, werden von den Zeitgenossen selten unmittelbar wahrgenommen. Die Indizien für diese Wende 1972/73 aber waren schwach. Was wir gemerkt haben war, dass man an ein paar Sonntagen nicht mehr Auto fahren durfte. Leere Autobahnen, spielende Kinder auf der Überholspur – für eine ganze Generation wurde das eine prägende Erfahrung, von der sie heute noch erzählt. Aber was hatte das alles zu bedeuten? Wir nahmen es als singuläres Ereignis. Danach floss der Verkehr ja wieder.

Wenn auch die Alten es nicht gemerkt haben, wie hätten wir Neunzehnjährigen damals etwas davon mitbekommen sollen, als wir unser Abiturzeugnis in Händen hielten – wir mussten es übrigens selbst abholen bei der Sekretärin im Vorzimmer des Schulleiters. Nicht etwa, weil der Direktor (»Rex«) so stillos gewesen wäre, sondern weil unsere Vorgänger (mögen es drei oder vier Jahrgänge über uns gewesen sein) alle Riten der Abiturfeierlichkeiten mit Anzug und Streichorchester als bürgerliches Ornament aus dem Schulalltag verbannt hatten. Ich leistete mir dann den Aufbruch zu einem Studium der katholischen Theologie und Literaturwissenschaft ohne jegliche konkrete Berufsvorstellung. Ein »Karriereziel« – schon das Wort wäre uns nicht über die Lippen gekommen – war nicht nötig in der alten Welt der Vollbeschäftigung vor 1973. Arbeit und Berufe bekamen die Leute ja von alleine; das würde sich fügen. Ich wollte verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält – und sie dann verändern und gehörig verbessern. Schließlich waren wir damals links. Wer links war, suchte eine bessere Welt. Irgendwie.

Gut vierzig Jahre sind seither vergangen. Links bin ich schon eine geraume Zeit nicht mehr. Irgendwann bin ich zum Liberalen geworden. Subjektiv hatten wir, wie gesagt, damals, in diesem letzten guten Jahr 1972, überhaupt nicht das Gefühl, in der besten aller Welten zu leben. Hätte das einer behauptet, wir hätten ihn als konservativ (»affirmativ« hätten wir hinzugefügt) denunziert. Affirmativ, fast ein Schimpfwort, war das Gegenteil von kritisch. Wer kritisch sein wollte (und wer wollte das nicht?), der wusste, dass diese Welt verändert werden musste, weil diese Gesellschaft, in der wir lebten, keine gute Gesellschaft war.

Dafür musste man nur nach Vietnam schauen, wo die Amerikaner mit fürchterlichen Napalm-Bomben einen ungerechten Krieg führten. Oder nach Lateinamerika, wo die Großgrundbesitzer die einfachen Bauern unterjochten. Oder in die Dritte Welt, die auch nach dem Ende des Kolonialismus von der ersten Welt ausgebeutet wurde, weshalb die Menschen dort dazu verdammt waren, immer arm zu bleiben. Oder in die Daimler-Fabrik in Untertürkheim, wo die Arbeiter ihrer entfremdeten Arbeit nachgingen, stumpf in einer Halle am Fließband arbeitend, deren Wände (»affirmative«) Psychologen in hellen Farben hatten anmalen lassen, weil sie in ihren, dem Kapital dienenden Forschungen herausgefunden hatten, dass solche hellen Farben die Arbeiter motivieren und produktiver werden lassen.

Kurzum: Das »System« lag überall im Argen, das politische System war krank, das wirtschaftliche erst recht. Der Kapitalismus brachte bei Weitem mehr Nachteile als Vorteile (wenn überhaupt). Unser Standardbeispiel in den Oberstufendebatten waren die Glühlampen und die Nylonstrümpfe, die von den Kapitalisten mutwillig mit einer Verfallszeit konstruiert wurden, obwohl der technische Fortschritt längst ewig brennende Lampen und immerdar haltende Beinkleider möglich gemacht hätte. Der Kapitalismus schafft sich seine eigene Nachfrage, indem er auf perverse Weise den Destruktionsmechanismus in seine Produkte einbaut. Wie pervers. Eine vollkommene Befriedigung der materiellen Bedürfnisse wäre der Menschheit längst möglich, aber der Kapitalismus durfte daran vernünftigerweise kein Interesse haben.

Für Wirtschaft interessierten wir uns gleichwohl herzlich wenig. Jedenfalls hatten wir nicht das Gefühl, dass, um ein großer Kapitalismuskritiker zu werden, ein gewisses Grundverständnis von Ökonomie hilfreich sein könnte. Das galt wohl generell für uns alle damals, die wir in der philosophischen Fakultät studierten. Wir setzten mit Adorno beim großen Ganzen an, das bekanntlich das Falsche war. Wer es einmal in diese Höhen der Negativen Dialektik geschafft hatte, brauchte sich nicht mehr in die Niederungen der Wachstumstheorien zu begeben. Das war bei den Ökonomen und Soziologen unter den Linken damals schon anders; die hatten ihren Marx gelesen. Heute ist es definitiv anders. Zumindest jene Linken (und nicht nur die intellektuellen Protagonisten, sondern auch die klugen Blogger und Aktivisten bei Attac & Co.), die sich international an der großen Gerechtigkeits-, Ungleichheits- und Verteilungsdiskussion unsere Tage beteiligen, tun das erkennbar auf intellektuell besserem Niveau als wir damals. Heute, wo ich kein Linker mehr bin, ist die Linke intellektuell stärker geworden. Aber Linkssein ist irgendwie auch ein weites Feld: Damals ging es um alles, den Aufbruch. Heute geht es um Bestimmtes: Ungleichheit, Gerechtigkeit, Globalisierung und so.

