Lob des Sonntags - Monika Metternich - E-Book

Lob des Sonntags E-Book

Monika Metternich

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Beschreibung

Gäbe es den Sonntag nicht, man müsste ihn erfinden. Der Alltag darf nicht alles schlucken: unsere Lebenskraft, unsere Zeit, unsere Beziehungen. Monika Metternichs »Lob des Sonntags« beschwört den Zauber eines besonderen Tages und ist alles andere als eine nostalgische Verklärung. Denn der Sonntag tut der Seele gut. Lob des Sonntags von Monika Wolff Metternich: als eBook erhältlich!

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Monika Gräfin Metternich

Lob des Sonntags

Weihrauch, Toast & Honey

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungVorwortErkundungen in einervergangenen ZeitWas macht den Sonntag zum Sonntag?Als der Sonntag noch am Samstag begannWeihrauch, Toast & HoneyDer SonntagsdämonWo bitte geht’s zum Schlaraffenland?Zeit im Spiegel des BetrachtersTausend Jahre sind ein Tag oder: Wann ist endlich Sonntag?Vergiss die Zeit – schwerelos zwischen gestern und morgenVom Zeitraub und vom ZeitverschenkenFestzeiten – die wunderbare Leichtigkeit des FeiernsEs war einmal – ein Hauch von EwigkeitDer Sabbat – Anker zur SchöpfungSchöpfung – Annäherung an ein modernes TabuGedenke! – Eine Zeitmaschine der anderen ArtZurück zum Ursprung: Der Sabbat und die MenschenwürdeMeine Zeit liegt in deinen Händen – Sabbat in der FremdeWenn Ruhe zum Kult wirdDer erste Tag der Woche – eine NeuentdeckungAuf der Suche nach dem Sonntag – Vorbereitungen einer EntdeckungsreiseExpeditionsstart: An einem Sonntag in JerusalemSuchen und findenSeht, wie sie einander lieben! – Sonntag »von unten«Das Licht des ersten Tages – Der Sonntag geht um die WeltSonntagsfreudeKann denn Sonntag Sünde sein?Wie die Sonntagsfreude zur Pflicht wurdeSonntagsfreude im Rhythmus – mit Schwung durch das JahrAls der Sonntag abgeschafft werden sollteWo der Sonntag wohntNachwortLiteratur
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Meinen Eltern in Liebe und Dankbarkeit gewidmet

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Vorwort

Meine besondere Beziehung zum Sonntag wurde mir sprichwörtlich in die Wiege gelegt. Ich wurde an einem Sonntag geboren, ein Umstand, der meiner Mutter und mir um ein Haar das Leben gekostet hätte, denn die Entbindungsklinik war sonntags nicht ausreichend auf Notfälle vorbereitet. Wir waren ein Notfall. Da ich einer Familie entstamme, in der seit Jahrhunderten Sätze gern mit »damals, als …« begonnen werden, warf die oft erzählte und variierte Geschichte meines dramatischen Einstiegs in diese Welt bei mir schon früh die wichtige Frage auf, warum ausgerechnet Sonntage Feiertage sind – und nicht beispielsweise Montage oder Donnerstage.

»Papa, wer bestimmt, welcher Tag Sonntag ist? Woher weiß man, dass nicht in Wirklichkeit gerade ein ganz anderer Tag ist?«, fragte ich meinen Vater etwa 6-jährig. Ich saß dabei auf meinem Lieblingsplatz unter seinem mächtigen Schreibtisch. Mein Vater war solche Fragen gewöhnt, und er gehört zu der Sorte Väter, die Kinderfragen genauso ernst nehmen wie die von Erwachsenen. Und so rollte er seinen Schreibtischstuhl zurück, bis er mich richtig sehen konnte, wie ich da unten hockte, Arme und Kopf auf meine angewinkelten Knie gelegt. »Na dann komm mal herauf«, meinte er, klopfte einladend auf sein Knie als Zeichen, dass ich darauf Platz nehmen sollte und begann zu erzählen. Von Sonne und Mond, welche die Zeit in Tag und Nacht, in Jahre und Monate einteilen. Er sprach über fremde Völker und Länder, von Ägypten, Babylonien und Israel – und natürlich von Jesus. Er zog dicke Nachschlagewerke aus dem Regalen seiner umfangreichen Bibliothek und zeigte mir darin Bilder, die mit Mustern und Linien, mit Tieren oder Gestirnen verziert waren: Es waren Kalender. Er erklärte und beschrieb sie mit ausholenden Bewegungen. Und auch wenn ich damals noch nicht alles verstand, so war es doch schön, bei ihm zu sitzen und zu erkennen, dass es offenbar auf jede Frage eine Antwort gibt, wenn man sich nur auf die Suche macht.

Viele Menschen sprechen heute über den Sonntag. Theologen, Historiker, Arbeitsrechtler, Soziologen, Philosophen, Anthropologen, Politologen, Freizeitforscher, Wirtschaftler, Mediziner, Psychologen. Der Sonntag ist wieder ein Thema. Denn von allen Seiten wird an ihm gerüttelt. Sicher, der Sonntag wird gebraucht. Nur warum er gebraucht wird, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Der Sonntag wird benötigt zur Regeneration, sagen die einen. Er ist unabdingbar als weiterer Produktionstag, die anderen. Zur Erbauung, heißt es im Grundgesetz. Dem stimmen sowohl die Kirchen als auch die Fitnessstudios zu. Entsprechend vielfältig sind die Empfehlungen. Regeneration muss sein – aber warum für alle am selben Tag? Produktion muss sein – aber warum an dem Tag, an dem jeder ein Recht auf Freizeit fühlt? Freiheit heißt doch, sich seine Zeit selbst einteilen zu können, schmeichelt der Einzelhandel. Ja, Einkaufen rund um die Uhr ist nicht nur für Berufstätige attraktiv. Aber vielleicht muss der, der so denkt, auch bald sonntags der Freiheit der anderen dienen?

