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»Wer nicht mit am Tisch sitzt«, so heißt eine Lobbyistenregel aus den USA, »befindet sich auf der Speisekarte.« Lobbyismus benachteiligt diejenigen, die über geringere finanzielle Ressourcen verfügen. Und er schafft denen Vorteile, die viel einsetzen können. Die wachsende Lobbymacht starker Wirtschaftsakteure droht die Schwachen an den Rand zu drängen. Die Folge: ein Land, das den Starken gibt und den Armen nimmt. Die vielfach preisgekrönten Wirtschaftsjournalisten der Süddeutschen Zeitung, Markus Balser und Uwe Ritzer, zeigen Strukturen und Methoden eines alltäglichen Lobbyismus auf. Sie legen dar, wie Lobbyisten die Gesellschaft zu unterwandern und die Menschen in ihrem Sinne zu steuern suchen. »Anders als in anderen Lobbyismus-Büchern geht es uns nicht in erster Linie um einen engen Zirkel von Ex-Politikern, der für die Wirtschaft aktiv wird. Wir wollen das System dahinter aus dem Dunkel holen. Es geht darum, die Strategien professioneller Lobbyisten aufzudecken und so Sensibilität zu schaffen für eine Gefahr, die uns alle angeht.«
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Seitenzahl: 431
Veröffentlichungsjahr: 2016
Markus Balser / Uwe Ritzer
Wie die Wirtschaft sich Einfluss, Mehrheiten, Gesetze kauft
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Wir leben längst in einer Lobbykratie, in der die Wirtschaft versteckt an allen Entscheidungen beteiligt ist. Markus Balser und Uwe Ritzer legen das subtile Geflecht unter der schönen Oberfläche unserer Demokratie frei.
Prolog
1 Die Regenmacher Politische Landschaftspflege und undemokratische Auswüchse
In der Vorhalle des Parlaments: Was man unter Lobbyismus versteht
Heckenschützen der Demokratie
Die neuen Einflüsterer: Wie sich Lobbyismus verändert
»Wie viel für Sie, wie viel für Frau Merkel?«
Im Maschinenraum der Macht
2 Bremser am Werk Fragwürdige Geschäfte im Schatten der Energiewende
Militär-Uran für deutsche Wohnzimmer
Warum Energiewende, wenn die Kohle auch so fließt?
Unterirdische Schlachten: Der Kampf um ein CO2-Gesetz
Umweltpolitik in Europa: Wo Konzerne mit am Tisch sitzen
3 Durch die Drehtür Wie Politiker als Lobbyisten große Kasse machen
4 »Wir erledigen das« Diskrete Helfer der Konzerne
Eine Kanzlei wie ein Kraftwerk
Der Fall der Aliyew-Brüder – Werte oder Geld?
Der Fall Asarow – Wie man von Sanktionslisten verschwindet
Der große Spieler: Automatenkönig Gauselmann
Die Skatbrüder – das Russland-Netzwerk und die SPD-Genossen
Die SPD und das Russland-Netzwerk
Ein fragwürdiger Freundschaftsdienst
Politik als Wirtschaftssalon
Anwälte der Wirtschaft
5 Verraucht Der erbitterte Kampf der Tabakindustrie gegen besseren Gesundheitsschutz
Der Fall Dalli
Tischfußball und frisches Pils
6 Hilfst du mir, helf ich dir Ein Netzwerk an der Basis unserer Nahrungskette
7 Die Freiheit nehm ich dir Die unterwanderte Wissenschaft
Wenn Google forschen lässt
Die Arbeitgeber-Kampftruppe an der Uni
Den Klimawandel kleinreden
8 Wie geschmiert Wie Schulen und Bildung vereinnahmt werden
Wenn Regeln missachtet werden
Ein erfundenes Defizit?
Profis mit Millionen
Pointiert gegen das Grundgesetz
9 Zwischen den ZeilenMedien als Transmissionsriemen für Lobbyisten
Bleierne Zeit
Willfährige Diener?
Bündnispartner
Weniger Geld, weniger Leute
Zauberwort Content
10 Große Haie Wie die Finanzindustrie die europäische Politik beeinflusst
Epilog
Ein Dankeschön
Uran, Atommüll, nukleare Abrüstung, Gasfelder, Abwehrsysteme gegen nuklearen Terror – Andrej Bykow ist müde an diesem Spätsommerabend. Unten auf der Moskauer Ausfallstraße Dmitrovskoe Schosse tost der Verkehr. Weit oben im unscheinbaren, siebenstöckigen Bürogebäude serviert eine Angestellte Tee. Bykow, ein kleiner und gedrungener Mann Anfang 50 mit stets messerscharfem Seitenscheitel, legt erschöpft die Beine auf die Couch im kleinen Konferenzraum seiner Firma.
Ihm tut der Rücken weh, die langen Reisen zehren und gehen an die Substanz. Und er ist pausenlos unterwegs. Erst am Vormittag hat ihn sein Chauffeur im gepanzerten schwarzen SUV aus dem Süden Russlands zurück nach Moskau gebracht. Andrej Bykow hat reichlich zu tun.
Immer mehr westliche Konzerne heuern den Mann mit den hervorragenden Kontakten in den Kreml für ihre Geschäfte in und mit Ländern der früheren Sowjetunion an. Der zuvorkommende Russe, der sehr gut Deutsch spricht, sehr fromm und ein erklärter Fan des heiligen Nikolaus ist, ist in den vergangenen Jahren eine heimliche Allzweckwaffe der westlichen Wirtschaft im ehemaligen Sowjet-Reich geworden. Und nicht nur dort. Draußen wird es schon dunkel, als Andrej Bykow auf seiner Bürocouch beginnt, aus einer Schattenwelt zu erzählen. Aus seiner Welt.
Mal arbeitet er in Deutschland und Thailand, mal in Südafrika und der Schweiz – Andrej Bykow als umtriebig zu beschreiben griffe viel zu kurz. Er berät seine Kunden und ist ihr Kuppler. Einer, der Kontakte einfädelt und pflegt. Einer, der Türen öffnet und russische Entscheidungsträger im Sinne seiner Auftraggeber überzeugt – wie und womit auch immer. Am Ende steht meistens reicher Ertrag, für Bykows Kunden und für ihn persönlich.
Immer geht es um viel Geld, um Macht und um Einfluss. Mal soll Bykow deutschen Atommüll heimlich nach Russland schaffen oder nuklearen Brennstoff aus Beständen der Roten Armee für deutsche Kernkraftwerke besorgen. Ein anderes Mal muss er Interessenten Kontakte zum Ausbeuten von Gasfeldern verschaffen. Er sollte für deutsche Auftraggeber über Umwege im Ausland gar verhindern, dass der deutsche Atomausstieg so schnell, wie von der Politik geplant, vollzogen werden kann.
Der fromme Familienvater sinniert auf seiner Moskauer Bürocouch über gottgefälliges Leben, die russisch-orthodoxe Kirche, russische Geschichte und das Ende des Kommunismus. Er kann auch sonst viel erzählen. Wenn er will. Denn sein Tun ist in der Regel Geheimsache. Meist wissen selbst bei seinen Auftraggebern in den westlichen Konzernen nur kleine Zirkel davon, dass es ihn überhaupt gibt und in welcher Mission er unterwegs ist. Andrej Bykow muss laut lachen, wenn das Gespräch auf die Verschwiegenheit seiner Klienten kommt. Sie treibt manchmal kuriose Blüten, diese Diskretion. Ein Manager des Energieriesen Eon dankte dem Russen in einem überschwänglichen Brief für »18 Jahre Zusammenarbeit«. Als wir nachfragen und wissen wollen, was Bykow denn für Eon alles getan habe, reagiert der Konzern einsilbig. Es habe sich um einen rein persönlichen Kontakt zwischen dem Manager und Bykow gehandelt, so die wenig überzeugende Antwort. »Geschäfte mit Herrn Bykow gab und gibt es nicht.«
Viele andere Geschäftspartner mögen sich urplötzlich sogar überhaupt nicht mehr an den Namen des Russen erinnern, obwohl mancher Konzern mit ihm gerne und eifrig kommunizierte. Andrej Bykow hingegen hat ein ziemlich gutes Gedächtnis. EnBW, der Eon-Konkurrent und drittgrößte Energiekonzern hierzulande, hat ihn beispielsweise mit Aufträgen und mehreren hundert Millionen Euro in seine Heimat Russland geschickt. Transparenz? Fehlanzeige. Die Geschäfte wurden über Umwege und die Schweiz abgewickelt. Auch das Geld floss selbstredend über lange als besonders geheim geltende Schweizer Konten. Fast die Hälfte der Zahlungen aus dem konservativen Konzern in Karlsruhe gingen an eine Stiftung Bykows mit dem schönen Namen »Heiliger Nikolaus der Wundertäter« – Satiriker und Karikaturisten hätten es sich nicht hübscher ausdenken können. Warum und wofür EnBW so viel Geld bezahlte, ist umstritten. Auch Staatsanwälte und Richter fragen sich das schon seit geraumer Zeit, ohne allerdings der Antwort bislang wirklich nahe zu kommen.