Worum geht es mir in diesem Buch? Was mich heute umtreibt, ist die Frage, worauf wir eigentlich unsere politischen Überzeugungen gründen und wie wir sie finden. Wie konnte unser linkes Weltbild entstehen? Wann bekam das meine seine ersten Risse? Und wann wurde ich zu einem Liberalen, der den Anspruch erhebt, dass die Idee der Freiheit heute die linke Utopie von damals besser, aber natürlich auch auf andere Weise einlösen kann, als wir es damals wollten? Diese Bestandsaufnahme zeichnet biographische Entwicklungen und Verwicklungen nach, reflektiert die Frage, wo eigentlich Werte herkommen, bringt den Gang der Zeitgeschichte ins Spiel und wird am Ende zu einer Apologie des Liberalismus. Sie ist adressiert an seine linken Verächter, unternommen im Versuch, die Gegner, wenn schon nicht zu bekehren, so zumindest vom moralischen Ernst zu überzeugen. Der Liberalismus darf sich seinen Anspruch auf das überlegene Gerechtigkeitskonzept vom Moralismus der Linken nicht nehmen lassen. Den Vorwurf der Herzenskälte gilt es leidenschaftlich und klug zu parieren.

Unserem Linkssein war nie eine bewusste Entscheidung vorangegangen, so, als wäre man einem Test ausgesetzt (oder einer Art gesellschaftspolitischem Wahlomat), wo man fünfzig Fragen beantworten müsste, um am Ende festzustellen, ob man politisch rechts, links oder liberal sei (»grün« gab es damals noch nicht). Dieses Linkssein brachte unsere Generation der in den fünfziger Jahren geborenen Deutschen schon von der Schule als eine Selbstverständlichkeit mit. Natürlich hatten wir die Achtundsechziger, die wir nicht waren, bewundert. Rudi Dutschkes Gespräch auf einem Autodach in Freiburg mit Ralf Dahrendorf – emotional auf Seiten Dutschkes stehend – im Fernsehen verfolgt, natürlich waren wir immer irgendwie traurig, dass die Achtundsechziger die Pioniere waren, die wir nie einholen konnten. Aber als »Zaungäste«, um die Metapher von Reinhard Mohr zu nehmen, haben meine Schulfreunde und ich uns nicht gefühlt. Das wäre ja ganz und gar passiv gewesen. Wir wollten schon mitmachen. Vielleicht als Epigonen (obwohl das auch schon zu resignativ klingt) oder als »Flakhelfer« der Achtundsechziger-Bewegung, wie Ulrich Raulff meint, was schon angemessener klingt, weil damit auch ein gewisser Wiederholungszyklus der Kriegsgeneration unserer Väter angesprochen wird. Die Flakhelfer waren ja ebenfalls mit Begeisterung losgezogen. Wir hatten es gerade noch geschafft, dabei zu sein, und waren darauf nicht nur stolz, sondern auch, wenn man so gebaut ist wie ich, ehrgeizig genug, bei den Älteren Anerkennung zu suchen. Würde man uns heute als »Mitläufer« denunzieren, die damals schon von Mitläufern rekrutiert wurden, wäre das nicht ganz falsch. Aber es würde mich doch auch ein wenig kränken, weil im Nachhinein neue Mitläufer gerne über frühere Mitläufer herfallen.

So also kam ich im Wintersemester 1972 nach Tübingen (nicht allzu weit weg von Stuttgart). Ich rieche noch heute den Herbst der schon modernden Blätter im alten Botanischen Garten, durch den man musste, wenn man vom »Kupferbau«, dem großen Hörsaalgebäude, oder dem »Clubhaus« in die Altstadt wollte. Im Linguistik-Seminar hatte sich der Seminarleiter in der ersten Semesterwoche mit »Ich bin der Gerd« vorgestellt, was mir etwas seltsam vorkam, hatten wir bisher doch alle unsere Lehrer gesiezt. Nein, das stimmt nicht: Den jungen Referendar, der Politik und Geschichte unterrichtete, den durften wir auch duzen – und auch der war ein Linker, womit schon klar war, dass der Gerd ein Linker sein musste, was sich alsbald erhärtete, weil sich unser Seminar schwerpunktmäßig mit Soziolinguistik – der Analyse der Sprache der sozialen Klassen und der Sprache der Unterdrückung – befassen würde. Zugleich sollte das Du Hierarchien einebnen. Autorität sein zu müssen, ein Gefälle von Anweisung und Gefolgschaft zu akzeptieren, machte vielen in der Generation meines Seminarleiters, der wahren Achtundsechziger, gewaltige Angst. Sie wollten echte Egalitäre sein. Sie wollten keine Noten geben, weil das Ausübung von Macht wäre. Sie misstrauten dem Wettbewerb und erlebten Ungleichheit als Bedrohung. Ich bin einer von euch, wollte uns der Gerd sagen, stelle mich nicht über euch, nur weil ich der Seminarleiter bin. Das Du war weniger eine Geste des Vertrauensbeweises als eine Art innerer Zwang, der Differenz entgehen zu müssen. Manchmal, nicht bei Gerd, war das Du auch einfach nur der Ersatz dafür, dass der Seminarleiter einem auch wirklich nichts zu sagen und beizubringen hatte; sozusagen die wahre Egalität.

An dieser Arabeske, dem Duzen, macht sich im Nachhinein eine Ambivalenz des Linkswerdens fest (vielleicht aller Milieus, in die man als junger Mensch hineinfällt): Stets geht von Milieus nicht nur jene Entlastung aus, die jegliche Erfahrung der Zugehörigkeit bedeutet, sondern immer auch ein Zwang, ein Druck der Anpassung. »Nein« zu sagen, ich will einen Seminarleiter lieber siezen, wäre bei den Kommilitonen schlecht angekommen. Ich jedenfalls hätte mich nicht getraut, mich derart als Außenseiter zu profilieren. Lieber probierte ich innerlich aus, ob die Lizenz zum Duzen unter uns allen eine politische – »inhaltliche« – Nähe konstituieren könnte, die das Duzen sachlich gerechtfertigt sein ließ.