Während dieses Buch entstand, veränderte sich die Welt. Bis vor kurzem hieß die Devise, Sonntagsarbeit solle Produktion rund um die Uhr ermöglichen, internationale Konkurrenzfähigkeit bewirken, Arbeitsplätze retten, die Kaufkraft stärken. Was aber keiner ahnen konnte, war, dass die gesamte freie Marktwirtschaft in eine historische Krise geraten würde, vor allem in ihrer »raubtierkapitalistischen« Ausprägung. »Können wir uns den Sonntag noch leisten?«, wurde noch vor kurzem gefragt. Die Antwort des Philosophen Robert Spaemann, wer so frage, habe den Sonntag doch bereits drangegeben, wurde oft zitiert, jedoch in der Realität kaum wirklich ernst genommen. Inzwischen wird aber andersherum gefragt: Ob wir uns Formen eines Kapitalismus leisten können, die nicht nur die Schere zwischen Arm und Reich bis zum Anschlag auseinanderreißen, sondern ganze Staaten in die Pleite zu treiben vermögen. Die oft an den Bedürfnissen von Menschen vorbei einem Markt huldigen, dessen Effekte für viele Menschen nur virtuell sind – und einigen wenigen die Taschen füllen. Der Sonntag steht im Brennpunkt eines Konflikts zwischen zwei Polen. Der eine Pol ist das Geld, umgangssprachlich »der Mammon«, was aus dem Aramäischen kommt und zu Deutsch »worauf man vertraut« heißt. Der andere Pol ist hingegen die Vertrauensalternative, von welcher der Sonntag kündet. Von ihr soll dieses Buch erzählen. Der Sonntag könnte mehr sein als nur ein Tag zur Regeneration, als zusätzlicher Produktions- und Einkaufstag. Er könnte uns Vertrauen lehren. Vertrauen auf etwas und jemanden, auf das und dem zu vertrauen sich lohnt.

Ich muss gestehen, ich bin kein ausgewiesener »Sonntags-Experte«, dafür habe ich seit Kindesbeinen den Sonntag geliebt – und dieses zunächst intuitive Gefühl erfuhr im Laufe meines Lebens eine Entwicklung. Warum die innere und äußere Auszehrung des Sonntags ein Verlust für unsere Gesellschaft ist und wie der Sonntag zum wichtigsten Wochentag meines Lebens wurde, davon soll dieses Buch handeln. Erwarten Sie kein Expertentum und keine Objektivität. Beides ist der Liebe fremd.

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Erkundungen in einervergangenen Zeit

Was macht den Sonntag zum Sonntag?

In meiner frühen Kindheit hätte ich die Antwort auf die Frage, was den Sonntag zum Sonntag macht, aus dem Ärmel schütteln können: »Sonntag ist, wenn Lenti nicht da ist!« Lenti war unsere Kinderfrau. Was vielleicht etwas elitär klingen mag, unterschied sich nicht wirklich von den Erfahrungen heutiger Kinder in Horten, Kitas und Kindergärten: Heute ist fast jedes Kind fremdbetreut und hat seine Kinderfrau(en). Zumindest gehen die politischen Bestrebungen dahin, hauptsächlich aus wirtschaftlichen Erwägungen. Damals gab es wohl andere Gründe für die Kinderbetreuung. Jedenfalls gehörten meine Geschwister und ich diesbezüglich zu einer Avantgarde. Für uns war vor 50 Jahren ödeste Normalität, was heute als Gipfel modernen Familienmanagements propagiert wird: ganztags Fremdbetreuung.

»Wenn Lenti nicht da ist.« Anfangs war es nur eine Beobachtung: Während wir tagein, tagaus Lentis hochstrukturiertem Betreuungsmanagement unterstellt waren, das mit kontrolliertem Zähneputzen morgens begann und abends mit ekelerregendem Lebertran von einem unfair tiefen Suppenlöffel endete, gab es dazwischen immer wieder einzelne Tage völligen Friedens. Sie kamen regelmäßig, man konnte sich darauf verlassen. Irgendwann im Strom der vorüberziehenden Zeit passierte immer wieder das Wunderbare: Einmal in der Woche wurde morgens nicht auf jene forsche, frisch-muntere Weise geweckt, die ich schon früh hassen gelernt hatte, sondern Vater oder Mutter kamen in weichen Bademänteln leise ins Zimmer geschlichen und drückten einem ein warmes Küsschen auf die Stirn. Bald versammelten sich alle Familienmitglieder auf einem Bett, vorzugsweise dem großen meiner Eltern, wo mein Vater vom Flugbohrtauchschiff erzählte, einem von ihm erdachten Wundergefährt, welches sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft navigiert werden konnte. Bei seiner Bedienung spielte natürlich jeder von uns Kindern samt unseren Kuscheltieren eine sehr wichtige Rolle. Die gemeinsam bestandenen Abenteuer machten bald Appetit auf das Sonntagsfrühstück, das ganz gemütlich im Pyjama eingenommen wurde. Lenti wäre darüber sicher nicht amüsiert gewesen! Abgesehen vom gemeinsamen Kirchgang gab es kein festes Programm, außer dass Eltern und Kinder alles zusammen machten: Spiele in Haus, Garten oder Wald, Häuserbau aus Kisten, Decken und Schirmen, Wanderungen, ein ausgiebiges Festessen, Vorlesen und Erzählen bei Kerzen- oder Feuerschein: All das gehörte irgendwie zum Sonntag dazu. Aber jeder Sonntag war letztlich ein wenig anders. Oft kamen Gäste, die, je nachdem, als störend oder bereichernd für die Qualität des Sonntags empfunden wurden. Häufig besuchten wir unsere Großmutter, bei der wir fast immer noch andere Vettern und Cousinen antrafen. Nachdem wir gemeinsam einer gewaltigen Kuchentafel den Garaus gemacht hatten, spielten wir anschließend Verstecken in ihrem großen Haus mit seinen vielen geheimnisvollen Winkeln. Was den Sonntag insgesamt ausmachte, war für mich – Freiheit! Und das Gefühl von Wärme und heiterer Gelassenheit, vom ersten bis zum letzten Moment. Auch wenn dies natürlich niemals ausgesprochen wurde, war ich mir sicher: Sonntag war, wenn die ganze Familie feierte, dass Lenti nicht da war.

