Liturgie – ein offenes Haus? - Thomas Roscher - E-Book

Liturgie – ein offenes Haus? E-Book

Thomas Roscher

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Beschreibung

Im Herbst 1989 strömten Christen und nicht religiöse Menschen zu Demonstrationen auf die Straßen Plauens und in die Kirchen der Stadt. In der Markuskirche, der Johanniskirche und der Erlöserkirche entstanden bis ins Frühjahr 1990 hinein "Oasen der Wahrheit", "Interimsparlamente", Räume für liturgische und spirituelle Erfahrungen der gesamten Bürgerschaft. In den Friedensgebeten wurden die Kirchen zu offenen Häusern der Liturgie. Insgesamt zehn Friedensliturgien der damals ca. 73.000 Einwohner zählenden Stadt Plauen werden in dieser Studie erstmalig rekonstruiert, liturgiewissenschaftlich kommentiert und nach ihrer Bedeutung für die Gegenwart befragt. [Liturgy – an Open House? The Plauen Prayers of Peace 1989 and 1990] Christians as well as non-religious people flocked to the streets of Plauen (a city in the former GDR) and into the churches of the city from autumn of 1989 until spring of 1990. "Oases of Truth", "Interim Parliaments", and spaces for liturgical and spiritual experiences for the entire citizenry came into existence in the Markuskirche, the Johanniskirche and the Erlöserkirche. Through the prayers for peace, the churches became open houses for a public liturgy. A total of ten liturgies for peace held in the city of Plauen, which at that time had a population of about 73,000, have been reconstructed for the first time in this study, which is a liturgical-theological analysis with a particular attention to the meaning and importance such liturgies have for the present.

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Thomas Roscher

Liturgie – ein offenes Haus?

Die Plauener Friedensgebete von 1989 und 1990

Thomas Roscher, Dr. theol., Jahrgang 1961, Studium der Theologie und der Liturgiewissenschaft, Pastor und Beauftragter für Gottesdienst und Agende in der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland, Mitglied und Mitarbeit in verschiedenen Gremien, wie bspw. in der Societas Liturgica (Internationale Gesellschaft für Liturgiewissenschaft und liturgische Erneuerung), Verfasser verschiedener wissenschaftlicher Aufsätze.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig

Coverillustration: Katrin Bonitz, Leipzig

Satz: 3w+p, Rimpar

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

ISBN 978-3-374-06230-0

www.eva-leipzig.de

Vorwort

Dieses Buch ist die gekürzte Fassung der an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig eingereichten und im Wintersemester 2018 verteidigten Dissertation mit dem Originaltitel: »Plausibilität und Lebenswirklichkeit der Liturgie. Die Plauener Friedensliturgien 1989 und 1990 als Paradigma für gegenwärtige Feierformen«.

Die diesem Buch zugrunde liegenden historischen Quellen finden sich in einem Sammelband in der Bibliothek des Liturgischen Instituts der VELKD in Leipzig.

Ich danke recht herzlich meinem Doktorvater Prof. Dr. Alexander Deeg und Prof. Dr. Wolfgang Ratzmann für die sorgfältige fachliche Begleitung des Projekts.

Ein weiterer herzlicher Dank gilt Frau Dr. Eva-Maria Zehrer für die umsichtige Durchsicht des Scripts und Frau Katrin Bonitz für die Einbandgestaltung.

Dieses Buch wird mitfinanziert mit Steuermitteln auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

Für weitere Druckkostenzuschüsse dankt der Autor dem Kulturreferat der Stadt Plauen,

der Studiengemeinschaft für die Geschichte der Evangelisch-methodistischen Kirche,

der Evangelisch-methodistischen Kirche, Bischof Harald Rückert,

dem Bildungswerk der Evangelisch-methodistischen Kirche,

dem Evangelisch-Lutherischen Kirchenbezirk Plauen,

der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland,

der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens

und Dekan Heinz-Claus Bahmann, Röm-Kath. Kirche.

Thomas Roscher

»Die Dinge singen hör ich so gern.« Rainer Maria Rilke

Inhalt

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

Vorwort

1 Einleitung

1.1Zur wissenschaftlichen Literatur im Forschungsfeld der Friedensgebete

2Zur Methodik der Arbeit

2.1Zur historischen Rekonstruktion

2.2Zur liturgiewissenschaftlichen Kommentierung

2.3Zur sinn- und präsenzkulturellen Analyse

2.4Zum Aufbau der Arbeit

3Die Geschichte der Friedensandachten in Plauen

3.1Plauen – eine Stadt mit »Bürgerstolz und Freiheitssinn«

3.2Die Vorgeschichte der Friedensandachten

3.3Der Anlass der ersten Friedensandacht am 5. Oktober 1989

3.4Der 7. Oktober 1989 in Plauen

Exkurs I: Der 7. Oktober 1989 aus der Sicht eines Wehrpflichtigen der Grenztruppen

Exkurs II: Der 7. Oktober 1989 aus der Sicht der Staatssicherheit

3.5Die weitere Entwicklung

4Liturgische Rekonstruktion und Kommentierung der Friedensandachten

4.1Die erste Friedensandacht in der Markuskirche am 5. Oktober 1989

4.1.1Orgelvorspiel

4.1.2Begrüßung und Einleitung

4.1.3Wortteil

4.1.4Gemeinsames Singen: »Gott, gib Frieden«

4.1.5Informationen

4.1.5.1Beschluss der Bundessynode

4.1.5.2Zeugnis unserer Betroffenheit

4.1.6Orgelimprovisation

4.1.7Fürbitten

Exkurs: Das »Vater unser«

4.1.8Gemeinsames Singen: »Gib uns Frieden jeden Tag«

4.1.9Segen, Ansage, Orgelnachspiel

4.1.10Bündelung und Nachlese

4.2Die zweite Friedensandacht in der Johanniskirche am 19. Oktober 1989

4.2.1Orgelvorspiel

4.2.2Begrüßung

4.2.3Wortteil

4.2.4Gemeinsames Kanonsingen: »Herr, richte unsere Füße […]«

4.2.5Informationen

4.2.6Gemeinsames Kanonsingen: »Herr, richte unsere Füße […]«

4.2.7Fürbitten

4.2.8Ansagen

4.2.9Segen und Orgelnachspiel

4.2.10Bündelung und Nachlese

4.3Die dritte Friedensandacht in der Johanniskirche am 30. Oktober 1989

4.3.1Orgelvorspiel

4.3.2Begrüßung

4.3.3Wortteil

4.3.4Gemeinsames Kanonsingen: »Herr, richte unsere Füße […]«

4.3.5Informationen

4.3.6Gemeinsames Kanonsingen: »Herr, richte unsere Füße […]«

4.3.7Fürbitten

4.3.8Ansagen, Segen und Orgelpostludium

4.3.9Bündelung und Nachlese

4.4Die vierte Friedensandacht in der Johanniskirche am 12. November 1989

4.4.1Begrüßung

Exkurs: »Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren«

4.4.2Wortteil

4.4.3Gemeinsames Kanonsingen: »Herr, richte unsere Füße […]«

4.4.4Informationen

4.4.5Gemeinsames Kanonsingen: »Herr, richte unsere Füße […]«

4.4.6Fürbitten

4.4.7Ansagen, Segen, Orgelpostludium

4.4.8Bündelung und Nachlese

4.5Die fünfte Friedensandacht in der Johanniskirche am 22. November 1989

4.5.1Begrüßung

4.5.2Wortteil

4.5.3Gemeinsames Kanonsingen: »Herr, richte unsere Füße […]«

4.5.4Informationen

4.5.5Gemeinsames Kanonsingen: »Herr, richte unsere Füße […]«

4.5.6Fürbitten

4.5.7Ansagen

4.5.8Schlusswort und Segen

4.5.9Bündelung und Nachlese

4.6Die sechste Friedensandacht in der Erlöserkirche am 19. Januar 1990

4.6.1Begrüßung

4.6.2Wortteil

4.6.3Gemeinsames Kanonsingen: »Herr, richte unsere Füße […]«

4.6.4Informationen

4.6.5Gemeinsames Kanonsingen: »Herr, richte unsere Füße […]«

4.6.6Fürbitten

4.6.7Abschluss, Segen

4.6.8Gemeinsames Singen: »Komm, Herr, segne uns«

4.6.9Orgelnachspiel

4.6.10Bündelung und Nachlese

4.7Die siebente Friedensandacht in der Erlöserkirche am 2. Februar 1990

4.7.1Begrüßung

4.7.2Wortteil

4.7.3Gemeinsames Kanonsingen: »Herr, richte unsere Füße […]«

4.7.4Informationen

4.7.5Gemeinsames Kanonsingen: »Herr, richte unsere Füße […]«

4.7.6Fürbitten

4.7.7Gemeinsames Singen: »Komm, Herr, segne uns«

4.7.8Abschluss und Segen

4.7.9Orgelnachspiel

4.7.10Bündelung und Nachlese

4.8Die achte Friedensandacht in der Erlöserkirche am 16. Februar 1990

4.8.1Begrüßung

4.8.2Wortteil

4.8.3Gemeinsames Kanonsingen: »Herr, richte unsere Füße […]«

4.8.4Informationen

4.8.5Gemeinsames Kanonsingen: »Herr, richte unsere Füße […]«

4.8.6Fürbitten

4.8.7Gemeinsames Singen: »Komm, Herr, segne uns«

4.8.8Abschluss und Segen

4.8.9Bündelung und Nachlese

4.9Die neunte Friedensandacht in der Erlöserkirche am 2. März 1990

4.9.1Informationen

4.9.2Bündelung und Nachlese

4.10Die zehnte Friedensandacht in der Erlöserkirche am 16. März 1990

4.10.1Begrüßung

4.10.2Wortteil

4.10.3Gemeinsames Kanonsingen: »Herr, richte unsere Füße […]«

4.10.4Informationen

Exkurs: »Zur Person Wolfgang Schnurs«

4.10.5Gemeinsames Kanonsingen: »Herr, richte unsere Füße […]«

4.10.6Fürbitten

4.10.7Gemeinsames Singen: »Komm, Herr, segne uns«

4.10.8Abschluss und Segen

4.10.9Bündelung und Nachlese

5Bündelung und Nachlese der liturgischen Rekonstruktionen und ihrer Kommentierung

5.1Die zwei Phasen der Friedensandachten

5.2Die Friedensandachten und die politische Situation

5.3Die Friedensandachten als Rezeptionsorte des Unausgesprochenen

5.4Inhaltliche Wiederholungen

5.5Die Fokussierung auf innerkirchliche Themen

5.6Die ideologiekritische Komponente

5.7Der hohe Stellenwert des Individuums

5.8Theologische Positionen

5.8.1Christologie

5.8.2Gottesbilder

5.8.3Die eschatologische Dimension

5.8.4Die verschiedenen Aspekte des Betens

5.8.5Der ökumenische Ansatz als Modell für Vielfalt und Einheit und Symbol gelingender Pluralität