Was ihn an der Vergangenheit fasziniere, schreibt Roland Barthes in seinen autobiographischen Aphorismen »Über mich selbst«, sei nicht das Irreversible der entschwundenen Zeit, sondern das Nichtzureduzierende dessen, was von damals und schon damals in einem sei: »die schwarze Kehrseite meiner selbst«. Diese bringe einen in einen Zustand »beunruhigender Vertrautheit« mit sich selbst. Natürlich geht es mir in diesem Buch nicht um die bloße Rückschau eines allenfalls für einen selber, nicht aber für die umgebende Öffentlichkeit aufregenden Lebens, sondern um eine Skizze erlebter Zeitgenossenschaft in gut vierzig Jahren, die freilich um der subjektiven Beglaubigung und Wahrhaftigkeit willen das »ich« gebraucht und um perspektivisch den Ort zu benennen, von dem her die Erfahrungen, Einsichten und Reflexionen formuliert sind. Zu wenig aber enthält Barthes’ Formulierung für meine Zwecke, weil es mir mehr als um die »schwarze Kehrseite meiner selbst« um verallgemeinerbare Erfahrungen meiner Generation zu tun ist. Wie erklären wir uns heute das Zustandekommen der linken Selbstverständlichkeit von damals, die aus der Rückschau gerade wegen ihrer Selbstverständlichkeit etwas beunruhigend Vertrautes an sich hat? Vertraut, weil wir uns noch gut an uns und unsere Einstellungen erinnern, fast als wäre es gestern: Wie wir unbedingt die Gesellschaft, den Kapitalismus, die Kirche, die Politik verändern, verbessern, revolutionieren und uns dabei irgendwie befreien lassen wollten. Ich will das alles auch heute noch ernst nehmen. Beunruhigend aber ist, welchem absurden Glauben wir teilweise anhingen, in dessen Glaubenssätzen wir einander bestätigten, ohne etwas zu verstehen, weil es an diesen Phrasen nichts zu verstehen gab. Beunruhigend ist auch, wie es kommen konnte, dass wir, die wir doch groß geworden waren mit dem unbedingten Anspruch, alles und jedes zu hinterfragen, die linke Selbstverständlichkeit selbst nicht hinterfragen wollten oder konnten.

Das Nichthinterfragen des Linksseins war offenbar allen aus meiner Generation damals gemein: Das linke Milieu war für uns so etwas wie der transzendental vorgegebene Rahmen, innerhalb dessen wir uns in unser Leben hinein entwickelten. Wir fanden uns in ihm vor, ihn zu verlassen war schon gedanklich unmöglich: Wie hätte die Welt dahinter ausgesehen, von der aus wir einen Bezug zu unserem Wertekosmos hätten einnehmen können?

Mein Bericht ist nicht abermals, oder allenfalls sehr indirekt, das Bekenntnis eines zu spät gekommenen Achtundsechzigers. Der Erforschung der Zeit – wissenschaftlich, literarisch, kollektiv, individuell – braucht von mir nichts hinzugefügt zu werden. Der Titel »Links, wo das Herz schlägt« stellt in Wirklichkeit eine Frage: Wie ich, der damalige Durchschnittslinke, zu dem wurde, der ich heute bin: Ein Liberaler, den viele als »Neoliberalen« befremdeln, verspotten, beschimpfen, zuweilen auch bestätigen. Wie viel Kontinuität der Überzeugungen, Haltungen, Werte, Präferenzen hat oder braucht ein/mein Leben? Wie viel Veränderung, Brüche, Konversionen sind aus Gründen der Glaubwürdigkeit und Authentizität nötig und verträgt das Leben? Ist es Mut oder abermals Schmiegen an den Zeitgeist zu sagen, dass ich heute kein Linker mehr sei? Und warum gibt es dabei das Bedürfnis zu insistieren, dass, was uns damals wichtig war, heute immer noch da ist, wenn auch gewandelt. Immerhin steige ich stets gerne in die Debattierarena, um zu beweisen, dass die damaligen »Anliegen« im liberalen Denken besser aufgehoben sind als im linken und dass das Diktum des Harvard-Ökonomen Alberto Alesina schon seine Richtigkeit hat: »the left should love liberalism«. Ein Gedanke, der zumindest den Deutschen ziemlich fern ist. Wenn der linke Leser am Ende meines Buches das Gefühl hätte, er wisse, dass und warum die meisten Linken in Wahrheit Liberale seien, dann wäre ich schon sehr zufrieden.

»What’s left?«, lautet die Frage. Was ist vom linken Denken übrig geblieben, und was kann heute noch »links« sein? Dabei ließe sich gewiss fragen, warum es mir überhaupt wichtig sei, immer noch irgendwie links sein zu wollen, was vermutlich nicht nur mit den Prägungen und Sozialisationen in den siebziger Jahren zu tun hat, sondern damit, dass links zu sein seit der Aufklärung mit einer hohen moralischen Aufladung daherkommt, irgendwie wertvoller im Vergleich zum notorischen Utopiedefizit der Konservativen oder gar dem pragmatischen Lakonismus der Liberalen, die sich das Anti-Utopische geradezu auf die Fahnen geschrieben haben.

Was war eigentlich damals links? Man sollte sich vom heutigen Blick frei machen, wo »links« meistens Verteilungsdebatten über wachsende Ungleichheiten sind: dass die Reichen immer reicher werden, die Mittelschichten abstürzen und die Schere sich immer weiter öffnet. An solche Sachen denkt heute, wer an »links« denkt: Linke finden Ungleichheit die schlimmste Ungerechtigkeit, die man sich vorstellen kann, und sinnen über Maßnahmen nach, wie man diese Schlechtigkeit ändern kann – je nach persönlich-politischer Radikalität werden sie für Steuerreform oder Revolution (kommt heute seltener vor) oder irgendetwas dazwischen optieren. Links, so könnte man sagen, ist heute eine sozialphilosophische Option.

Daran haben wir damals nicht gedacht. Oder nicht in erster Hinsicht. Links, man muss es so vage sagen, war irgendwie ein Lebensgefühl und -ausdruck. Eine Haltung, mit der wir uns untereinander zugehörig fühlten. Links war das Versprechen einer besseren Welt, das wir einander gaben. »Versuch über die Befreiung« heißt das Stichwort, das Herbert Marcuse gab. Ein älterer Freund hatte mir das kleine Suhrkamp-Büchlein schon in der Oberstufe empfohlen. Ich hatte es damals in einem Rutsch durchgelesen. »Repressive Toleranz« kam darin vor, ein Ausdruck, der sagen soll, dass unsere Gesellschaft auf besonders perfide Weise verhindert, dass wir unsere wahren Bedürfnisse kennen. Indem sie uns mit dem Zauber all der Waren, die es gibt, falsche Bedürfnisse vorgaukelt. Irgendwie verhindert der Kapitalismus, dass wir zu uns kommen und bei uns sind. Irgendetwas lief falsch, war der Marcuse-Sound. Für so etwas war ich empfänglich. Für so etwas sind junge Menschen zu allen Zeiten empfänglich. Einmal hatte es Marcuse auch nach Tübingen geschafft, es muss im Sommersemester 1974 gewesen sein. Das ganze Audimax war brechend voll. Ich sehe ihn noch vor mir, eine imponierende Gestalt, er trug ein weißes Hemd und helle, breite Hosenträger. Das sah irgendwie altmodisch und kalifornisch zugleich aus.