Was macht für Sie/dich den Sonntag zum Sonntag? habe ich letzthin viele Menschen gefragt, junge, mittlere, ältere und alte, Bekannte und Fremde. »Wenn Sie etwas von den Menschen wissen wollen, fragen Sie sie«, empfiehlt der Persönlichkeitspsychologe George Kelly. Das klingt wie das Ei des Kolumbus: Gespräche statt Statistiken. Also habe ich so gut wie jeden angesprochen, dem ich in den letzten Monaten begegnet bin – manche habe ich gezielt aufgesucht. Interessant war, fast alle Antworten hatten mit Zeit zu tun: Zeit zum Ausschlafen, für die Familie, den Partner, den Freundeskreis. Zeit für ausgedehnte Mahlzeiten, zum Spielen mit den Kindern oder Enkeln. Zeit für Sporttraining, für Verwandtenbesuche, zum Klavierspielen, zum Liebemachen. Zeit für Spaziergänge, Fahrradtouren, Wanderungen. Zeit für einen Kinobesuch, einen Ausflug zum Flohmarkt oder in einen Freizeitpark. Zeit für Ausstellungen oder Konzerte, auch für politische Veranstaltungen. Zeit zum Lesen, einen ausgedehnten Nachmittagsschlaf, Fernsehen, zum Chatten, für PC-Spiele, aber auch, um wieder einmal gründlich aufzuräumen oder aufzuarbeiten, was unter der Woche liegengeblieben ist. Manche beklagten, dass sie sonntags viel zu viel Zeit hätten, der Effekt sei Langeweile. Das signifikante Merkmal des Sonntags – ob positiv oder negativ – heißt also offenbar für die allermeisten Menschen »Zeit«.

Andere Antworten auf die Frage, was den Sonntag zum Sonntag macht, waren: Sonntagsgottesdienst, Frühschoppen, Restaurantbesuch, Sonntagskuchen, Sonntagsbraten und – sehr selten und fast nur bei der älteren Generation anzutreffen: Sonntagskleidung. Da ich größere Teile meiner Schulzeit in England zubrachte, wo bis heute das Tragen von Schuluniformen üblich ist, kann ich diejenigen gut verstehen, die das Tragen von Sonntagskleidung noch favorisieren: Durch das Ganztagsschulsystem bedingt, steckte man die ganze Woche in der ungeliebten Uniform. Sonntags war damals der einzige Tag, an dem man seine »home clothes«, also die eigenen Klamotten, anziehen durfte. Raus aus der Uniformität, rein in die nach außen sichtbare Individualität. So etwas prägt!

Ein überraschend großer Teil der von mir Befragten gab an, am Sonntag öfters zu arbeiten. Manche fanden das schlecht, andere gut, die meisten waren indifferent nach dem Motto: Wat mutt, dat mutt. Wer seinen freien Tag öfters ersatzweise an anderen Wochentagen als dem Sonntag nehmen muss, für den ist die Antwort auf meine Frage klar, was den Sonntag zum Sonntag macht: Dass dann viele Menschen gleichzeitig mit mir freihaben und man dadurch problemlos im Familien- oder Freundeskreis zusammenfinden kann. Genau das ist an anderen Frei-Tagen nicht möglich, da dann meist die anderen arbeiten müssen.

Für Menschen im Alten- oder Pflegeheim macht häufig der ersehnte Besuch ihrer Lieben den Sonntag zum Sonntag. In konfessionellen Einrichtungen wurde die Möglichkeit zum Gottesdienst erwähnt, der sonntags besucht werden kann und auf Wunsch auch ins Zimmer übertragen wird. Erwähnung fand auch, dass es sonntags oft ein besseres Essen und einen etwas ausgefalleneren Kuchen als unter der Woche gibt, was bei einigen gut ankam. Ansonsten sah ich auch viele traurige Gesichter auf meine Frage. Einige der alten Leute wandten sich stumm ab. Ein alter Herr sagte mir ins Gesicht: Es gibt nichts, was den Sonntag zum Sonntag macht. Außer vielleicht die gallige Enttäuschung am Sonntagabend, dass man wieder umsonst gehofft hat, dass etwas den Sonntag zum Sonntag macht. Egal was.

Für einige der Befragten macht die Sonntagszeitung den Sonntag zum Sonntag. Die wurde einst in England erfunden zu einer Zeit, als der Sonntag noch völlig frei war von jeglicher Tätigkeit. Offenbar erfreut sich die besonders dicke Zeitung auch heute noch großer Beliebtheit. Wieder wurde in diesem Zusammenhang der Faktor »Zeit« genannt: Die Sonntagszeitung wird nicht nur als besonders interessant und amüsant gewertet, sondern vor allem hat man auch Zeit, sie ganz und gar durchzuschmökern.