Andrej Bykow selbst sagt an jenem Abend in Moskau nur, was er sagen will und darf. Selbstkontrolle gehört zum Geschäftsprinzip. Dabei ist er ein eloquenter Mensch, schlagfertig und gewitzt, gedanklich blitzschnell, gerissen und hochintelligent. Ein Mann mit einem schier untrüglichen Gespür für sein Gegenüber. Und vor allem dafür, wie er dieses Gegenüber um den Finger wickeln und ihm das Gefühl geben kann, nur dessen Bestes zu wollen. Andrej Bykow ist Lobbyist.
Lobbyisten, das sind beileibe nicht nur die Pofallas und Niebels, die Wissmanns, Fischers und anderen ranghohen Politiker, die nach ihrer Karriere und ausgestattet mit dem entsprechenden Insiderwissen große Kasse machen als Interessenvertreter zahlungskräftiger Verkehrs-, Rüstungs-, Pharma-, Tabak- oder Automobilkonzerne oder Verbände. Solche Seitenwechsler fallen der breiten Öffentlichkeit auf. Nicht aber Leute wie Andrej Bykow. Lobby-Söldner, die deswegen niemand kennt, weil sie im Verborgenen, im Schatten von Wirtschaft und Politik arbeiten. Und die gerade deshalb sehr erfolgreich sind.
Von Interessenverbänden, Dienstleistungsagenturen oder Anwaltskanzleien aus, nicht selten aber auch als Einmannunternehmen, nehmen sie in Berlin und Brüssel, Paris und London, Moskau und Washington im Auftrag der Wirtschaft Einfluss auf Politik und Gesellschaft. Mal geht es um Atomdeals, mal um Plastiktüten. Mal um Milliardengeschäfte, mal um Details in Gesetzesvorhaben, mal um beides. Sie suchen diskrete Nähe zu den Mächtigen, organisieren in Parlamenten Mehrheiten im Sinne ihrer Auftraggeber. Ihr Ziel allerdings sind nicht mehr allein Mandatsträger und der Beamtenapparat. Immer häufiger ist es die Gesellschaft als Ganzes. Ins Visier geraten Meinungen und Wählerstimmen.
So kämpfen Lobbyisten in Klassenzimmern um die Vormacht in den Köpfen von Schülern. Sie sorgen dafür, dass Rauchen eine legale Sucht bleiben darf und nicht zu sehr sanktioniert wird. Sie beeinflussen, was auf Lebensmittelverpackungen stehen darf und was nicht. Sie torpedieren die Energiewende oder versuchen, sie in die Richtung ihrer zahlenden Kundschaft zu treiben. Sie mischen in Bürgerinitiativen mit und dirigieren dort als heimliche Handlanger im Sinne ihrer mächtigen Auftraggeber. Sie manipulieren den öffentlichen Willen, indem sie die Medien beeinflussen. Sie unterwandern Wissenschaft und Forschung, damit deren Ergebnisse so ausfallen, dass sie den Interessen ihrer Kundschaft dienen.
Lobbyismus – dem Ursprung nach ist das eigentlich eine transparente Angelegenheit. In der Lobby eines Parlamentssaales, dessen Vorraum also, bringen Bürger und Interessenvertreter ihre Anliegen bei den Abgeordneten vor, die dann alleine in den Saal gehen, dort alle Argumente diskutieren, abwägen und entscheiden. So sieht das Ideal aus, das mit der Wirklichkeit allerdings längst nichts mehr zu tun hat. Heute steht der Begriff Lobbyismus viel zu oft für eine Schattenwelt jenseits demokratischer Kontrolle.
Wer sich auf die Suche nach gut verstecktem Einfluss macht, erfährt von den Untiefen eines höchst diskreten Wirtschaftszweigs, der immer professioneller vorgeht – natürlich am liebsten hinter verschlossenen Türen und dicken Mauern. Und er stößt auf erstaunliche Netzwerke zwischen Lobbyisten und führenden deutschen Politikern. Man muss aber genau hinschauen und hinhören. Wie an einem festlichen Abend im Frühjahr 2015.
Die Kulisse bildet ein klassizistischer Prachtbau, Unter den Linden in Berlin. Geraffte bodentiefe Vorhänge, edle Hölzer an der Wand, prächtige Kronleuchter an der Decke – im prunkvollen Saal der russischen Botschaft bittet Heino Wiese seine Gäste Platz zu nehmen, als die Kolonne des deutschen Wirtschaftsministers und Vizekanzlers vorfährt. Vorbei an russischen Managern und eskortiert von Russlands Botschafter Wladimir Michailowitsch Grinin, betritt der Stargast des Abends das Podium. Die Rede zur Vorstellung eines neuen Russland-Buchs, in dem vier junge Autoren und Fotografen ein Land im Wandel wohlwollend porträtieren, hält der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel persönlich – ein guter, alter Freund von Heino Wiese.
Kaum jemand in der breiten Öffentlichkeit kennt Heino Wiese, diesen unauffälligen Mann Mitte 60, der so oft an der Seite Gabriels und häufig auch an der von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder auftaucht. In der Schaltzentrale der politischen Macht in Berlin ist Wiese jedoch bestens verdrahtet. Er, Schröder und Gabriel kennen sich aus ihrer Heimat Niedersachsen und aus der Partei. Wiese war auch mal SPD-Politiker. Er schmiedete Wahlkampfpläne für Gerhard Schröder – und beriet Gabriel, als er noch Ministerpräsident war.
Dann wechselte Wiese in die Wirtschaft. Zuerst baute er für eine Modefirma das Russland-Geschäft auf. Dann machte er sich mit einer eigenen Beratungsfirma »Wiese Consult« selbständig. Seine neuen Büros liegen in der Nähe des Brandenburger Tors. Die Agentur arbeitet nach eigenen Angaben »an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Politik, insbesondere in den Bereichen ›Internationale Geschäftsbeziehungen und Investments‹«.
Auf der Liste der Referenzen steht unter anderem der russische Stahlkonzern Severstal. Aber selbstverständlich geht es an diesem Abend in der russischen Botschaft nur um ein Buch. Denn Wiese ist manchmal auch Herausgeber. »Russland« steht in Großbuchstaben auf seinem jüngsten Werk, der Untertitel lautet: »Menschen und Orte in einem fast unbekannten Land«.
Nach den Reden von Gabriel und Grinin zu den deutsch-russischen Beziehungen dürfen auch die Autoren ein paar Sätze sagen. Der zur selben Zeit grassierende Konflikt um die Krim kommt an diesem Abend nicht vor. Die Wochenzeitung Die Zeit kritisiert den russlandfreundlichen Abend in Zeiten der Krise später als »fragwürdigen Freundschaftsdienst« Gabriels.1 Das Handelsblatt mokiert sich über Sigmar Gabriel – den Russlandversteher.2
Man kennt sich und man tut sich nicht weh. Jedenfalls nicht an diesem Abend. Noch weiß niemand, dass wenige Monate später ein Millionengeschäft über die Bühne gehen wird, bei dem auch Gazprom eine Rolle spielt, das Gabriel zumindest nicht verhindert – und bei dem auch Heino Wiese nach Angaben von Insidern beteiligt gewesen sein soll. Enge Kontakte zum Wirtschaftsminister und Spezi Gabriel sind in der Sache sicher nicht schädlich. Ausgerechnet zu jenem Minister, der an anderer Stelle über Sanktionen gegen Russland in der Ukrainekrise mitentscheidet. Und dem Wiese angeblich beim Füllen der Wahlkampfkasse in Zukunft helfen soll.
Dass auch noch Altkanzler Gerhard Schröder mit dem Berater Wiese verbandelt ist zeigt, wie eng Lobby- und Politnetzwerke in Berlin längst verwoben sind. Es zeigt möglicherweise auch, wie Altgranden in Millionendeals eingebunden werden. Und wie Russland versteht, selbst in einer kritischen Phase sein eigenes, enges Netzwerk in Deutschland zu knüpfen und zu pflegen.
Einige Wochen später. Ein Gespräch in einem Hotelzimmer. Wieder steht die gleiche Frage im Raum: Wie sichert sich die Wirtschaft Einfluss auf die Gesellschaft? Die Antwort fällt diesmal allerdings ganz anders aus.
Naomi Oreskes muss ausholen. Die energische amerikanische Professorin und Wirtschaftshistorikerin aus Harvard kennt die Verflechtungen zwischen der Industrie und der internationalen Spitzenforschung wie keine Zweite. Vor allem weiß die Historikerin und scharfe Analytikerin um jene professionellen Skeptiker, die bei den ganz großen politischen Themen regelmäßig von sich reden machen.
In den USA tut sich eine Handvoll der immer gleichen Forscher damit hervor, wissenschaftliche Tatsachen wie den Klimawandel in Zweifel zu ziehen. Ihre Aktivitäten hat Naomi Oreskes minutiös rekonstruiert und so ein skandalöses System enttarnt: das der Zweifelssäer. Wissenschaftler nämlich, die sich von der Wirtschaft als Lobbyisten dafür bezahlen lassen, Kritik am Vorgehen von Forscher-Kollegen zu äußern und deren Methoden in Frage zu stellen. Es geht um Zweifel daran, dass Zigarettenrauch wirklich schädlich ist und Krebs erregt. Um Zweifel daran, dass es einen Klimawandel, das Ozonloch oder den sauren Regen überhaupt gibt – und vor allem, dass wir Menschen beides verursachen. Wohlgemerkt: Es sind in all diesen Fällen immer dieselben Wissenschaftler am Werk. Sie sind nicht etwa Experten in Sachen Medizin, Biologie oder Klimaforschung. Sie sind vielmehr versierte Spezialisten darin, der breiten Öffentlichkeit die Gründe zu liefern, unbequeme Wahrheiten zu ignorieren.
Dass der Klimawandel menschengemacht ist und von der Industrie mit ihren Emissionen ausgelöst wird, gilt seit Langem als erwiesen. Großen Teilen der Industrie sind solche unumstößlichen Fakten jedoch ein Dorn im Auge. Für Energie- oder Autokonzerne etwa steht viel auf dem Spiel. Es drohen ihnen teure Konsequenzen. Für manchen Manager ist klar: Der sicherste Weg, das alles zu verhindern – oder wenigstens möglichst lange hinauszuzögern –, ist es, nicht erst die Politik und ihre Entscheidungen zu beeinflussen. Noch besser wäre es, ganz zu verhindern, dass die Politik überhaupt entscheidet. Am besten also man bekämpft bereits eine unliebsame Forschung. Denn wo die Ursachen des Problems umstritten sind, ist auch noch keine politische Entscheidung möglich, die das Problem löst.
Ausgerechnet eines der größten ungelösten Probleme der internationalen Staatengemeinschaft, der Klimawandel, liefert so ein Lehrstück über die Macht der Strippenzieher. Denn viel zu lange gelang es den Zweiflern, die Politik der US-Regierung zu beeinflussen. Naomi Oreskes war selbst erstaunt, wie erschreckend einfach es möglich ist, mit unlauteren Absichten selbst seriöse Medien wie die New York Times, Newsweek oder die Washington Post zu instrumentalisieren – und mit nachweislich falschen Angaben zu füttern.3
Wenn Oreskes über die Machenschaften internationaler Kanzleien und Lobbyfirmen spricht, dechiffriert sie die vertraulichen Pläne der Industrie wie einen geheimen Code. Die Industrie wolle es den Bürgern und Politikern schwermachen, die Einwände als Profitgier abzutun. Organisationen zu gründen und zu finanzieren, die nach außen nichts mit der Industrie zu tun haben – sogenannte Thinktanks –, sollte dies ermöglichen. Wissenschaft mit Wissenschaft zu bekämpfen – dieser Strategie folgten Unternehmen sehr erfolgreich seit vielen Jahren, warnt Oreskes.4 Für die Forscherin ist klar: Die Bemühungen der Industrie werden immer größer, die Chancen, ihnen zu entkommen, immer kleiner. »Wir erleben die größte Konzentration von Wohlstand in den USA seit Ende des 19. Jahrhunderts«, sagt Oreskes und verbindet damit eine bedrohliche Vorstellung. »Noch nie waren die Reichen so mächtig.« Und noch nie, glaubt Oreskes, fiel es einem kleinen Teil der Bürger mit Lobby-Investitionen so leicht, die eigenen Interessen durchzusetzen und demokratische Prozesse auszuhebeln.
Alles weit weg? Mitnichten. Die Methode, Einfluss zu nehmen und die eigenen Fingerabdrücke beim Lobbying zu verwischen, ist auch in Deutschland angekommen. Hiesige Konzerne haben sogar Kontakte in die USA geknüpft, um die Methode zu lernen. Die ersten Versuche laufen bereits. Direkt vor unserer Haustür.
Man kann sie etwa in Winden im Schwarzwald finden, einem idyllischen Ort mit typischen Schwarzwaldhäusern. Seit einiger Zeit schon setzt sich hier, nicht weit entfernt von Freiburg, die »Gesellschaft zur Förderung umweltgerechter Straßen- und Verkehrsplanung« (GSV) für die Bürger ein. Seit Jahren schon, weiß man bei der GSV, wünschten sich die Windener äußerst dringend den Baubeginn einer nagelneuen Umgehungsstraße. Und wenn man schon dabei ist, auch gleich noch den zugehörigen Tunnel – logisch bei knapp 3000 Einwohnern. Die Kosten für den Steuerzahler sind zugegebenermaßen nicht ganz klein: mindestens 68 Millionen Euro. Macht umgerechnet auf jeden Windener eine Steuerzahlung im Wert eines Mittelklasseautos.
Bei einem Ortstermin kam die GSV dennoch sehr direkt zur Sache. Ihr Landesbeauftragter redete nicht nur der SPD-Bundestagsabgeordneten Annette Sawade ins Gewissen; praktischerweise ist sie Mitglied im Verkehrsausschuss des Bundestages. Mit einem flankierenden Schreiben an die Staatssekretäre im Bundesverkehrsministerium, Dorothee Bär (CSU) und Enak Ferlemann (CDU), warb die Initiative zudem um persönliche Unterstützung für weitere fünf »ebenfalls dringliche Projekte«: die B 30 Bad Waldsee, die B 31 Friedrichshafen, die B 31 West bei Freiburg, die B 29 Mögglingen und die B 463 Pforzheim – nur dem Bürger zuliebe.
Die GSV ist interessanterweise nicht nur in Winden aktiv. Man kennt sie auch in anderen Gegenden Deutschlands. Sie hat nicht nur eine schicke Internetpräsenz. Sie hat sich auch in bereits mehr als 100 größere Planungsprojekte eingeschaltet, berät und unterstützt lokale Bürgerinitiativen. Allerdings nicht, wie der Name vermuten lassen könnte, im Kampf gegen unsinnige und teure Verkehrsprojekte. Ganz im Gegenteil. Die Initiative kämpft, wo immer es möglich ist, für den Bau neuer Straßen. Mit viel Pathos und erklärtermaßen »im Namen aller von fehlenden Baumaßnahmen betroffenen Bürger«, wie es in einem Papier der Organisation heißt.
Warum die GSV, eine Art Dachverband von Bürgerinitiativen, überhaupt bundesweit aktiv wird? Wer hinter der Pro-Straßen-Organisation steht? Man verfolge ausschließlich gemeinnützige Zwecke und arbeite unabhängig von Interessengruppen – so beschreibt die Gesellschaft selbst ihr Engagement, die nach eigenen Angaben ständig mehr als 100 Verkehrsinfrastrukturprojekte im ganzen Bundesgebiet betreut. Das erklärte Ziel: Sie sollen ein Gegengewicht zu den zahlreichen Bürgerinitiativen bilden, die sich gegen Straßenausbauten wehren. Im Fall B 294 mit Erfolg: Mitte 2015 wurden die Gelder für den Bau vom Bundesverkehrsministerium freigegeben. Bauunternehmen sollen nun möglichst schnell mit den Arbeiten beginnen können.
Wie sich die GSV finanziert? Die Gesellschaft beantwortet unsere Fragen nicht. Auf der Webseite finden sich keinerlei Hinweise darauf. Erst wer hinter die Kulissen und in die Bilanzen der Baubranche schaut, versteht, um was es hier wirklich geht. Denn unterstützt wird die Gesellschaft auch über eine Fördergemeinschaft aus der Bauindustrie. »Zusammen mit anderen Partnerverbänden aus dem Bau- und Baustoffumfeld unterstütze man seit 2013 die Arbeit des GSV-Landesbeauftragten für Baden-Württemberg, erklärt etwa der Industrieverband Steine und Erden unumwunden. »Astroturfing«, benannt nach einem in den USA bekannten Kunstrasen, nennen Kritiker diese Methode: das Plagiat einer Graswurzelbewegung.
Vier Orte, vier Fälle von getarntem Lobbyismus – und doch nur ein kleiner Ausschnitt all dessen, was möglich ist. Wer versucht, der Welt der Lobbyisten näher zu kommen, landet schnell in einem ganzen Labyrinth höchst vielseitiger und diskreter Aktivitäten. Über Wochen und Monate gehen für uns die Türen nur für einen Spalt auf. Mit jedem Gespräch aber, mit jeder Recherche fügen sich die Mosaiksteine dieser kleinteiligen Welt zu einem klareren Bild zusammen.
Die Recherchen für dieses Buch führen nach Berlin und Brüssel, in die Schweiz und nach Russland, in die USA und die niedersächsische Provinz. Sie führen zu Klimaskeptikern und Tabaklobbyisten, in die Schaltzentralen der Energiebranche oder der Lebensmittelindustrie. Sie führen in den Bundestag und das Europäische Parlament, aber auch in Kanzleien, an Lehrstühle von Universitäten, sogar in Klassenzimmer. Sie führen zu deutschen Ex-Politikern, die Diktatoren oder wenigstens fragwürdigen Regimes zu Diensten sind. Sie führen auf Empfänge von Scheichs, in die Repräsentanzen der Wirtschaft an den feinsten Berliner Adressen und zur konspirativen Übergabe geheimer Dokumente. Sie werden zeigen, wie Unternehmen, die beinahe jeder Deutsche kennt, versuchen, Einfluss zu nehmen – auf wiederum beinahe jeden Deutschen.
Dieses Buch soll auf einen gravierenden Missstand hinweisen. Interessenvertretung gegenüber der Politik hat in einer Demokratie ihre Berechtigung. Sie muss sogar sein. Allerdings muss sie transparent erfolgen, offen und nach klaren Spielregeln. Denn eine seriöse politische Interessenabwägung braucht Chancengleichheit für alle Seiten, für alle Argumente. Genau diese aber ist in Gefahr. Wir wollen in der Folge fragwürdige Strukturen und Methoden aufzeigen und darlegen, wie Lobbyisten die Gesellschaft unterwandern und die Menschen in ihrem Sinne steuern wollen. Und wie so eine demokratische Schieflage entsteht: ein Land, das den Starken gibt und den Armen nimmt.
Anders als in anderen Lobbyismus-Büchern geht es uns nicht in erster Linie um einen engen Zirkel von Ex-Politikern, der für die Wirtschaft aktiv wird. Wir erheben auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wir wollen das System dahinter aus dem Dunkel holen. Es geht darum, die Strategien professioneller Lobbyisten aufzudecken und so Sensibilität zu schaffen für eine Gefahr, die uns alle angeht.
Wenn sich das Selbstverständnis eines ganzen Staates in seinen Parlaments- und Regierungsgebäuden spiegelt, dann strahlt die moderne Bundesrepublik am Platz der Republik 1 in Berlin vor allem eines aus: Stärke, Unabhängigkeit und Transparenz. Jeder Berlin-Besucher soll das spüren. So wollte es Stararchitekt Sir Norman Foster, als er Mitte der 90er Jahre den deutschen Reichstag zum modernen Parlamentsgebäude umbauen ließ. Symbolisch kann sich das Volk seither Tag für Tag über seine Vertreter erheben und ihnen bei der Debattier- und Abstimmungsarbeit auf die Finger schauen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen dazu nur die begehbare, gläserne Kuppel direkt über dem Plenarsaal erklimmen.
Wer sich mit dem Lift hinauftragen lässt in die oberste Etage, anschließend die 230 Meter lange, geschwungene Rampe ganz nach oben unter das Kuppeldach läuft und von dort durch 3000 Quadratmeter Glas über die deutsche Hauptstadt blickt, bekommt das angenehme Gefühl von Kontrolle. Zwei Millionen Besucher gönnen sich dieses Gefühl jährlich. Man steht nicht nur über dem Reichs- respektive Bundestag, sondern quasi auch über dem Kanzleramt, den eleganten Bürogebäuden des Bundestags und seiner Abgeordneten entlang der Spreeschleife, den Wohn- und Geschäftshäusern von Berlin-Mitte. Die Kuppel gibt den Blick frei auf die mondänen Hochhäuser am Potsdamer Platz und hinüber zum Fernsehturm am Alexanderplatz. Zu Füßen liegt den Besuchern das Zentrum der politischen Macht in Deutschland und eines der wichtigsten Machtzentren Europas.
Ob in der Energie- oder Rüstungspolitik, im Finanz- oder Gesundheitssektor – auf diesen wenigen Quadratkilometern im Zentrum der Hauptstadt werden Entscheidungen vorbereitet und getroffen, bei denen es häufig nicht nur um politische Grundsatzfragen, sondern auch um Einfluss, Macht und viel Geld geht. Um sehr viel Geld. Atomausstieg, Finanztransaktionssteuer, Freihandelsabkommen TTIP, Fracking, Gentechnik, Sanktionen: Unternehmen, Branchen oder gar ganzen Ländern kann auf Jahre hinaus schaden oder nutzen, was sich in Berlins Mitte zusammenbraut.
Es ist ein selbstbewusstes Parlament, das sich hier im Reichstag versammelt. Zu den zentralen Aufgaben des Bundestages zählt die Gesetzgebung auf Bundesebene. Die Abgeordneten sollen die Regierung kontrollieren, sie wählen den Bundeskanzler oder die -kanzlerin. Die Parlamentarier sind die einzigen direkt gewählten Vertreter des Volkes auf Bundesebene, und sie entscheiden mit ihren Stimmen, wer regiert und nach welchen Regeln sich das gesellschaftliche Zusammenleben in Deutschland richtet. In den Sitzungswochen tummeln sich im Plenarsaal unter der Glaskuppel und im Angesicht des großen Adlers aktuell 631 Abgeordnete.
Der Adler ist zum Symbol dafür geworden, wie eigenständig Abgeordnete sind und wie wenig sie sich aus großen Namen machen. Er wiegt zweieinhalb Tonnen, so viel wie ein Elefant. Er ist knapp sechzig Quadratmeter groß und hat damit mehr Fläche als manche Zweizimmerwohnung im Zentrum Berlins. Der Künstler Ludwig Gies hatte das Wappentier 1953 für den Bundestag gestaltet, als das Parlament noch in Bonn tagte. Star-Architekt Foster entwarf für Berlin eigentlich einen neuen, schlankeren Adler. Aber die Abgeordneten hatten sich an den alten gewöhnt. Sie wollten keinen neuen Vogel. Also ließen sie Foster abblitzen. Er durfte nur die Rückseite des vergrößerten Gies-Adlers gestalten.
Die Abgeordneten sind die Macht im Land schlechthin – unterworfen nur ihrem eigenen Gewissen. So steht es im Grundgesetz. Denn in Deutschland ist die Demokratie repräsentativ verfasst. Nach Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes geht die Staatsgewalt vom Volke aus, sie wird von ihm aber nur in Wahlen ausgeübt, ansonsten ist sie der Legislative, Exekutive und Jurisdiktion anvertraut. Dem Parlament kommt dabei als einzigem, unmittelbar vom Volk durch Wahlen legitimiertem Organ besonderes Gewicht zu. Es hat alle wesentlichen Entscheidungen für das Gemeinwesen selbständig per Gesetz zu treffen. Das klingt nach großer politischer Kompetenz. Und das wäre es auch, wenn diese Macht wirklich immer selbstbewusst und vor allem selbständig ausgeübt würde.
Doch längst fragen sich nicht nur Experten, sondern auch immer mehr Normalbürger besorgt, wie viel Macht inzwischen neben Legislative, Judikative und Exekutive eine ganz andere Gewalt im Staate hat. Denn es ist eine Parallelwelt des Politikbetriebs entstanden, die sich darauf spezialisiert hat, mit legalen, aber auch illegalen Mitteln genau hier zu versuchen, ihre Interessen durchzusetzen, obwohl sie keinerlei demokratisches Mandat dafür hat: die Welt der Lobbyisten.
»Regenmacher« nennen sie manche in der Hauptstadt ironisch, weil Lobbyisten dafür sorgen müssen, dass weiter öffentliche Gelder für ihre Auftraggeber vom Himmel regnen. Und dafür, dass nicht Gesetze und Verordnungen deren Geschäfte erschweren. Also muss möglichst frühzeitig und massiv Einfluss genommen werden, und das lässt sich die Wirtschaft einiges kosten. Es sind Investitionen, die sich für sie lohnen. Einige Millionen Euro an der richtigen Stelle können ein paar Milliarden zusätzlichen Gewinn bringen.
Lässt sich ein Gesetz nicht mehr verhindern, heißt die Devise oft: verzögern und verwässern. So geschehen etwa, als es um mehr Klimaschutz bei Autos ging. In letzter Minute sprang Kanzlerin Angela Merkel der Branche bei der EU in Brüssel zur Seite. Dass die BMW-Großaktionäre der Familie Quandt die CDU-Kasse just in der Zeit um 690000 Euro bereicherten, als die Kanzlerin und CDU-Parteivorsitzende und ihr CDU-Umweltminister in Brüssel schärfere Abgasregeln für Neuwagen blockierten, war natürlich reiner Zufall. Die plötzliche Bremserrolle der vermeintlichen deutschen Umweltpioniere stieß in ganz Europa auf Erstaunen. Klar ist: Mit Gemeinwohl hatte die Entscheidung am Ende weit weniger zu tun, als die Politik der breiten Öffentlichkeit glauben machen will. Sie war ein Erfolg der Lobbyisten.
Lobbyist – der Begriff geht historisch betrachtet darauf zurück, dass sich in der Vorhalle von Parlamentssälen, ihrer Lobby also, Interessenvertreter tummelten, um vor politischen Entscheidungen ihre Anliegen und Argumente bei den Abgeordneten anzubringen. Gablers Wirtschaftslexikon definiert Lobbyismus als »Einflussnahme organisierter Interessengruppen (z.B. Verbände, Vereine, Nichtregierungsorganisationen) auf Exekutive und Legislative, beispielsweise in der Form von Anschreiben, Telefonaten, Anhörungen, Vorlagen, Berichten, Studien etc. Gegenleistungen der Interessengruppen an die Politiker können spezifische Informationen, Spenden etc. sein. Lobbyismus kann sich auch in der Androhung von politischem Druck (Streik, Lieferboykott, Abbau von Arbeitsplätzen) äußern.«5
Die Sozialwissenschaftler und Publizisten Andreas Kolbe, Herbert Hönigsberger und Sven Osterberg haben 2011 im Auftrag der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung eine umfangreiche und lesenswerte Studie zum Thema Lobbyismus in Deutschland vorgestellt. Dafür werteten sie zehn Jahre rückwirkend Presseberichte zum Thema aus, analysierten einschlägige Parlamentsdebatten und Regulierungsforderungen und interviewten 40 Lobbyisten, Politiker und Wissenschaftler. Für die drei Forscher ist Lobbyismus »ein apartes, spezifisches Element der Interessenvertretung, eine Spezialdisziplin, das taktische Vorgehen auf einem bestimmten Operationsfeld, eben unmittelbar gegenüber der Politik«.6
Kurzum: Es geht Lobbyisten zunächst einmal darum, politische Entscheidungen im eigenen Interesse oder dem der Auftraggeber zu beeinflussen, zu lenken und nicht selten auch zu manipulieren. Mit Folgen für die Allgemeinheit. Lobbyismus war schon immer ein Kampf, bei dem bisweilen die Interessen vieler denen einiger weniger zum Opfer fielen.
Die Historiker streiten, ob der Begriff Lobbyismus auf den Senat im antiken Rom zurückgeht oder sich erst viel später in Zusammenhang mit dem britischen Unterhaus beziehungsweise dem US-amerikanischen Kongress entwickelt hat. Zimperlich ging es schon in der Vergangenheit in keinem Parlament zu. Damals wie heute wurden Politiker vor allem bezirzt und umschmeichelt. Wurde ihre Nähe gesucht, um sie freundlich gewogen zu stimmen, sie zu vereinnahmen. Schon immer erinnerten Interessenvertreter die Politiker aber auch sehr deutlich und unmissverständlich daran, wer sie unterstützt, finanziert und gewählt hat – wem sie also verpflichtet sind. Und klärten die Volksvertreter mehr oder weniger drastisch darüber auf, was ihnen alles blüht, wenn sie den Wünschen ihrer Helfer und Wähler nicht parlamentarische Folge leisten. Neu ist das Phänomen also nicht.
Von Anfang an verbanden sich damit Grundsatzfragen der bürgerlichen Gesellschaft: Was ist letztlich der Antrieb politischer Entscheidungen? Sind es Partikularinteressen? Oder ist es das Gemeinwohl?
Bereits 1793 hieß es in der Deutschen Encyclopädie: »Das Interesse ist das Band der menschlichen Gesellschaften (…). In allen Staaten, die das Eigentum eingeführt, kann keine andere Triebfeder als das Interesse stattfinden.« Im Gegensatz dazu wurzelte die unerschütterliche, konservative Gewissheit vom Staat hoch über dem Gerangel der Interessen, die der Historiker, Publizist und Reichstagsabgeordnete Heinrich von Treitschke Ende des 19. Jahrhunderts noch einmal in seiner »Politika« auf die Formel brachte: »Ein Gemeinwohl gibt es unzweifelhaft, weil es einen Staat gibt.«7
Seit jeher stehen sich zwei Gesellschaftstheorien unversöhnlich gegenüber: auf der einen Seite politische Denker, die, wie Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), davon ausgehen, dass das Durchsetzen individueller Interessen zu Lasten des Allgemeinwohls geht. Sein Credo war daher eine Volonté générale, ein Gemein- oder Volkswille, der sich nach Rousseaus Überzeugung nur bei Abwesenheit von Teilgesellschaften herausbildet. Demgegenüber versteht man in der amerikanischen Politiktradition unter Allgemeinwohl die Summe aller Partikularinteressen eines Landes. Deshalb gilt im politischen Washington bis heute eine größtmögliche Vielfalt an Interessenvertretung als durchaus erwünscht.
Der Austausch mit Interessenvertretern gehört zum Kerngeschäft von gewählten Parlamentariern. Daran ist auch überhaupt nichts Verwerfliches. Sie sollen, ja, sie müssen wissen, was das Volk denkt, wie Themen diskutiert werden. Abgeordnete brauchen Argumente sowie die fachliche Expertise und inhaltliche Unterstützung von Experten, die sich zwangsläufig nicht automatisch und ausschließlich in Parlamenten selbst finden. Die Themenpaletten von Abgeordneten sind zu breit gefächert, als dass sie immer alles wissen und in jedem Themenfeld tief verwurzelt und auf dem jeweils neuesten Stand sein können. Der Grundgedanke, das Ideal, ist ja auch faszinierend: Jeder, der will und kann, bringt seine Argumente, sein Spezialwissen, seine Fakten und seine Kompetenzen in den politischen Prozess ein. Die Politiker sammeln die Informationen, sichten sie, wägen ab, balancieren die widerstreitenden Interessen aus – und entscheiden am Ende zum Wohle aller. Das wäre gut, und ohne Zweifel funktioniert es oft auch so.
Dass dabei auch partikulare Interessengruppen, egal ob Umweltorganisationen oder Wirtschaftsverbände, ihre Anliegen bei Parlament und Regierung zu Gehör bringen und ihre Wünsche, Argumente und Bedenken formulieren, ist nachvollziehbar und legitim. Es ist in Deutschland sogar ausdrücklich so im politischen Prozess vorgesehen und steht unter dem Schutz unserer Verfassung. Das Grundgesetz erlaubt, ja, fordert geradezu die ungehinderte Interessenvertretung von Bürgerinnen und Bürgern, aber auch von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gruppen im parlamentarischen Prozess. Auch einseitige Interessen dürfen und sollen vorgebracht werden.
Im parlamentarischen Alltagsgeschäft regelt zudem Paragraph 47 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO), dass Fachkreise und Verbände an der Gesetzesvorbereitung zu beteiligen sind. Verbände, Gewerkschaften, Fach- und Berufsvereinigungen oder Nichtregierungsorganisationen werden mit den Interessen ihrer Mitglieder so im politischen Entscheidungsprozess idealerweise zu Repräsentanten gesellschaftlicher Vielfalt. Auch für die Akzeptanz des demokratischen Systems ist die Einbeziehung von Parteien und Interessengruppen unverzichtbar.
Die Frage stellt sich also nicht, ob Interessenvertretung legitim ist, sondern welche Art von Interessenvertretung dem demokratischen Gefüge gut tut und nützt. Und wo die Grenze zu unerlaubter, einseitiger, ja für die Gesellschaft schädlicher Einflussnahme beginnt. Wo gewollte demokratische Partizipation und das sinnvolle Einspeisen von Argumenten und fachlicher Kompetenz in einseitige Beeinflussung, ökonomischen Druck und Manipulation politischer Entscheidungen und gesellschaftlicher Entwicklungen übergehen. Anders formuliert: Wo das Allgemeinwohl unter die Räder gerät und sich Einzelinteressen durchsetzen. Und wo dadurch ein gefährliches Ungleichgewicht in der demokratischen Gesellschaft entsteht.
»Demokratie braucht den Austausch mit Interessengruppen und gerade auch mit Wirtschaftsvertretern«, sagt Edda Müller. »Dass sie sich zu Wort melden, ist nicht nur völlig legitim, sondern auch notwendig.« Müller, Jahrgang 1942, kennt das Thema aus eigener, langer Erfahrung auf vielen Seiten.
Die resolute Politikwissenschaftlerin arbeitete nach dem Abitur kurze Zeit als Journalistin. Nach dem Studium heuerte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei einem Bundestagsabgeordneten an, ehe sie im Bundesinnenministerium und im Kanzleramt, später dann auch im Umweltbundesamt und im damals neuen Bundesumweltministerium administrative Aufgaben in Leitungsfunktionen übernahm. Von 1994 bis 1996 amtierte die parteilose Müller als Umweltministerin in Schleswig-Holstein im Kabinett der SPD-Ministerpräsidentin Heide Simonis. Anschließend war sie Vize-Chefin der europäischen Umweltagentur in Kopenhagen und Vorstand des Verbraucherzentrale-Bundesverbands (vzbv). Seit 2010 ist Edda Müller Deutschland-Chefin der Anti-Korruptionsorganisation Transparency International. Und damit, wenn man so will, Lobbykritikerin und Lobbyistin in einer Person.
Die Unterscheidung, welcher Lobbyismus dem Allgemeinwohl dient und welcher ihm schadet, ist bisweilen nicht so leicht zu treffen, wie es auf den ersten Blick scheint. Auch Nichtregierungsorganisationen wie Transparency International oder LobbyControl, die lobbykritischste Organisation überhaupt hierzulande, Umwelt- und Naturschutzverbände, Gewerkschaften, Wohlfahrts- und andere Sozialorganisationen suchen gleichermaßen Zugänge in Ministerien und Politik, um ihre Anliegen durchzusetzen. Von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften gar nicht erst zu reden. Alle sind auch Lobbyisten. Auch ihnen allen geht es darum, die öffentliche Meinung nach ihrem Gusto zu prägen, gesellschaftliches Klima zu beeinflussen und parlamentarische Mehrheiten für ihre Anliegen zu organisieren. Auch sie sind dabei nicht immer zimperlich in der Wahl der Methoden. Auch sie setzen bisweilen Politiker unter Druck, stellen sie an den öffentlichen Pranger oder versuchen, über Hinterzimmer-Diplomatie subtil und diskret Einfluss zu nehmen.
Und doch darf man zumindest Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Interessen der Umwelt, der Schwachen oder gegen Korruption und die Unterwanderung der Demokratie einsetzen, nicht in einen Topf werfen mit jenen Lobbyisten, die ziemlich rücksichtslos Partikularinteressen zum Nutzen einzelner Auftraggeber durchboxen wollen. Letztere werden nicht nur immer zahlreicher. Sie werden dank zahlungskräftiger Mandanten auch immer einflussreicher. Die Davids in diesem Duell mögen bisweilen mehr Sympathien in der Öffentlichkeit und bei den Medien genießen als die Goliaths. In Wirklichkeit aber sind sie diesen Goliaths oft hoffnungslos unterlegen, zahlenmäßig, von ihren Etats und Ressourcen her und was die direkten Zugänge in die Büros der Entscheider angeht.
Das wachsende Ungleichgewicht im Widerstreit der Interessen hat inzwischen gefährliche Ausmaße angenommen. So sehen es längst auch Insider aus dem Politikbetrieb. »Es gibt keine Chancengleichheit zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, was ihre Einflussnahme auf die Politik betrifft«, beklagt der gelernte Journalist und SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow. »Verbände ohne große Geldgeber, ohne wirtschaftliche Interessen haben schlechtere und weniger Möglichkeiten, den Abgeordneten ihre Auffassungen nahezubringen.« Die Interessen einzelner Bürger, so Bülow weiter, »drohen vollständig unterzugehen, wenn sie nicht gerade im Wahlkreis auf einen gesprächsbereiten Abgeordneten treffen«.8
»Wir brauchen Lobbyismus und er wird deswegen immer massiver, weil wir ein unvorstellbar schlechtes Parlament und eine unvorstellbar schlechte Regierung haben«, erklärte uns ein ranghoher deutscher Manager, der namentlich jedoch nicht genannt werden will. »Wenn denen keiner hilft, dann richten sie nur noch mehr Schaden an.«
Das klingt gerade so, als wäre professionelle Lobbyarbeit eine zuvörderst am Gemeinwohl orientierte Veranstaltung. Das ist sie allerdings weder in Berlin noch in Brüssel oder sonstwo. Sie spielt sich vielmehr in einer Grauzone mit fließenden Übergängen zu Patronage und Korruption ab. Sie unterhöhlt die Demokratie und sie entmachtet langsam aber sicher die Abgeordneten. »In seiner heutigen Ausprägung steht Lobbyismus oft nicht für das Ausleben von Grundrechten, sondern er bringt sie in Gefahr«, warnt Edda Müller von Transparency International. Wie sehr das gute, alte Gleichgewicht der widerstreitenden Interessen aus dem Lot geraten ist, zeigt sich ausgerechnet dort am besten, wo der Lobbyismus heutiger Prägung entstanden ist: in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Dort wird Lobbying wie nie zuvor von finanzstarken Interessen dominiert. Eine Analyse der Sunlight Foundation – einer Nichtregierungsorganisation, die für mehr Transparenz in der Politik eintritt – ergab, dass Vertreter der US-Administration sich im Zuge der Reformen nach der Finanzkrise 2008/0914-mal häufiger mit Vertretern von Banken getroffen haben als mit Vertretern von Verbraucherschutzgruppen.
Amerikas Lobbyisten, die sich in der berühmten K-Street von Washington sammeln, genießen den zweifelhaften Ruf, weltweite Vorreiter und die einflussreichsten überhaupt zu sein. Dabei geht es selbst in den USA noch um eine vergleichsweise junge Profession. Noch vor 50 Jahren hatten nur wenige Konzerne professionelle Einflüsterer und Strippenzieher. Als Ralph Nader in den 60er Jahren als erster moderner Verbraucherschützer gegen Sicherheitsmängel in der Autoindustrie zu Felde zog, hatte General Motors keinen einzigen Lobbyisten in Washington sitzen. Der professionelle Kampf der Wirtschaft um die Meinungshoheit in Politik und Öffentlichkeit begann erst zu Beginn der 70er Jahre, als sich Unternehmen zusammenschlossen, um sich gemeinsam gegen die Kapitalismuskritik zu wehren. Die Mitgliederzahl in der US-Handelskammer stieg von 36000 im Jahr 1967 auf 80000 im Jahr 1974 und verdoppelte sich bis 1980 erneut auf 160000.9
Lange tummelte sich die Lobbyistenszene fast ausschließlich dort, wo sie sich am liebsten aufhält: im Hintergrund. Die breite Öffentlichkeit nahm sie kaum wahr oder interessierte sich nicht für die professionellen Einflüsterer. Nur sehr selten wurde deren Arbeit medial thematisiert oder gar problematisiert. Das änderte sich, je mehr die Wissenschaft den Lobbyismus als Forschungsgegenstand entdeckte – und mit erstaunlichen Ergebnissen aufwartete. Denn längst lässt sich in Zahlen exakt messen, wie sehr sich die Einflüsterung der Wirtschaft für sie auszahlt.
Beispiel USA: Von den 100 größten Unternehmen des Landes zahlten 2010 jene zehn die geringsten Steuern, die auch am meisten für Lobbying ausgaben. Ihre Steuerrate lag Studien zufolge bei 17 Prozent. Die 80 Prozent, die am wenigsten Geld für Lobbying ausgaben, zahlten dagegen 26 Prozent.10 Es scheint, als wäre es für die Stärksten in Gesellschaften mancherorts ein Leichtes geworden, die Politik für die eigenen Interessen einzuspannen. Die Kosten solcher Privilegien zahlen viele Millionen Steuerzahler. Gerade für die Schwächsten ist eine solche Politik der Starken eine schreiende Ungerechtigkeit.
Letztlich aber leidet unter wachsenden Ungleichgewichten die ganze Gesellschaft. Diese beunruhigende Erkenntnis entstammt einem Buch mit dem Titel »Aufstieg und Niedergang von Nationen«. Autor ist Mancur Olson, ein 1998 im Alter von nur 66 Jahren verstorbener amerikanischer Ökonom und zu Lebzeiten ein Dauerkandidat für den Nobelpreis. Olson beschreibt in dem gut 30 Jahre alten Werk eindrucksvoll und mit vielen Beispielen belegt, wie erfolgreiche Gesellschaften erstarren, wenn sie zum Opfer von Interessengruppen werden. Olsons These, stark vereinfacht: Je länger es einer Volkswirtschaft gut geht, desto anfälliger wird sie für den Angriff organisierter Interessen. Denn Partikularinteressen sind nun einmal leichter zu mobilisieren als die der Allgemeinheit. Noch dazu, wenn diese Allgemeinheit zufrieden, vielleicht sogar satt ist.
In der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit, als Deutschland noch geteilt und anstelle von Berlin das rheinische Bonn als provisorische Hauptstadt diente, herrschten diesbezüglich noch überschaubare Verhältnisse. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Bülow spricht von den »alten Zeiten des Bonner Lobbyismus, als vorrangig Kirchen, Bauern, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände Einfluss ausübten«.
Diese seien jedoch unwiderruflich vorbei. »Heute tummeln sich neben diesen ›klassischen Lobbyisten‹ unzählige Verbände, Agenturen, Beraterfirmen, die sich nicht so einfach bestimmten Interessengruppen zuordnen lassen«, schildert Bülow. »Der Lobbydschungel ist dichter und er ist undurchsichtiger geworden.« Das sei ein riesiges Problem für die Volksvertreter. »Was seriös und unabhängig anmutet, ist häufig von Geldgebern initiiert, denen es lediglich um ökonomische Interessen geht. Vorgetäuschte Gemeinwohlinteressen und irreführende Kampagnen gehören mittlerweile zum Alltag der Berliner Lobbyrepublik.«11 Allein in Berlin gibt es einige Hundert Unternehmensrepräsentanzen, Brückenköpfe von Firmen, die von dort aus ihre eigenen Interessen verfolgen.
Mehr als 2200 Verbände und andere Organisationen sind offiziell beim Bundestag registriert. Ihre Vertreter besitzen den sogenannten »Verbändeausweis«, mit dem sie im Parlament nach Belieben ein und aus gehen können. Dazu kommen die Repräsentanten von Konzernen und Denkfabriken sowie immer mehr auf Lobbying spezialisierte Dienstleister. Schätzungen zufolge schwirren in der Hauptstadt täglich etwa 5000 Lobbyisten aus, um die Bundestagsabgeordneten, die Regierungsmitglieder und die Entscheider in den Ministerien zu bearbeiten.
Legt man diese Zahl zugrunde, kommen statistisch auf einen Bundestagsabgeordneten inzwischen acht Lobbyisten. Gewählte Politiker sind umzingelt von Einflüsterern, die nicht nur deswegen immer mächtiger geworden sind, weil sie sich scheinbar unbegrenzt vermehren. Sondern vor allem, weil ihre finanziellen Etats immer größer und ihre Methoden immer raffinierter werden. Sie verfügen über teilweise ansehnliche und hochqualifizierte Mitarbeiterstäbe, sie arbeiten so strategisch und professionell wie nie zuvor.
Schnell offenbart sich beim Blick auf die Szene der professionellen Lobbyisten ein zentrales Problem: Sie werden hierzulande nur unzureichend registriert und kontrolliert. Niemand weiß zuverlässig, ob die genannten Zahlen stimmen, wie viele solcher Söldner wirklich in wessen Auftrag, mit welchen Zielvorgaben, und vor allem: mit welchen Ressourcen unterwegs sind. »Es fehlt ein verbindliches Lobbyregister, in das sich jeder Interessenvertreter eintragen muss«, sagt der Abgeordnete Bülow. So wie in den USA oder in Kanada. Sogar bei der vielgescholtenen EU in Brüssel geht es diesbezüglich transparenter zu. Doch vor allem die Union im Bundestag sträubt sich gegen das Register und auch bei den Sozialdemokraten findet ein solches nicht bei allen uneingeschränkte Zustimmung. Im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung findet sich dazu kein Wort.
Lobbyisten sind auch in eigener Sache erfinderisch. Lobbyismus tue der Demokratie und dem Parlamentarismus gut, wenden Lobbyisten gegen Kritik ein. Nur das Wechselspiel, der Austausch zwischen Politik und Gesellschaft, zwischen Regierenden und Regierten verhindere doch schließlich, dass sich Staat und Bevölkerung voneinander entfernen. Im Übrigen vertrete die Wirtschaft nicht per se nur die Interessen einer kleinen Führungselite, sondern auch die der breiten Masse der Bevölkerung. Schließlich gehe es in letzter Konsequenz immer um Arbeitsplätze und damit den breiten Wohlstand der Gesellschaft. »Im immer härteren Wettbewerb einer globalen Wirtschaft stellt sich nun einmal die Frage, wie Politik und Unternehmen zusammenwirken können, damit die Firmen Aufträge erhalten«, sagt uns ein Berliner Lobbyist. »Das ist doch vernünftig und im Sinne aller.«
Es sind Argumente, die zu den Vernebelungstaktiken aus den Büros von Strategieberatern passen. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Zunächst einmal ist es so, dass auch innerhalb der Wirtschaft ein enormes Gefälle herrscht, was Lobbyismus und seine Wirksamkeit angeht. Die Millionen kleiner Handwerker, Händler und Dienstleister, die mittelständischen Unternehmer mit fünf, 50 oder vielleicht sogar noch mit 500 Beschäftigten haben bei Weitem nicht die lobbyistische Durchschlagskraft wie große, globale Konzerne. Ihre Interessen kommen häufig genauso unter die Räder wie soziale und ökologische Themen.
Es setzt sich im politischen Willensspiel erwiesenermaßen in vielen Fällen durch, wer mehr Macht entwickeln und dementsprechend entfalten kann. Wer seine Positionen nicht nur geschickt, sondern auch an der richtigen Stelle und vor allem wirkmächtig anbringt. So, wie im Profifußball Geld durchaus die Tore schießt, so setzt sich im Ringen der Interessen auf dem politischen Spielfeld eben oft der durch, der mehr Geld in seine Mannschaft investieren kann als die Konkurrenz. Und was bei tollen Fußballmannschaften die unüberwindbaren Defensivspieler, die genialen Spielmacher oder die Torjäger im Sturm sind, das sind auf dem politisch-wirtschaftlichen Spielfeld die wirkmächtigen, raffinierten und durchsetzungsstarken Lobbyisten.
Wer beim finanziellen Wettrüsten um die Meinungsmache nicht mithalten kann, erzielt schon mal einen Glückstreffer. Am Ende aber steht meist die andere Seite oben. Wann etwa hat es die Lobby der Millionen Sozialhilfeempfänger geschafft, für signifikant höhere Sozialleistungen zu streiten? Erst recht erfolgreich? Erinnern Sie sich noch? Am 1. Januar 2015 stieg der Sozialhilfe-Regelsatz von 399 Euro im Monat auf 404 Euro. Nicht, weil es die Politik so wollte. Sondern, weil es das Bundesverfassungsgericht anmahnte. 2012 erklärten die Karlsruher Richter auch die Sätze für Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge in Deutschland für menschenunwürdig. 2014 wurden sie notgedrungen erhöht. Ohne das Urteil wäre nichts passiert. Das zeigt: Wer keine schlagfertige Lobby im Rücken hat, kann auch im reichen Deutschland arm dran sein.
Die gravierenden Veränderungen politischer Rahmenbedingungen in den vergangenen Jahren spielen Lobbyisten in die Karten und haben zu ihrem Machtzuwachs erheblich beigetragen. Die nahezu totale Ökonomisierung der Gesellschaft und des Staates ist eine dieser Veränderungen. Spätestens seit der Finanzkrise 2008 mit all ihren Folgen haben wirtschaftliche Belange einen weitaus größeren Stellenwert im öffentlichen Bewusstsein der meisten Menschen – und das bildet sich natürlich auch im tagespolitischen Geschehen ab. Man mag das begrüßen oder als schlimm empfinden – es ist eine Tatsache.
Hinzu kommt eine andere, fragwürdige Entwicklung. Das Primat der Politik wankt. Es wird unterhöhlt. Es droht schleichend durch ein Primat der Wirtschaft ersetzt zu werden. Nicht selten werden tief in die gesellschaftliche Architektur eingreifende Fragen vor allem oder sogar ausschließlich unter ökonomischen Aspekten diskutiert und im Ergebnis danach ausgerichtet. Schulen werden zum Beispiel immer weniger als Institutionen gesehen, die Allgemeinwissen vermitteln, zukünftige Persönlichkeiten und mündige Staatsbürger prägen sollen, sondern als reine Vorbereitungsinstanzen für das Berufsleben, als Dienstleister für die Wirtschaft also.
Abgeordnete trauen sich ihrerseits immer seltener, alleine ihrem Gewissen zu folgen, wie es ihnen das Grundgesetz eigentlich aufträgt. Und das hat nicht immer nur damit zu tun, dass sie um ihre eigene (partei)politische Karriere fürchten, wenn sie sich dem Mainstream in den eigenen Reihen entgegenstellen. Vielmehr bauen sich große systemische Hürden und strukturelle Widerstände auf, die von Lobbyisten verursacht werden.
Die Realität diesbezüglich ist bitter. Wer grundlegende Reformen plant, sei es in der Finanz-, Energie-, Landwirtschafts- oder Gesundheitspolitik, wird es beinahe zwangsläufig mit einem Heer von Lobbyisten der Besitzstandswahrer zu tun bekommen. Die Heckenschützen feuern aus unterschiedlichsten Richtungen, aber immer auf dasselbe Ziel. Und wenn nötig, wiegeln sie das Patientenvolk mit Wartezimmer-Kampagnen, Stromverbraucher mit Nachrichten über Preisexplosionen oder Sparer mit der Sorge um die Sicherheit ihrer Anlagen auf. Welcher Politiker mag sich das antun und solche Reformen anstoßen? Nein, in der Politik ist am Ende eben nicht alles eine Frage von Sachverstand und besseren Argumenten.
Christina Hohmann-Dennhardt weiß sehr genau, wo die Gefahren einer Schieflage im demokratischen Entscheidungsprozess liegen, denn sie kennt ihn aus dem Effeff. Hohmann-Dennhardt war viele Jahre Politikerin. Von 1991 bis 1999 saß sie für die SPD in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden auf der Regierungsbank. Zuerst als Ministerin für Justiz, später für Wissenschaft und Kunst. Dann wechselte sie in jene Institution, die als Hüterin des Grundgesetzes gilt: zum Verfassungsgericht. Von 1999 bis 2011 gehörte Hohmann-Dennhardt als Richterin dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts an. Am 1. Januar 2016 (und damit erst nach dem VW-Abgasskandal) wurde sie Mitglied im Vorstand der Volkswagen AG, zuständig für Integrität und Recht.
In einem Aufsatz formulierte sie einmal, was sie für das Land fürchtet.12 Es bestehe die Gefahr, dass Interessen nicht nach ihrem Gehalt, sondern der Schlagkraft der Instrumente zu ihrer Durchsetzung gewichtet werden und sich danach politische Prioritäten ausrichten. »Damit aber fallen viele Interessen ganz einfach durch den politischen Rost. Von einer ausgewogenen Interessenberücksichtigung, gar einem Interessenausgleich kann dann nicht mehr die Rede sein«, warnt Hohmann-Dennhardt.
Von einfachen, pauschalen Vorwürfen sind die meisten Lobbyismuskritiker weit entfernt. Viele sehen auch das Vorgehen gegen ausufernde Interessenvertretung als Gratwanderung. Die Ex-Politikerin und Ex-Verfassungsrichterin Hohmann-Dennhardt stellt etwa klar: »Um hier nicht missverstanden zu werden: Es ist gewiss richtig und wichtig, dass die Politik auch die wirtschaftlichen Interessen von Unternehmen und Privatkapital berücksichtigt, denn es ist von allgemeinem Interesse, dass die Wirtschaft floriert. Doch wenn nicht mehr die eigene Überzeugung von der Richtigkeit eines einzuschlagenden gesetzgeberischen Weges maßgeblich für das Entscheidungsverhalten ist, sondern die Politik sich gezwungen fühlt, dem ausgeübten Druck dominanter Interessen unter Zurückstellung der anderen nachzugeben, dann gerät sie an deren Gängelband und folgt nicht mehr ihrem demokratischen Auftrag, ihr Handeln am gemeinen Wohl unter Einbeziehung aller Interessen auszurichten.«
Dem zu widerstehen ist die Aufgabe von Regierenden wie Abgeordneten, denen die Verfassung genau dafür das freie Mandat an die Hand gegeben hat. Doch tun sie das noch? Und können sie das überhaupt noch tun?
Ein bekanntes Beispiel, das vieles in Frage stellt: Die Agenda 2010 wäre womöglich von vornherein gescheitert, hätte Ex-Kanzler Gerhard Schröder nicht Lobbyisten mit an den Tisch geholt. Die Hartz-Reformen waren kein Hexenwerk der Politik. Die umstrittenen Arbeitsmarktreformen, die auch die Senkung von Sozialstandards zum Ziel hatten, wurden in Gremien und Kommissionen entwickelt, bei denen keineswegs nur gewählte Politiker mit Hilfe objektiver und neutraler Fachleute berieten und entschieden, sondern bestimmte Interessengruppen mit ganz eigenen ökonomischen Interessen involviert waren. Ganz abgesehen von denen, die im Hintergrund als Einflüsterer in des Kanzlers Ohr mitredeten. Vorneweg: Peter Hartz, damals Personalvorstand des Volkswagen-Konzerns – und sogar Namensgeber des Gesetzes.
Der Rückblick offenbart zweierlei, was den volkswirtschaftlichen Erfolg der Schröder’schen Agenda-Reformen unter demokratischen Gesichtspunkten trübt und in Bezug auf die Genese von Gesetzen hellhörig werden lässt. Erstens: Die Politik hat sich beim wichtigsten sozialpolitischen Reformvorhaben der vergangenen Jahrzehnte von Anfang an zu einem gerüttelt Maß an Lobbyisten ausgeliefert. Zweitens: Die Politik ist inzwischen derart im Würgegriff von Lobbyisten, dass sie aus eigener Kraft nicht mehr entscheiden kann oder will. Zumindest dann nicht, wenn Politiker vor der Alternative stehen, Lobbyisten von vornherein nachzugeben oder aber von deren Trommelfeuer vor der nächsten Wahl abgeschossen zu werden. Dass Schröder Lobbyisten mit an den Tisch bat, hat ihm zweifellos auch viel Gegenwind aus deren Reihen erspart. Es mag unter pragmatischen Gesichtspunkten richtig gewesen sein. Unter demokratischen Gesichtspunkten war es der Schritt über den Rubikon.
Die Agenda 2010 war eine politische Antwort der Bundesregierung auf die neuen Anforderungen der Globalisierung mit ihren internationalisierten Waren- und Kapitalströmen, dem grenzübergreifenden Standortwettbewerb und den Konsequenzen aus alldem für Arbeitsmarkt und Wohlstand.
Generell erwies sich in den vergangenen Jahren gerade diese Globalisierung als gewaltiger Durchlauferhitzer für Lobbyismus. Durch sie hat der Wettbewerb, der Konkurrenzkampf also, erheblich zugenommen. Das gilt für Unternehmen untereinander ebenso wie für den Einzelnen. Jeder von uns kann sich heute seinen Arbeitsplatz fast mühelos im Ausland suchen, muss umgekehrt aber auch damit zurechtkommen, dass sein Konkurrent um eine freie Stelle womöglich aus einem anderen Land oder Kontinent kommt. Die Frage also, unter welchen Bedingungen Menschen arbeiten und leben, ist längst schon keine nationale mehr.
Eine Folge dessen ist, dass politische Entscheidungsprozesse immer komplexer und damit auch komplizierter werden. Nach welchen Gesetzen und Richtlinien, etwa im Umweltbereich, gewirtschaftet wird, ist nicht mehr national oder gar in immer bedeutungsloseren Regionalparlamenten wie den 16 deutschen Landtagen zu lösen. Die Warenströme, die Finanzmärkte, immer stärker auch der Arbeitsmarkt für Fach- und Führungskräfte, funktionieren global. Also braucht es auch vermehrt internationale Spielregeln für ökonomisches Handeln.
Große Bedeutung kommt dabei aus deutscher Sicht naturgemäß der EU zu, die sich – wie das Griechenland- und das Flüchtlingsthema zeigen – sehr schwer damit tut, die Interessen all ihrer 28 Mitgliedsstaaten zu bündeln.
All dies bildet einen idealen Nährboden für Lobbyismus. Je zahlreicher, je unübersichtlicher, komplizierter und verzweigter die Wege werden, die administrative und politische Entscheidungen nehmen, desto lauter wird der Ruf nach Pfadfindern. Nach denen, die zumindest geschickt vorgeben, sich auf diesen verschlungenen Wegen besonders gut auszukennen und den Kurs im Sinne ihrer Auftraggeber mitbestimmen zu können.
»Der Stellenwert, den der Profitlobbyismus in der Berliner Republik mittlerweile angenommen hat, ist kaum zu unterschätzen. Finanzstarke und mächtige Lobbyisten beeinflussen die Politik nicht mehr nur, sondern bestimmen sie maßgeblich mit«, kritisiert der SPD-Abgeordnete Marco Bülow. »Insgesamt nähern wir uns mit riesigen Schritten der vom britischen Politikwissenschaftler Colin Crouch prognostizierten Postdemokratie, bei der die Demokratie formal zwar bestehen bleibt, aber der Einfluss der legitimierten Volksvertreter immer mehr auf die wirtschaftlichen Machteliten übertragen wird. Der Verbindungsarm dieser Eliten zur Politik wird dabei von den Lobbyisten gebildet.«13
Inzwischen sei der Einfluss der Lobbyisten »beachtlich« und »in zunehmendem Umfang glänzend organisiert«, klagt selbst Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU). Auch Demokratieforscher haben das als Problem für das sorgsam austarierte Gefüge einer ganzen Gesellschaft ausgemacht: Wer sich mit viel Einfluss und Geld Gehör verschaffen kann, kommt schlicht leichter durch. »Gemessen am Werbeetat eines Weltkonzerns«, schreibt der Soziologe Dietmar Jazbinsek, »ist jeder Akteur der Zivilgesellschaft ein Schwächling«.14
Was in den Hinterzimmern der Macht weitgehend unkontrolliert wuchert, ist selbst zu einer äußerst professionellen und lukrativen Branche geworden. Das Betriebskapital der Lobbyisten sind ihre Netzwerke aus persönlichen Kontakten, die im Idealfall in die Zentralen der Politik führen, in die Spitze von Ministerien, Parteien oder Fraktionen. Genauso aber in die Abgeordnetenbüros, in die Amtsstuben von Ministerien und andere Behörden. Dorthin also, wo Gesetze vorbereitet, entwickelt und vorformuliert werden, lange bevor die Öffentlichkeit von ihnen Notiz nimmt oder ein Parlament sie diskutiert.
Für Lobbyisten geht es darum, die eigenen Auftraggeber möglichst früh mit Informationen zu versorgen, die Lage zu analysieren – und die nächsten Schritte der Einflussnahme strategisch und konkret zu planen. Wissensvorsprung ist alles. Ein Paradebeispiel dafür waren die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD nach der Bundestagswahl 2013.
Während die Unterhändler der Parteien miteinander um die politischen Inhalte und Ziele der neuen Regierung rangen, kamen die Lobbyisten kaum noch zum Schlafen. Ihre Kunst bestand darin, in möglichst frühen Stadien herauszufinden, was wie im Koalitionsvertrag festgeschrieben werden soll. Und dort, wo etwas wider die eigenen Interessen oder die der Auftraggeber zu laufen drohte, möglichst schnell Gegenpositionen zu formulieren, wohlgesinnte Politiker aus dem eigenen Netzwerk entsprechend zu penetrieren, ihnen zu drohen, sie zu locken, zu überzeugen oder zu manipulieren. Auf dass sich die Große Koalition nichts in ihr Programm schreibt, was sich negativ aufs Geschäft auswirken könnte.
In solchen Zeiten offenbart sich, ob ein Lobbyist in den Jahren zuvor gut gearbeitet hat. Ob sein Netzwerk gut genug ist, um auf Koalitionsverhandlungen Einfluss zu nehmen. Ob es gelingt, die eigenen Positionen denen unterzuschieben, die am Ende der Verhandlungen tatsächlich über die einzelnen Punkte des Koalitionsvertrages entscheiden.