Ich habe mir Marcuses »Versuch über die Befreiung« jetzt noch einmal angeschaut. Und war merkwürdig überrascht. Mir kam der Ton vertraut, sogar sympathisch vor. Es geht darum, »ein Reich der Freiheit zu errichten, das nicht das der Gegenwart ist: eine Befreiung von den Freiheiten der ausbeuterischen Ordnung – eine Befreiung, die dem Aufbau einer freien Gesellschaft dient«. Gewiss, den Jargon der ausbeuterischen Ordnung würde ich nicht mehr benützen. Aber Freiheit? Marcuse, der Freud, Nietzsche und Marx amalgamierte, nennt Freiheit einen Zustand, »sich nicht mehr vor sich selbst schämen zu müssen«. Das ist ein schöner Gedanke, oder? Die Menschen sollten von der sie unterjochenden, nicht befriedigenden Arbeit befreit werden, aber auch ihre pervertierten Triebe sollten befreit werden. Marcuse schlägt einen Ton an, der irgendwo zwischen Marx, den französischen Surrealisten und den befreienden Erfahrungen von Jazz, Rock ’n’ Roll und Marihuana (dafür war ich zu brav) liegt. Er selbst nennt es »Koinzidenz«, dass er, der alte Mann, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, und die jungen Leute in Berkeley irgendwie dieselben Träume hatten. Marcuse, ein jüdischer Emigrant aus Deutschland, der in San Diego/Kalifornien lehrte, schrieb über das Menschenrecht, glücklich zu sein. So etwas nannten wir damals links. Und dass es dazu einen Akt der Befreiung braucht, leuchtete uns ein. Es war das Rebellische, das uns anzog, weniger das Politische. Es ging gegen das »Establishment«, gegen die Autoritäten, gegen die »Entfremdung«, die wenig mit Marx’ klarem analytischem Begriff zu tun hatte, eher mit einigermaßen verworrenen, gärenden, unklaren Gedanken, wie der amerikanische Linksintellektuelle Irving Howe in seinem epochalen Aufsatz »New Styles in Leftism« von 1965 schneidend-kritisch moniert: Die Neue Linke verkörpert einen Stil, sich zu kleiden, zu sprechen, zu arbeiten. Und eine spezifische Kultur der Leichtigkeit.

Diese, soll man sagen: anglo-amerikanische Heiterkeit, die sich ausklinkt, hatte uns damals gefallen. Mein musikalischer Held in der Schulzeit war nicht der sanfte Paul McCartney oder der harte Mick Jagger, sondern – im Glanz der Minderheit – der anarchische Ray Davies, der Kopf der »Kinks«. Der einzige Nummer-eins-Hit, der den Kinks in Deutschland gelang, hieß »Dandy«: nicht wirklich ein linkes Revolutionslied – aber doch ein Song der Rebellion im Wirtschaftswunderland. »Dandy, Dandy, You’re chasing all the girls/They can’t resist your smile/Oh, they long for Dandy, Dandy …« Viel Sehnsucht. »You always will be free.« Auch jenen »Dedicated Follower of Fashion«, den die Kinks in einem anderen Hit besangen, kann man nicht wirklich als Objekt beißender Konsumkritik interpretieren, allenfalls sanfter spöttelnder Ironie. Mit den Dandys habe ich mich später ausgiebig beschäftigt – in einer Dissertation über die Literatur des »Fin de Siècle«.

Wenn man bei Marcuse im »Versuch über die Befreiung« weiterliest, finden sich auch Schwärmereien für Kuba, Vietnam und die »Kulturrevolution« in China. Da wird es dann peinlich – oder schlimmer, denkt man an die vielen Menschenopfer, die Mao zu verantworten hat. Später war Marcuse nicht mehr so gut angesehen, wahrscheinlich weil er so leicht verständlich war. Später lasen wir Adorno und Paul Celan. Wir verstanden zwar viel weniger, aber das Ganze klang dafür bedeutender.

Geschlossene Milieus zeichnet eine ganz bestimmte Blindheit aus. »Was man sieht und was man nicht sieht«, bezieht sich nicht nur darauf, dass wir die epochale Zäsur des Jahres 1972/1973 nicht sehen konnten. Wir haben gesehen und bewundert, wie im Jahr 1973 Salvador Allende nicht durch blutige Revolution wie in Russland 1918, sondern durch demokratische Wahl als Sozialist und Kommunist in Chile an die Macht gekommen war. Und Pablo Neruda war für viele von uns ein Held, der gleich nach Marcuse kam. Was wir nicht gesehen haben – oder sehen wollten – war, dass Allende, viel schneller als alle Kommunisten in der DDR oder der Sowjetunion, sein Land in nur wenigen Monaten in den wirtschaftlichen Ruin und die Menschen in bittere Armut gestürzt hat.