Eine große Anzahl der von mir Befragten fand die Vorstellung von verkaufsoffenen Sonntagen nicht prinzipiell abzulehnen, allerdings mit der Einschränkung, nur solange man nicht selbst hinter dem Verkaufstresen stehen müsste. Gerade junge Berufstätige schätzen die Option des Sonntagseinkaufs, da während der Arbeitswoche oft keine Zeit zum beschaulichen Einkaufsbummel, auch mit Freunden und Familie, bleibt. Dieser gehört aber zum Inbegriff der Muße und des entspannten Freizeitvergnügens.

Auffällig war, dass viele der Befragten ihre Antworten mit »früher« begannen. »Früher« machten andere Dinge den Sonntag zum Sonntag als heute: der sonntägliche Gottesdienst, spezielle Gerichte, die es nur sonntags gab und Sonntagskleidung. Hinzu kam fast immer der Sonntagsspaziergang, der mehr als heute ein Ritual darstellte. Öfters hörte ich auch, dass Hausmusik »früher« eine große Rolle für die Gestaltung des Sonntags gespielt habe. Ebenso verhielt es sich »früher« mit dem Verwandtenbesuch: Er hatte speziell am Sonntag seinen festen Platz. Bei allen, die ihre Antworten mit »früher« einleiteten, fragte ich zurück: »Und wie ist das heute?« Oft hörte ich, heute sei doch alles anders. Nicht schlechter – nein, das wollte kaum jemand so sagen. Aber eben anders. Weniger strukturiert. Schwammiger. Das Ausschlafen sei beispielsweise wichtiger geworden, »früher« habe man das nicht so benötigt. Jetzt aber gehe viel Zeit für Gemeinsamkeit am Sonntag verloren, die man »früher« irgendwie besser genutzt hätte. Gerade, wo es heute doch viel mehr Möglichkeiten und Angebote gebe, die freie Zeit zu füllen, bringe einen dies oft in eine Art Zugzwang: Man müsste dies, man könnte das – und plötzlich fehlt es schon wieder an Zeit. Auf der anderen Seite gebe es heute zuweilen Leerlauf, den man »früher« nie empfunden hätte, schade eigentlich, wo der freie Tag doch so schnell vorbei sei. Wenn ich versuche, die gefühlten Unterschiede zu »früher« auf einen Nenner zu bringen, dann vielleicht so: Heute ist der Sonntag oft hektischer – und gleichzeitig langweiliger.

Einerseits gibt es also sehr hohe Erwartungen an den Sonntag, andererseits fehlt ihm oft etwas, sogar ein Maßstab, an dem diese Erwartungen gemessen werden können. Gibt es etwas, das den Sonntag zum Sonntag machen sollte? Diejenigen, die schon ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel haben, können ihr selbsterlebtes »Früher« zumindest zum Maßstab ihres Gefühls machen, dass sich irgendwas verändert hat – auch wenn oft nicht wirklich benannt werden kann, was es ist und ob diese Veränderung überhaupt bedauerlich ist. Jungen Leuten fehlt naturgemäß dieser Maßstab, weil sie es nie anders erlebt haben.

Eigenen Erinnerungen und denen anderer nachzuspüren ist immer das Erkunden in einer vergangenen Zeit. Wenn man solchen Erinnerungen nachhängt, kann es nicht darum gehen, in einen »Früher war alles besser«-Modus zu verfallen. Aber sie können dabei helfen, einen Tag, der aus der Reihe der anderen Wochentage noch immer ein wenig herausragt, zu beleuchten, um seine tiefere Bedeutung kennenzulernen. So beginne ich zunächst die Erkundungen über den Sonntag ganz unspektakulär mit Erlebnissen aus meiner Kinder- und Jugendzeit. Für mich war als Kind beispielsweise das untrügliche Sonntags-Signal, wenn Kinderfrau Lenti plötzlich abends ein gewaltiges Schaumbad im Kinderbadezimmer einließ, anschließend in ihren Mantel schlüpfte, meiner Mutter die Hand reichte und das Haus verließ. Dann läuteten jedes Mal laut und fröhlich die Kirchenglocken. Zwar war es erst Samstagabend, aber alle Zeichen standen klar auf Sonntag.

Als der Sonntag noch am Samstag begann

Natürlich läuteten die Kirchenglocken in Wirklichkeit nicht, weil unsere Kinderfrau am Samstagabend das Haus verließ! Sie »läuteten den Sonntag ein«, so war der korrekte Ausdruck. In Zeiten, als nicht jeder eine Uhr am Handgelenk oder in der Tasche trug, war dies für alle das akustische Zeichen, dass nun die Arbeitswoche vorbei war und der Sonntag unmittelbar bevorstand, ja, begonnen hatte. Urbild für diese Vorstellung ist der biblische Schöpfungsbericht: »Es wurde Abend und Morgen: ersterTag.« Nach alter jüdischer Tradition begann deshalb ein jeder Tag mit dem Untergehen der Sonne am Vortag. Im Christentum wurde diese Vorstellung für die Sonn- und Feiertage übernommen. In den Klöstern sang daher der Konvent am Vorabend des Sonntags die erste Vesper, mit der dann der Feiertag liturgisch begann. Das »Sonntageinläuten« am Samstagabend erinnert noch heute an diese Praxis, auch wenn viele den ursprünglichen Hintergrund nicht mehr kennen.