5.9Liturgietheologische Anmerkungen

5.9.1Die Modi der liturgischen Kommunikation

5.9.2Der Gebrauch der Bibel

5.9.3Das Vorkommen aktueller Themen in der Verkündigung

5.9.4Der Gebrauch von Musik

5.9.5Unterschiedliche Präsenz- und Sinnerfahrungen

5.9.6Die Verschränkung von Tradition und Innovation

5.10Die liturgischen Akteure und die Beteiligung der Gemeinde

5.11Der schrittweise Rückgang der Beteiligung und das Zerbrechen der Ritualgemeinschaft zwischen Christen und Nichtchristen in der zweiten Phase der Friedensandachten

6Sinn- und präsenzkulturelle Analyse

6.1Beispiel: Sinn- und präsenzkulturelle Analyse der ersten Friedensandacht

6.1.1Orgelvorspiel

6.1.2Begrüßung und Einleitung

6.1.3Wortteil

6.1.4Gemeinsames Singen: »Gott, gib Frieden«

6.1.5.1Beschluss der Bundessynode

6.1.5.2Zeugnis unserer Betroffenheit

6.1.6Orgelimprovisation

6.1.7Fürbitten

Exkurs: Sinn- und präsenzkulturelle Analyse des »Vater unser«

6.1.8Gemeinsames Singen: »Gib uns Frieden jeden Tag«

6.1.9Segen, Ansage, Orgelnachspiel

6.1.10Fazit

6.2Sinn- und präsenzkulturelle Analysen der zweiten bis zehnten Ökumenischen Friedensandacht

7Gesamtauswertung der sinn- und präsenzkulturellen Analysen

7.1Zum Verfahren der sinn- und präsenzkulturellen Analysen

7.1.1Zeitliche Differenzen bei der Erfüllung von Kriterien innerhalb einer liturgischen Sequenz

7.1.2Der Einfluss der Quellen auf die Analysen

7.1.3Die generelle Offenheit der Analysen

7.1.4Die relative Genauigkeit der Analysen

7.1.5Zu den Interpolationen

7.1.6Zur Anwendung von Kriterien

7.1.7Zur Nichtanwendung von Kriterien

7.1.8Zur Verfeinerung des Verfahrens

7.1.9Sinn- und präsenzkulturelle Anteile beziehungsweise Dominanz

7.1.10Zu den Ergebnissen des Verfahrens

7.1.11Zu den Grenzen und Gefahren des Verfahrens

7.2Gesamtauswertung

7.2.1Auswertungsmodi

7.2.2Auswertung der vergleichbaren liturgischen Sequenzen

7.2.3Auswertung der singulären liturgischen Sequenzen und der Interpolationen

7.2.4Die Erörterung der Ausgangsthesen

8Plausibilität und Lebenswirklichkeit der Liturgie

8.1Die Plauener Friedensliturgien als Paradigma für heutige Feierformen

8.2Die Ritualgemeinschaft verschiedener Menschen bedarf eines Grundbestandes an gemeinsamen Interessen und Bedürfnissen

8.3Neue Wahrnehmung von Liturgie, von Kasualien und Gottesdienst

8.4Die Bedeutung des Verfahrens für die Qualitätssicherung der Liturgie

8.5Liturgiedesign als Aufgabe der Kirche

8.6Sinn- und Präsenzkultur als Hilfen für den werkästhetischen Beschreibungsversuch von Liturgien

8.7Sinnkultur als evangelischer Markenkern?

8.8Perspektiven des evangelischen Gottesdienstes

9Literatur

10Dokumentationen, Gesangbücher & Zeitschriften

11Filmdokumentationen

Endnoten

1 Einleitung

Mit dieser Arbeit wird Neuland in der Forschung betreten. Bisher wurden die Friedensgebete in Leipzig von Hermann Geyer1 und in Wittenberg von Kay-Ulrich Bronk2 in zwei großen Studien von theologischer Seite wissenschaftlich aufgearbeitet. Hinzu kommt die umfangreiche die Historie in ganz Sachsen erfassende politikwissenschaftliche Arbeit von Michael Richter,3 die die Rolle der Friedensgebete aus ihrer Perspektive erfasst. Weitere Arbeiten beschäftigen sich mit speziellen Themen der Friedensgebetsforschung. Dies tut beispielsweise ein Aufsatz von Jürgen Ziemer4 über den Gebrauch der Bibel in den Kirchen während der »Wendezeit« und ein aus der Retrospektive geschriebener Vortrag5 anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig am 28. Oktober 2009 von Peter Cornehl, der die Friedensgebete im größeren Zusammenhang des Phänomens »Öffentlicher Gottesdienste« erörtert.

Von der Wissenschaft bisher vernachlässigt wurden ländliche Regionen und kleinere Städte des Landes. In diese Lücke versucht die folgende Untersuchung vorzustoßen, indem sie die Vorgeschichte und die Geschichte der Friedensandachten in der Stadt Plauen mit damals ca. 73.000 Einwohnern von Oktober 1989 bis zum Frühjahr 1990 erstmalig historisch erfasst, zehn Friedensandachten rekonstruiert und in liturgiewissenschaftlicher Perspektive auswertet.

Bei der Rekonstruktion der Vorgeschichte und Geschichte der Friedensandachten wird die besondere Stellung Plauens in der Friedlichen Revolution von

1989 deutlich, hat doch in der Stadt an der Elster bereits am 7. Oktober 1989, also 2 Tage vor dem 9. Oktober 1989 in Leipzig, eine Massendemonstration mit ca. 25.000 Teilnehmenden stattgefunden, in der der DDR-Staat auf Einschüchterung und Gewalt setzte, jedoch einlenken musste. Kirchliches Handeln in einer ersten Friedensandacht am 5. Oktober 1989 in der Markuskirche Plauen und das mutige und entschiedene Eingreifen des lutherischen Superintendenten Thomas Küttler am 7. Oktober 1989 halfen mit, ein Blutvergießen auf dieser ersten nicht offiziellen Großdemonstration in Plauen zu verhindern.

In der Folge dieser Geschehnisse wurden die Friedensandachten der christlichen Kirchen Plauens im Herbst 1989 zu Orten von freier Information und des politischen Austauschs zwischen Nichtchristen und Christen der Stadt. Zugleich waren sie Stätten der Verkündigung des Evangeliums und des Gebets.

1.1 Zur wissenschaftlichen Literatur im Forschungsfeld der Friedensgebete

Im Folgenden wird auf einige bedeutsame wissenschaftliche Veröffentlichungen im Bereich der Friedlichen Revolution und der Friedensgebete hingewiesen und die jeweils unterschiedliche Herangehensweise skizziert.

Den Leitfragen an die Friedensgebete in Wittenberg,6 dem Mix an Methoden7 und den Klassifizierungen8 für die homiletische Analyse der Meditationen9 bei Kay-Ulrich Bronk folgt Hermann Geyer in keiner Weise, der das Leipziger Friedensgebet10 als »Konfliktsystem«11, sogar als das zentrale symbolische »Konfliktsystem für die ganze DDR«12 wahrnimmt, in dem Konflikte als »hochdifferenzierter Modus sozialen Lernens«13 hervortraten und das sich später als Lehrstück für soziales Lernen, als öffentliche Vorwegnahme von Pluralität und Demokratie inmitten der Diktatur14 in die drei Teilsysteme Friedensgebet, Kundgebung und Demonstration ausdifferenzierte.15 Geyer versteht das Leipziger Friedensgebet u. a. als Forum der Opposition und der Demokratie im Land. Dazu gehört für ihn, dass die zeitweilig konfliktmildernde Kirchenleitung für die Gruppen zum »Ersatzgegner« und zur Beschwerdeadresse für den unerreichbaren Staat wurde.16 Den Balanceakt der Kirche beschreibt Hermann Geyer mit den Worten Detlef Pollacks: »Die Kirche konnte nur deshalb eintreten für Menschen, die weitergingen als sie, weil sie nicht so weit ging.«17 Dass es Kirche und Gruppen nicht gänzlich auseinanderdividierte, sieht Geyer darin begründet, dass Liturgie und staatsbürgerliche Verantwortung von Anfang an zusammengehören, dass Gottesdienst immer eine öffentliche Angelegenheit mit einer stellvertretenden Dimension ist. Christus ist der »Archiliturg« der Menschheit. Von daher gibt es keine politischen Gottesdienste. Gottesdienst ist politisch.18 Ein besonderes Verdienst der Arbeit Hermann Geyers besteht m.E. darin, dass er mit Victor Turner und anderen Ritualforschern gegenüber der älteren Ritenforschung zeigen konnte, dass Rituale nicht nur für eine Gruppe identitätsstiftend, sondern auch gesellschaftsverändernd19 wirken, dass die hochgerüstete DDR-Staatsmacht handlungsunfähig war, weil tausendfach die sozialistischen Rituale verweigert und stattdessen ein alternatives Ritual, das Friedensgebet, zum Anziehungspunkt wurde. Geyer zeigt, dass nicht der Machtapparat, aber die Macht des staatlich verordneten Rituals20 zusammengebrochen war, ohne diese jedoch war auch der Machtapparat haltlos geworden.21 In der Ritualverweigerung sowie im alternativen Ritual des Friedensgebetes wurde das Gegebene transzendiert und nicht hingenommen. Diese Ergebnisse Geyers lassen sich auch in anderen Situationen verifizieren, beispielsweise in Plauen, wo die Geschehnisse nicht erst durch den nachgewiesenen Wahlbetrug zu den Kommunalwahlen im Mai 1989 ihren revolutionären Verlauf nehmen, sondern in der Verweigerung des Wahlrituals vieler Plauener einen ihrer Auslöser haben.22 Sowohl Bronk23 als auch Geyer verweisen in ihren Arbeiten darauf, dass die Bedeutsamkeit der Individualität und die Würdigung der »Subjektivität«24 in den Friedensgebeten die Wirkung der Gebete und ihre politische Bedeutsamkeit erhöht hat. Hier konnten Einsichten aus Henning Luthers Religionstheorie fruchtbar gemacht werden, in der der Einzelne in seinem Subjekt-werden durch seinen Abstand zur Welt die Differenz deutlich macht, »dass das, was ist, nicht alles ist.«25 Diese Individuierung sei in pluralen Kontexten wie dem Friedensgebet als politische Dimension der Religion erkennbar. Während die DDR ihre Gesellschaft nicht hinterfragbar sakralisierte und der Einzelne seine egoistischen Interessen für das Kollektiv transzendieren musste, wirkte die Religion in den pluralen Kontexten für den Einzelnen und seine Freiheit. Sie stiftete die Erfahrung von der Gesellschaft im Letzten unabhängig zu sein.26 Die Demokratie entspreche im Politischen dem religiösen Individuationsprozess des Subjekts. In der Gestalt des Friedensgebets sei dann die Religion zur politischen Kraft geworden, weil sie nicht auf Kontingenzbewältigung und »Sinnstiftung« einer zwiespältigen Wirklichkeit gesetzt, sondern in aller Ambivalenz auf das über sie Hinausweisende hingewiesen hat.27 Einig sind sich Geyer28 und Bronk29 auch in der Ablehnung der These des Soziologen Detlef Pollack, dass die Kirchen lediglich einen »Kristallisationspunkt«30 für den Protest angeboten hätten. Dass die These Pollacks nicht stimme, lasse sich bereits beim Betreten einer Kirche feststellen, die ein Raum außerhalb der alltäglichen Räume sei. Bronk resümiert: In einem Kirchenraum vollzieht sich eine »temporäre Distanzierung vom Alltagsblick, eine Verschiebung der Perspektive. Damit wird der Wahrnehmungsfluss unterbrochen und der Blick auf die Welt verändert. Es entsteht die Möglichkeit, aus der ›Konventionalität der gewohnten Erkenntnisweise‹31 herauszutreten. Der Raum, die Liturgie und die besondere Sprache lassen eine Welt auf Zeit entstehen, aus der heraus die Alltagswelt etwas zu erkennen gibt, was sie dem alltäglichen Blick vorenthält.«32 Hermann Geyer bezeichnet die Friedensgebete in den Kirchen als »Symbole der Transzendenz«33, die in unverwechselbarer Weise dazu beigetragen haben, »die Situation zu ›transzendieren‹«34. Das Friedensgebet sei zum Schwellenort in einer Schwellenzeit35 geworden, in dem die Angst der Menschen mit der Hoffnung auf Gottes Handeln verknüpft werden konnte.36 Dies habe Menschen aufbrechen, Grenzen überschreiten und aufrecht gehen lassen. Die Handlung des Friedensgebets selbst sei zur Hoffnung geworden und habe die Lähmung der Menschen durch die Angst überwunden. Im Friedensgebet zeige sich, dass das friedens- und gesellschaftspolitische Engagement der Kirche nicht nur eine pädagogische und ethische Komponente besitze, sondern im Kern eine liturgische Aufgabe darstelle. Im Friedensgebet werde beispielhaft die Differenz zwischen der Wirklichkeit Gottes und der relativen politischen Situation miteinander ins Spiel gebracht und damit zu Veränderungen im politischen Feld beigetragen.37 Letztendlich sei das Friedensgebet zum Initiationsort für den mündigen Bürger geworden, zum Ort, an dem die Gängelung der Diktatur überwunden wurde.38