Mich interessieren solche intellektuellen Vexierbilder. Lange sieht man die zweite Figur nicht. Hat man sie aber einmal in den Blick bekommen, kommt sie einem fast wie die eigentlich dominante Gestalt vor, und es macht Mühe, sich das alte Bild in den Sinn zu rufen. Wie konnte man nur an diesem Mao, einem Verbrecher, überhaupt etwas Positives finden? Ähnliches wie mit Allende, nur spiegelverkehrt, passierte ein Jahr später, 1974: Meine Mutter, eine unpolitische Frau, die aber wusste, dass mich politische Debatten interessieren, schenkte mir den »Archipel Gulag« des sowjetischen »Dissidenten« Alexander Solschenizyn, ein blaues Paperback, ich sehe es noch vor mir. Ich habe das Buch ungelesen in den Bücherschank gestellt, mich fast ein bisschen geschämt dafür, was wäre, wenn Freunde und Kommilitonen dieses Buch bei mir im Regal sähen. Aus Angst vor dem »Beifall von der falschen Seite« (eine gerne genommene ideologisch-immunisierende Formulierung) weigerten wir uns, uns mit den Verbrechen des Kommunismus auseinanderzusetzen. Dafür, dass ich mich damals vor den Freunden schämte, schäme ich mich heute vor meiner Mutter wegen der inneren Zurückweisung ihres Geschenkes. Scham ist eine sehr an den Körper gebundene Erinnerung. Sie meint Roland Barthes vermutlich, wenn er sagt, der Zustand »beunruhigender Vertrautheit« bei der späteren Betrachtung der eigenen Kindheit und Jugend bedürfe der Beziehung zum »›Es‹ meines Körpers«. Man muss versuchen, es sich zu vergegenwärtigen, auch wenn es aussichtslos ist. Es geht um eine Art intellektueller Gestaltlehre: Wie und warum drehen sich kollektive Wahrnehmungen derselben Ereignisse? Aber auch: Warum kippen die einen das Vexierbild, die anderen aber nicht?

Es gilt den Eindruck zu korrigieren, der Rückblick von heute aus besitze jenes absolute Wissen, aus dem heraus wir beide Seiten des Bildes versöhnend in den Blick bekämen: was wir damals gesehen und geglaubt und was wir damals nicht gesehen haben. Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Schon rein theoretisch müssen wir annehmen, dass auch heute die Welt die Gestalt eines Vexierbildes hat und wir nur eine Figur (das junge Mädchen?, die alte Frau?) der Ambivalenz in den Blick bekommen.

Mark Lilla, der an der Columbia-Universität in New York politische Ideengeschichte lehrt, nennt diesen blinden Fleck eine »Amnesie für die Gegenwart«. Das meint er nicht nur in jenem allgemeinen Sinn, in dem jeder Gegenwart die Begriffe für sich selbst fehlen, sondern in einem ganz besonders zu bedauernden Sinn, wonach uns heute die Ideologien fehlen. Habe es früher eine »Nostalgie für die Zukunft« gegeben, divergierende geschichtsphilosophische Entwürfe, mit der linke und konservative Heilslehrer einander erbittert ideologisch bekriegten, befänden wir uns heute in einem »unlesbaren Zeitalter«, das er »libertäres Zeitalter« nennt. Libertär daran wäre der Zustand blinder Zeit- und Begriffslosigkeit, eine Seinsvergessenheit, der alles und jedes recht ist.

Tatsächlich ist es bedauerlich, dass das Wort Ideologie derart in Verruf gekommen ist, dass es nur noch negativ zu gebrauchen ist. Schlimmer ist es bloß noch dem schönen Wort »Weltanschauung« ergangen, die ein heutiger aufgeklärter Zeitgenosse auf keinen Fall haben darf. Dabei will ich doch bei meinen Gesprächspartnern stets gerne wissen, wie und von woher sie die Welt anschauen. Genauso haben meine Gesprächspartner ein Recht darauf, meine Weltanschauung zu kennen. Aber was stört daran? Das Subjektive des Standpunktes? Als ob es eine standpunktlose Haltung gäbe. Als ob das überhaupt wünschenswert wäre.

Ich bekenne mich dazu, ein ideologisches Buch zu schreiben. Ich will aber auch wissen, wie Menschen zu ihren Ideologien (Weltanschauungen) kommen und was sie dazu bringt, diese zu verändern, und was sie zugleich davon behalten wollen. Lilla nennt »Neugier« und »Ehrgeiz« (»curiosity« und »ambition«) als intellektuelle Leidenschaften der Linken, die uns in der Zwischenzeit verloren gegangen seien. Das sind zwei starke, lebendige Antriebe und Gefühle, in denen auch ich mich wiedererkenne mit einem Stolz, den ich gerne mit jenen meiner Generation teilen möchte, die sich auch heute noch als Linke bekennen. Gewiss, wenn diese Leidenschaften zu stark ausbrachen, zu kämpferisch, zu eifernd wurden, geriet die linke Weltanschauung zum Dogma. Der Übergang von der Ideologie zum Dogmatismus ist immer fließend. Dogmatismus ist, wenn die Weltanschauung sich abkapselt, auf Phänomene nicht mehr anspringt, unfähig zur Selbstkorrektur und leer wird. Die Versuchung des Dogmatismus ist der liberalen Lehre nicht weniger fremd als dem linken Messianismus, obwohl oder gerade weil das Liberale sich gerne skeptisch und pragmatisch zu bescheiden sucht. Das mag ein theologischer Rest sein, dem alles Ideologische unterliegt.

Lilla führt seine melancholische Diagnose der gegenwärtigen Amnesie unter anderem darauf zurück, dass die Frage »Was ist geblieben von unseren linken Ideen?« (»what’s left of the left?«) nach 1989 und dem Zusammenbruch des Sozialismus nicht mehr gestellt wurde, weder von den Linken selbst noch von den anderen. Denn 1989 erlebte die Welt einen der größten Vexierschocks der neueren Geschichte. Völlig unaufgeklärt ist im Grunde bis heute, wie es kommen konnte, dass mehrere Kohorten von Zeitgenossen nicht gesehen haben oder sehen wollten, wie ökonomisch und politisch morsch die Länder des Sozialismus waren, wie stark und spontan der Freiheitswille dieser Völker sich Ausdruck verschafft hat. Oft zitiert wurde jene DDR-Reise des Zeit-Chefredakteurs Theo Sommer, der noch im Frühjahr 1986 dem sozialistischen Staat gönnerhaft bescheinigte, auf gutem, stabilem Weg zu sein und auch seinen Menschen nun nicht nur Gleichheit, sondern auch wachsenden Wohlstand zu bescheren. Auch die westdeutschen Wirtschaftsforschungsinstitute sahen den wirtschaftlichen Bankrott des ostdeutschen Staates nicht kommen, schwadronierten stattdessen von Konvergenz, nach der sich beide Wirtschaftssysteme aufeinander zubewegten.

