Linkspopulär - Andreas Nölke - E-Book

Linkspopulär E-Book

Andreas Nölke

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Vorwärts handeln, statt rückwärts denken Während sich rechtspopulistische Parteien und Gruppierungen in Deutschland immer größerer Beliebtheit erfreuen, scheinen linke Parteien für viele Menschen an Attraktivität verloren zu haben. Jenem Problem auf den Grund gehend skizziert Andreas Nölke ein alternatives linkes Programm, das die täglichen Sorgen und Nöte der weniger privilegierten Hälfte der Bevölkerung ernst nimmt, eine Ausbalancierung der deutschen Ökonomie anstrebt und eine Außenpolitik zu erreichen sucht, die auf Fairness und Respekt setzt. Wie wichtig diese "linkspopuläre" Position geworden ist, zeigen nicht zuletzt die letzten Wahlerfolge der AfD und der Niedergang der SPD.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 309

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ebook Edition

Andreas Nölke

Linkspopulär

Vorwärts handeln, statt rückwärts denken

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-710-8

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2017

Umschlaggestaltung: pleasant_net, Büro für strategische Beeinflussung

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

1 Armut und Abstiegssorgen in Deutschland
Die Erosion mittlerer Löhne und Vermögen
Armut inmitten des Reichtums
Subjektiver Druck und Abstiegssorgen
Drohende Wirtschaftskrisen und Zukunftsangst
Die Schmähungen der Abgehängten durch das liberale Bürgertum in der Flüchtlingskrise
2 Die Krise progressiver Politik
Politische Apathie der weniger Privilegierten als langfristige Gefährdung der Demokratie
Strukturelle Probleme der Sozialdemokratie
AfD: Die Partei der Abstiegsängste
Fragwürdige Strategien der Etablierten im Umgang mit der AfD
Anti-Rechtspopulismus als erfolgreiche liberale Hegemoniestrategie gegenüber linken Parteien
Große Koalitionen als Motor des weiteren AfD-Aufstiegs
Gruppenbezogene Polarisierung als generelle Gefahr für das demokratische politische System
Die Entwicklung klarer wirtschaftspolitischer Alternativen als besondere Herausforderung
3 Eine linkspopuläre Lücke
Kosmopolitisch-kommunitaristisch als zweite Dimension im aktuellen Parteienwettbewerb
Die Konfusion der Querfront-Saga
Eine links-kommunitaristische Repräsentationslücke im Parteiensystem
Strukturelle Ursachen für die links-kommunitaristische Lücke
Parteipolitische Ursachen für die links-kommunitaristische Lücke
Die Notwendigkeit einer linkspopulären Position
Populär versus populistisch
Der Erfolg linkspopulärer Mobilisierung in anderen Ländern
4 Grundprinzipien einer linkspopulären Position
Pragmatisches Mittel zum Zweck: der demokratische und soziale Nationalstaat
Verbesserung der Lage der weniger Privilegierten in der deutschen Gesellschaft
Abstufungen der Solidarität in einer globalisierten Welt
Wirtschaftliche Rücksichtnahme statt Exporte um jeden Preis
Demokratische Selbstbestimmung statt kosmopolitischer Illusionen
Interessenausgleich und Respekt anstelle von Intervention und Machtausweitung
5 Wirtschaft und Soziales: Binnennachfrageorientierter Umbau statt Exportismus
Für eine besser ausbalancierte Wirtschaft – gegen den Exportismus
Höhere Löhne und sichere Jobs: Grundpfeiler einer stärkeren Binnennachfrageorientierung
Alterssicherung, Bildung, Infrastruktur: Wiederaufbau des öffentlichen Sektors
Fiskalpolitik: Alle Finanzierungsquellen gerecht für das Gemeinwohl aktivieren
6 Globalisierung und Europäische Union: Demokratische Gestaltungsspielräume sichern
Entmachtung der globalen Finanzmärkte durch Definanzialisierung
Europa: gegen den wirtschaftsliberalen Eurosuprastaat, für einen neuen Integrationspfad
Außenwirtschaftspolitik: Respekt für die Vielfalt wirtschaftlicher Modelle
Dem Globalen Süden wirtschaftliche Perspektiven bieten und Fluchtursachen bekämpfen
7 Innenpolitik und Migration: Unsicherheit an der Wurzel bekämpfen
Innere Sicherheit: mehr Polizisten und Richter einstellen aber auf Symbolpolitik verzichten
Integration: Gesetze einhalten aber keine Einheitskultur erzwingen
Migration: Keine offenen Grenzen aber Mitmenschlichkeit auch für Geflüchtete bieten
Grundpfeiler einer linkspopulären Migrationspolitik
8 Außen- und Sicherheitspolitik: Fairness und Respekt statt Militäreinsätzen
Europäische Sicherheitspolitik: strikte Verteidigungsorientierung
Verzicht auf militärische Interventionen zur Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten
Keine Lösung des Terrorismusproblems durch den »war on terror«
Zurück zur klassischen zwischenstaatlichen Politik
9 Bestehende Parteien und linkspopuläre Positionen
Parteien bleiben wichtig, müssen sich aber gründlich ändern
Linkspopulär versus Sozialdemokratie
Linkspopulär versus Die Linke
Linkspopulär versus AfD
Perspektiven für linkspopuläre Positionen

1 Armut und Abstiegssorgen in Deutschland

Ausgangspunkt einer linkspopulären Position sind Sorgen um den weniger privilegierten Teil der deutschen Gesellschaft. Arme und Benachteiligte hat es in Deutschland immer schon gegeben, aber selten hatte man den Eindruck, dass ein Teil der Gesellschaft so gründlich abgehängt wurde und dass sich die Schere zwischen Arm und Reich so weit geöffnet hat wie heute. Die soziale Frage ist zurück auf der politischen Agenda. Nicht nur harte sozioökonomische Fakten in Bezug auf Armut und Ungleichheit sind hier zu nennen, sondern auch subjektive Abstiegsängste. Da über erstere bereits viel geschrieben wurde – von Pikettys historischen Analysen bis zu den jährlichen Armutsberichten des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – soll hier eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Entwicklungen genügen. Die subjektive Dimension hingegen wird bisher weniger breit thematisiert, ist aber in ihrer Bedeutung für die politischen Entwicklungen in unserer Gesellschaft kaum zu überschätzen. Die wachsenden Unterschiede zwischen Arm und Reich werden zumindest von der mittleren Generation inzwischen als größte Gefahr für die weitere Entwicklung Deutschlands gesehen, so die Allensbach-Umfrage »Generation Mitte 2016«.

Die Erosion mittlerer Löhne und Vermögen

Bei den objektiven sozioökonomischen Fakten ist zunächst das Auseinanderlaufen der Lohnentwicklung zu nennen. Während die Löhne der deutschen Gutverdiener in den frühen Neunzigerjahren knapp doppelt so hoch waren wie jene der Niedrigverdiener, beträgt dieses Verhältnis laut einer Studie des Instituts- für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (»Deutsche Geringverdiener im europäischen Vergleich«) im Jahr 2011 bereits das 2,7fache. Noch deutlicher ist die Entwicklung bei den DAX-Unternehmen – hier verdiente im Jahr 2014 ein Vorstand laut einer Erhebung der Hans-Böckler-Stiftung (»Manager to Work Pay Ratio«) im Durchschnitt rund 57 Mal so viel wie seine Angestellten – die allerdings im Vergleich zu den übrigen Werktätigen immer noch überdurchschnittlich gut verdienen.

Die allgemeine Betrachtung des »European Working Conditions Survey« zeigt im »European Jobs Monitor 2017« einen europaweiten Polarisierungstrend auf: ein Zuwachs an Beschäftigung findet sich vor allem bei den zwanzig Prozent am schlechtesten und bei den zwanzig Prozent am besten bezahlten Stellen, während die mittleren sechzig Prozent der Stellen eher abgebaut werden. Und nur bei dem besten Fünftel, also beispielsweise im IT-Sektor, findet der Stellenzuwachs auch in Form von unbefristeten Vollzeitstellen statt, während der Aufwuchs im unteren Fünftel ganz besonders von besonders belastenden Stellen in der Pflege getragen wird.

Mehrere Studien haben in den letzten Jahren das langfristige Schrumpfen der deutschen Einkommensmittelschicht dokumentiert. Sowohl das DIW (»Mittlere Einkommen in Deutschland und den USA«), als auch die Bertelsmann-Stiftung (»Mittelschicht unter Druck«) und das Institut Arbeit und Qualifikation/IAQ der Universität Duisburg-Essen (»Die Mittelschicht in Deutschland unter Druck«) haben dabei gezeigt, dass deren Anteil von etwa zwei Dritteln der Bevölkerung in den Neunzigerjahren inzwischen auf weniger als sechzig Prozent geschrumpft ist, eine neue Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung (»Was tun gegen die Ungleichheit?«) stellt ebenfalls eine Verringerung auf 56,4 Prozent in 2014 fest, ausgehend von 63,4 Prozent in 1991. Gleichzeitig ist der Anteil der Menschen in den unteren und untersten Einkommensschichten um etwa vier Millionen Menschen gewachsen.

Zudem ist die gesamte Lohnquote langfristig gesunken, die Arbeitnehmer werden nicht mehr am Produktivitätszuwachs der Wirtschaft angemessen beteiligt, jener begünstigt fast nur noch die Kapitaleigner. Während die Produktivität je geleisteter Arbeitsstunde von 1992 bis 2016 um 39 Prozent zugelegt hat, sind die realen Löhne der Arbeitnehmer gerade um 6,2 Prozent gestiegen, so eine Analyse des Querschuesse-Blogs («Deutschland: Reallohnindex Q4 2016«). Der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen lag zu Beginn der Achtzigerjahre bei knapp achtzig Prozent, heute beträgt er nach Angaben des Statistischen Jahrbuchs 2016 nur noch 68 Prozent. Während die Wirtschaft (moderat) wächst, sinkt das mittlere Realeinkommen der Arbeitnehmer, schon seit langem: zwischen 2000 und 2010 ist das deutsche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf um 10,4 Prozent gewachsen, das Medianeinkommen ist dagegen um drei Prozent gesunken, im Vergleich der schlechteste Wert aller OECD-Länder, wie Werner Vontobel in seinem Beitrag »Der falsche Indikator« für »brand eins« bereits 2013 dokumentiert hat.

Nach einer 2017 veröffentlichten Studie des DIW (»Einkommensverteilung und Armutsrisiko«) haben vierzig Prozent der Deutschen heute ein geringeres Realeinkommen als 1999. Auch der offizielle »Armuts- und Reichtumsbericht 2017« der Bundesregierung stellt fest, dass die realen Bruttostundenlöhne der unteren vierzig Prozent der Arbeitnehmer im Jahr 2015 niedriger gewesen sind als 1995. Die regelmäßigen »Erfolgsmeldungen« beim Wachstum – insbesondere im Vergleich zu anderen Ländern der Eurozone – stehen in deutlichem Kontrast zu den Erfahrungen der meisten Arbeitnehmer. Es müssen wohl andere sein, die von diesem Wachstum profitieren. Die Aktionäre von Dax-Unternehmen zum Beispiel, deren jährliche Dividenden laut der »DSW-Dividendenstudie 2016« seit 2005 von fünfzehn auf dreißig Milliarden Euro verdoppelt wurden.

Generell »geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander«, wie Markus Grabka von der Infrastruktureinrichtung Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) im Interview mit dem DIW-Wochenbericht 4/2017 feststellt. Nach seinen Untersuchungen sind die verfügbaren Haushaltseinkommen nach Inflation der einkommensstärksten zehn Prozent von 1991 bis 2014 um 27 Prozent gestiegen, aber jene der mittleren Einkommensgruppen in diesen 25 Jahren nur um neun Prozent und jene der ärmsten zehn Prozent sind in diesem Vierteljahrhundert sogar um etwa acht Prozent gesunken.

Bei der Vermögensentwicklung haben besonders die mittleren Gruppen der deutschen Bevölkerung in den letzten Dekaden an Kaufkraft verloren. Nach Berechnungen des DIW (»Reale Vermögen in Deutschland«), die nicht nur die nominale Vermögensentwicklung, sondern die reale Entwicklung (also unter Einbeziehung der Kaufkraft) heranziehen, finden wir in der Periode 2002–2013 einen generellen Vermögensrückgang in Deutschland. Besonders ausgeprägt ist der Rückgang wiederum bei den mittleren sechzig Prozent.

Auch der Vermögensaufbau durch den Erwerb von Immobilien, die klassische Methode der Mittelschicht, wird immer schwieriger. Obwohl die Rahmenbedingungen für den Wohnungskauf seit einigen Jahren aufgrund des relativ stabilen Arbeitsmarkts und der sehr geringen Zinsen außerordentlich gut sind, stagniert nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft die Wohneigentumsquote in Deutschland. Nur sehr einkommensstarke Haushalte können bei den stark steigenden Immobilienpreisen in Großstädten vermehrt Wohneigentum bilden, mit rücklaufenden Eigentumsbildungsprozessen bei einkommensschwächeren Gruppen, denen dafür das Eigenkapital oder eine sichere berufliche Perspektive fehlt. Damit intensiviert sich aber das Problem der Vermögensungleichheit weiter, denn Länder mit einem hohen Anteil an Mieterhaushalten – wie Deutschland und Österreich – sind von letzterer besonders betroffen.

Insgesamt ist die Vermögensverteilung in Deutschland sehr ungleich, wie zuletzt auch selbst der Sachverständigenrat in seinem »Jahresgutachten 2016/2017« und der »Armuts- und Reichtumsbericht 2017« der Bundesregierung dokumentierten. Die obersten zehn Prozent der Vermögensbesitzer verfügen über mehr als fünfzig Prozent der Netto-Vermögen – und einen noch viel höheren Anteil an den Kapitaleinkünften, da sie im Kontrast zu anderen Bevölkerungsgruppen nur einen geringen Teil als niedrig verzinstes Barvermögen halten. Die untere Hälfte der Vermögensbesitzer verfügt nach dieser aktuellen Bestandsaufnahme gerade einmal über ein Prozent des Gesamtvermögens.

Nach einer Studie des DIW aus dem Jahr 2014 (»Anhaltend hohe Vermögensungleichheit in Deutschland«) liegt die Vermögensungleichheit in Deutschland – ausweislich des Gini-Koeffizienten – in Deutschland höher als in jedem anderen Land der Eurozone, nicht zuletzt eine Folge der zunehmend schwierigen Vermögensbildung durch Immobilienerwerb. Dabei unterliegt diesen Zahlen sogar noch eine konservative Schätzung, da sich Milliardäre und Multimillionäre an entsprechenden Umfragen in der Regel nicht beteiligen. Eine Studie des DIW aus dem Jahr 2015 (»Top-Vermögende«), die zusätzlich Informationen aus Quellen wie der Forbes-Liste einbezieht, schätzt, dass das reichste Prozent der deutschen Haushalte allein rund ein Drittel des Gesamtvermögens besitzt.

Den Mittelschichthaushalten, deren reale Vermögen in den letzten Jahren stagniert oder geschrumpft sind, geht es aber noch sehr gut im Vergleich zu der wachsenden Anzahl hoch überschuldeter Haushalte, also jenen, die über einen längeren Zeitraum ihre Schulden bei mehreren Gläubigern nicht zurückzahlen können. In den letzten zehn Jahren ist deren Anzahl von 1,6 Millionen auf zwei Millionen gestiegen. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Insgesamt sind nach Angaben der Wirtschaftsauskunftei Creditreform im »Schuldner Atlas Deutschland 2016« mehr als 6,8 Millionen Erwachsene überschuldet – können also kurzfristig ihre Rechnungen nicht bezahlen – was etwa jedem zehnten Deutschen über achtzehn Jahren entspricht. Diese Entwicklung nimmt seit Jahren trotz guter Konjunktur zu.

Potentiell bestünde natürlich die Möglichkeit, die zunehmende Spreizung zwischen Arm und Reich durch den Sozialstaat auszugleichen. In Deutschland findet sich aber nur eine begrenzte Egalisierung durch den Sozialstaat, auch wenn dieser ein durchaus hohes Umverteilungsvolumen hat. Viele seiner Leistungen verteilen allerdings eher innerhalb der Mittelklasse um, beispielsweise zwischen Eltern und Kinderlosen. Diese Umverteilung ist häufig auch gut begründet, hilft aber nicht beim Ausgleich der wachsenden sozialen Schieflage in Deutschland.

Bei essentiellen sozialen Leistungen, etwa der Altersvorsorge oder der Vorsorge gegen Krankheit, wird der kollektive, tendenziell egalitäre Schutz immer mehr in Richtung auf eine individuelle Vorsorge umgebaut, die sich die wohlhabenden Teile der Bevölkerung leisten können, die ärmeren aber nicht. Das alte Versprechen des Sozialstaats, dass man nach einem arbeitsreichen Leben im Alter und bei Krankheit gut abgesichert ist, gilt nur noch für einen vergleichsweise kleinen Teil der Bevölkerung.

Hinzu kommt seit den Hartz-Reformen, dass man nun viel schneller aus einer gesicherten beruflichen Stellung direkt in den Bereich der (vormaligen) Sozialhilfe abrutschen kann, selbst nach Jahrzehnten erfolgreicher Berufstätigkeit. Während Anfang der Neunzigerjahre noch über achtzig Prozent aller Erwerbslosen Leistungen vom Arbeitsamt erhielten, die sich an deren früheren Verdienst orientierten, gilt das heute nur noch für rund dreißig Prozent. Alle anderen befinden sich im Hartz-Fürsorgesystem. Und auch hier bekommen sie nur dann Leistungen, wenn sie ihr Vermögen aufgebraucht haben und ihr Partner nicht zu viel verdient, was von vielen Betroffenen zu Recht als ein massiver Angriff auf ihre Lebensleistung angesehen wird.

Nun könnte man möglicherweise ein zunehmendes Auseinanderlaufen bei den Löhnen und bei den Vermögen – und eine begrenzte Egalisierung durch den Sozialstaat – tolerieren, wenn es allen immer besser gehen würde. Dem ist aber nicht so. Es drängt sich vielmehr der Eindruck auf, dass Deutschland als Gesamtgesellschaft und Volkswirtschaft immer reicher wird, dass aber bei einem substantiellen Teil der Bevölkerung von diesen dynamischen Entwicklungen nichts ankommt.

Armut inmitten des Reichtums

Die sich langfristig vom Abstieg bedroht sehende untere Mittelklasse kann täglich sehen, wie es ihr ergeht, wenn der Abstieg da ist. Mitten in unserer reichen Gesellschaft hat sich Armut breitgemacht, von der – nach dem »Armutsbericht 2016: Zeit zu Handeln« des Paritätischen Wohlfahrtsverbands – etwa jeder Sechste bedroht ist. Substantielle Teile der Gesellschaft sehen sich ökonomisch abgehängt und haben keine Aussicht auf nachhaltige Besserung. Soziologische Analysen, etwa von Olaf Groh-Samberg und Florian R. Hertel (»Ende der Aufstiegsgesellschaft«) dokumentieren eine abnehmende Aufstiegsmobilität und damit eine Verfestigung von Armut. Oliver Nachtwey geht in seiner umfassenden, bei Suhrkamp erschienenen Analyse sogar so weit, von der Ablösung der sozialen Aufstiegsgesellschaft durch eine »Abstiegsgesellschaft« zu sprechen.

Frauen sind von diesen Entwicklungen stärker betroffen als Männer, Menschen mit Migrationshintergrund stärker als Alteingesessene. Zu den von Armut am stärksten gefährdeten Gruppen gehören alleinerziehende Mütter, die nach der Familiengründung ihren Beruf aufgegeben oder zumindest ihre Arbeitszeit deutlich reduziert haben, sowie besonders kinderreiche Familien.