Jürgen Ziemer geht in seinem Aufsatz der Frage nach, wie die Bibel 1989/90 gebraucht wurde, und stellt fest: Die Bibel war im Herbst ’89 als »Lesung«, als »Formulierungshilfe für ein Gebet«, als »Textgrundlage einer Predigt«, und sogar auf Transparenten in Demonstrationen präsent.39 Schließlich unterscheidet er fünf Funktionsweisen des Bibelgebrauchs: die »Schutzfunktion«, die »Ausdrucksfunktion«, die »Widerstandsfunktion«, die »Unterbrechungsfunktion« und die »Appellfunktion«, die allesamt mit den Umständen einer Diktatur zu tun haben. Im Schutz von Bibeltexten konnte manches gesagt werden, was sich sonst nicht aussprechen ließ. Da das Schweigen in der DDR kulturell antrainiert war, konnte mit Hilfe der biblischen Sprache vieles ausgedrückt werden, worüber man sonst schwieg. Widerstand leisteten die Texte der Bibel, wenn sie durch ihre Erlösungs- und Befreiungsbotschaft autoritäre Systeme unter Anklage stellten, Menschen stärkten, die sich ohnmächtig fühlten, selbst jene kritisierten, die im Umgang mit der Bibel sich zu sehr mit dem DDR-System arrangiert hatten. Die vierte Dimension sieht Ziemer in der »Unterbrechungsfunktion« der Bibel. Die Texte unterbrechen den direkten Bezug auf die Situation, schaffen Raum für anderes Wesentliches, für Fragestellungen, die weit über die Situation hinausweisen. Der fünfte Aspekt ist die »Appellfunktion.« Hier ist wohl die Aufforderung zur Gewaltlosigkeit als einer der wichtigsten Appelle zu nennen.40

Michael Richter kommt vom »akteurstheoretischen Ansatz«41 her und sieht die »Friedensgebete als Sammelpunkte von Demonstrationen«42 an und die Forderung nach Gewaltfreiheit,43 die von den Friedensgebeten ausging, als eine Komponente, die den Herbst 1989 zu dem gemacht hat, was er war, eine friedliche Revolution. So lässt sich aus der Wahrnehmung der Forschungsliteratur zum Friedensgebet festhalten, dass die jeweilige Fragestellung erstens die methodische Herangehensweise bestimmt und dass zweitens die Methodik je nach Situation und Quellenlage44 differiert. Daraus folgt, dass bei der Erforschung der Friedensandachten in Plauen auch eine Methodik gewählt wird, die den Quellen entspricht. An den Stellen der liturgiewissenschaftlichen Analyse, bei denen sich Verbindungen zu den Fragestellungen der vier zuletzt genannten Autoren ergaben, wurden diese für die Auswertung der Plauener Quellen nach Bedarf mit herangezogen.

Als »Anlass zum Staunen und zu großer Dankbarkeit«45 würdigt Peter Cornehl die Friedensgebete 1989 retrospektiv in seinem Beitrag zum öffentlichen Gottesdienst. Einerseits, weil sie »maßgeblich zum Gelingen der friedlichen Revolution beigetragen […]«46 haben. Andererseits, weil die Menschen in ihnen Erfahrungen mit gewaltlosem und friedlichem Protest zu sammeln vermochten, der nicht nur Deutschland, sondern auch Europa nachhaltig verändert hat. Cornehl weist darauf hin, wie wichtig es ist, die Beziehung zwischen Friedensgebeten und Demonstrationen an vielen Orten der DDR als Teil einer größeren Geschichtserzählung zu verstehen und die Erinnerung47 daran lebendig zu halten.48 An der Arbeit Hermann Geyers über das Leipziger Friedensgebet zeigt er retrospektiv, dass »Öffentlicher Gottesdienst in gesellschaftlich-politischen Konfliktlagen […] eine Aufgabe theologischer Urteilsbildung […]«49 ist, die Liturgie und Politik sachgemäß zueinander in Beziehung setzen, sich um ihre liturgische Umsetzung bemühen und dabei komplexe Kommunikationsprozesse50 beachten muss.51

Aus dem Befund der Friedensgebete leitet er für den öffentlichen Charakter eines Gottesdienstes Folgendes ab:52

1 Ein Gottesdienst ist öffentlich, wenn er allgemeine Lebens- und Existenzfragen thematisiert und die persönliche Ebene mit der politischen Ebene zu verbinden versteht.53

2 Ein Gottesdienst ist öffentlich, wenn er Inhalt und Kraft aus der Bibel, aus dem Evangelium gewinnt.54

3 Ein Gottesdienst ist öffentlich, wenn sich Menschen innerlich und äußerlich an ihm beteiligen. In diesem Sinn spielt Cornehl geschickt auf den Ruf vieler DDR-Bürgerinnen und Bürger »Wir sind das Volk« an und wandelt diesen in den Ruf »Wir sind das Volk Gottes«!55

4 Ein Gottesdienst heute ist oft ein Gottesdienst in der Öffentlichkeit von Christen und Nichtchristen, von Glaubenden und Suchenden. Von daher fordert er Konsequenzen für das liturgische Handeln in solchen Gottesdiensten.56

Im letzten Teil seiner Ausführungen verwandelt Peter Cornehl die Retrospektive in einen Ausblick und stellt drei Felder mit Beispielen57 vor, in denen die Kirche heute und in der Zukunft gottesdienstlich in der Öffentlichkeit präsent sein sollte. Dies sind das öffentliche Totengedenken, die moralisch-geistige Auseinandersetzung und die großen Kirchenjahresfeste.58

2 Zur Methodik der Arbeit

Die Arbeit beschreibt den historischen Hintergrund vom Mai 1989 bis zum Frühjahr 1990 in Plauen und rekonstruiert auf dieser Grundlage fünf Plauener Friedensliturgien des Herbstes 1989 in einer ersten Phase und fünf Friedensliturgien des Frühjahrs 1990 in einer zweiten Phase. Diese Rekonstruktionen werden nach ihrer Quellenlage liturgiewissenschaftlich kommentiert und in einem eigens für liturgische Formate entwickelten Verfahren der sinn- und präsenzkulturellen Analyse unter zwei Ausgangsthesen paradigmatisch ausgewertet.

2.1 Zur historischen Rekonstruktion

Um wahrzunehmen, was vom Mai 1989 bis zum März 1990 in Plauen geschah, wurden die Quellen verschiedener Archive erschlossen. Diese in Art und Umfang unterschiedlichen Quellen wurden in einem eigenen Quellenband1 zusammengestellt. Es handelt sich einerseits um nummerierte Textquellen (TQ), um Abläufe der Friedensandachten, Predigten, Informationsteile, Gebete und anderes mehr. Die Nummerierung der Textquellen ist in der Regel mit einem Titel ergänzt. Lediglich in manchen Textpassagen, vor allem in Fußnoten, in denen die Titelbezeichnung die Lesbarkeit beeinflusst hätte, sind die Quellen nur mit ihrer jeweiligen Nummerierung angegeben.

Zur zusätzlichen Faktenbeschaffung waren vom Autor der Arbeit geführte Hintergrundgespräche mit Zeitzeugen nötig. Diese sind als nummerierte Tonquellen (ToQ) in der Arbeit kenntlich. Die Nummerierung der Tonquellen ist wiederum mit einem Titel ergänzt. Biographische Angaben zur Person dieser Zeitzeugen enthalten die nach einem einheitlichen Frageraster erstellten kurzen Biogramme im Quellenband. Eine Tonaufnahme der ersten Andacht am 5. Oktober 1989 in der Markuskirche Plauen und die Aufnahmen der Hintergrundgespräche enthält eine CD.2

Eine weitere Art von Quellen sind die sogenannten Pressequellen (PQ) der lokalen Tageszeitung »Freie Presse«, des sogenannten Zentralorgans der SED »Neues Deutschland« und weiterer Zeitschriften. Eine letzte Art von Quellen sind einige Dokumente des Staatssicherheitsdienstes (TQS), die als Textquellen sui generis an dem Kürzel »TQS« erkennbar sind. Bei diesen Quellen handelt es sich um Dokumente, die bisher nicht in publizierter Form vorliegen. Andere Dokumente des MfS werden nach Bedarf aus ihrer jeweiligen Veröffentlichung heraus verwendet, um den Umfang des zu dieser Arbeit gehörenden Quellenbandes zu reduzieren, der alle in dieser Arbeit verwendeten bisher nicht veröffentlichten Quellen enthält.