Ich selbst kann eine persönliche Schamgeschichte beisteuern: Im Sommer 1989 befand ich mich auf Einladung der dortigen Regierung auf einer langen und üppigen Journalistenreise durch Indonesien. Stephen Erlanger, ein Kollege der New York Times, fragte – es war schon nach dem sogenannten europäischen Frühstück an der deutsch-ungarischen Grenze, und der linkskatholische Reformer Tadeusz Mazowiecki hatte in Polen die Regierung übernommen –, ob ich ihm die Gerüchte über eine bevorstehende Wiedervereinigung in Deutschland erklären könne. Die Frage hatte mich völlig überrascht. Im altklugen Gestus machte ich dem Kollegen klar, dass niemand der jüngeren Generation in der Bundesrepublik an einer Wiedervereinigung sonderlich interessiert sei, dass man das alles nicht so ernst nehmen solle. Das war ungefähr ein Vierteljahr vor dem Fall der Mauer irgendwo in einem Hotel im schwülwarmen Bali und steht ganz oben im Ranking der Dinge, für die ich mich schäme. Denn meine Antwort war, was die Sache noch schlimmer macht, auch noch ganz und gar ehrlich. Ich (wir) interessierten uns, anders als die Hardcore-DKPisten, herzlich wenig für die DDR. So weit ging das Linkssein dann auch wieder nicht.

Gleich hinter der Elbe begann für uns damals Sibirien. Wer will schon nach Sibirien? Wir sind in den Ferien nach Frankreich oder Italien gefahren, kannten den Unterschied zwischen der Maremma und dem Chianti Classico. Aber Thüringen konnten wir nicht von Sachsen unterscheiden. Merkwürdig, dass die Linken sich so wenig mit der linken Praxis befasst haben. Vielleicht wäre ich damals so weit gegangen zu sagen, die DDR und links, das habe nichts miteinander zu tun. Mit Herbert Marcuses »Versuch über die Befreiung« hatte das Land Ulbrichts und Honeckers auch tatsächlich nichts zu tun.

Ein befreundetes linkes Paar, ein paar Jahre älter als ich, fuhr 1990 mit seinen drei Kindern auf Entdeckungsreise zum ersten Mal nach Osten. Die Eltern schwärmten nostalgisch von der »Welt von früher«, die man dort noch überall sehen und riechen konnte, für die sie sich vorher aber nicht die Bohne interessiert hatten. Sie romantisierten den Verfall zur Ästhetik der Dekadenz, fuhren durch eine Art Freilichtmuseum, ohne Gefühl für die Menschen, die dort gerade den Bankrott ihrer Gesellschaft, ihrer Wirtschaft, teilweise auch ihres Lebens erlebten. Die Kinder der altlinken Freunde nölten im Fond, wollten lieber Eis, Sonne und Strand, also lieber Italien als das verfallene Museum Deutschland. Gleich hinter der Elbe begann tatsächlich Sibirien.

Könnte es sein, dass Schock und Scham über den unerwarteten Zusammenbruch des Sozialismus mit dazu beigetragen haben, dass wir uns über die Metamorphosen des linken Denkens und seiner Alternativen nicht wirklich mehr verständigen wollten? Wer das »Ende der Geschichte« ausruft und dafür kurzerhand die geschichtsphilosophisch linke Utopie (»nostalgia for the future«) einstampft, von der ganze Generationen gezehrt haben, braucht sich über die »Amnesie in der Gegenwart« nicht zu wundern. Der Verdacht der Amnesie trifft dabei Konservativ-Liberale ebenso wie jene ergraute Bourgeoisie, die sich weiterhin für links hält, weil diese Selbstbezeichnung das moralisch bessere Gefühl hergibt.

Noch einmal: Warum waren wir damals links? Was ist davon geblieben? Warum sind andere später nicht links geworden? Warum haben sich wieder andere nicht so schwer damit getan wie ich, den alten Glauben zu verabschieden oder in neue, reife Formen zu fassen? Und wie weit trägt meine heutige Haltung mich selbst, und wie weit vermag sie andere zu überzeugen oder zumindest zur Auseinandersetzung anzuregen?

Inventur ist ein nüchterner Vorgang, der einen gleichwohl nicht unberührt lässt. Der, der ich heute bin, grüßt den, der ich einmal war. Die Selbstbegegnung über vierzig Jahre hinweg verläuft nicht immer einfach. Es geht um erlebte, aber nicht unbedingt verstandene Zeitgenossenschaft. Die Lebensläufe anderer – die einen etwas älter, die anderen etwas jünger als ich –, die verstreut im Buch erzählt werden, sollen helfen, das merkwürdige Ineinander von Kohortentypischem und gänzlich Individuellem klarer zu kriegen.

»Dies ist mein Notizbuch, dies meine Zeltbahn, dies ist mein Handtuch, dies ist mein Zwirn«, heißt es am Ende von Günter Eichs Gedicht »Inventur« (1945). Es geht um Aneignung einer Geschichte als die meine. Die Hoffnung ist, dass diese Erfahrung zu parallelen Aneignungsprozessen anregt.

II. Warum die Gier das Herz erkältet und wo die Wärme wohnt. Warum schöne Frauen links sind und was das mit unseren Werten zu tun hat.

Wie kommt einer überhaupt zu seinen Werten, Einstellungen, Haltungen, Präferenzen? Vor der Zäsur des Jahres 1972 und meinem Wechsel nach Tübingen gab es ja schon viele frühere Prägungen. Aufgewachsen mitten im Zentrum von Stuttgart, wo es zwar Banken, Regierungsgebäude und Kaufhäuser, aber keine Wohnhäuser gab, wurden mir früh zwei Nachbarn besonders wichtig: die Kirche und das Theater. Eine katholische Kirche, buchstäblich Mauer an Mauer an die Bank angrenzend, in der mein Vater Hausmeister war und unsere Dienstwohnung lag, war nach dem frühen Tod meiner Mutter im Jahr 1961 so etwas wie Ersatz der Geborgenheit. Wie für viele katholische Buben meiner Generation begann die nähere Bekanntschaft mit dem christlichen Glauben als Ministrant. Weil das noch vor dem Konzil war, gab es natürlich auch viel wallende Gewänder, viel Weihrauch, viel Latein und an Weihnachten, Ostern und zu anderen Festen immer eine große Haydn- oder Mozartmesse mit Solisten und Pauken und Trompeten drum herum. Katholische Messen, zumindest damals, hatten etwas Ästhetisches und Theatralisches und boten dem kleinen Ministranten einen angemessenen Ort der Selbstdarstellung. Auch zu Hause wurden – ich war sechs oder sieben – häufig Messen und Maiandachten liturgisch veranstaltet. Ich zitiere den großen Thomas Gottschalk: »Meine Mutter musste fünf Akkorde am Klavier spielen, dann begann die Prozession: Ich bin ins Wohnzimmer eingezogen, habe den Segen erteilt und auf dem Sessel meine Predigten gehalten«.