Als das Glockengeläut der Kirchen noch nicht elektrisch ausgelöst werden konnte, hatten viele Jungen ihren ersten großen Sonntagsspaß, wenn sie beim »Sonntag einläuten« zu mehreren an den Seilen ziehen durften, an denen die Glocken befestigt waren. Während der eine mit aller Macht am Glockenseil zog, konnte es den anderen meterhoch in die Luft reißen, wenn die Glocken ins Schwingen gerieten. Kaum wieder auf dem Boden, flog beim nächsten kräftigen Zug der andere nach oben. Was für ein Spaß, wenn das Resultat dieser ungewöhnlichen körperlichen Ertüchtigung weithin hörbar war! Kein Wunder, dass der Läutdienst zu den beliebtesten Ämtern zählte! An allen anderen Tagen musste die Schule vorgehen – aber beim Läuten am Samstagabend und am Sonntag ließ sich kein Junge gern vertreten. Ich gebe zu, dass ich heute noch neidisch bin, dass wir Mädchen davon ausgeschlossen waren. Dafür kam die Emanzipation eindeutig zu spät – und heute verhindert leider die Technik eine späte Genugtuung: Denn es braucht fürs Glockenläuten keine Jungen oder Mädchen mehr: Der Küster oder die Küsterin drückt in der Sakristei nur noch auf einen Knopf.

Der Ausdruck »Sonnabend«, wie der Samstag in manchen Gegenden noch genannt wird, umfasst heute begrifflich den ganzen Samstag – ursprünglich war er wörtlich zu nehmen: Der Abend vor dem Sonntag. Die Parallele zum »Heiligen Abend«, dem 24. Dezember, fällt auf. Dieser eröffnete einst auch abends bei Sonnenuntergang den Weihnachtsfeiertag– heute heißt der ganze Tag so, obwohl oft noch bis zum Nachmittag gearbeitet wird. Nur noch beim »Nikolausabend« am 5. Dezember hat sich die ursprüngliche Bedeutung erhalten: Es ist der Abend vor dem Nikolausfest, und ebenso wie beim Heiligabend kommt bei ihm – zumindest in Kinderaugen – das Beste am Vorabend des eigentlichen Festes: die Geschenke! Der Feiertag des Heiligen selbst fällt dagegen bei den meisten kaum ins Gewicht. So erscheint es doch schlüssig, dass einst für Kinder auch ein Höhepunkt des Sonntags schon am »Sonnabend« stattfand: das Bad am Samstagabend.

Am Samstagabend legten die Leute nämlich traditionell ihre Arbeitskleidung ab. So wurde ein deutliches, äußeres Zeichen gesetzt: Die Arbeitswoche ist vorbei. Der Sonntag hat begonnen, dessen äußeres Zeichen auch das »Sonntagshäs« war, wie die Sonntagskleidung in meiner Heimat genannt wurde. Vorher stand aber aus praktischen Erwägungen das »Bad am Samstagabend« an, das Wilhelm Busch trefflich so skizziert hat: »Die alte Lene geht – und gleich/da treibt man lauter dummes Zeug./Denn Reinlichkeit ist für die zwei/Am Ende doch nur Spielerei.« Ähnlich wie bei Wilhelm Buschs Franz und Fritz ging es noch zu meiner Kinderzeit in vielen Häusern am Samstagabend zu – und viele Mütter werden ihm seufzend zugestimmt haben: »Sie spricht voll Würde und voll Schmerz:/»Die Reinlichkeit ist nicht zum Scherz!«/Und die Moral von der Geschicht’: Bad zwei in einer Wanne nicht!« Aber es war ein Riesenspaß! Zur selben Abendzeit, als meine Geschwister und ich uns je zu zweit in besagtes Schaumbad stürzten, mit seekampfgeeigneten Booten, quietschenden Gummienten und flauschigen Waschlappen, die sich mit etwas Seife und kräftigem Pusten flugs in schaumspeiende Ungeheuer verwandeln konnten, wurde in vielen umliegenden Häusern und Höfen der Badeofen angeworfen. Später, als ich in die dörfliche Grundschule ging, wurde ich oft von Freunden nach Hause eingeladen und bewunderte dann dort stets deren Badewanne, die manchmal sogar faszinierenderweise in der Küche stand. Ein Modell hatte kurze, stämmige, nach außen gekrümmte Messingbeine und sah aus wie ein glänzendes, kopfloses, großes Tier. Andere badeten in einem großen Bottich, in dem mühelos Platz für zwei Erwachsene oder drei Kinder war. Natürlich war er nicht bis oben mit Wasser gefüllt, sondern höchstens einen halben Meter hoch. Man stieg über eine kleine Leiter mit zwei oder drei Stufen ein – viel lustiger, wenn auch bei Erwachsenen äußerst unbeliebt, war natürlich der beherzte Sprung von der Bottichkante! Geheizt wurde das Wasser durch einen bullernden Holz- oder Kohleofen, der neben der Wanne stand und den ganzen Raum mitbeheizte. Diese Badeanlagen kamen mir ungleich spannender vor als unser langweiliges, modernes Badezimmer daheim. Was uns aber verband, war, dass spätestens beim sonnabendlichen Glockenläuten für alle Badezeit war. Jedem erschien das logisch, denn am Sonntag sollten nicht nur Haus und Hof blitzsauber sein, sondern auch die Menschen. Körper und Geist stellten sich darauf ein: Es war Feierabend!

Heute hat jedes Haus mindestens eine Dusche, aus der warmes Wasser fließt, ohne dass jemand darüber nachdenken bräuchte, woher es kommt und wie es warm wird. Niemand muss heute mehr Holz oder Kohle in den Ofen schippen, um das zuvor oft noch in Kannen und Eimern herbeigetragene Wasser auf Badetemperatur zu bringen. Und weil all das so unkompliziert geworden ist, duscht oder badet heute jeder mindestens einmal täglich – und so hat sich auch das traditionelle Bad am Samstagabend erledigt. Wenn Kinder wüssten, was ihnen damit entgeht, wären sie vielleicht doch ein wenig traurig darüber, ansonsten wird kaum jemand diesen mühsamen Zeiten nachweinen. Mit dem technischen Fortschritt ging so aber auch eine Facette des unmittelbar körperlich erfahrenen Feierabends am Samstag verloren.