Außerdem werden verschiedene Mitschnitte von Fernsehsendungen mit Interviews der handelnden Akteure verwendet. Sie dienen der Rekonstruktion der geschichtlichen Zusammenhänge, aus denen die Friedensandachten des Herbstes 1989 in Plauen erwachsen sind und in die sie hinein zielten. Die Rekonstruktion orientiert sich in ihrer Analyse an der Gestalt der Quellenlage. Liegen Tonquellen und Textquellen vor, kann die Rekonstruktion in andere Schichten vorstoßen als bei Andachten, von denen nur Textquellen überliefert sind.

Das diesem Arbeitsgang nachfolgende Ordnen der Quellen stellte einen ersten Schritt hin zur Beschreibung3 dar und mündete schließlich nach der geschichtlichen Darstellung in die Rekonstruktion der Friedensandachten.

Die phänomenologische Wahrnehmung der Ereignisse mit Hilfe der Quellen stand immer am Anfang eines neuen Arbeitsschrittes, auch wenn dieser nicht explizit im Text ausgeführt wird. Dieses Vorgehen hat die Arbeit in die Darstellung der Chronologie der Ereignisse von 1989/1990 in Plauen hinein genötigt, weil die Zeit und der konkrete Ort des Betens die Plauener Friedensliturgien durchdrungen haben. Es gibt kein Verstehen dieser Friedensliturgien ohne ihren Hintergrund. Darum nimmt in dieser Arbeit die Darstellung der zeitgeschichtlichen Umstände einen gewissen Raum ein. Dabei wurde auch ideologiekritische Literatur aus dem Umfeld der SED verwendet.4

Generell ist die Quellenlage der Plauener Friedensliturgien sehr differenziert darzustellen. Lediglich von der ersten Friedensandacht am 5. Oktober 1989 in der Markuskirche existiert eine Tonaufnahme.5 Von den übrigen neun Andachten existieren nur Textquellen.6

Von der neunten Ökumenischen Friedensandacht existiert nur der Informationsteil.7

Auffällig ist, dass nur drei Verkündigungsteile aus der ersten Phase der Andachten8 überliefert sind,9 so dass für den Bereich der zweiten Phase10 außer den Verkündigungstexten und den Kriterien ihrer Auswahl11 wenig zu rekonstruieren war.

Ebenso auffällig wie diese Fehlanzeige ist die Tatsache, dass die Informationsteile aller Ökumenischen Friedensandachten quellenmäßig überliefert worden sind.12

Gefolgt wird diese Überlieferungsmenge lediglich von den Fürbitten, die sind in acht von zehn Andachten überliefert.

Von den Begrüßungssequenzen sind sieben überliefert, fünf davon entstammen der ersten Phase, von den Abschlusssequenzen sind es lediglich vier Sequenzen aus der ersten Phase.

Generell ist festzustellen, dass die Ökumenischen Friedensandachten der ersten Phase quellenmäßig besser dokumentiert sind als die Andachten der zweiten Phase.

Dass die Teile der Andachten, die durch das biblische Wort und dessen Auslegung bestimmt waren, innerhalb der Rekonstruktionen einen relativ geringen Umfang besitzen, liegt zum einen an deren quantitativer Kürze im Vergleich zu den ungleich längeren Informationen und Gebeten,13 zum anderen an der Quellenlage.14

Viele Begrüßungs- und Schlusssequenzen, Bibeltexte, alle Informationsteile und die Fürbitten der Ökumenischen Friedensandachten sind besser dokumentiert als zum Beispiel die Art der Orgelmusik, die Reaktionen der Besucher und Besucherinnen innerhalb der Andachten, liturgische Antwortrufe, Applaus und Ähnliches.

Da die Andachten in verschiedenen Kirchen stattfanden, ließ sich über den Kirchenraum nur Allgemeines festhalten.15 Auch schweigen die Quellen über die Kleidung der liturgisch handelnden Personen, so dass dieser Bereich kein Bestandteil der Rekonstruktion sein konnte.

In der folgenden Tabelle findet sich eine Quellenübersicht der für die Rekonstruktion zur Verfügung stehenden ausgeführten Textteile der liturgischen Syntax von Wort, Information und Gebet, die in nahezu allen Ökumenischen Friedensandachten das liturgische Geschehen prägte:

Neben den Einschränkungen, die der Rekonstruktion durch die unvollständige Quellenlage auferlegt wurden, ließ sich auch ein Eindruck von der handwerklichen Ausführung der Friedensandachten gewinnen. Bedingt durch die ökumenische Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und den Zeitdruck für die Vorbereitung der Andachten ist die handwerkliche Ausführung der Ökumenischen Friedensandachten sehr unterschiedlich zu bewerten. Zum Teil lassen die Quellen eine mangelnde Abstimmung erkennen. So tauchen beispielsweise wichtige Themen der Informationen nur zum Teil wieder in den Fürbitten auf.16 Auf der anderen Seite finden sich gelungene Beispiele wie eine zur Verkündigung passende Liedauswahl in der ersten Andacht.17 Auch schwankt die sprachliche und inhaltliche Ausführung der Fürbitten erheblich.18 So stehen die Fürbitten in der zehnten Andacht mit einigen sprachlichen und inhaltlichen Mängeln neben denen in der sechsten19 und fünften20 Ökumenischen Friedensandacht, die wesentlich präziser formulieren oder einen die Gemeinde stärker einbeziehenden Gebetsruf verwenden. Kleinigkeiten wie das deplatzierte Segenslied in der sechsten Andacht21 stehen neben größeren Mängeln wie die Schuldbekenntnisse in Fürbitten ohne Absolutionsformulierungen.22 Auch die Adressierung der Einladungen ausschließlich an Christen zu der zehnten und letzten Ökumenischen Friedensandacht und einem späteren Fernsehgottesdienst in den Informationen der neunten Ökumenischen Friedensandacht gehören in die Mängelliste der handwerklichen Ausführung.23

Die kurzen geschichtlichen Einführungen vor den Rekonstruktionen sollen es Leserinnen und Lesern erleichtern, den Zusammenhang zum historischen Hintergrund einer Andacht herzustellen.

Der Gliederungspunkt »Bündelung und Nachlese« nach den jeweiligen Rekonstruktionen und ihrer Kommentierung bündelt einerseits wichtige Aspekte oder Schlussfolgerungen. Andererseits stellt er eine Art »Nachlese« von Ergebnissen oder Fakten dar, die im laufenden Text wegen des Textflusses und seiner Verständlichkeit nicht unterzubringen waren.

2.2 Zur liturgiewissenschaftlichen Kommentierung

Die liturgiewissenschaftliche Kommentierung erfolgte eng verknüpft mit der historischen Rekonstruktion der Andachten.

Dabei folgte die Arbeit einem breiten Konsens in der Liturgiewissenschaft, der die Gesamtheit der Ausdrucksformen liturgischen Lebens in der Geschichte reflexiv zu erfassen sucht.24 Dazu gehören neben der liturgischen Syntax und den Texten auch die rituelle Ebene, die Klanggestalt der Andachten und die entsprechenden Kirchenräume.

Die liturgiewissenschaftliche Kommentierung der Plauener Friedensliturgien verknüpfte die historische Rekonstruktionsarbeit mit liturgiesystematischen Gesichtspunkten, um die »Überlieferung des Evangeliums im Medium der Liturgie aufzuschließen.«25 Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen die Plauener Friedensliturgien als gottgewirktes Handeln unter einmaligen historischen Bedingungen, unter denen die Kommentierung auch die (doxologischen) Reaktionen der Teilnehmenden darzustellen versuchte.26

Die wissenschaftliche Kommentierung berücksichtigte liturgiepragmatische Gesichtspunkte und bediente sich sowohl der religionsgeschichtlichen und religionsphänomenologischen Untersuchung der das Gebet systematisierenden Studie Friedrich Heilers27 als auch der systematischen Theologie Paul Tillichs28 und anderer Autoren. Erkenntnisse der Liturgiewissenschaft aus den entsprechenden Handbüchern29 und Enzyklopädien30 wurden ebenso rezipiert wie semiotische31 und kommunikationswissenschaftliche Zusammenhänge32 und andere Einsichten der Humanwissenschaften bis hin zur Psychoanalyse.33 Auch trug die Hymnologie das Ihrige zur Rekonstruktion der Andachten bei.34

Aufgrund der Quellenlage im Allgemeinen und der Unterschiedlichkeit der Quellen konnte der Autor bei der Kommentierung der zehn Andachten methodisch nicht einheitlich vorgehen, sondern musste die unterschiedliche Quellenlage und die Art der Quellen berücksichtigen.35

Hierbei wirkte sich der zu beurteilende Befund auf die kritische Rekonstruktion der Andachten aus. Es ist m. E. plausibel, dass sich beispielsweise aus der Verwendung von Kerzen die Erörterung nichtsprachlicher Interaktionsformen ergab.

Eine weitere Herausforderung ergab sich aus der Notwendigkeit, während der Kommentierung immer wieder die geschichtlichen Hintergründe der Ökumenischen Friedensandachten wahrzunehmen, sich jedoch nicht allein von einer plausiblen Kausalität leiten zu lassen, die in den Liturgien die Spieglungen der politischen Entwicklungen herausstellt.

Wäre dies vom Autor so gehandhabt worden, so ließe sich beispielsweise feststellen, dass die Situation am 5. Oktober 1989 dazu führte, in der ersten Friedensandacht Plauens einen Synodalbeschluss zu verlesen oder eine ganz bestimmte Bitte in ein Gebet einzufügen, um die Menschen zu ermutigen. Diese Methode eignet sich an manchen Stellen, Liturgien oder einzelne liturgische Stücke zu erschließen, zum Beispiel dort, wo die Liturgie die Fähigkeit unseres Bewusstseins nutzt, die Zeitmodi der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft zusammenzuziehen und damit in die Gegenwart zu bringen. Dies geschieht in einer vergegenwärtigenden Erinnerung an Gottes Handeln in der Geschichte in der Struktur der Anamnese und in einer proleptischen Vorwegnahme von Gottes Handeln in der Zukunft in der Struktur der Verheißung, beispielsweise in einem neutestamentlichen Canticum wie dem Benedictus. Der Kausalzusammenhang ist dann Folgender: Weil Gott in der Vergangenheit gehandelt hat, darum handelt er auch heute und wird in der Zukunft handeln. Einer solchen kausalen Sichtweise hat sich der Autor der Arbeit nicht entzogen, sondern dort, wo es nötig schien, dies auch so dargestellt. Leider verführt diese heute in den Wissenschaften durchaus übliche auf die aristotelische Ursachenlehre36 zurückgehende Sichtweise dazu, einige Dinge, die liturgiewissenschaftlich interessant sind, gar nicht in den Blick zu bekommen. Besonders hartnäckig entzieht sich ein doxologischer Gebetsschluss der liturgischen Tradition, wie er beispielsweise am Schluss des »Vater unser« in den Friedensandachten auftaucht, einer solchen kausalen Betrachtungsweise. Es ist weder sehr plausibel zu fragen, was ist die Ursache (causa efficiens) dafür, dass wir Gott loben, noch ist es sehr plausibel, wenn wir fragen, welches Ziel wollen wir damit erreichen (causa finalis), wenn wir Gott loben. Um Teile der Liturgie zu erschließen, die sich dem kausalen Begründungszusammenhang entziehen, sah sich der Autor genötigt, die Methode der Analogie zu verwenden, die schon Platon in die Wissenschaftsgeschichte Europas eingespeist37 hat. Ihr theologischer Gebrauch ist in biblischen und rabbinischen38 Gleichniserzählungen bis hin zur heutigen Gleichnisauslegung39 verbürgt. Ihre Verwendung geht auf Jesus Christus und die Verfasser der Evangelien mitsamt ihren Redaktionsschulen zurück. Im Hintergrund dieser Art des Vergleichens steht die Auffassung, dass eine Gestalt, ein Lied, ein Text Bedeutungen an sich ziehen, dass eine Liturgie zum Träger von Ideen werden kann und damit Wesensprinzipien erschließen hilft. Angewendet wurde diese Methode bei der Rekonstruktion des Spirituals: »O freedom« (dt.: »Gott, gib Frieden«) in der ersten Andacht, wo anhand dieses Spirituals, das 1963 beim Marsch auf Washington gesungen wurde, der Zusammenhang zur amerikanischen Bürgerrechtsbewegung aufgezeigt wird. Zwischen dem Marsch auf Washington und Plauens erster Friedensandacht gibt es nachweisbar keine kausalen Zusammenhänge. Die ansonsten innerhalb der Chronologie plausible kausale Fragestellung hätte nichts ergeben. Dennoch gibt es dieses Lied, das zum Träger der Sehnsucht nach Freiheit geworden ist. Und als dieses Lied mit seiner unverwechselbaren Melodie in Plauen gesungen wurde, war der Zusammenhang sofort plausibel, auch wenn die liturgischen Akteure einen deutschen Text singen ließen und dies nicht planend einkalkuliert haben sollten. Mit Hilfe der Analogie kann eine Gestalt als Träger einer oder mehrerer Ideen in der Liturgie vorstellig werden und damit Zusammenhänge deutlich machen, die ohne dieses Verfahren nicht in Erscheinung treten würden.

2.3 Zur sinn- und präsenzkulturellen Analyse

Nach der Rekonstruktion und der liturgiewissenschaftlichen Kommentierung der jeweiligen Andachten wird die liturgiehistorische, liturgiesystematische und liturgiepragmatische Ebene weitergeführt und der sinn- bzw. präsenzkulturelle Anteil der einzelnen liturgischen Stücke erörtert. Mit diesen Begriffen greife ich eine Unterscheidung Hans Ulrich Gumbrechts auf, der »Sinn- und Präsenzkultur«40 unterscheidet.

Die Differenz von »Sinn« und »Präsenz« hat der Autor aufgegriffen, um den Weltbezug von Menschen in Liturgien in diesen beiden Perspektiven zu beschreiben. Es ist seine Absicht, die liturgiewissenschaftliche Reflexion über die Bipolarität und Verflochtenheit von »Sinn« und »Präsenz« in liturgischen Formaten zu befördern und damit die bisherigen methodischen Reflexionsmöglichkeiten zu erweitern.

Welche Aufmerksamkeit präsenzkulturelle Phänomene wie »Klänge« oder ihr Gegenteil »Stille« in der Erinnerung der liturgischen Akteure besitzen, lässt sich an folgendem Beispiel zeigen:

Auf die Frage, was seine prägnanteste Erinnerung an die erste Friedensandacht in der Markuskirche am 5. Oktober 1989 sei, antwortete einer der beteiligten Pfarrer: »Das Prägnanteste ist, […] wirklich diese hohe Konzentration, diese Ruhe, diese Stille, in der das alles abgelaufen ist […] Das ist so beeindruckend gewesen, wie die Menschen kamen. Es ist kein Gebrüll gewesen, kein Geschrei, und es kamen immer mehr.«41

Auch lassen sich Atmosphären in liturgischen Formaten mit Hilfe des Verfahrens anders erfassen.

Darüber äußerte sich einer der in den Plauener Friedensandachten beteiligten Kantoren. Er versucht zu beschreiben, »wie die Menschen in dieser Situation den Weg zur Kirche gefunden haben und (dass) dann ein fester emotionaler Zusammenhalt zu spüren war, zwischen den Menschen untereinander, […]«.42

Die hier beschriebene Atmosphäre lässt sich anschaulich im »Zeugnis unserer Betroffenheit«43 in der ersten Andacht greifen, wo die vortragende Pfarrerin mehrfach durch spontanen Applaus ihr Zeugnis unterbrechen muss. Die komplexe phänomenale Struktur dieser Sequenz lässt sich mit Hilfe der sinn- und präsenzkulturellen Analyse wesentlich genauer beschreiben, als es allein die liturgische Rekonstruktion vermocht hätte. Denn die Atmosphäre in dieser Sequenz entsteht nicht allein aus dem Sinn und der liturgischen Kommentierung ihrer Worte, sondern auch aus der Art ihres öffentlichen Vortrags, dem Applaus und weiteren sinn- und präsenzkulturellen Faktoren.44

Um präsenzkulturell dominierte Phänomene wie »Applaus« oder andere Klänge und Absenzen für die liturgiewissenschaftliche Reflexion zu erfassen und sie in Beziehung zur ebenfalls vielfältigen sinnkulturellen Dimension zu setzen, hat der Autor das unten beschriebene Verfahren der sinn- und präsenzkulturellen Analyse entwickelt.

Er geht dabei von Gumbrechts Unterscheidung in »Sinn- und Präsenzkultur« aus, die auf der Beobachtung basiert, dass der Weltbezug des Menschen heute maßgeblich von seinem Inneren her geschieht. Das Innere und Geistige versucht auf diese Weise die ganze äußere Welt des Körperlichen zu dominieren. Als Subjekt sieht sich der Mensch heute von Objekten umgeben, auf die er zuzugreifen versucht.45 Dieser Dominanz der Hermeneutik,46 die alle Dinge der Welt zu Zeichen für etwas anderes macht, die es zu entschlüsseln gilt,47 gilt es eine neue Präsenz entgegenzusetzen, die nicht etwas Abwesendes vertritt, sondern jetzt als Präsenz da ist48 oder als Absenz vermisst wird.

Mit der Unterscheidung von Sinn- und Präsenzkulturen werden zwei Perspektiven aufgenommen. Die eine besteht in der aktuellen Wahrnehmung einer gewissen »linearen Rationalitätssteigerung«49 westlicher Gesellschaften, die dazu geführt habe, dass die Sinnkultur größtenteils die Präsenzkultur abgelöst oder ersetzt hat. Andererseits kann die Situation ebenso als Ausdifferenzierungsprozess50 dargestellt werden, der den sinn- und präsenzkulturellen Anteil von Phänomenen deutlicher zu unterscheiden erlaubt.51

Allerdings geht es dem Autor nicht darum zu zeigen, wie die heutige Dominanz der Sinnkultur durch eine neue Präsenzkultur zu ersetzen sein könnte, da sich sowohl an den einzelnen liturgischen Stücken als auch den Andachten als Ganzes zeigt, wie »Sinn- und Präsenzkultur« ineinander verschränkt, an vielen Stellen aufeinander angewiesen sind, wie auch im Menschen selbst Körper und Geist eine Einheit bilden.

Auch soll die bei Gumbrecht strikt auf ein »diesseits« eingegrenzte Stoßrichtung des Nachdenkens, die auf der descartschen Unterscheidung der res cogitans und res extensa beruhende Verdrängung körperlich-sinnlicher Präsenzerfahrungen (res extensa) zugunsten des Eindeutigen und Beherrschbaren (res cogitans),52 offen bleiben für das Fremde, das Heilige, für Transzendenz und für ein Wirken des Geistes von außerhalb der res cogitans und der res extensa.

Um die Unterscheidung zwischen Sinn- und Präsenzkultur in den Ökumenischen Friedensandachten griffiger zu machen, wird die Unterscheidung im Folgenden genauer definiert:

Sinnkultur kennzeichnet die Erfahrung, die Welt zu interpretieren und zu verstehen. Interpretation und Verständlichmachen, was sich in, mit, unter, hinter und außerhalb der körperlichen, phänomenalen Oberflächen der Welt an nichtmateriellen Bedeutungen identifizieren lässt. Sinn, Bedeutung, Verstehen, Interpretation, Benennung und Einordnung sind die Merkmale sinnkultureller Erfahrungen. Die Ökumenischen Friedensandachten Plauens sind gefüllt mit Informationen. Sie deuten politisches Geschehen. Sie benennen Verantwortlichkeiten. Sie rufen zum Handeln. Liturgisch Agierende im Kontext der Sinnkultur sind die Wirklichkeit Deutende und über Zusammenhänge informierende Akteure.

Präsenzkultur weist sich aus durch den äußeren Weltbezug des Menschen, die unmittelbare Erfahrung des Körperlichen, der Gesten und Gebärden, des Raumes und der Klänge.53 Die Ökumenischen Friedensandachten Plauens sind randvoll vom Tongewicht der Sprache und der Musik, vom Klang verschiedener liturgischer Aktivitäten in verschiedenen Kirchenräumen. Die liturgischen Akteure im Kontext der Präsenzkultur sind Ergriffene, die dem, wovon sie ergriffen sind, zu neuer Gegenwärtigkeit verhelfen wollen.54

In Anlehnung an Max Weber werden Sinn- und Präsenzkultur als idealtypische Begriffe55 verwendet, mit deren Hilfe sich die Liturgien als empirische Phänomene besser verstehen lassen. Diese beschreiben die liturgischen Phänomene nicht abbildend. Die Liturgien sollen mit Hilfe der beiden Begriffe neu vermessen werden. Nach Weber sind idealtypische Begriffe ein »Mittel«, ein »Gedankenbild«, um die Wirklichkeit analytisch schärfer erfassen zu können.56

Um mit Hilfe der beiden Kulturtypen die Plauener Liturgien zu analysieren, werden die Begriffe der Sinn- und Präsenzkultur als übergeordnete Hermeneutiken, als neue Interpretationshilfen für die liturgiewissenschaftliche Analyse verwendet. Das gilt auch für präsenzkulturelle Phänomene, die sich explizit als nichthermeneutische Komponenten des Weltverhältnisses darstellen.