So ungefähr, nur ohne Klavierakkorde, darf man sich das bei mir auch vorstellen. Damals gab es noch die großen Fronleichnamsprozessionen mit ausgestelltem Allerheiligsten, eine Erfahrung, die es mir sehr angetan hatte. Noch einmal, und noch einmal mit Thomas Gottschalk: »Meine Erinnerungen sind allesamt positiv. Für mich heißt Kirche in dieser Zeit: die Lagerfeuerromantik in den Jugendlagern, der Weihrauch in den lateinischen Hochämtern und die Morgensonne, die sich im Mosaik der Kirchenfenster bricht.«

Nach dem Konzil, in den späten sechziger Jahren, vermissten wir in der ästhetischen Selbstbezüglichkeit der Liturgie den kritischen Zugriff, weil, wie wir dann fanden, das Christentum doch auch die Welt verändern und sie nicht nur mit viel Weihrauch selbst verklären sollte. Da begannen wir zu maulen, mit dem Pfarrer zu streiten, nannten die Orchestermessen Ausdruck des verbreiteten Konsumismus, bezichtigten die Liturgie der Unwahrhaftigkeit und fanden, dass Jesus nicht gelebt habe, um sich weihrauchduselig von der Welt ab-, sondern den Armen zuzuwenden. Gesellschaftsveränderung mit dem Neuen Testament: Das war der Anfang meiner linken Prägung. Freunde, die mir das später als Herz-Jesu-Sozialismus madig machen wollten, haben mich damit immer beleidigt. Weil darin der Vorwurf eines Defizits an Analyse mitschwingt, die Haltung somit nur als intellektuell minderbemittelt durchgeht. Dabei wollten wir doch auch die Welt verändern, eben aus dem Geist des Evangeliums.

Weltveränderung war auch das Thema der zweiten wichtigen Jugenderfahrung, der des Theaters, wo ich, sagen wir seit dem 15. Lebensjahr, sicher einmal die Woche, es waren ja nur hundert Meter, schaute, was es zu sehen gab. Meistens sah man Brecht oder Shakespeare, aber auch vieles andere, wobei ich mit den vielen Toten der Shakespeare’schen Königsdramen deutlich weniger anfangen konnte als mit dem linken Pathos der Nüchternheit bei Brecht. Irgendwie ist es dann nicht verwunderlich, dass ich aus den beiden frühen Erfahrungen auch meine Studienfächer Theologie und Germanistik machte. Wobei, auch hier bin ich alles andere als ein Einzelfall, vor allem als für die Literatur ein Deutschlehrer wichtig wurde, der uns nicht nur Lessing und Trakl nahebrachte, sondern auch die Regeln der Sprache und der die Lust am Debattieren weckte. Das tat er meist mit Nonsensthemen à la »Ist das Halten von Haustieren nützlich oder schädlich«, damit wir uns weniger im Bekennertum als im logischen Argumentieren übten. Erst später kamen dann auch existentielle Erörterungen dazu – zum Beispiel die Frage »Lieber tot als rot?«, was zu beantworten damals, in den Jahren um 1968, die leichtere Übung war.

»Lieber Rot als Schwarz« war dann irgendwie unausgesprochen das Motto der ersten Tübinger Semester. Man muss engagiert sein, so lautete deren kategorischer Imperativ. Wo und worin, dafür gaben die Berge von Flugblättern Anregungen, die wie eine unebene Decke die Tische der Mensa umhüllten. Weil wir fanden, dass ein Seminar über den Kirchenvater Tertullian, wo man im ersten Semester mit nicht ganz leichten lateinischen Texten konfrontiert wurde, keine »gesellschaftliche Relevanz« habe und unserem Drang zum Engagement nicht wirklich nützte, haben wir die Veranstaltung einfach gesprengt, will sagen, diktiert, dass nicht über Tertullian und die frühe Kirche, sondern über Hochschulrahmengesetze und Bildungsökonomie, was immer das damals war, und die Theologie der Befreiung in Lateinamerika diskutiert wurde – natürlich ohne den Professor für alte Kirchengeschichte, der zurecht beleidigt von dannen gezogen war. Das war nun deutlich robuster, weniger höflich als heute, wo die Aktivisten von Attac oder Occupy sich vorab zu Diskussionsveranstaltungen ankündigen. Oder klarer gesagt: Das war ziemlich gewaltsam und irgendwie ein Widerspruch, wo wir doch Jesus und Gandhi mochten und theoretisch natürlich für Gewaltfreiheit waren.

Zum Eintritt in eine der politisch zersplitterten Gruppen fehlte mir der Mut, ehrlich gesagt auch die Zeit, weil ich ein eifriger Student war, leistungsorientiert, gute Noten haben wollte, die Dinge mir aber nicht immer leicht von der Hand gingen. Eine Weile liebäugelte ich mit der Gruppe internationaler Marxisten GIM. Keine Ahnung mehr, ob das Trotzkisten oder Maoisten waren (Google sagt, es waren Trotzkisten der vierten Internationale; allemal besser als Maoisten). Ich ließ es dann aber bleiben und wurde – Engagement muss sein – in den Fachschaftsrat der Theologen und bald auch zum Sprecher gewählt. Das galt damals eher als angepasst. Die Radikaleren gingen ins Studentenparlament und die anderen Organe der »verfassten Studentenschaft« und Selbstverwaltung, wie das damals hieß. Immer noch ein bisschen schüchtern, bestand mein Beitrag zum politischen Engagement darin, die Fachschaftszeitung Kuckucksei zu edieren. Ich habe mir die fünf Nummern dieses einschlägigen Tübinger Periodikums (danach wurde die Zeitung eingestellt) jüngst noch einmal angesehen, nicht zuletzt mit der Frage, ob es darin womöglich doch einige Revolutionsartikel von mir gäbe, derer ich mich heute schämen müsste.

»Warum eigentlich Scham?«, fragt mich eine Bekannte, eine Generation jünger, und fordert mich auf, ein bisschen mehr Respekt mir selbst gegenüber zu bezeugen. Es ist tatsächlich so, wie wenn man alte Tagebücher liest: Nicht nur die Einträge sind einem fremd, häufig nicht mehr erinnerlich. Sondern auch die Gefühle, die man damals bei Schreiben – und beim Erleben – hatte. Aber soll man sich deshalb gleich schämen? Vielleicht reichen fremdeln und die respektvolle Anerkennung des anderen, der man einmal war. Leute, die nachtragend sind, mag man nicht. Sich selber gegenüber nachtragend zu sein, ist fast noch ein bisschen schlimmer.

Es war dann, wie sich bei der Neulektüre zeigte, alles halb so wild, was wir da mit der Reiseschreibmaschine auf Wachsmatrizen getippt und anschließend mit Hand vierhundert Mal »hektographiert« hatten. Viel Jargon gab es zu lesen, den man damals überall hörte, so zum Beispiel einen Aufruf der »Christen für den Sozialismus« schon im ersten Heft, der sich folgendermaßen liest: »Wir wenden uns gegen das Herrschaftssystem des Kapitalismus, dessen Toleranz und Veränderungsbereitschaft nur so weit reichen, wie seine Profitinteressen nicht in Frage gestellt werden.« Interessant daran finde ich heute die allegorisierende Personalisierung des Kapitalismus. Was mögen wir uns darunter wohl konkret vorgestellt haben? Der einzige konkrete Unternehmer, den ich kannte, war der Heizungs- und Sanitärfabrikant Müller, ein freundlich-distanzierter Herr, Vater meines Klassenkameraden Michael, in dessen Stuttgarter Firma Stumpf & Müller ich während der Schul- und Semesterferien Geld verdiente. Die Rohre aneinander zu flanschen war ganz schön anstrengend, die Uhr brauchte morgens schrecklich lange, bis um neun Uhr die erste Vesperpause nahte. Die Arbeiter verlachten den Abiturienten. Über die Profitinteressen des Kapitalisten Müller hatte ich mir damals keine großen Gedanken gemacht. Aber ich wusste, dass ich alles daransetzen wollte, später nicht als Arbeiter in einer Fabrik zu schuften.

Dass das Christentum links sein müsse, schien mir damals selbstverständlich. Jesus war schließlich der Anwalt der Schwachen und Armen, während er die Etablierten und Mächtigen kritisierte oder ignorierte. In der Bergpredigt werden jene selig genannt, die sich der Leistungsgesellschaft verweigern. Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie verweigern sich der marktwirtschaftlichen Logik, und der himmlische Vater ernährt sie trotzdem. Jesus mag die Reichen nicht: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt.

Es war nicht nur die Utopie des Egalitären, die uns damals zu den »Christen für den Sozialismus« führte. Es war mehr noch, wie bei unserem Helden Herbert Marcuse, das Versprechen einer umfassenden Befreiung, das Christen und Marxisten zu natürlichen Verbündeten machte. Von der »Theologie der Befreiung«, die in Lateinamerika eine Enteignung der Großgrundbesitzer und eine Befreiung der Landlosen forderte, kam der Impuls, das Religiöse politisch und das Politische religiös zu verstehen. Aktion und Kontemplation, und wie die damaligen Lyrismen so alle hießen. Politische Befreiung (Chile), kulturelle Befreiung (die Kinks fand ich besser als die Beatles), sexuelle Befreiung: überall der Wunsch nach Freiheit. Was das ist, wussten wir nicht so genau. Was aus heutiger Sicht auffällt? Die Freiheit braucht einen Befreier. Moses war der Held, der die Israeliten aus Ägypten herausführte in das Land, in dem Milch und Honig fließen. Ein Führer? Geht gar nicht. Sagen wir: ein Anführer.

Das Härteste, was ich von mir finden konnte, war ein Flugblatt »Christen in der Revolution«, entstanden nach einer Reise mit Kommilitonen in einem 2CV nach Lyon zu einem europäischen Kongress linker Christen, es muss im Frühjahr 1974 gewesen sein. Dass ich darin rhetorisch besonders auf die Pauke gehauen habe, muss an der hübschen Marlies gelegen haben, einer protestantischen Pfarrerskandidatin für die (damals besonders linke) Rheinische Landeskirche, die mit uns in Lyon in der Matratzengruft war und mich irgendwie verzaubert hatte und der ich auf jeden Fall radikal imponieren wollte.

Alle linken Generationsgenossen, mit denen ich heute über das linke Projekt von damals rede, kommen stets auf die Frauen zu sprechen, die sie ins linke Milieu gezogen hätten. »Da waren einfach die hübscheren Frauen«, erzählt ein Münchner Rechtsanwalt, den ich schon lange kenne. Er ist Fachmann für Arbeitsrecht, mit 16 in die SPD eingetreten, versteht sich bis heute als ernsthafter Sozialdemokrat, sehr belesen, wie viele geprägt von Willy Brandt. Lange wollte er Pfarrer werden, dann Richter, schließlich wurde er Anwalt mit dem Auftrag, zu einer gerechteren Welt beizutragen. Umso ungewöhnlicher, dass dieser ernste Mann mit den ernsten politischen Überzeugungen plötzlich und so spontan von den »hübscheren Frauen« bei den Linken redet. Ist ihm halt so rausgerutscht?

Weltanschauung und Erotik treffen sich offenbar in diesem Alter. Im Nachhinein lässt sich das leicht ironisieren, besonders gelungen in Michael Kleebergs Roman »Karlmann« von 2007. Da wird eine Mensadiskussion in den siebziger Jahren referiert mit diesem Mädel vom AStA, dem die beiden Studenten nur zugehört haben, weil sie überraschend hübsch war, und das die beiden zum Eintritt in die KPD/ML