Ob damit auch zusammenhängt, dass die Sonntagskleidung, in die man nach dem Schaumbad sauber und wohlriechend schlüpfen wollte, in Misskredit geraten ist? Ich sehe es noch vor mir, das leichte, hellblaue Wollkostüm mit schwarzen Samträndern und einer großen schwarzen Seidenschleife, die locker am Ausschnitt gebunden wurde: mein Sonntagskleid in Kindertagen. Die meisten meiner Freunde bekommen heute noch Aggressionen, wenn sie über ihre Sonntagskleidung erzählen, die wie das Amen in der Kirche Samstag abends frisch gestärkt über dem Stuhl hing, unter dem die hochglänzenden »Sonntagsschuhe« schon dräuende Enge und Unbequemlichkeit signalisierten. Diese Requisiten repräsentierten für sie im Rückblick eine textile Aufforderung, ein braver Untertan zu sein! Wenn der Sonntag mit dem lustigen Bad am Samstagabend begonnen hatte, dann warf für viele der Anblick der sauber gefalteten und geputzten Horrorgegenstände auf und unter dem Schlafzimmerstuhl einen misslichen Schatten voraus. Sie kündeten von den immer selben Aufforderungen, die dem Sonntag ihr eigenes Gepräge gaben: »Mach dich nicht schmutzig!« – »Pass auf die guten Schuhe auf!« – »Machst du wohl den obersten Hemdknopf zu!« – »Binde die Serviette um!« Der Samstagabend verhieß also für viele schon einen recht ungemütlichen Sonntag. Ich sage es ungern, aber ich mochte mein Sonntagskostüm. Es war bequem – und es sah ein wenig so aus wie die unglaublich schicken Kleider meiner Mutter, die sie mit großer Lässigkeit trug. Einmal die Woche fühlte ich mich ihr modisch ebenbürtig! So unterschiedlich können ähnliche Voraussetzungen in Erfahrung umgesetzt werden – denn tatsächlich hatte damals wirklich jeder Sonntagskleidung, ob er sie mochte oder hasste. Viele haben derart schlechte Erfahrungen mit den erlebten Zwängen der Sonntagskleidung gemacht, dass sie jetzt am Samstag (oder schon am Freitagabend) ihre bequemsten und schlabberigsten Sachen herausholen und sie erst am Montagmorgen wieder mit der oft erheblich eleganteren Arbeitskluft tauschen. Das Prinzip ist also letztlich heute dasselbe wie damals: Die innere Einstimmung auf den Feierabend wird durch das Ablegen der Alltagskleidung dokumentiert.

Die Körperpflege am Samstagabend und die bereitgelegte Festtagskleidung zeigten an, dass ein besonderer Tag begonnen hatte. Den ganzen Samstag war das Haus gewienert, das Sonntagsessen vorbereitet und Kuchen gebacken worden – jetzt putzte man sich heraus. Wie die meisten Menschen sich »feinmachen«, wenn sie sich auf etwas Besonderes, Herausgehobenes vorbereiten wie auf eine wichtige Begegnung, einen Opernbesuch oder das Essen in einem guten Restaurant, waren es viel weniger das Bad oder die am Samstag hervorgeholten »schönen« Anziehsachen an sich, die den Feierabend ausmachten. Entscheidend war eine innere Haltung, die durch äußere Mittel unterstrichen wurde: Die Zeit der Arbeit war vorbei – und die freie Zeit der Muße gekommen. Muße hat – wie das Beispiel der fröhlichen Badeszenen deutlich zeigt – nichts mit Passivität zu tun. Sie lebt davon, dass man freudig »ja« sagt zu dem begonnenen Festtag, der aus den anderen Tagen herausgehoben ist. Das mittelhochdeutsche Virabend, aus dem sich der »Feierabend« entwickelte, galt noch ausschließlich dem Vorabend des Sonntags oder von Festen, an denen nicht gearbeitet wurde. Wie es aber mit der Sprache oft ist, änderte sich im Laufe der Zeit seine Bedeutung zu: »Beginn der Ruhepause am Abend«. Sagt an irgendeinem Arbeitstag der Vorarbeiter: »Jetzt machen wir Feierabend«, dann heißt das: genug gearbeitet für heute. Genau diese Bedeutung erfüllte einst den Samstagabend mit einer zusätzlichen, fröhlichen Komponente. Die samstäglichen Abendglocken riefen allen Menschen zu: »Genug der Arbeit! Jetzt wird einen ganzen Tag lang gefeiert!«

Weihrauch, Toast & Honey

Vor einigen Jahren wehten aus dem Zimmer meiner ältesten Tochter die überraschend zarten Töne eines mir gänzlich unbekannten Songs hinüber zu meinem Schreibtisch: »Milk and Toast and Honey«. Ohne jede Vorwarnung überfiel mich ein warmes Glücksgefühl: Sonntag! An einem ganz normalen Wochentag fühlte ich mich für Sekunden zurückversetzt an den sonntäglichen Frühstückstisch meiner Kindertage. Wärmende Sonnenstrahlen auf glänzendem Holz, der Geruch frisch gerösteten Weißbrotes, das Gefühl süßen, klebrigen, goldgelben Honigs in den Mundwinkeln, das Klirren von Löffeln und Messern, das leise Päcken beim »Köpfen« der Frühstückseier, Gelächter, Gemurmel, der falsch geknöpfte Schlafanzug meines kleinsten Bruders, der verwuschelte Lockenkopf meiner Schwester – diese ganze plastische Szene wurde durch ein kleines Liebeslied der schwedischen Gruppe Roxette ganz unerwartet an die Oberfläche meines Bewusstseins gespült. Das menschliche Gehirn macht die erstaunlichsten Dinge!