Obwohl die zu analysierenden Liturgien und liturgischen Stücke je nach ihrer Art zu dem einen oder anderen Kulturtyp mehr neigen, muss festgehalten werden, dass sich eindeutige Identifikationen mit einem der beiden Kulturtypen ausschließen.57

Die beiden Kulturtypen sind in den Liturgien miteinander verflochten und unauflösbar aufeinander bezogen. Es gilt hier den jeweils dominierenden Pol in seiner Spannung zum anderen Pol und das Oszillieren zwischen beiden zu beschreiben.

Für die Analyse der Liturgien wurden vom Autor der Arbeit folgende Kriterien58 und Fragen zu den beiden Kulturtypen entwickelt. Dabei leitete ihn das Forschungsinteresse, verschiedene Phänomene in den liturgischen Formaten mit Hilfe der sinn- und präsenzkulturellen Differenz methodisch zu erfassen.

Ausgehend von einigen wenigen Kriterien wuchs der Bedarf an weiteren Kriterien während des Schreibens von Analysen, die das Verfahren erproben sollten, weil immer wieder liturgische Phänomene sichtbar wurden, die die bisherigen Kriterien nur unzureichend erfassten. So kam es in der Folge zur Entwicklung weiterer Kriterien. Diese Kriterien wurden anhand verschiedener liturgischer Phänomene weiter verfeinert und kategorisiert. Um der Übersichtlichkeit willen sah der Autor die Notwendigkeit, die Vielzahl der entstandenen Kriterien kategorial in Rubriken zusammenzufassen.

Hierbei ist folgendes festzuhalten:

Die Kriterien sind in die Rubriken A, B und C unterteilt. Ihre Zuordnung zu den jeweiligen Rubriken ist nicht zwingend.

In den drei Rubriken bilden sich drei grundlegende Relationen ab, die unten vorgestellt werden.

Die drei Relationen ergeben sich aus der Systematisierung der Einzelkriterien, mit denen m.E. die insgesamt 34 Kriterien umfassend systematisiert sind.

Die dichotomische Rubrik A versammelt Kriterien, die sich auf die leiblichkörperlichen und geistig-seelischen Verhältnisse des Menschen beziehen. Diese erste Rubrik erfasst damit Kriterien, die sich aus der anthropologischen und individuellen Erfahrung, der Dichotomie von Geist und Körper ergeben.

Die Kriterien in der kosmologischen Rubrik B bilden das Verhältnis des Menschen zum Ganzen der Welt, zur Schöpfung ab. Die zweite Rubrik enthält Kriterien, die sich aus dem Bezug des Menschen zu einer ihn umgebenden Weite und sein Eingebundensein in die Welt thematisieren. Diese Kriterien thematisieren den kosmologischen Bezug, der zu Präsenzkulturen gehört.59

Die dritte Rubrik C entfaltet das Verhältnis zwischen subjektiv hervorgebrachten und objektiv gesetzten Phänomenen. Sie versammelt Kriterien, die sich aus der Zuordnung der Begriffe »Subjektivität« zum sinnkulturellen Schema und »Objektivität« zum präsenzkulturellen Schema ergeben und erfassen damit eine philosophisch-begriffliche Relation.

Um ein einheitliches Verfahren für die Auswertung zu gewährleisten, sollen bei der sinn- bzw. präsenzkulturellen Analyse nach der Eigenart der liturgischen Sequenzen Kriterien aus allen drei Rubriken herangezogen werden, die für die Analyse des jeweiligen Zusammenhangs etwas erbringen.

Weiterhin bittet der Autor zu beachten: Bei dem hier entwickelten Verfahren der sinn- und präsenzkulturellen Analyse handelt es sich um einen ersten Versuch, liturgische Phänomene auch mit Hilfe der oben dargestellten Einheit und Differenz der beiden Kulturtypen zu erfassen und diese ergänzend neben die historische Rekonstruktion und deren Kommentierung zu stellen.

Bedeutsam ist, in diesem Zusammenhang noch auf die Flüchtigkeit gewisser Präsenzerfahrungen hinzuweisen, die dazu führt, Präsenzerfahrungen auch als Absenzerfahrungen wahrzunehmen.60 Der Hintergrund hierbei ist, dass bei der Wahrnehmung einer flüchtigen Präsenz nicht sicher ist, ob die Inszenierung einer sich flüchtenden Präsenz nicht eher die Inszenierung einer Absenz ist. Alexander Deeg beschreibt folgerichtig »Absenz als negative Präsenz«.61 Dies ist im Rahmen von Präsenzerfahrungen mit im Blick zu behalten. Absenz taucht beispielsweise in den Ökumenischen Friedensandachten überall dort mit auf, wo eine theologisch gebotene sinnkulturelle Hermeneutik mit der körperlichen Absenz Gottes rechnet oder Präsenzerfahrungen flüchtig sind. Diese Art von Absenzerlebnissen stellt sich bei Gebeten ein, die sich an Gott richten. Und es ist bei jeder Art von Klängen der Fall. Ein Kirchenraum hingegen behält seine Präsenz kontinuierlich.

Für die Analysen ist festzuhalten, dass die Art der für diese Arbeit verwendeten Text- und Tonquellen weniger eine rezeptionsästhetische als eine werkästhetische Analyse zulassen. Mit ihnen war weniger zu erfassen, wie die ökumenischen Friedensandachten auf die Menschen wirkten. Stattdessen ließ sich mit ihrer Hilfe stärker Inhalt und Gestalt der Andachten rekonstruieren.62 Aus diesem Grunde hat der Autor die gumbrechtsche Unterscheidung von Sinn- und Präsenzkultur auf die werkästhetische Ebene übertragen und damit eine entscheidende Verschiebung vorgenommen. Denn Gumbrecht denkt stärker von der Rezeption her. Er beschreibt das »fundamentalhermeneutische Differential«63 von Sinn- und Präsenzkultur mit »Weltaneignung durch Begriffe und der Weltaneignung durch die Sinne«,64 bemüht sich um die Beziehung von »Erfahrung und Wahrnehmung«65 und um Perspektiven »ästhetischen Erlebens«.66

Die folgende Tabelle basiert auf der gumbrechtschen Unterscheidung von Sinn- und Präsenzkultur. Für die Analyse der Liturgien hat der Autor die in der Tabelle folgenden Kriterien und oben bereits beschriebenen Rubriken entwickelt.

Für die Auswertung lässt sich festhalten:

Je offener ein liturgisches Stück in seiner Semantik ist, je weniger Bedeutungen sich aus seiner Gestalt generieren lassen, je mehr Möglichkeiten es besitzt, der ständigen Interpretation zu entfliehen, desto mehr rückt seine körperlich-klangliche und materielle Präsenz als Erfahrung in den Blickpunkt.

Andersherum gilt aber auch, je stärker ein liturgisches Stück Bedeutungen generiert, Inhalte benennt und Sachinformation einordnet, desto stärker rückt die Erfahrung von gewonnenem Sinn in den Fokus.

Um das Instrumentarium weiter zu verfeinern und die bedeutsame Rolle von Sprache und Musik für das liturgische Handeln zu würdigen, wird der Grad des sinn- bzw. präsenzkulturellen Ausdrucks der einzelnen Sprach- und Musiksequenzen der Ökumenischen Andachten diskutiert.

Ein semantischer Zugang zur Sprache lässt sich dem sinnkulturellen Schema zuordnen, ein performativer Zugang lässt sich mehr dem präsenzkulturellen Schema zuordnen.67 Im ersten Fall ist das Sprechen durch grundlegende Gedanken und Aussageabsichten motiviert.68 Im zweiten Fall ist es die »Macht der Rede, ihre Kraft, die über den Sinn hinausschießt«69, ihre Poetik und ihr Klang, die das Sprechen prägen, zum Beispiel beim »Parallelismus membrorum« in den Psalmen.

Zur Rolle der Musik: Bei der in den Friedensandachten verwendeten Musik ist zwischen reiner Instrumentalmusik (Orgel), von Instrumenten begleitetem Gesang (Orgel bzw. Gitarre) und unbegleitetem Gesang (beispielsweise Kanonsingen) zu unterscheiden. Die reine Instrumentalmusik lässt sich durch ihren Klang stärker beim präsenzkulturellen Schema verorten. Der von Instrumenten begleitete Gesang bekommt zur Präsenz des instrumentalen und gesungenen Textklangs zusätzlich noch sinnkulturelle Anteile durch Aussagen gewisser Textpassagen, die ihrerseits in ihrer über den Sinn hinausreichenden sprachlichen Rhythmik zusätzliche präsenzkulturelle Aspekte enthalten können. Der unbegleitete Gesang kann präsenzkulturelle und sinnkulturelle Bestandteile in den Melodien und Texten enthalten. Eine genauere Bestimmung ergibt sich aus der Analyse des jeweiligen liturgischen Stücks.

Anhand des rekonstruierten Quellenmaterials der Friedensandachten soll gezeigt werden, wie stark sinn- und präsenzkulturelle Anteile in den einzelnen Andachten zum Tragen gekommen sind und die damaligen Feierformen prägten. Es ist für die Gestaltaufgabe und Plausibilität heutiger Feierformen von großer Bedeutung, zu sehen, in welchem Rahmen und unter welchen Bedingungen Sinn- und Präsenzerfahrungen von Menschen gesucht werden und möglich sind sowie darüber hinaus eine Ritualgemeinschaft von Christen und Nichtchristen entstehen konnte.

Konkret soll so vorgegangen werden: Nach den liturgischen Rekonstruktionen der zehn Friedensliturgien werden die sinn- und präsenzkulturellen Anteile der Andachten in einem eigenen Kapitel erörtert.70 Anschließend soll in allen zehn Andachten aufgezeigt werden, welchen Veränderungen oder Konstanten die sinn- und präsenzkulturellen Anteile in der ganzen Sequenz unterlegen haben. Die Untersuchung soll folgende Thesen verifizieren, falsifizieren beziehungsweise modifizieren:

1 Die Plauener Friedensliturgien waren für Christen und Nichtchristen gleichermaßen plausibel und entsprachen der Lebenswirklichkeit der Menschen, weil die sinnkulturellen Anteile der Andachten immer wieder der Situation angepasst wurden und je nach Lage andere Bedeutungen auswiesen und die präsenzkulturellen Anteile nahezu unverändert konstant bestehen blieben.

2 Es war genau die Kombination aus sinn- und präsenzkulturellen Erfahrungen in den Liturgien, die die Tradition einer Ritualgemeinschaft von Christen und Nichtchristen 1989/1990 in den Ökumenischen Friedensandachten für begrenzte Dauer entstehen ließ.

Für die Bewahrheitung beider Thesen spricht vorab, dass auch auf den Demonstrationen und den anschließenden Kundgebungen immer wieder je nach Situation sich ändernde Bedeutungen generiert wurden. Auch hier wurde nach sinnkulturellem Schema Information geteilt, wie in den Andachten auch.71 Offenbar reichte das aber nicht, um die wirklichen Bedürfnisse der Plauener zu befriedigen. Die Ökumenischen Friedensandachten blieben auch deshalb neben den Demonstrationen bestehen, weil sie präsenzkulturelle Elemente traditioneller Liturgie enthielten.

Diese Einheit von Sinn- und Präsenzkultur in den Ökumenischen Friedensandachten führte zur Einheit von Liturgie und Politik in den Andachten. Im gesellschaftlichen Wandlungsprozess Plauens ließen sich Liturgie und Politik unterscheiden, da die Demonstrationen mit ihren anschließenden Kundgebungen an anderen Tagen stattfanden. Dennoch waren in den Friedensandachten Politik und Liturgie aufeinander bezogen und miteinander zu einem Faden versponnen. Als die Kirchen Plauens in der pluraler werdenden Gesellschaft nach den ersten freien Wahlen im März 1990 die Verbindung zwischen den sinngenerierenden und präsenzkulturellen Elementen in den Andachten aussetzten, indem sie das große Projekt der Ökumenischen Friedensandachten einstellten, endete die Verbindung von Kirche und Politik, von Religion und Gesellschaft, die in einer Tradition von immerhin zehn Friedensliturgien bestanden hatte. Das gottesdienstliche Handeln der Kirchen verlor damit jene Plausibilität und Lebenswirklichkeit, die es für große Teile der Plauener Bevölkerung in den Friedensandachten für eine gewisse Zeit hatte. Die Kirchen, die für kurze Zeit Politik und Liturgie so verbunden hatten, dass dies für große Teile der Bevölkerung plausibel und für ihr Leben bedeutsam geworden war, kehrten zu ihrem »Normalprogramm« zurück. Die Ritualgemeinschaft von Nichtchristen und Christen, die für kurze Zeit entstanden war, war damit an ihr Ende gekommen.

Lassen sich die Ausgangsthesen anhand der Quellen verifizieren, dann hat das Folgen für die Plausibilität und die Lebensnähe heutiger Feierformen, also für ihre Relevanz. Es lässt sich unschwer folgern, dass die Plausibilität und Lebensnähe des gottesdienstlichen Handelns sich steigern ließe, wenn Liturgien sinnkulturelle Bedeutungen generieren, die den politischen und individuellen Bedürfnissen der Zeit entsprechen (z. B. in Fürbitten) und diese in ihre traditionellen Formen mit hohen präsenzkulturellen Anteilen zu integrieren verstünden. Darüber hinaus hilft eine sinn- bzw. präsenzkulturelle Analyse zu einer spezifischen Wahrnehmung liturgischer Strukturen. Sie kann zeigen, wo heute in vorwiegend sinnkulturell bestimmten Feierformen Korrekturen vorgenommen und wie Liturgien »in der Mitte des Alltags«72 gestaltet werden können. Dabei wird deutlich, dass sich ein lebendiges Verhältnis von Kirche und Gesellschaft, von Evangelium und Lebenswirklichkeit der Menschen nicht allein über die Plausibilität und Verständlichkeit des Evangeliums herstellt, selbst dann nicht, wenn dies als ein existentielles Verständlichmachen von Lebenserfahrung in religiöser Perspektive geschieht, wie dies Wilhelm Gräb in seiner Predigtlehre deutlich zu machen versucht.73 Es ist nicht allein die Produktion von Sinn, die die Lebenssituation der Plauener trifft, wie man nach Gräb vermuten möchte, der damit voll im Horizont der Sinn- und Deutungskultur verbleibt.74 Ebenso wenig kann dies allein über das liturgische Erbe75 und seine präsenzkulturellen Anteile geschehen. Es ist stets beides vonnöten. Beides wird gebraucht. Die Aufgabe für gottesdienstliches Handeln heute besteht m.E. darin, Feierformen mit großer Tradition mit der aktuellen Situation und den Bedürfnissen der Menschen zu verknüpfen. Dabei spielen präsenzkulturelle Erfahrungen zunehmend eine Rolle, wie beispielsweise in Taizé. Die Kombination von Sinn- und Präsenzkultur kann die Analyse der Liturgien sichtbar machen. Dies kann zur Entwicklung lebendiger an der Plausibilität und Lebenswirklichkeit der Menschen orientierter Feierformen helfen. Hier würde das Erbe Ernst Langes fruchtbar gemacht und liturgisch weitergeführt, der unter anderen kirchlichen und gesellschaftlichen Bedingungen den Ursprung der Liturgie in der Auseinandersetzung von Christen mit der Bibel in ihrer Situation und der Betrachtung der Situation durch das biblische Wort verortete und einen solchen Prozess als Quelle »flüssiger Liturgie«76 bezeichnete.

2.4 Zum Aufbau der Arbeit

Der Gesamtaufbau der Arbeit lässt sich im Bild des Hausbaus folgendermaßen darstellen:

Das Fundament des Hauses bildet der historische Kontext der Zeitgeschichte Plauens 1989/1990.

Die liturgische Rekonstruktion der Friedensandachten und ihre Kommentierung stellen das darauf aufbauende Erdgeschoss dar.

Und dann bildet ein »innovatives Obergeschoss« mit den sinn- und präsenzkulturellen Analysen den Abschluss der Arbeit.

Dem lassen sich die einzelnen Kapitel zuordnen.

Zum Fundament der Arbeit gehören die Kapitel 1–3.

Durch die Skizzierung wichtiger wissenschaftlicher Erscheinungen im Kapitel 1 will die Arbeit zu Ihrer Einordnung im Forschungsfeld »Friedensgebete« beitragen.

In Kapitel 2 wird das methodische Vorgehen in der Arbeit und sein theoretischer Hintergrund beschrieben.

In Kapitel 3 wird der historische Kontext, die Vorgeschichte und die Entstehung der Friedensandachten in Plauen dargestellt.

Das Erdgeschoss der Arbeit bilden die Kapitel 4 und 5.

In Kapitel 4 erfolgt die liturgische Rekonstruktion und die Kommentierung der zehn Friedensandachten.

In Kapitel 5 wird der Ertrag der liturgischen Rekonstruktion und ihrer Kommentierung dargestellt.

Das Obergeschoss des Hauses bilden die Kapitel 6–8.

Im Kapitel 6 gewährt der Autor einen beispielhaften Blick auf die Baustelle des sinn- und präsenzkulturellen Analyseverfahrens anhand der Analyse der ersten Friedensandacht.

Die Analysetexte der zweiten bis zehnten Ökumenischen Friedensandacht und ihre in Tabellenform zusammengefassten Einzelresultate enthält die eingereichte ausführlichere Dissertation.

Die Analyseergebnisse aller zehn Andachten, mit deren Hilfe der Autor seine Ausgangsthesen präzisiert, finden sich in einer Gesamtauswertungstabelle und im gesamten Kapitel 7.

Im Schlusskapitel 8 wird aus dem Obergeschoss des Hauses mit Hilfe der sinn- und präsenzkulturellen Analyse in die gottesdienstliche Landschaft geblickt, es werden Konsequenzen gezogen und Herausforderungen für die Plausibilität heutiger Feierformen in der Lebenswirklichkeit der Menschen erörtert.

3 Die Geschichte der Friedensandachten in Plauen

3.1 Plauen – eine Stadt mit »Bürgerstolz und Freiheitssinn«1

Nach dem Urteil des Kultursoziologen Bernd Lindner ist Plauen eine Stadt mit »Bürgerstolz und Freiheitssinn«2, die nach der Gründerzeit zu einer maßgebenden Industriestadt Sachsens mit einem amerikanischen Konsulat3 heranwuchs. Nach erfolgreichen Jahren, in denen Spitzen- und Gardinenfabrikation, Maschinenbau, Kabel- und Drahtherstellung und Bekleidungsindustrie sich hier etablieren konnten, traf Plauen durch die Bombenzerstörung zum Ausgang des Zweiten Weltkrieges, in der über 75% der Bausubstanz zerstört wurden, ein schweres Geschick.4 Doch damit hatte es nicht sein Bewenden. In der Folge des Krieges wurde aus der in der Mitte Deutschlands gelegenen Stadt eine Stadt an der Grenze, an der Grenze zur 20 Kilometer entfernten Bundesrepublik, eine Stadt im Grenzgebiet der DDR, ein »Standort der Grenztruppen der DDR«.5 Durch die verordnete Kontrolle fühlten sich die stolzen Bürger der Stadt gedemütigt, so dass sich nicht nur Unbehagen, sondern auch Zorn aufstaute,6 Zorn, der sich nicht nur gegen das kommunistische System, sondern auch gegen die Zentralregierung in Berlin richtete, die die Region als »Aufmarschgebiet der Imperialisten«7 mit Konsumgütern unterversorgte und auch infrastrukturmäßig vernachlässigte.8 Hinzu kam, dass die Plauener Arbeiter zu den am schlechtesten bezahlten Arbeitern in der DDR gehörten und die Luft der Stadt zeitweise durch eine Zellulosefabrik derartig verschmutzt wurde, dass sich der Himmel verdunkelte und ein Geruch wie faule Eier durch die Innenstadt strömte.9 In der Folge dieser Entwicklung sank die Einwohnerzahl vom Ende der 1970er Jahre bis 1989 von 80.000 auf 73.000. Viele zog es nicht nach Berlin oder Dresden, sondern in den nahen Westen. Plauen und Umgebung zählte zu den Regionen mit dem höchsten Anteil an Ausreiseanträgen10 innerhalb der DDR,11 was auf die hohe Unzufriedenheit und die mangelnde Identifizierung der Bevölkerung mit dem sozialistischen System schließen lässt. In der Friedlichen Revolution, in den Demonstrationen und Friedensandachten von 1989 kehrte ein lang unterdrückter Charakterzug der gekränkten Plauener Bürger zurück – ihr Stolz und ihre freiheitliche Gesinnung.12

3.2 Die Vorgeschichte der Friedensandachten

Eine Keimzelle der Friedensandachten in Plauen war die Jugendarbeit der Markuskirche in den 1980er Jahren, die gesellschaftlich brisante Themen aufnahm, wie die Gewerkschaftsbewegung »Solidarność« in Polen, Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion, Frieden, Umwelt, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, das Wettrüsten und die Aktion »Schwerter zu Pflugscharen«.13 Im Umfeld der Jugendarbeit in der Markuskirche entwickelte sich unter Federführung von Klaus Hopf und Steffen Kollwitz bereits Mitte der 1980er Jahre eine Gruppe, die Entwicklungshilfe für Ghana leisten wollte. Nach und nach wurde aus dieser Gruppe eine »Selbsthilfegruppe für Plauen«. Für die DDR-Gesellschaft brisante Themen wie Wehrdienst und Wehrdienstverweigerung, Dienst als Bausoldat, Kindesmisshandlung, Alkoholismus und Umweltfragen beschäftigten den Kreis. Seine Mitglieder schmückten ein Abrissviertel für seinen bevorstehenden Tod, gestalteten mit Kindern Straßenfeste und organisierten Theateraufführungen.14

Ein entscheidender Entwicklungsschritt der Gruppe vollzog sich im Vorfeld der Kommunalwahlen 1989. Mehr und mehr Leute wollten die Wahl und die Stimmenauszählung beobachten.15 Leute aus dem Umfeld der Markuskirche, Leute aus dem ehemaligen Malzhausclub16 und weitere angesprochene Freunde wuchsen zu einer Gruppe zusammen, die aus 50 bis 60 Mitgliedern bestand.17 Es gelang der Gruppe, in circa 40% der Wahllokale der Stadt Plauen die Auszählung zu beaufsichtigen.18 Sie rechneten das Wahlergebnis hoch und kamen zu dem Ergebnis, dass 20% der Wähler die Wahl verweigert hatten oder gegen den Vorschlag stimmten.19 Der Betrug wurde offensichtlich, als die offiziell für ganz Plauen bekanntgegebene Zahl der Nichtwähler- und Gegenstimmen niedriger war als die in 40% der beaufsichtigten Wahllokale gezählten Nichtwähler- und Gegenstimmen.20 Auf eine in der DDR zulässige schriftliche »Eingabe« einiger aus der Gruppe mit der Bitte um »Aufklärung des fragwürdigen Wahlausgangs«21 erfolgte keine Reaktion durch staatliche Stellen, die dem Betrugs- und Fälschungsvorgang entsprochen hätte.