Langfristig besonders gravierend ist die hohe Kinderarmut – knapp zwanzig Prozent der Jungen und Mädchen leben nach den Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung (»Kinderarmut in Deutschland 2015«) in armen oder armutsgefährdeten Familien – da diese mit schlechten Entwicklungschancen und geringen Aussichten auf einen guten Bildungsabschluss einhergeht. Auch private Nachhilfe leisten sich vor allem nur Eltern mit überdurchschnittlichem Einkommen, so eine weitere Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung (»Außerschulische Nachhilfe«). Noch gravierender ist allerdings die Situation der etwa 600 000 Kinder (nach dem »Armuts- und Reichtumsbericht 2017« der Bundesregierung sind das »nur wenige«), die in Deutschland unter »erheblichen materiellen Entbehrungen leiden« – hier sprechen wir über Phänomene wie eine kalt bleibende Heizung, nicht einmal an jedem zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit oder das Fehlen einer Waschmaschine im Haushalt.

Überwiegend sind Menschen mit Teilzeitbeschäftigung von Armut betroffen, oft in befristeten Stellen, in einem Zeitarbeitsverhältnis, in geringfügiger Beschäftigung oder in einem Werkvertrag. Generell hat sich der Anteil unsicherer Jobs stark erhöht. Während in den Fünfzigern und Sechzigern solche atypischen Arbeitsverhältnisse eine vergleichsweise seltene Ausnahme waren, entwickeln sie sich inzwischen fast zur Norm. Nach Berechnungen des WSI (regionale Datenbank »Atypische Beschäftigung«) waren 2014 bereits rund 39 Prozent aller abhängig Beschäftigten in Befristung, Teilzeit, Leiharbeit oder Minijobs tätig. Selbst die deutlich restriktivere – und eher problematische – Berechnungsmethode des Statistischen Bundesamtes weist einen Anteil von über zwanzig Prozent atypischer Beschäftigung aus (Pressemitteilung vom 16.8. 2017). Bei den der Bundesanstalt für Arbeit gemeldeten offenen Stellen liegt ihr Anteil jedenfalls deutlich über fünfzig Prozent, der Großteil davon Leiharbeitsverhältnisse. Auch wenn man die Nachkriegsgesellschaft aufgrund ihres sozialen Konformismus bei weitem nicht überhöhen sollte, ist der mit diesen fragilen Arbeitsverhältnissen einhergehende Verlust an sozialer Sicherheit in historischer Perspektive enorm.

Besonders augenscheinlich ist diese Entwicklung in den letzten Jahrzehnten bei den Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, oft auch in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Dazu gehören beispielsweise jene, die im Supermarkt an der Kasse sitzen oder die Regale auffüllen, die ständig expandierenden Paketdienste, die Security-Leute, die Call-Center-Mitarbeiter, die Reinigungskräfte und Haushaltshilfen. Man leidet hier nicht nur unter dem geringen Lohn, sondern auch unter den sehr kurzfristigen Vertragsverhältnissen und natürlich unter den fehlenden Aufstiegsmöglichkeiten. Jederzeit kann der Job verloren gehen, denn es gibt eine große Reserve an »Hartzern«, die jederzeit einspringen können, da die Einstiegsschwelle gering ist. Es ist kein Wunder, dass in diesen Berufsgruppen die Arbeits- und Lebenszufriedenheit besonders gering ist.

Deutschland hat inzwischen den mit Abstand größten Niedriglohnsektor in West- und Nordeuropa. Als Niedriglohnempfänger werden von Eurostat alle jene Arbeitnehmer klassifiziert, deren Bruttoverdienst zwei Drittel oder weniger des nationalen medianen Bruttolohns beträgt. In Deutschland lag die Schwelle 2014 bei einem Bruttostundenlohn von 10,50 Euro. 22,5 Prozent der deutschen Arbeitnehmer erhielten diesen Stundenlohn oder weniger und befinden sich damit laut Eurostat im Niedriglohnsektor. Größere Niedriglohnsektoren finden sich nur noch an der osteuropäischen Peripherie, etwa in Polen, Rumänien und im Baltikum (22,2–25,8 Prozent). In Frankreich arbeiten nur 8,8 Prozent der Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor, in Dänemark 8,6 Prozent, in Norwegen 8,3 Prozent, in Finnland 5,3 Prozent, in Belgien 3,8 Prozent und in Schweden 2,6 Prozent.

Die offizielle Arbeitslosenquote Deutschlands ist zwar im internationalen Vergleich niedrig, aber darunter finden sich sehr viele Dauerarbeitslose, denen inzwischen jede gesellschaftliche Perspektive fehlt. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung (»Long-term Unemployment in the EU«) sind in Deutschland zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen bereits mehr als zwei Jahre ohne Arbeit (in Schweden und Österreich nur etwa vierzig Prozent). Nach Angaben der Eurostat-Statistiken über die Einkommensverteilung 2016 hat Deutschland unter allen 28 EU-Staaten mit 67,4 Prozent die mit Abstand höchste Quote an Armutsgefährdung unter den Arbeitslosen, etwa im Vergleich zu 36,3 Prozent in den Niederlanden oder 44,6 Prozent in Österreich. Mehr als ein Drittel der deutschen Arbeitslosen leiden nach der Definition der EU unter »erheblicher materieller Entbehrung« – sie können sich viele Alltagsgüter nicht mehr leisten – wiederum deutlich mehr als im EU-Durchschnitt (ein Viertel).

Die Hartz-Sozialreformen haben zudem viele Menschen gezwungen, jede Arbeit anzunehmen, auch wenn sie weit unter ihrem eigentlichen Qualifikationsniveau liegt und letzteres dauerhaft zu entwerten droht. Die ständige Drohung mit Sanktionen, also der Reduzierung von Zahlungen, die bereits ohne Reduzierung gerade einmal das Existenzminimum abdecken (bei Alleinstehenden derzeit 409 Euro im Monat), erleichtert die Situation keinesfalls, zumal diese Sanktionen schon bei geringfügigen Fristverstößen verhängt werden.

In diesem Kontext müssen auch die ständigen Jubelmeldungen der Bundesanstalt für Arbeit über steigende Beschäftigungszahlen und verringerte Arbeitslosigkeit erheblich relativiert werden. So liegt die »reale« Zahl der Arbeitslosen deutlich höher als die (im Mai 2017) offiziell ausgewiesenen 2,6 Millionen. Herausgerechnet werden aus der Arbeitslosenstatistik etwa alle jene, die zum Stichtag an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme teilnehmen, krankgeschrieben sind oder als über 58jährige innerhalb der letzten zwölf Monate kein Jobangebot erhielten. Ohne diese Gruppen liegt die Arbeitslosigkeit – von der Bundesanstalt als »Unterbeschäftigung« ausgewiesen – bei 3,6 Millionen.

Auch die steigenden Beschäftigungszahlen sind bei näherer Betrachtung sehr problematisch. Hier kann durch die Aufspaltung einer Stelle in zwei Teilzeitstellen oder vier geringfügig Beschäftigte leicht eine deutliche Erhöhung stattfinden, ohne dass die insgesamt geleistete Arbeitszeit sich ändert. Obwohl unsere Statistiken seit 1991 4,7 Millionen zusätzliche Erwerbstätige zählen, liegt die Zahl der insgesamt geleisteten Arbeitsstunden 2016 unter dem damaligen Niveau, so eine Analyse des Querschuesse-Blogs (»Deutschland: ETR Q4 2016«). Bei einer statistischen Analyse von Stefan Sell (»Das deutsche Jobwunder ist schlechter als sein Ruf«) wird deutlich, dass die steigende Anzahl der Beschäftigten vor allem aus Teilzeitstellen und Selbstständigen (davon die meisten Solo-Selbständige) besteht, während die Anzahl der Normalarbeitnehmer noch immer unter jener von 1991 (dem Beginn der entsprechenden Erhebung des Statistischen Bundesamts) liegt. Und Teilzeitstellen und Solo-Selbständigkeit – im Regelfall mangels »richtiger« Stellen – sind bei der Struktur unseres Rentenversicherungssystems ein sicherer Weg in die Altersarmut.

Generell sind die Arbeitslosen daher nur eine relativ kleine Gruppe jener, die sich von der Wohlstandsentwicklung in unserer Gesellschaft abgehängt sehen. Es geht eben auch um viele Arbeiter und prekär Selbstständige. Um das Milieu der »kleinen Leute«, der Einzelhändler, der Krankenschwestern, der Polizisten, der Arbeiter und der Handwerker. Zumeist handelt es sich um mittlere und niedrige Bildungsabschlüsse. Auch wenn Armut bei Älteren leichter auffällt, geht es zunehmend auch um die Jüngeren, die im Vergleich zu früheren Generationen deutlich schlechter bezahlt werden, wenn sie keine besonders hochwertigen Bildungsabschlüsse (zum Beispiel ein stark nachgefragtes Studium) aufweisen.

Neben die schlechtere Bezahlung tritt der deutlich steigende Anteil befristeter Stellen, die zu permanenter Unsicherheit und Druck führen – im Gegensatz zu der früher üblichen Dauerbeschäftigung in Vollzeit. Die Anzahl der Leiharbeiter hat zudem 2015 mit fast einer Million einen neuen Höchststand erreicht, wie eine Analyse der Bundesagentur für Arbeit (»Aktuelle Entwicklungen der Zeitarbeit«) zeigt. Diese Arbeiter haben nicht nur deutlich geringere Löhne als die Kollegen, die neben ihnen am Fließband stehen und dieselbe Arbeit tun, sie sind in einem Wirtschaftsabschwung auch die Ersten, die entlassen werden. Gleichzeitig führt die Disziplinierung durch Befristung, Leiharbeit und andere Formen atypischer Beschäftigung – und natürlich die Drohung mit dem Hartz-System – dazu, dass viele Belegschaften sich nicht trauen, höhere Gehaltsforderungen zu stellen, was in vielen Fällen das Problem der zu geringen Löhne zu relativieren droht.

Das Problem geringer Löhne und schlechter Beschäftigungsverhältnisse betrifft aber nicht nur das Milieu der kleinen Leute und Arbeiter. Inzwischen gibt es auch viele junge Hochqualifizierte, die prekär beschäftigt sind. Dazu gehört die Kultur der befristeten Verträge an den deutschen Hochschulen, der Weiterbildungsbereich, in dem sozialversicherungspflichtige Anstellungen eher Ausnahmen sind und die vielen Selbständigen in kreativen Berufen, einschließlich der »freien Mitarbeiter« am Rande der großen Medienproduzenten. Selbst gute Bildungsabschlüsse schützen nicht mehr unbedingt vor sozialem Abstieg, im Gegenteil zu der Situation im 20. Jahrhundert, wo sie fast eine Garantie für sozialen Aufstieg darstellten. Zudem greift bei den (Schein-) Selbständigen der Mindestlohn nicht. Etwa ein Fünftel der zwei Millionen »Solounternehmer« erwirtschaftet laut Mikrozensus ein Nettomonatseinkommen von weniger als 900 Euro, also häufig einen Stundenlohn von gerade mal fünf Euro. Besonders niedrig sind die Stundenlöhne bei den – häufig akademisch qualifizierten – Klick-Arbeitern von Crowdsourcing-Unternehmen wie Clickworker und Crowd Guru.

Viele Jüngere hangeln sich von einem Zeitvertrag zum nächsten, ohne dass eine Festanstellung eine sichere Perspektive für eine Familiengründung bietet. Eine von Eric Seils für das WSI 2016 verfasste Studie zu »Jugend &befristeter Beschäftigung« dokumentiert, dass der Anteil befristeter Beschäftigungen gerade bei Jüngeren überproportional hoch ist – mehr als ein Viertel bei den 20- bis 24jährigen und ein Fünftel der 25- bis 29jährigen haben solche Anstellungen – und dass diese Anstellungen häufig schlecht bezahlt sind. Es ist daher nicht überraschend, dass befristet Beschäftigte laut dieser Studie deutlich seltener verheiratet sind und deutlich weniger Kinder haben, als Gleichaltrige in unbefristeter Anstellung.

Verglichen zu den formal wenig Qualifizierten ist die Situation bei den hochqualifiziert Prekären aber noch gut. Besonders in den großen Städten ist die sich ausbreitende Armut sofort augenscheinlich, nicht nur durch die seit Jahren zum Straßenbild gehörenden Flaschensammler. Abgesehen von den etwas höheren Lebenserhaltungskosten schlagen in den Großstädten besonders die in den letzten Jahren stark gestiegenen Mieten zu Buche. Wenn die Haushaltseinkommen in Relation zu den lokalen Lebenserhaltungskosten gesetzt werden, wird die Armut selbst in so reichen Städten wie München oder Frankfurt offenkundig. Besonders kritisch ist aber die Situation in den westdeutschen Großstädten wie jenen des Ruhrgebiets, in Bremen oder in Köln, wo nach diesem Maßstab inzwischen mehr als jeder Vierte in Armut lebt.

Durch die steigenden Mieten in den Zentren und den als attraktiv geltenden Stadtteilen dieser Großstädte findet zudem ein Prozess der räumlichen Segregation statt, bei der die ärmeren Bevölkerungsgruppen zunehmend in bestimmten Stadtvierteln an der Peripherie konzentriert werden. Mehr als vierzig Prozent der 13 000 Einwohner von Köln-Chorweiler leben von Hartz IV. Gravierend ist diese soziale Trennung vor allem im Schulsystem, bei dem etwa in den ärmsten Kölner Vierteln weniger als jeder fünfte Jugendliche ein Gymnasium besucht, in den reichsten Stadteilen aber mehr als vier von fünf Jugendlichen. Die Extreme: laut dem Bildungsbericht der Stadt Köln 2012 lag die Übergangsquote von der Grundschule zum Gymnasium in Lindenthal bei 88,8 Prozent, in Raderberg bei 12,7 Prozent. Die Segregation hat vor allem in Bezug auf Kindergärten und das Schulsystem negative Auswirkungen, da der Kontakt zu Kindern aus anderen sozialen Kontexten zunehmend seltener wird. Im Extremfall wird durch diese räumliche Trennung eine Tendenz zur Selbstaufgabe gefördert, da Kindern in ärmeren Vierteln das Vorbild beruflich erfolgreicher Eltern fehlt.

Deutlich ist auch, dass Menschen Migrationshintergrund überproportional oft von Armut betroffen sind. Das gilt für alle der oben genannten Entwicklungen, von den Einkommen über die Vermögen bis hin zur räumlichen Verteilung. Hinzu kommen spezifische Probleme. So besuchen in deutschen Großstädten fast drei Viertel der Kinder mit Migrationshintergrund Schulen mit einem Migrantenanteil von über fünfzig Prozent, während das bei Kindern ohne Migrationshintergrund für nicht einmal ein Fünftel gilt, wie die Studie »Segregation an deutschen Schulen« des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration bereits 2013 dokumentiert hat. Die Armutsgefährdungsquote bei Menschen aus Einwandererfamilien bleibt laut Mikrozensus 2015 mit 21 Prozent selbst dann hoch, wenn sie Abitur haben – und damit höher als bei Hauptschulabsolventen ohne Migrationshintergrund (sechzehn Prozent).

Wenn wir die Situation der weniger Privilegierten in unserer Gesellschaft verbessern wollen, müssen wir also besonders bei Menschen mit Migrationshintergrund ansetzen. Das mag wie eine Selbstverständlichkeit klingen, aber wir werden sehen, dass sich gerade hier linkspopuläre Positionen von jenen der AfD diametral unterscheiden. Gerade viele hart arbeitende Menschen mit Vorfahren in der Türkei und anderswo haben es nicht verdient, wegen ihrer Herkunft oder ihres Glaubens von den Rechtspopulisten diskriminiert zu werden.

Alle diese sozialen Probleme waren bereits vor der jüngeren Flüchtlingswelle da, sie werden aber durch jene Entwicklung in absehbarer Zeit weiter intensiviert, insbesondere die Konkurrenz um Billigjobs, um Sozialtransfers und um bezahlbaren Wohnraum, vor allem in den größeren Städten. Die weniger Privilegierten spüren, dass eine neue Gruppe weniger Privilegierter hinzukommt, was sie – bei aller gebotenen und erlebten Solidarität – durchaus in berechtigte Sorge versetzen kann. Eine starke Zuwanderung führt zudem dazu, dass sich in jenen schlecht bezahlten Segmenten des Arbeitsmarktes, in denen die Neuankömmlingen in Konkurrenz zu den einheimischen Erwerbstätigen treten, kein Lohndruck aufbauen kann (also die Löhne durch Verknappung des Arbeitsangebots steigen), so Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Legitime Eigeninteressen sollten daher nicht als »Sozialneid« diffamiert werden, auch wenn infamen Falschinformationen (»Warum hilft der Staat Flüchtlingen, aber nicht deutschen Familien und Kindern?«, Jürgen Elsässer) systematisch Aufklärung entgegen gesetzt werden muss.

Der Vergleich mit anderen Bevölkerungsgruppen irritiert besonders die Menschen in den ostdeutschen Bundesländern, in denen der Abstand zum Westen nun nicht mehr kleiner wird. Es entstehen zwar einige neue und gut bezahlte Industriearbeitsplätze, aber viele Arbeitsplätze insbesondere auf dem Land sind sehr schlecht bezahlt, zumal auch die Tarifbindung dort zurückgeht. Die Wiedervereinigung ist in dieser Hinsicht noch nicht abgeschlossen und viele Menschen fühlen sich hier benachteiligt, auch ein Grund für deren besonders skeptische Reaktion in Bezug auf die Aufnahme von Geflüchteten.

Subjektiver Druck und Abstiegssorgen

Neben der wachsenden Ungleichheit und der materiellen Armut machen sich bei vielen Menschen in Deutschland auch Gefühle von Überlastung und Überforderung bereit. Auch jene, die dauerhafte Jobs haben, stehen unter Druck. Sie leiden insbesondere unter einer dauerhaften Anspannung. Der Krankenstand in Deutschland hat drastisch zugenommen, berichtet die DAK Gesundheit (»Neuer Höchststand bei Krankmeldungen«). Mehr als jeder dritte Berufstätige wurde im ersten Halbjahr 2016 mindestens einmal krankgeschrieben, mehr als jemals zuvor in den letzten zwanzig Jahren. Im Vordergrund stehen dabei Stressfolgen wie Rückenschmerzen und psychische Erkrankungen. In der mittleren Generation sorgen sich inzwischen mehr als vierzig Prozent der Menschen darum, dass sie unter immer mehr Stress leiden, so die bereits zitierte Allensbach-Umfrage. Die Digitalisierung des Arbeitsalltags führt hier zu einer weiteren Verschärfung. Beschäftigte, die sehr viel mit digitalen Mitteln arbeiten, klagen über besonderen Zeitdruck, über zunehmende Arbeitsintensität, viele Überstunden und erzwungene, permanente Erreichbarkeit.

Ausgeprägte soziale Ungleichheit beeinträchtigt nicht nur die materielle Lebenssituation, sie hat auch massive Wirkungen auf die Lebenserwartung. Eine im Jahr 2014 veröffentlichte Studie des Robert Koch Instituts zeigt, dass der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den niedrigsten und den höchsten Einkommensgruppen bei Frauen gut acht Jahre und bei Männern fast elf Jahre beträgt. Wenn es um den Unterschied bei der gesunden Lebenserwartung geht (also um die Lebensjahre mit gutem oder sehr gutem Gesundheitszustand), beträgt der Unterschied sogar etwa dreizehn Jahre bei Frauen und vierzehn Jahre bei Männern.

Der starke Anstieg von Mieten und Immobilienpreisen führt zudem dazu, dass Menschen aus unteren und mittleren Lohngruppen, etwa bei der Polizei oder in vielen Dienstleistungsberufen, dazu gezwungen werden, täglich über weite Entfernungen in Städte wie Frankfurt oder Düsseldorf zu pendeln, was auf Dauer zu starkem Stress oder gar zu einem Burnout führt, vor allem wenn es auch noch mit Schichtarbeit verbunden ist. Generell hat die Zunahme von Mieten und Immobilienpreisen inzwischen dazu geführt, dass viele junge Familien aus unteren und mittleren Einkommensgruppen Großstädte gegen ihren Willen verlassen haben. Diese Menschen sind überwiegend nicht aus den Städten abgewandert, weil sie das Landleben so sehr schätzen, sondern weil sie in den – für sie im Prinzip weiterhin sehr attraktiven – Städten für sich und ihre Familien keine Zukunft mehr sehen. Kinderlärm wird in den großstädtischen Neubauvierteln damit immer seltener.

Auf dem Land ist die sozio-ökonomische Krise nicht so präsent wie in den großen Städten, doch kämpft man hier oft mit anderen Problemen, insbesondere der sich ausdünnenden Infrastruktur. Die Jungen und formal gut Gebildeten ziehen oft weg, der Anreiz zur wirtschaftlichen Neuansiedlung geht zurück, die Bevölkerung überaltert. Während die wirtschaftliche Dynamik den Ballungsräumen und einzelnen Mittelstädten zugutekommt (vor allem wenn letztere der Standort von erfolgreichen mittelständischen Unternehmen sind), fühlen sich viele Menschen, die in Kleinstädten leben, von dieser Entwicklung bedroht, von den aussterbenden Dörfern in peripherer Lage ganz zu schweigen. Besonders in Ostdeutschland kann diese Entwicklung extreme Züge annehmen, wie beispielsweise die AfD-Wahlergebnisse in Vorpommern zeigen.

Das Problem der zunehmenden Belastung gilt jedoch ebenso für die berufstätigen Landbewohner wie für die Städter. Besonders ausgeprägt ist die Belastung in Berufen wie der Altenpflege. Hier sind die Arbeitsbedingungen in vielen Heimen so problematisch, dass tausende Pfleger vorzeitig ihren Beruf aufgeben, weil sie ausgebrannt sind. Pfleger und Pflegerinnen sind stärker von Berufsleiden wie Schlafstörungen und Rückenleiden betroffen als andere Berufe, der Krankenstand ist nach einer Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (»Fehlzeiten-Report 2015«) hier besonders hoch. Zudem ist der Lohn so niedrig – Altenpfleger verdienen ein Fünftel weniger als der durchschnittliche deutsche Arbeitnehmer – und die Anforderungen an qualifizierte Kräfte so hoch, dass viele tausend Stellen unbesetzt bleiben. In keiner anderen Branche klaffen eine hohe Zahl freier Stellen und eine geringe Zahl geeigneter Bewerber so weit auseinander.

Zu diesen mehr oder weniger direkt mit dem Arbeitsalltag verbundenen körperlichen und psychischen Belastungen kommt bei vielen Menschen zusätzlich das Gefühl, unter geringen sozialen Aufstiegsmöglichkeiten zu leiden. Das gilt insbesondere im Vergleich zur Generation der Älteren, die noch mit einer relativen Sicherheit davon ausgehen konnten, dass es ihren Kindern besser geht als ihnen selbst. Diese Sicherheit ist vorbei, im Gegenteil, viele Eltern müssen damit rechnen, dass es ihren Kindern später einmal weniger gut gehen wird als ihnen selbst. Der »Armuts- und Reichtumsbericht 2017 der Bundesregierung« dokumentiert, dass diese Befürchtungen eine materielle Grundlage haben. Vor allem bei den um das Jahr 1960 geborenen Menschen sei es »häufiger gelungen, einen niedrigeren beruflichen oder Bildungsstatus der Elterngeneration zu überwinden und einen Aufstieg mindestens in den mittleren Status zu erreichen«. Im direkten Vergleich dazu ist diese Aufstiegswahrscheinlichkeit bei den zwischen 1970 und 1986 geborenen Bürgern nur noch etwa halb so hoch. Auf sozialen Aufstieg als Mittel zur Bekämpfung von Ungleichheit zu setzen, ist unter diesen Umständen nicht (mehr) möglich.

Der Eindruck eines sozialen Abstiegs ist also nicht rein subjektiv, er stützt sich auch auf reale sozio-ökonomische Entwicklungen, nicht nur in Deutschland. Die McKinsey-Studie »Poorer than their parents?« hat gezeigt, dass rund zwei Drittel der Menschen in den westlichen Industriegesellschaften in den letzten zehn Jahren stagnierende oder sinkende Realeinkommen aufweisen. Das ist eine neue Entwicklung gegenüber den ersten sechs Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, bei denen es nur im Kontext der Ölkrisen Mitte der Siebzigerjahre einen kleinen Einbruch gab. Selbst Steuersystem und Sozialtransfers gleichen diese Entwicklung nicht aus. Zunehmende Ungleichheit und verringerte Aufstiegsmöglichkeiten führen auch dazu, dass ein Teil der Bevölkerung den Glauben in die Möglichkeit einer durchgreifenden Verbesserung der eigenen Lebenssituation verliert. Die Resignation dieser Menschen führt oftmals dazu, dass sie auf weitere Bildungsanstrengungen verzichten, womit sie sich und der Gesellschaft bleibenden Schaden zufügen – sich selbst durch ein geringeres Einkommen, der Gesellschaft durch das Fehlen qualifizierter Arbeitskräfte.

Besonders unter Druck sehen sich Menschen in den mittleren Qualifikationsniveaus, die sich angesichts der ungünstigen Jobentwicklung in diesem Bereich – insbesondere durch Automatisierung – sorgen, in Zukunft in weniger qualifizierte Beschäftigung absteigen zu müssen. Auch der starke Anstieg des Bevölkerungsanteils mit hohem formalem Bildungsstandard (Abitur, Hochschulstudium) und dessen zunehmende Dominanz in Politik und Wirtschaft trägt zur pessimistischen Zukunftsperspektive in dieser Gruppe mit formal geringerer Qualifikation bei. Extrem wird der Leistungsdruck in Unternehmen, wo Leiharbeiter und Stammbelegschaft nebeneinander am Band stehen. Die kurzfristig Beschäftigten wollen demonstrieren, dass sie besonders leistungsbereit sind und treiben damit den Akkord hoch, wie der Arbeitssoziologe Klaus Dörre bei der Forschung in einem Werk der Elektronikindustrie festgestellt hat, während die Stammbelegschaft durch die Leiharbeiter vor Augen hat, welches Schicksal ihnen in der nächsten Rezession drohen könnte (»Die Renaissance der Klassengesellschaft«, Interview mit den Nachdenkseiten).

Insgesamt ist in Deutschland im Vergleich zu den frühen 2000er Jahren die Sorge um den sozialen Abstieg aufgrund der verringerten Arbeitslosigkeit jüngst zwar etwas zurückgegangen, besonders bei der mittleren Mittelschicht und der Oberschicht, erfasst aber heute immer noch mehr als vierzig Prozent der Bevölkerung, bei den ungelernten Arbeitern fast fünfzig Prozent, so der Soziologe Holger Lengfeld (»Uns geht es deutlich besser«, Interview mit Zeit Online 2016). Für die unteren Mittelschichten ist allerdings die Furcht vor Arbeitslosigkeit oder gar »Hartz« weitaus gravierender als für die untersten beruflichen Schichten. Dort hat man sich mit der Erfahrung, dass man mal arbeitslos wird und dann möglicherweise nur Sozialhilfe/Hartz IV erhält, grundsätzlich arrangiert, sie gehört inzwischen zu den »normalen« Entwicklungen. Aber für jene Angehörigen der Mittelschicht, denen diese Erfahrung droht oder gar widerfährt, ist das traumatisch, weil man damit keine Erfahrung und auch in seinem Umfeld keine Vergleichsfälle hat.

Unter den Abstiegssorgen ist jene nach der Armut im Alter besonders ausgeprägt. Auch wenn es der aktuellen Seniorengeneration überwiegend vergleichsweise gut geht – so etwa das Fazit der 2017 veröffentlichten »Generali Altersstudie« des Allensbach-Instituts – ist die Perspektive für die heute zu Beginn oder in der Mitte des Berufslebens stehenden Generationen weit weniger positiv. Die demographische Entwicklung, kombiniert mit den Rentenreformen, führt dazu, dass viele Menschen davon ausgehen, im Alter ihren Lebensstandard drastisch einschränken zu müssen. Dazu beigetragen hat nicht zuletzt der bereits laufende Prozess einer Anhebung der Altersgrenze für den Rentenbezug auf 67 Jahre sowie die aktuellen Diskussionen zur weiteren Anhebung auf siebzig Jahre. Viele Arbeitnehmer gehen davon aus, nicht so lange durchhalten zu können. Frührentnern droht jedoch häufig die Altersarmut. So waren nach einer Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge 2013 (»Altersarmut – heute und in der Zukunft«) zwanzig Prozent aller Rentner »relativ arm« – Bezüge unter sechzig Prozent des Medianeinkommens – während bei Frührentnern der Anteil mit 39 Prozent fast doppelt so hoch lag.

In der mittleren Generation von dreißig bis 59 Jahren äußern inzwischen sechzig Prozent der Deutschen die Befürchtung, im Alter unter deutlichen Einschränkungen zu leiden, so die oben zitierte Allensbach-Umfrage zur »Generation Mitte«, häufig verbunden mit der Sorge um Arbeitslosigkeit und die Entwertung der eigenen Ersparnisse. Letztere drohen ja sowieso nicht auszureichen, um gegebenenfalls eine Pflege zu finanzieren. Eine langfristige Lebensplanung fällt so schwer. Und der Prozess der Anstieg der Armut bei Rentnern hat bereits begonnen. Deren Armutsrisikoquote stieg zwischen 2005 und 2015 von 10,7 auf 15,9 Prozent und liegt damit inzwischen über der Armutsrisikoquote der Gesamtgesellschaft von 14,7 Prozent, nach Angaben des »Armutsberichts 2017« des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Die Anzahl der Menschen, die auch im Ruhestand noch arbeiten müssen, steigt zunehmend, für 37 Prozent der Erwerbstätigen zwischen 65 und 74 ist inzwischen die Arbeit – nicht die Rente – die wichtigste Quelle des Lebensunterhaltes, so das Statistische Bundesamt (Pressemitteilung vom 12.7. 2017).

Bei einer Fortsetzung der heutigen Rentenpolitik wird es auch für qualifizierte Beschäftigte mit mittlerem Einkommen – also beispielsweise tariflich bezahlte Alten- oder Krankenpfleger – nur noch mit großer Mühe möglich sein, einen über der Grundsicherung (Sozialhilfe) liegenden Rentenanspruch zu erwerben. Nach Berechnungen des WSI (»Das Rentenniveau in der Diskussion«) wären dafür beim für 2045 prognostizierten Rentenniveau von 42 Prozent etwa 29 Beitragsjahre bei Vollzeit notwendig. Viele Beschäftigte werden aber nicht nach Tarif bezahlt und gerade Frauen kommen häufig nicht auf eine solche Versicherungsdauer. Noch schwieriger ist laut dieser Studie der Erwerb einer Rente über der Grundsicherheitsschwelle für Beschäftigte im Niedriglohnsektor, hier wäre selbst bei 45 Beitragsjahren und Vollzeittätigkeit ein Stundenlohn von mindestens dreizehn Euro notwendig, deutlich mehr als der heutige Mindestlohn. Nach einer Studie des Pestel-Instituts für Verdi (»Rentenerwartungen aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung«) müssen selbst Menschen mit einem Bruttoeinkommen von 2 500 Euro monatlich – also etwa jeder Zweite – und vierzig Beitragsjahren bei den aktuellen Regeln mit einem Rentenanspruch auf Grundsicherungsniveau rechnen. Wenn aber ohnehin im Alter allenfalls eine (steuerfinanzierte) Grundsicherung erreicht werden kann, entfällt die zentrale Legitimation des deutschen Alterssicherungssystems, bei der das langfristige Bezahlen von Versicherungsbeiträgen im Alter mit einer auskömmlichen Rentenleistung belohnt wird.

Besonders irritierend ist für die von Armut oder Abstiegsangst geprägten Menschen, dass sie permanent von der guten Wirtschaftsentwicklung in Deutschland hören, zugleich jedoch den Eindruck haben, dass bei ihnen individuell nichts davon ankommt. Auch diese Eindrücke sind nicht unbegründet, wie die Studien von Branko Milanovic (»Die ungleiche Welt«) zur globalen Einkommensentwicklung zwischen 1998 und 2008 zeigen. Dabei wird deutlich, dass die Armen, die Mittelschicht und die Reichen in Schwellenländern deutlich gewonnen haben, genauso wie die Reichen in den Industrieländern. Der Verlierer ist nach Milanovic die untere Mittelschicht in Ländern wie Deutschland, Japan und den Vereinigten Staaten, die insbesondere gegenüber den Reichen ihrer Länder und gegenüber der Mittelschicht der Schwellenländer an Boden verloren haben. Seit der Wahl von Präsident Trump ist diese Entwicklung – zumindest für den Fall der USA – auch einem weiteren Publikum bekannt. Trump ist es gelungen, die Wut der unteren US-Mittelschicht über ihren sozialen Abstieg für seine Wahlkampagne zu instrumentalisieren.

Drohende Wirtschaftskrisen und Zukunftsangst