Lange bevor die Wissenschaft erklären konnte, warum Sinneseindrücke ganz plötzlich Erinnerungen aus der Vergangenheit hervorzaubern können, beschrieb der französische Autor Marcel Proust in seinem Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« ein noch viel krasseres Beispiel solch unvermittelten Rückerinnerns. Dessen Ich-Erzähler versucht krampfhaft, sich an seine Kindheit und Jugend zu erinnern. Es gelingt ihm nicht. Was all seine Willensanstrengungen nicht vermögen, passiert aber völlig unvermutet, als er ein in Lindenblütentee getunktes Gebäckstück isst. Plötzlich steht ihm seine ganze Kindheit in ihrer ganzen Fülle plastisch vor Augen. Geruch und Geschmack in der Kombination dieses speziellen Gebäcks mit jenem bestimmten Getränk bewirkten, dass sie seine Erinnerung »in einer Tasse Tee auftauchen ließen«. Proust erzählte meisterhaft eine Erfahrung, die inzwischen wissenschaftlich erklärt werden kann: Der Riechkolben hat eine direkte Verbindung mit dem Hippocampus, jener Region des Gehirns, welche für das Erinnern und Empfinden zuständig ist! Noch viel mehr als das Sehen, Hören oder Fühlen können Geruchs- und Geschmackssinn so zum Erinnerungsexpress in unsere innere Wirklichkeit werden. »Immer der Nase nach« ist also nicht die schlechteste Form der Annäherung an Sonntagserinnerungen!

»Wonach riecht für Sie der Sonntag?«, fragte ich also willkürlich Menschen in der Bonner Fußgängerzone. Die Reaktionen waren zunächst nicht gerade überwältigend. Die meisten Passanten musterten mich misstrauisch oder mit leicht besorgten Blicken. Günstigstenfalls erntete ich Gelächter: »Ist das jetzt Ihr Ernst?« Nachdem ich meine Frage ein wenig mit den obenerwähnten Minimalkenntnissen der Hirnforschung gerechtfertigt hatte, lockerten sich die Mienen auf, und ich konnte mich plötzlich vor Antworten kaum retten: »Schmorbraten!« … »Nein, Wiener Schnitzel!« … »Heiße Schokolade!« … »Für mich riecht er nach Marmorkuchen.« … »Oder nach Plätzchen – nein, stimmt nicht, Weihnachten riecht nach Plätzchen!« … »Also für mich riecht Sonntag nach Chlor, weil wir sonntags immer ins Schwimmbad gehen.« … »Bohnenkaffee!«, seufzte eine Dame, und mehrere ältere Herrschaften stimmten ihr lebhaft zu. »Aufbackbrötchen, Parfüm, Kerzenduft, Waldgeruch …« – Schließlich kamen so viele verschiedene Antworten, dass sie noch Seiten füllen würden. Der Sonntag hat viele Gerüche, die ganz unterschiedliche Erinnerungen hervorzaubern. Ein anderer, besonderer Duft wurde auch erwähnt: der Weihrauch.

Auch für mich ist Weihrauch ein spezieller Sonntagsduft. Um ihn zu riechen, musste man das Haus verlassen und zur Kirche gehen, die mitten im Dorf aufragte. Meinen Eltern war der Besuch der Sonntagsmesse selbstverständlich – und sie nahmen ihre Kinder schon recht frühzeitig mit. Ich staune heute noch, wie sie das hinbekommen haben – vielleicht, weil »Du bist leider noch zu klein« das Zauberwort war, welches jedem von uns den Besuch der Sonntagsmesse ähnlich erstrebenswert wie später den der Diskothek erscheinen ließ: Wer will schon für etwas »zu klein« sein? Wer also schon groß genug war, um nicht mehr in die Hose zu machen, und in der Lage, eine Stunde halbwegs ruhig zu bleiben, erstrebte energisch das Upgrade zum ernstzunehmenden Menschen, welches sich darin äußerte, dass man eben nicht mehr »zu klein« für etwas war, was unsere Eltern nie verpassen wollten. Meine Erinnerungen an die kindlichen Kirchenbesuche sind leider nicht mehr allzu konkret. Wichtig war, dass wir keinen Lärm machten – ansonsten schien es keine schwierigen Regeln zu geben. Wir standen auf, wenn alle aufstanden, setzten uns, wenn alle sich setzten. Die buntgekleideten Menschen im Altarraum schienen einer perfekten Choreographie zu folgen. Sie wuselten nach einem offenbar genau abgestimmten Plan herum, gruppierten sich, gingen auseinander, verbeugten sich und trugen Bücher und Gerätschaften herbei. Jeder schien seine Aufgabe genau zu kennen. Sie wirkten hochkonzentriert, und man konnte sehen, dass sie ihre Aufgabe sehr ernst nahmen. Dann gab es Phasen, in denen Ruhe im Altarraum herrschte und alle dort ebenso auf ihren Plätzen saßen wie die anderen Kirchenbesucher. Ein Mann in einem schönen, farbigen Gewand ging gemessenen Schritts zu einer schmalen, gewundenen Treppe an der Seite des Kirchenschiffs, erklomm sie und erschien kurz darauf in einem hoch über den Köpfen der Kirchenbesucher angebrachten kleinen Kasten, der entfernt an den Mastkorb eines Segelschiffs erinnerte. In sonorer Stimmlage erzählte er von dort aus sehr, sehr lange und unverständliche Geschichten. Derweilen saßen mein Bruder Clemens und ich auf der niedrigen Kniebank zu Füßen unserer Eltern. Die Mutter teilte kleine, bunte Bilderbücher aus, die wir jedoch immer sehr schnell »ausgelesen« hatten – da wir noch gar nicht lesen konnten. Ungleich interessanter waren für uns Kinder die dicken Liederbücher unserer Eltern, in denen viele schwarzumrandete, gefaltete Papierchen wie Lesezeichen steckten. Diese waren das Allerbeste am Kirchgang! Klappte man sie auseinander, zeigten sie in ihrem Inneren jeweils ein Foto eines Menschen. »Totenzettel« wurden sie genannt, weil all die abgebildeten Menschen gestorben waren. Sehr spannend! Da gab es alte Damen mit Pelzmützen oder in sittsamen, geblümten Sommerkleidern, greisenhafte Männer mit langen Bärten oder gezwirbeltem Schnurbart, Soldaten in Uniform und auch einige junge Frauen mit kessem Seitenscheitel oder ausladendem Hut. Je jünger die Abgebildeten, desto begehrter waren die Bildchen bei ihren stummen Betrachtern. Manchmal tauschten wir wortlos, aber mit vielsagenden Blicken Kärtchen mit Kindergesichtern aus. Zuweilen gerieten wir aber auch in Streit und zerrten an den begehrtesten Exemplaren, in die der andere keinen Einblick gewähren wollte. Da kam es durchaus auch schon mal zum Handgemenge auf den »niederen Rängen«. Wurde es zu wild, trug mein Vater den/die derart Disqualifizierte/n auf dem Arm (!) aus der Kirche – eine Schmach, die sich glücklicherweise nicht oft wiederholte. »Du bist wohl leider doch noch zu klein«, stand unausgesprochen im Raum. Darauf wollten wir es dann doch nicht ankommen lassen.