Die Leute gewannen den Eindruck, dass sie hingehalten wurden,22 und bildeten im Sommer 1989 in der Markuskirche den Kreis »Umdenken durch Nachdenken«,23 dem auch der damalige Pfarrer der Markuskirche Helmut Henke angehörte.24 Die dort sich versammelnden kritischen Christen und Bürger der Stadt Plauen verstanden sich nicht mehr nur als »Konsumenten,« sondern als »Produzenten«25 in der Gesellschaft. Sie wollten etwas bewegen und verändern. »Wehrersatzdienst«, »Friedens- und Rüstungsproblematik«, »Umweltschutz« und »Kommunales Recht«26 beschäftigten die Gruppe.

Die Ausreiseproblematik spielte in diesem Kreis kaum eine Rolle, was in Plauen mit seinem außerordentlichen hohen Ausreiseanteil27 verwundern mag. Aus heutiger Sicht stellt es sich so dar, dass der Staat, um die Leute zu verunsichern und die Gruppe zu schwächen, manchen Teilnehmern im September 1989 »Einberufungsüberprüfungen« für die Armee zustellte.28

Es verwundert nicht, dass sich die Gruppe Ende September dem Aufruf zur Gründung des »Neuen Forums« anschloss und am 5. Oktober 1989 entschied, sich als »Neues Forum« wieder zu gründen, um neue Leute zu erreichen und zu einer DDR-weiten Initiative zusammenzuschließen.29 Wie gefährlich das in sozialistischen Ländern war, war allen Beteiligten bewusst, das hatte das Massaker30 auf dem »Platz des Himmlischen Friedens« am 4. Juni 1989 in China31 gezeigt, in dem die chinesische Demokratiebewegung brutal niedergeschlagen wurde.32 Dass sich die politische Situation republikweit zuspitzte, zeigte sich speziell in Plauen Anfang Oktober an den durchfahrenden Flüchtlingszügen aus der Prager Botschaft.33 Nie zuvor wurde in der Region mit dem höchsten Ausreiseanteil innerhalb der DDR der Wunsch so vieler Menschen die DDR zu verlassen so offensichtlich dokumentiert wie in diesen ersten Oktobertagen in Plauen.

Was die Aktivisten in der Markuskirche lange Zeit nicht wussten, was aber die Situation in Plauen in der Woche vor dem 7. Oktober 1989 noch weiter zuspitzen sollte, war die »Initiative zur demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft« des Plauener Bürgers Jörg Schneider.34 Schneider, aufgebracht vom Wahlbetrug der Kommunalwahlen 1989, beschloss einen ganz eigenen Weg im Umgang mit der Diktatur zu gehen. Auf einer alten klapprigen Reiseschreibmaschine brachte er mit Hilfe von Blaupapier 160 Handzettel mit einem Demonstrationsaufruf35 zum 7. Oktober, dem 40. Geburtstag der DDR, zustande. Schneider kalkulierte ein, dass wegen des Volksfestes zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober der Theaterplatz gefüllt sein würde und viele Menschen, die nicht feiern, sondern protestieren wollten, durch diesen Umstand begünstigt ihre Angst überwinden und auch hingehen würden. Für die Verteilung der Handzettel am Montag vor dem 7. Oktober weihte er weitere Arbeitskollegen ein, die diese wie er selbst auch im gesamten Stadtgebiet verteilten.36 Das anfängliche »Ein-Mann-Unternehmen« benannte er »Initiative zur demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft.«37

3.3 Der Anlass der ersten Friedensandacht am 5. Oktober 1989

Von den Abläufen her bündelten sich in der Woche vor dem 7. Oktober 1989 gesellschaftliche Entwicklungen und das Handeln von Einzelnen und Gruppen. Das alles würde in einer »revolutionären Situation«38 am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, kulminieren39 und den bereits begonnenen Sterbeprozess der DDR beschleunigen.

Die ersten Flüchtlingszüge aus der Prager Botschaft wurden in dieser für Plauen ganz besonderen Woche durch die Stadt, durch die Region mit der höchsten Ausreiserate in der DDR geleitet. Ein einziger Satz aus dem Zentralorgan der SED »Neues Deutschland« vom 02.10.1989, »Man sollte ihnen [den Flüchtlingen; T.R.] […] keine Träne nachweinen«,40 tat auch in Plauen seine Wirkung. Über die Art der Wirkung hinterlassen die Quellen allerdings ein uneinheitliches Bild. Einerseits heißt es, dass sich die Menschen über die Partei- und Staatsführung empörten, die Sicherungskräfte41 attackierten, andererseits solidarisierten42 sie sich mit den Flüchtlingen am Bahnhof.43

Der Aufruf von Jörg Schneiders »Initiative zur demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft« zu einer »inoffizielle(n) Protestdemonstration«44 am 7. Oktober als Reaktion auf die gesellschaftlichen Probleme der DDR verbreitete sich zum Teil gerüchteartig in der Stadt45 und muss als eine Art Katalysator der Plauener Ereignisse angesehen werden.46

Der Kreis »Umdenken durch Nachdenken« in der Markuskirche, der sich durch kontinuierliche jahrelange thematische Arbeit inhaltlich und durch den Wahlbetrug im Mai 1989 auch personell weiterentwickelt hatte, plante in dieser Woche, am 5. Oktober 1989, das »Neue Forum« in Plauen zu gründen. Viele Leute kündigten ihre Teilnahme an der Gründung des »Neuen Forums«47 in der Markuskirche an.

Weil die Staatssicherheit über Jörg Schneider und die Existenz seiner »Initiative zur demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft« keinerlei Informationen besaß, geriet die Gruppe »Umdenken durch Nachdenken« in den Verdacht, die Urheberin des in der Stadt kursierenden Demonstrationsaufrufes48 zu sein, was die geplante Veranstaltung in der Markuskirche am 5. Oktober noch brisanter erscheinen ließ und den Superintendenten Thomas Küttler zu Schutzmaßnahmen für die jungen Leute veranlassen sollte.49

Diese ganze Gemengelage führte zur Einbestellung des Superintendenten am Morgen des 5. Oktober beim Oberbürgermeister der Stadt Plauen, Dr. Norbert Martin. Dem Staat wurde angst und bange, denn er verlangte von Küttler, dass dieser die Veranstaltung in der Markuskirche absagte. Dieses Ansinnen des Staates lehnte Küttler ab.50

Die am 5. Oktober 1989 geplante Gründungsveranstaltung des »Neuen Forums« in Plauen wurde von der Pfarrerschaft der Stadt in eine erste große Friedensandacht umgewandelt. »Not lehrt Beten«, heißt es im Sprichwort. Fasst man es neutraler und bezieht die differenzierte Quellenlage51 bezüglich der Gründung des »Neuen Forums« mit ein, so entstand aus einer geplanten Veranstaltung des Kreises »Umdenken durch Nachdenken« die erste Friedensandacht Plauens in der Markuskirche im Herbst 1989.

Als Gründe lassen die Quellen Unterschiedliches aufleuchten. Es kam zur ersten Friedensandacht wegen der vielen angekündigten Teilnehmenden und des sich ankündigenden massiven Polizeieinsatzes,52 wegen des Schutzes der jungen Leute aus dem Kreis »Umdenken durch Nachdenken«, die unter dem Verdacht standen, eine Demonstration anzetteln zu wollen,53 um des Friedens in der Stadt willen und um einen Beitrag zur Gewaltfreiheit zu leisten54 in einer Situation, in der der Staat auf Gewalt setzen sollte.55

3.4 Der 7. Oktober 1989 in Plauen

Am 7. Oktober 1989 um 15.00 Uhr war die Innenstadt Plauens gefüllt mit einer Mischung aus demonstrationswilligen und neugierigen Menschen.56 Der mutige Plauener Siegmar Wolf kletterte auf Dr. Magerkords vor dem Theater stehende Skulptur »Daphne« und entrollte ein Plakat, auf dem zu lesen war: »Für Reformen und Reisefreiheit. Gegen Massenflucht – vor allem für Frieden.«57 Dann ruft ein Kind »Gorbi«. Es wurde gelacht und gemeinsam wiederholte man den Ruf. Es entstand der erste Sprechchor der Demonstration. Weitere Rufe wie »Neues Forum!« und »Wir sind das Volk!« folgten.58 Einsatzkräfte aus der Theaterstraße, die die Leute in die Seitenstraße abdrängen wollten,59 fanden sich von der Menschenmenge umringt und bleiben stecken. Kirchenleute unterstützten die meist jungen Polizisten auf ihrem Rückzug.60 Die Leute legten sich vor die Fahrzeuge.61 Andere entfernten Hacken und Spaten von den Einsatzfahrzeugen.62 Die Menge, die sich jetzt auch mit der Bereitschaftspolizei konfrontiert sah,63 begann sich zu formieren und bewegte sich zum Rathaus.64

Dort stand wiederum Polizei. Hinter der Polizei zogen mit MPs bewaffnete Kampfgruppen auf.65 Die Stimmung kippte, als die Polizisten ihre Absperrreihen öffneten und die Feuerwehr zusammen mit einem Polizeiwagen ohne Vorwarnung in die Menge hineinfuhr und die Demonstranten mit dem Wasser von der Straße spülen wollte.66 Dabei fuhren sie Kinderwagen um und störten das anlässlich des Republikgeburtstages stattfindende Kinderfest.67 Die Leute blieben dennoch. Auf der Rückfahrt der Wagen zum Rathaus flogen Pflastersteine. Danach sperrten die Demonstranten mit einem quergestellten Trabant die Straße, um sich vor einem zweiten Angriff der Feuerwehr zu schützen.68