Linkslesestärke oder Die Sache mit den Borten und Wuchstaben - Anja Janotta - E-Book

Linkslesestärke oder Die Sache mit den Borten und Wuchstaben E-Book

Anja Janotta

4,9
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Rechtschreibschwäche ist out – Wort-Aggro-Batik ist in!

Wer so virtuos Wörter verdreht wie Mira Kurz, der hat ganz klar: Linkslesestärke! Nur Namen kann sie sich nicht merken. Gar nicht. Bei Mira heißen andere Kinder »die Fiese«, »die Schüchterne« oder »längster Freund«. Peinlich. Als nebenan ein Mädchen mit himmelblauen Augen einzieht, hofft Mira, dass sie beste Freundinnen werden. Doch dann läuft alles schief. Mira versagt kläglich beim doofen Namen-Merkspiel in der Schule, »die Fiese« schnappt ihr die zukünftige beste Freundin vor der Nase weg und nimmt Mira danach übel in die Zange. Schärfste Gegenwehr ist angesagt! In letzter Sekunde zeigt sich, dass mehr Kinder zu Mira halten, als sie dachte. Und dass Namen merken gar nicht so schwer ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 221

Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
14
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anja Janotta

Illustriert

von Stefanie Jeschke

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage 2015

© 2015 cbt Verlag in der Verlagsgruppe

Random House GmbH, München

Illustrationen von Stefanie Jeschke

Umschlaggestaltung: Geviert Grafik & Typografie,

unter Verwendung einer Illustration von Stefanie Jeschke

TP · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-14802-7

www.cbt-buecher.de

Für die stärkste Linksleserin, die ich kenne,

meine Tochter Rebecca,

und für Marie und Zoe und alle unsere Freunde,

deren kleine, liebenswerte Eigenheiten

mich zu einer literarischen Person in diesem Buch

inspiriert haben, allen voran mein Sohn Jonas.

Alle fiesen Personen hier

sind übrigens wirklich frei erfunden!

Kapitel 1

Nichts zu dick-Tieren!

Wir könnten Freunde sein, wenn du willst.

Ich geb zu, dass das jetzt ein bisschen überfallmäßig daherkommt – sofort im ersten Satz. Wahrscheinlich spürst du gleich die Pistole auf deiner Brust. Und erpressen lässt du dich nicht. Versteh schon!

Okay, dann gehen wir es eben langsam an. Ich lasse dir einfach ein paar Seiten Zeit. Ja? Okay? Und damit du auch nicht gleich die Katze im Sack kaufen musst, erzähle ich dir in der Zwischenzeit ein bisschen von mir. Dann kannst du immer noch entscheiden, ob du es mit mir als Freundin probieren willst.

Ich heiße Mira.

Deinen Namen brauchst du mir gar nicht erst sagen. Den vergesse ich bestimmt gleich wieder. Das meine ich nicht böse. Ich schwöre! Das ist bei mir so: Ich merke mir keine Namen. Niemals. Wenn man so will, bin ich da ein bisschen unnormal, ein minibisschen bescheuert. »Rechtschreibschwäche« nennen es meine Lehrerin und Mama. Fünfmal neu hat Mama es mir dick-Tieren müssen, damit ich endlich begreife, wie man es schreibt. Denn ich verwechsle gerne Buchstaben, wenn ich was lesen oder aufschreiben soll. Oder wenn ich mir einen Namen merken soll.

Tja, und weil ich ziemlich schnell herausgefunden habe, dass jeder Mensch sofort beleidigt ist, wenn man ihn falsch anredet, habe ich es irgendwann gleich ganz sein gelassen mit den Namen. Genau genommen kenne ich nur zwei. Meinen eigenen – Mira Kurz. Und den von meinem großen Bruder: Linus (und das wahrscheinlich nur, weil ich mich nicht zwischen Der-der-nervt oder Der-mit-dem-Stinke-Zimmer entscheiden kann). Mama heißt nur einfach Mama, Papa ist Papa und wie Oma, Opa und Omi heißen, kannst du dir jetzt selber zu Ende denken.

Wenn du mir also deinen Namen verrätst, dann behalte ich bestimmt nur den Anfangsbuchstaben, dann könnte also L stehen für L…ola, L…ucy, L…ynette oder L…ass-mich-mit-dem-Scheiß-Namen-in-Ruhe. F könnte stehen für F…abi, F…lo oder F…ergiss-den-Namen-so-heißen-sowieso-schon-drei-aus-meiner-Klasse. Ach so, F…ergiss ist falsch? Das ist eben diese komische Schreibrechtschwäche, die ich meine …

Anders gesagt: Dich gibt’s nur einmal. Deinen Namen aber bestimmt viel öfter. Deswegen merke ich mir lieber was anderes. Du bist jemand, der beim Lachen die Nase kraus zieht und jemand, der urkomisch schielen kann. Sag ich doch – die Grimasse, die du eben gemacht hast, sah echt sauwitzig aus!

Ich bin also Mira oder die, die ziemlich gut freihändig Rad fährt, während sie auf dem Gepäckträger sitzt. Die am längsten kopfüber vom Klettergerüst hängen kann. Die Mira, die statt mit der Hand zu schreiben lieber auf einem komm-Puter tippt (dieser hier hat nämlich eine Rechtschreibhilfe. Dummerweise eine, die keine Fremdwörter kann. Die muss ich mir immer selbst zusammenstöpseln). Und ich bin die Mira, die ganz bald Einrad fahren lernen will.

Das sagt nämlich viel mehr aus als diese vier blöden Buchstaben von meinem Namen, die ich selbst oft nicht in die richtige Reihenfolge bekomme. Manchmal schreibe ich wirklich Mari oder Imra oder Rami. Das ist doof, denn in meiner Klasse gibt es wirklich eine, die sich Mari oder so ähnlich abkürzt.

Meine Lehrerin, die immer so wiehernd lacht, könnte also unsere Proben miteinander verwechseln. Deswegen muss ich immer höllisch aufpassen. Dabei kann man uns gar nicht verwechseln. Die Tussi, die so ähnlich klingt wie ich, wenn ich mich verschreibe, ist eine dämliche Aaaangeberin. Eine, die immer ganz langgezogen und überheblich redet: »Iiiii…ch kann das schon viiiiiiel besser als du.«

Dabei ist unsere Lehrerin echt okay, ich mag sie nur nicht, wenn sie mir wieder eine Deutschprobe zurückgibt. Leider habe ich in der Klasse keine Freundin, die mir bei einer vermasselten Deutschprobe beisteht. Das ist echt bescheuert. Wir sind nämlich genau nur fünf Mädchen in der Klasse. Zwei Mädchenpaare und – ich.

Zu der ah-Rock-Kanten Anstreberin gehört ihre schüchterne Freundin. Die trägt immer strenge, breite Tücher im Haar und traut sich nichts. Nicht mal mit mir reden. Gerade so, als wäre Schlechtschreiben ansteckend und die grellroten Chor-Reck-Touren auf meinem Papier hochgefährliche Windpockenpickel kurz vorm Aufplatzen.

Dann gibt es noch ein Mädchen mit Z oder so, die lange blonde Z…öpfe trägt. Das Z könnte aber eigentlich viel besser für Z…icke stehen. Nie macht die mit, wenn ich was vorschlage. Alle meine Spiele findet die Zicke ätzend. Oder kindisch.

Außerdem kann ich sowieso nur mit der Zicke spielen, wenn ihre beste Freundin krank ist. Die beginnt mit F wie F…iese Fresse. Mama sagt, ich soll das nicht immer sagen, so nennt man keine Menschen, und wenn man mich so nennen würde, dann würde ich … Blablabla.

Aber die einzigen Bezeichnungen, die mir stattdessen einfallen, sind F…eindin oder besser noch: die F…iese. Findet Mama bestimmt auch nicht gut, aber wenn’s doch stimmt?

Die Fiese jedenfalls hasst mich. Und ich hasse sie. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Leider ist es auch das Einzigste.

Die Fiese ist nicht nur die Größte aus der ganzen Klasse, sie muss auch sonst immer die Größte und Tollste sein. Sie sagt bei den Mädchen, was gespielt wird. Sie sagt, mit wem sie reden dürfen. Und wenn ich mal, was ganz selten vorkommt, mit einem Mädchen aus der Klasse Stoppfangen oder Verstecken spiele, ruft die Fiese. Dann muss das Mädchen sofort kommen und ich kann nicht einmal mehr zu Ende suchen.

»Was willst du denn mit der Schwachsinnigen?«, fragt die Fiese dann auch noch.

»Schwelber sachsinnig«, rufe ich ihr hinterher. Aber den Witz mit dem Buchstabenumdrehen versteht sie nicht. Das versteht nur mein längster Freund. Buchstabendrehen ist nämlich unser Lieblingsspiel.

»Kummdöpfe«, sagt mein Freund dann zu den Dummköpfen auf dem Schulhof, wenn er mir helfen will.

»Kallknöpfe«, schimpfe ich. Wenn ich jetzt ein Kaugummi hätte, könnte ich laut eine Blase platzen lassen. So kann ich nur mit einem Finger in meiner Backe ploppen. »Bumpfdacken«, setzt mein längster Freund drauf. Mann, bin ich froh, dass ich wenigstens meinen längsten Freund habe! Auch wenn die Zeckermiegen unsere Beleidigungen meistens gar nicht mehr mitbekommen.

Mein Freund heißt irgendwas mit F, mit Fenster-F. Aber nicht wie beim F…iesling. Nein, diesmal wie in F…reund. Für mich ist er einfach Mein-längster-Freund, weil ich ihn von allen am allerallerlängsten kenne. Weil er in meine Klasse geht und sechs Hausnummern weiter wohnt. Weil unsere Mütter Freundinnen sind. Weil wir uns sogar so sehr mögen, dass wir früher immer zusammen gebadet und uns gegenseitig ins Badewasser gestrullert haben. Aber ich nenne ihn trotzdem besser Mein-längster-Freund als Mein-Freund-der-immer-in-mein-Badewasser-strullert.

Eigentlich passt die Bezeichnung längster nicht wirklich. Denn mein längster Freund ist eigentlich der kürzeste Freund. Er ist der kürzeste Junge aus der ganzen Klasse – mit ganz weitem Abstand zu allen anderen. Auch zu mir. Das ist aber nur manchmal ein Problem.

Neulich am Wochenende, als mein längster Freund bei mir übernachtete, brachte ihn Mama beim Abendessen auf eine Idee.

»Schau«, sagte meine Mama mit ihrer überzeugendsten Stimme. »Du bist zwar kleiner als die meisten. Eigentlich nicht nur als die meisten, sondern kleiner als alle, die wir kennen. Das ist dein Karr-Ma, so etwas wie dein Schicksal. Aber dafür kannst du dir die Welt aus einem ganz anderen Blickwinkel angucken als die anderen. Du siehst mehr.« Dann fügte sie noch schmunzelnd hinzu: »Und außerdem ist niemand so schlagfertig wie du.«

Mama macht das immer, anderen ihre Probleme schönreden. Mama ist nämlich Coach (das habe ich von ihrer wie-Sitten-Karte abgeschrieben). Ein Coach ist jemand, der anderen hilft in irgendeinem Gebiet besser zu werden. Oder auch nur, sich besser zu fühlen. Oder beides.

Nein, sagt Mama, Coach schreibt man nicht K-O-C-H. Ihre Arbeit hat mit Kochen nichts zu tun.

Finde ich schon, denn erstens kocht Mama saugut, und zweitens liefert sie ihren Kunden doch Rezepte, damit ihnen ihr Karr-Ma hinterher wieder besser schmeckt.

Ob an diesem Samstag meinem längsten Freund nun Mamas Schönreden oder doch ihr Essen besser geschmeckt hat, war schwer zu sagen. Er schob satt die Reste seines dritten Z-Z-Z-Pfannenkuchen (mit Z…imt und Z…ucker und Z…itrone) von sich.

»Das stimmt, das mit dem anderen Blickwinkel, wenn man kleiner ist«, sagte er. Aber dann fügte er mit seiner besonders bissigen Stimme hinzu: »Ich werde daran denken, wenn ich wieder nicht in die Achterbahn darf, weil ich noch einen Meter dreißig groß bin. Da spare ich mir viel Geld. Das kann ich dann später für hohe Absätze ausgeben. Oder einen teuren Coach.«

Mama guckte erst ein bisschen belämmert, lachte dann aber mit uns mit. »Sag ich doch, dass du schlagfertig bist«, murmelte sie beim Hinausgehen.

Als wir später in unserem Zelt lagen, das wir aus Decken gebaut und an allen möglichen Regalbrettern, Wandnägeln, der gar-dienen-Stange und dem Lampenschirm befestigt hatten, sagte ich zu meinem längsten Freund: »Ich finde es gut, dass du so kurz bist, da kannst du auf der kleineren Seite vom Zelt liegen.«

Mein längster Freund entgegnete: »Und ich finde es gut, dass du eine Rechtschreibschwäche hast.«

»Häh?«, grunzte ich zurück.

»Ja«, sagte mein längster Freund, »obwohl Schwäche ein doofes Wort ist. Mach doch Stärke draus. So wie deine Mama das immer sagt: Aus der Schwäche eine Stärke machen und so.«

»Schlechtschreib-Stärke?«

»Das klingt immer noch doof. Das kann so nicht bleiben.« Mein längster Freund drehte sich auf die Seite, pupste, drehte sich zurück und schnarrte dann: »Warte mal: Was ist das Gegenteil von rechts?«

»Links?«

»Und das Gegenteil von ›Schreiben‹?«

»Kritzeln? Malen? Reden?«, riet ich drauflos. »Mathe?«

»Lesen!«

»Lesen?«

»Ja, lesen! Du hast eine …«, mein längster Freund zog extra lange die Luft ein, um mich auf die Folter zu spannen, »… Links-Lese-Stärke.«

Ich sagte erst einmal gar nichts und musste mir das Wort vorstellen. Von hinten. Von unten. Von links und rechts. Von jeder Seite einmal. Ich wollte mich erst einmal dran gewöhnen, bevor ich sagen konnte, ob es mir gefiel. Ob das eine Bezeichnung ist, die zu mir passt.

Mein längster Freund setzte nach: »So wie andere ihren Pulli auf links tragen und nicht rechts. Weil’s cool ist und man sich von den anderen unterscheidet, die alles richtig herum machen. Richtig und langweilig. Du machst das mit den Buchstaben auch immer anders als die anderen. Ist doch irgendwie auch ganz cool, oder nicht?«

Ich brummte. Wenn man wollte, konnte man da schon ein Ja raushören.

Um mir seine Tee-Ohr-ih zu beweisen, spielte mein längster Freund mit mir unser Buchstabendreherspiel.

»Mit Märchen, okay?«

»Okay«, brummte ich.

»Gränsel und Hetel«, rief er laut unters Zeltdach.

»Parunzel«, rief ich zurück.

»Der Golf und die sieben jungen Weißlein.« Mein Freund brüllte vor Lachen.

»Hau Frolle«, warf ich ein.

»Neeschweißchen und Rosenrot.«

»Der Frischer und feine Sau«, schoss ich nach einigem Überlegen zurück. Wir mussten so lachen, dass die Taschenlampenlichter kleine Irrlicht-Tänze auf den bunten Decken über uns veranstalteten.

»Dischlein-teck-dich«, sagte mein längster Freund.

»Brüderlein und Lesterschwein«, entgegnete ich und wir ließen noch einmal die Lampenkegel tanzen.

»Paschenuttel.«

Mein längster Freund kicherte diebisch. »Die meine Kleerjungfrau«.

»Brotkäppchen und der öse Wolf«, schmiss ich in die Runde.

Stille. Mein längster Freund sagte gar nichts.

»Hey, was ist? Fällt dir nichts mehr ein? Dann hab ich gewonnen!«

»Nee«, kam es von links, »musste nur noch mal pupsen.«

»Ah.«

»Ich hab noch was Besseres!«, quiekte mein längster Freund: »Koträppchen und der böse Wolf.«

Während wir prustend überlegten, wie das Märchen mit dieser neuen Überschrift wohl gegangen wäre, rief Mama von unten:

»ICHT LAUS.«

Kapitel 2

Sindbad-Tische Nachbarn

Also, ich bin Mira. Mit »M« wie M…it-mir-spielt-ja-doch-keiner. Ich will nicht jammern, aber: In der Schule spielt mein längster Freund auch nicht mit mir. Da spielt er in der Pause mit den Jungs Fußball, weil eben alle Jungs kicken und man es sich nicht leisten kann, nicht mitzumachen. Sich mit Mädchen abzugeben, das geht für die Jungs gar nicht. Uncool.

Er hat’s ja probiert. Einmal hat er gefragt, ob ich mitmachen darf. Widerwillig und erst nach viel Rumreden haben es die Fußballpfeifen mit mir probiert. Da ich aber nicht so den Hammerschuss draufhabe, schlug ich vorsichtshalber vor, ich könnte ja Schiri sein. Erst haben sie gemault, aber dann doch zugestimmt.

Eine Trillerpfeife haben die Fußballpfeifen natürlich nicht, also musste ich auf den Fingern pfeifen. Gut, dass ich das im Sommer geübt hatte!

Aber Schiri war der schlimmste Job auf dem Rasen. Die Fußball-Rau-dies an unserer Schule spielen hart und heftig. Rempeleien sind an der Tagesordnung, und es ist oft schwer herauszufinden, wer jetzt wen warum getreten hat.

Ich gab mein Bestes, pfiff hier und pfiff dort, drohte hier, fuchtelte viel herum – so wie man es von den Schiedsrichtern immer bei den Länderspielen sieht: Ich war ein strenger, aber gerechter Schiri. Der weltgerechteste Schiri!

Trotzdem traf es immer den gleichen: den Breiten (ich nenne ihn so, weil alles an ihm breit ist: Nacken, Arme, Hose und ein Grinsen, dass darin eine ganze Schrankschublade Platz hätte). Beim ersten Mal stampfte er einen Erstklässler um, beim zweiten Mal bekam mein längster Freund einen stehen gelassenen Ellenbogen auf die Nase. Er schenkte mir einen dankbaren Blick, als ich ihm den Ball gab. Beim dritten Pfiff traf es – mich.

Der Breite pflanzte sich vor mir auf, stellte sich breitbeinig hin und blickte abschätzig auf mich herunter.

»Du«, raunzte er, und ich musste stark nach oben gucken. Ich konnte direkt in seine überbreiten Nasenlöcher sehen. Allein davon konnte einem schon grün vor Angst werden.

»Du sagst mir gar nichts«, drohte er.

»Ich bin der Schiri«, widersprach ich.

»Du sagst mir nichts«, wiederholte der Breite, »von einem Mädchen lasse ich mir nichts sagen!« –

»Aber …« Mehr konnte ich nicht vorbringen, denn der Breite drehte ab und rempelte mich im Schwung mal eben beiläufig um.

»Wer hier sieht das genauso: Wir lassen uns von keinem Mädchen was sagen?«, dröhnte er. Die Jungs auf dem abgewetzten Rasenfeld murmelten zustimmend oder sahen betreten weg (wie mein längster Freund). Wahrscheinlich wollte sich keiner eine andere Meinung leisten als die Wuchtbrumme. Und so endete meine blendende Karr-jäh-Reh als weltgerechtester Schiri: kurz und glanzlos.

Die Karr-jäh-Reh des Balles übrigens dauerte nur ein klein wenig länger: Zwei Reißzwecken hatten sich hineingebohrt.

Derweil langweilte ich mich wieder.

Manchmal schaute ich zu, wie die Anstreberin mit der Fiesen, der Zicke und der Schüchternen Gummihüpfen spielte. Es war immer das gleiche Spiel, sie hüpften alle nach dem gleichen Muster, eine nach der anderen. Und jedes Mal versuchte jede dieser Gummi-Enten von Neuem, nicht an der Stelle auszuscheiden, wo sie das letzte Mal schon gescheitert war. Aber es gelang ihnen eigentlich nie.

Meine Mama sagt, man muss auch anderen eine Schanze geben, und wenn man dazu gehören will, muss man sich manchmal anpassen. Ich hab’s also auch da ein paarmal versucht. Nahm meinen ganzen Mut zusammen, versuchte mit der Stimme nicht schüchtern zu kieksen und nicht nur auf den Boden zu starren. Trotzdem kam’s ganz vernuschelt aus meinem Mund: »Darfichauchmal?«

»Das ist ein Wettkampf nur zwischen uns«, erklärte mir die Fiese, »wir sind mittendrin und wir zählen schon längst Punkte. Da kann man nicht später einsteigen.«

»Duuu kannst nicht miiitmachen«, alarmsirente die Anstreberin, die Zicke und die Schüchterne nickten das brav ab. Als ich außer Hörweite war, sagte die Fiese noch was, dann kicherten sie.

Ich konnte wirklich eine Freundin auf dem Schulhof gebrauchen. Vor Kurzem dachte ich noch, jetzt wendet sich das Blatt.

Mein längster Freund und ich saßen auf unserem Kletterbaum. Wie immer, lehnte mein längster Freund auf der Astgabel einen Meter über mir. Da, wo der Ast eine bequeme Bananenbiegung macht. Ich wippte auf der breiteren und längeren Gabel darunter. Schuhe und Socken hatte ich ausgezogen, obwohl die Herbstferien nur noch vier Wochen entfernt waren. Solange man die Füße auf Holz und Moos stellte, konnte man den verschwundenen Sommer noch für eine Weile Eck-no-rühren.

Wir waren ein bisschen erschöpft nach unserem kleinen Kampf. Neben meinen Schuhen lagen unsere Schaumstoffschwerter aus der Wiese. Ich hatte auf meins Miras Schwärt gekritzelt.

»Schreibt man das nicht anders?«, hatte mein längster Freund gefragt.

»Quatsch«, hatte ich geantwortet. »Stängel kommt von Stange. Das weiß ich, hab’s gestern erst fünfmal schreiben müssen. Dann kommt auch Schwärt von Schwarte. Da stößt man das Schwärt ja rein: in die Bauchschwarte. Oder etwa nicht?«

Dem hatte mein längster Freund zustimmen müssen, und dann waren wir losgezogen, um jemandem unsere Schaumstoffschwärter in die Schwarte zu piksen. Aber kein Schwein wollte sich blicken lassen.

»Fiese Meiglinge«, schimpfte mein längster Freund enttäuscht, als wir danach auf unserem Kletterbaum saßen. Er popelte gelangweilt Moos aus der Rinde, zerrieb es zwischen Daumen und den anderen Fingern und betrachtete zufrieden den grünen Matsch unter seinen Fingernägeln.

»Trollvottel«, stimmte ich ihm zu.

»Wangleiler«, erwiderte mein Freund und versuchte ein bisschen den Dreck unter seinen Nägeln hervorzupulen, gab das aber lustlos wieder auf.

Meine Kohlhöpfe, die ich noch hätte sagen wollen, kamen nicht mehr zum Einsatz, denn da rumpelte der dicke grün-weiße Bauch eines Umzugswagens an uns vorbei. Er hielt direkt an unserer Reihenhausreihe.

Mein längster Freund erwachte schlagartig aus seiner Langeweile, schnippte das Moos runter und drehte sich auf den Bauch, sodass Arme und Beine an jeweils einer Seite der Bananenbiegung herunterbaumelten.

ENDE DER LESEPROBE