Eine besondere Form der Körperhaltung in der Kirche war das Knien, das einige Übung erforderte, damit man nicht mit dem Hinterteil nach hinten und dem Kinn nach vorne wegkippte. Eine merkwürdige Position, die wirklich nur in der Kirche vorkam. Die Eltern erklärten uns, dass die Ritter früherer Zeiten erhobenen Hauptes ein Knie vor ihrem König gebeugt hatten, als Zeichen der Ehrerbietung und der Treue. Beide Knie dürfe man aber vor keinem einzigen Menschen beugen. Dies sei allein dem lieben Gott vorbehalten. Eine ziemlich ungemütliche Stellung, aber sie fühlte sich ritterlich, ernst, erwachsen und feierlich an. Eine ähnliche Stimmung verbreitete der Weihrauch. Erst nur ein Hauch, stieg er zunächst in die Höhe, verbreitete sich dann langsam in der Kirche mit seinem würzigen, herben Duft und hüllte uns schließlich alle ein. Die Kerzen am Altar leuchteten diffus durch den geheimnisvollen, duftenden Nebel. Selbst als Kind ohne Ahnung von liturgischen Bedeutungen spürte ich körperlich eine unübertreffbare Feierlichkeit. In diesem Moment wäre keiner von uns Kindern auf die Idee gekommen, zu zappeln, zu streiten oder Bildchen zu tauschen. Dafür war der Augenblick zu erhaben. »Gerüche gehen tiefer ins Herz als Töne oder Bilder«, schrieb Rudyard Kipling, der Autor des »Dschungelbuches«. Für den Weihrauch trifft das in besonderem Maße zu, soweit es meine kindliche Erinnerung betrifft. Denn abgesehen von dem leisen Klacken des Weihrauchfasses umgab ihn stets ein Schweigen, das ich fast meinte, anfassen zu können. Dicht, stark und groß.

Der Sonntagsdämon

Nun soll aber nicht verschwiegen werden, dass der Sonntag zuweilen auch seine düsteren Seiten hatte – und hat. In den Weiten des Internets fand ich beispielsweise diese virtuelle Unterhaltung, die vielleicht nicht nur bei mir Erinnerungen an die sonntägliche Kehrseite der eigenen Jugend weckt: »Sonntage sind so langweilig! Wieso ist das so? Wieso sind Sonntage so langweilig? Was kann man an solchen Tagen machen?« Schnell fand der traurige User Unterstützung: »Es haben keine Geschäfte offen, am Montag ist wieder Arbeit oder Schule, das alles trübt die Stimmung.« Und direkt schloss sich jemand vollinhaltlich seiner Vorrednerin an: »Es hat wenig offen, im Fernsehen kommen nur Wiederholungen, und man kann auch oft nicht so lange weg sein, weil man morgen schon wieder in der Früh rausmuss …«

Das Phänomen, welches diese (vermutlich jungen) Leute in ihrem Chat beklagten, gab es genauso auch schon zu meiner Jugendzeit. Ich erinnere mich selbst deutlich daran. Ein wesentlicher Aspekt des Aufrückens in die Kategorie »Jugendlicher« scheint zu sein, dass man alles doof findet, was einen als Kind beglückt hat – und eine der Konsequenzen dieser Veränderung ist Weltschmerz, der sich insbesondere sonntags in der profanen Form der Langeweile äußert. »Dämon der Mittagsstunde« wurde diese von Evagrius Ponticus genannt, der im 4. Jahrhundert n.Chr. siebzehn Jahre lang das entbehrungsreiche Leben eines Wüstenvaters führte. Wir machen uns heute keine Vorstellung mehr, was das bedeutete: Die Wüstenväter lebten nur und ausschließlich in der Wüste, ernährten sich spärlich und wohnten allein in Höhlen, Sandkuhlen – und notfalls sogar auf hohen Säulen! Dass sie geradezu Experten für die Langeweile sein mussten, liegt ja wohl auf der Hand. Sie gaben dem »Dämon der Mittagsstunde« sogar einen Namen: Acedia, vom griechischen »Akédia«, was eben schlicht »Langeweile« heißt. Ein äußerst anschauliches Denkmal hat Hans Conrad Zander den knorrigen Gestalten der Wüstenväter und denen, die es gerne werden wollten, gesetzt: