Lobpreis und Lehrgespräche nach den Aufzeichnungen seiner Schüler - Rabbi Nachman von Breslav - E-Book

Lobpreis und Lehrgespräche nach den Aufzeichnungen seiner Schüler E-Book

Rabbi Nachman von Breslav

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Beschreibung

Rabbi Nachman von Breslav ist eine der großen Gestalten der chassidischen Geschichte, deren Überlieferung in Legenden, Erzählungen und Merksätzen lebendig ist. Jahr für Jahr pilgern Tausende seiner Anhänger zu seinem Grab in der Ukraine, um sich ihres Glaubens und ihrer Zusammengehörigkeit zu vergewissern. Volksfrömmigkeit verbindet sich mit der Auslegung heiliger Schriften. In kurzen, prägnanten, verständlichen Sätzen werden Einsichten, Hoffnungen laut und widersetzen sich Ängsten und Zweifeln. So hat Rabbi Nachman ein ganzes Lehrgebäude geschaffen: Gemäß dem »En Sof« (kein Ende) ist die Göttlichkeit überall enthalten, auch im Bösen. Durch das zweite Prinzip des »Zimzum« (Rückzug) ist der Schöpfer der Welt einerseits in ihr verborgen und doch überall wirksam. Die Lehre von Nachman von Beslav ist ungeheuer wirksam in der Geschichte der jüdischen Mystik, wie Martin Buber und Gershom Scholem sie uns überliefert haben.

Der Herausgeber Hans-Jürgen Becker, der Judaistik in Göttingen lehrt, erschließt die überlieferten Sätze von Rabbi Nachman durch eine neue Übersetzung und seinen Kommentar.

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Seitenzahl: 697

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Titel

Rabbi Nachman von Breslav

Lobpreis und Lehrgespräche nach den Aufzeichnungen seiner Schüler

Aus dem Hebräischen übersetzt und herausgegeben von Hans-Jürgen Becker

Widmung

Meiner geliebten Frau gewidmet

לעילוינשמת

Jutta Edith Martha Becker, geb. Littmann

7. ‌5. ‌1957 – 30. ‌3. ‌2020

Das Andenken der Gerechten sei zum Segen.

.ת. נ. צ. ב. ה

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Einleitung

Nachman von Breslav

Rabbi Nachman und die Haskala

Der kabbalistische Hintergrund

Dieses Buch

Lesehilfen

Zum Weiterlesen

Buch

I

.

שבחי

הר

"

ן

Schivche ha-Ra“n

Lobpreis Rabbi Nachmans

Vorwort Natans von Nemirov

Teil 1 Kindheit und Jugend

Teil 2

סדר

הנסיעה

Seder ha-Nessi'a

Verlauf seiner Reise in das Land Israel

Buch

II

.

שיחות

הר

"

ן

Sichot ha-Ra“n

Lehrgespräche Rabbi Nachmans

Teil 1

Teil 2

Glossar

Anmerkungen

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Einleitung

Jährlich zu Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest, begibt sich eine immer größer werdende Zahl von Pilgern zur Grabstelle Rabbi Nachmans von Breslav in Uman. Zuletzt waren es über 30 ‌000, die sich, alle Hindernisse überwindend, auf den Weg in die zentralukrainische Kleinstadt machten. Es ist die größte Wallfahrt in der chassidischen Welt und sicherlich die bunteste. Die Pilger kommen überwiegend aus den neuen Zentren jüdischen Lebens in Israel und den USA. Viele von ihnen hatten Vorfahren in Osteuropa. In der Landschaft, in der über Jahrhunderte jüdische »Menschen und Bücher lebten« (Paul Celan), erneuern sie den Geist der chassidischen Anfänge in ekstatischem Singen und Tanzen und in den gemeinschaftlichen Gebeten und Riten des Festes. Es sind nicht nur ausgesprochene Anhänger des Breslaver Rebben. Doch gerade in ihrer Vielfalt spiegelt die Wallfahrt das, was Breslaver Chassidismus heute ist: eine der lebendigsten und am stärksten wachsenden Glaubensrichtungen im Judentum. Aufgrund ihrer Herkunft und Geschichte ist sie im sogenannten ultraorthodoxen Spektrum angesiedelt, unterscheidet sich aber von anderen chassidischen »Höfen« dadurch, dass sie die übliche Dynastiebildung und hierarchische Organisation ablehnt. Denn für Rabbi Nachman wurde nie ein Nachfolger bestellt – er blieb auch nach seinem Tod immer selbst der »Rebbe« seiner Chassiden. Zugehörigkeit zum Breslaver Chassidismus drückt sich daher auch nicht durch die Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation aus. Vielmehr gibt es heute eine ganze Reihe, zum Teil sehr unkonventionelle, auch »esoterische« Gruppen, die sich auf Rabbi Nachman berufen. Sie ziehen zum Teil auch säkulare Juden an, die den Kontakt zum eigenen Glauben wiederfinden oder intensivieren möchten. So kann man sich den Breslavern auf verschiedenen Wegen stärker oder loser verbinden. In Uman treffen die verschiedenen Gruppen aufeinander. Der alte jüdische Friedhof der Stadt war unter deutscher Besatzung zerstört und in den 1950er-Jahren mit einer sowjetischen Wohnsiedlung überbaut worden; 1996 kauften Breslaver Chassiden die unter dem Fenster eines Hauses liegende Grabstelle, bauten sie aus und bemühten sich um eine Infrastruktur für die Pilger, die aber seither immer wieder an ihre Grenzen stößt. Nachman hatte verheißen, dass er an dem Ort, an dem er zuletzt wirkte und begraben wurde, auch nach seinem Tod präsent und ansprechbar sein werde. Er werde jeden, der an sein Grab komme, »hören und ihm helfen und beistehen auf alle nur mögliche Weise«.1

Nachman von Breslav

Rabbi Nachman lebte und wirkte in der heute zur Ukraine gehörenden historischen Landschaft Podolien, von der die chassidische Bewegung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihren Ausgang nahm. Als Urenkel des Ba'al Schem Tov (kurz »Bescht« genannt) wurde er am 4. April 1772 in dessen Haus in Medschibusch2 geboren und verbrachte dort auch seine Kindheit. Seine Mutter Fejge war ein Kind der Bescht-Tochter Adil, die nach Überzeugung der Zeitgenossen seherische Gaben besaß. Nachmans Vater Simcha war ein Sohn des zum engeren Kreis um den Ba'al Schem Tov gehörenden Rabbi Nachman von Horodenka, der ab 1764 die erste chassidische Gemeinde von Tiberias leitete und dort auch begraben wurde.

1785 wurde Nachman mit Saschja verheiratet, der Tochter eines Steuerpächters aus Osjatin, einem Dorf am Fluss Dnjepr. Wie damals üblich, zog der Schwiegersohn für einige Jahre ins Haus der Brauteltern, wo er, unbehelligt von Sorgen um den Lebensunterhalt, Tora studieren konnte. In Osjatin lernte Nachman seinen Freund Schim'on Ber kennen, der ihn wohl später auf seine Reise in das Heilige Land begleitet hat. Achtzehnjährig ließ sich Nachman 1790 mit seiner Frau in dem unweit gelegenen Ort Medwediwke (ukrainisch Medvedevka) nieder, um dort, den auf ihn gerichteten Erwartungen entsprechend, Schüler um sich zu scharen.

In dieser Zeit hatte sich der Chassidismus bereits über Wolhynien nordwärts nach Weißrussland und Litauen, westwärts nach Galizien und Zentralpolen ausgebreitet. Weithin bekannte geistliche Autoritäten, Zaddikim genannt, prägten eine wachsende Zahl chassidischer Zentren und etablierten dort zum Teil regelrechte lokale Dynastien. Den Gegnern (hebräisch mitnagdim) aus dem traditionellen Lager war es letztlich nicht gelungen, dies zu verhindern, auch wenn sie erbitterten Widerstand gegen das leisteten, was sie für eine Spielart oder Fortsetzung der kabbalistischen, das jüdische Religionsgesetz zum Teil aufhebenden Bewegung hielten, die um die Mitte des 17. Jahrhunderts von dem falschen Messias Schabtai Zwi ausgegangen war und sich später in Polen zum Frankismus weiterentwickelte. Sabbatianische Ideen waren noch während des gesamten 18. Jahrhunderts im Verborgenen virulent, so dass die Haltung der Chassidim zur Verbindlichkeit der Gebote und zur messianischen Erwartung auf der Tagesordnung blieb. Daraus erklärt sich, dass Nachmans »Lehrgespräche« wiederholt das tägliche Studium des maßgeblichen Rechtskodex, des Schulchan Aruch, geradezu anordnen,3 und auf diesem Hintergrund ist auch seine Reise nach Kaminiz-Podolsk im Winter 1797/98 zu verstehen, durch die er den Schaden heilen wollte, der dort vierzig Jahre zuvor durch die Schuld der Frankisten entstanden war.4

Seine wenig später unternommene Fahrt in das Heilige Land (Mai 1798 bis Juli 1799) betrachtete Nachman selbst als einen Durchbruch: Was er vorher gelehrt habe, sei unwesentlich gegenüber den Errungenschaften dieser Reise.5 Der Bericht darüber betont die Überwindung zahlreicher Hindernisse und versteht sie als geheimnisvolle Wegbereitung der bevorstehenden messianischen Erlösung. Nachman fuhr mit seinem Reisegefährten, der im Bericht selbst nie namentlich genannt wird, über Nikolajew, Odessa und das Schwarze Meer nach Istanbul. Dort, wo früher der Ba'al Schem Tov seinen Versuch, ins Land Israel zu gelangen, abbrechen musste, steckten auch sie mehr als drei Monate fest. Wegen der napoleonischen Kriegsgefahr liefen nur wenige Schiffe aus, doch am Ende fanden sie eines und erreichten zu Rosch ha-Schana 1798 Haifa. Während ihres etwa sechsmonatigen Aufenthalts blieben sie in Galiläa, besuchten dort die chassidischen Gemeinden und die Gräber der antiken und zeitgenössischen Gelehrten.6 Im März 1799 verließen sie das Heilige Land wieder. Sie legten von Akko mit einem türkischen Kriegsschiff ab, auf das sie wegen der Verwirrung geraten waren, die in der Stadt aufgrund der unmittelbar bevorstehenden französischen Belagerung herrschte. Das brachte sie nach Rhodos, wo die Juden der Insel sie von der Schiffsbesatzung freikaufen mussten. Schließlich kehrten sie im Juli nach Medwediwke zurück.

Dort hielt es Nachman allerdings nicht mehr sehr lange. Im Herbst 1800 zog er in das nahe gelegene Slatipoli, das damals im Einflussbereich des ihm zunächst befreundeten Schpoler Rebben lag. Mit diesem betagten »Wunderrabbi« entstand aber bald ein heftiger Konflikt, der Nachman zwang, seinen Wohnort in neutraleres Gebiet zu verlegen. 1802 ließ er sich im ca. 250 km westlich gelegenen Breslav (ukrainisch Brazlav) nieder. Alle genannten Orte liegen in Podolien, dem äußersten Südosten der chassidischen Welt. Breslav wurde zum Anziehungspunkt einer wachsenden Nachfolgerschaft, die zu Chanukka und zum Wochenfest, am zahlreichsten aber zu Rosch ha-Schana dorthin zog, um die Lehrvorträge des von ihnen als »Zaddik der Generation« betrachteten Rabbi Nachman zu hören. Natan Sternharz von Nemirov (1780-1845), der bald zu einem engen Vertrauten Nachmans, zum Herausgeber und Fortsetzer seines Werks werden sollte, schloss sich ihm gleich zu Beginn der Breslaver Zeit an.

Alles deutet darauf hin, dass Rabbi Nachman für das Jahr 1806 den Beginn der messianischen Erlösung erwartete. Er selbst und sein im Frühjahr 1805 geborener Sohn Schlomo Ephraim würden, so glaubte er, eine wichtige Rolle in diesem Geschehen spielen. Der Sohn starb jedoch Ende Mai 1806. Einige Monate später brach Nachman zu einer ziellosen Bußfahrt auf. In der Nähe von Saslaw, wo die Familie seiner Frau inzwischen wohnte, erfuhr er, der Gesundheitszustand Saschjas, die an Tuberkulose erkrankt war, habe sich verschlechtert. Sie reiste zu ihm nach Saslaw, starb aber kurz nach ihrer Ankunft im Juni 1807. Nachman, der ebenfalls erste Symptome der Krankheit zeigte, fuhr zu den hohen Feiertagen nach Breslav und begab sich danach, Ende Oktober 1807, nach Lemberg. Über seinen achtmonatigen Aufenthalt dort wird berichtet, dass er Ärzte konsultierte, die ihm aber keine Heilung bringen konnten. Über Brody kehrte er im Juli 1808 nach Breslav zurück.

In der letzten, sehr produktiven Breslaver Zeit (1808-1810) trug Rabbi Nachman einige seiner komplexesten Lehrvorträge und die umfangreichsten seiner Erzählungen vor. Fünf Monate vor seinem Tod, im Mai 1810, verließ er Breslav, um sein Leben in Uman zu beschließen. Er wollte, so berichtet Natan, die Seelen der Toten erheben, die dort auf Erlösung warteten. Im Jahre 1768 hatte in Uman ein militärischer Verbund von Kosaken und ruthenischen Bauern, genannt Hajdamaken, innerhalb von drei Tagen 20 ‌000 Juden massakriert. Nachmans letzte Wohnung blickte auf den riesigen jüdischen Friedhof, auf dem die meisten Opfer lagen. Er starb am 15. Oktober 1810 und wurde selbst auf diesem Friedhof begraben, von dem heute seine Grabstelle als einzige noch bekannt ist.

Rabbi Nachman und die Haskala

Auch wenn Rabbi Nachmans Leben und Denken zunächst im Zusammenhang der Geschichte des Chassidismus zu verstehen ist, konnten ihm doch die politischen und geistigen Umbrüche, die sich in seiner Lebenszeit ereigneten, nicht verborgen bleiben. 1789 beseitigte die Französische Revolution das ancien regime im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, in den 1790er-Jahren rückten französische Truppen unter Napoleon in Europa vor. Die wechselnden Allianzen, mit denen Österreich, Preußen, Russland und England diesen Vormarsch beenden wollten, betrafen das Leben der polnisch-litauischen Juden ganz unmittelbar. Die Teilungen Polens in den Jahren 1772 und 1793 schränkte sie in ihrer Reise- und Handelsfreiheit ein, die Auflösung Polens 1795 machte den größten Teil von ihnen zu Untertanen des Russischen Reichs. Dort wurden sie, wie schon zuvor die Juden im Habsburger Reich, zu Objekten aufklärerischer Assimilierungsbemühungen, die von ihnen die Aufgabe ihrer als rückständig angesehenen Lebensweise und Kultur forderten und nach und nach in dekretierte Berufsverbote und Aufhebung ihrer Autonomierechte mündeten. Die Aufklärung betraf die Juden aber nicht nur als eine Forderung von außen, sondern spätestens seit Moses Mendelssohn (1729-1786) auch als eine Frage nach dem eigenen Selbstverständnis.

In die osteuropäischen Gemeinden war die jüdische Aufklärung (hebräisch haskala) seit etwa 1780 durch wohlhabende reisende Händler, Ärzte und Gelehrte von Deutschland her gebracht worden. Um 1800 existierten bereits bedeutende Zentren in Schklov und St. Petersburg sowie kleinere, aber zumeist sehr aktive Zirkel jüdischer Aufklärer an anderen Orten wie Brody, Lemberg und Uman. In Uman wurde schon 1822 – noch vor Odessa und Kischinev – eine Schule »nach den Prinzipien Moses Mendelssohns« gegründet. Einer ihrer Gründer war Hirsch Ber Hurvitz, der Sohn eines Pioniers der Haskala in Russland, Chaim (genannt Chaikl) Hurvitz aus Uman, der durch seine ausgedehnten Reisen nach Deutschland in engem persönlichem Kontakt mit den dortigen Vertretern der jüdischen Aufklärung gestanden hatte. Mit diesen Spitzen der Umaner Haskala war Rabbi Nachman schon im Jahre 1802 bekannt geworden. Auf dem Weg von Slatipoli nach Breslav hatte er bei seinem Umzug 1802 den Sabbat in Uman verbracht und sie zu einem Lehrvortrag und Gespräch empfangen. Einer späteren Breslaver Quelle zufolge, die über diese Begegnung berichtet, zeigten sich die drei Gäste, Chaim Hurvitz, Hirsch Ber Hurvitz und ein Arzt namens Landau, beeindruckt von Nachmans mathematischen Fähigkeiten. Umgekehrt scheint Nachman ihnen keineswegs feindselig gegenübergetreten zu sein, ja, er erbat sich von ihnen sogar ein Exemplar des 1775 in Berlin erschienenen Kommentars zu den Sprüchen der Väter, verfasst von Naphtali Herz Wessely, einem bedeutenden Aufklärer und Freund Mendelssohns. Mit Hirsch Ber Hurvitz, der schon damals ein exponierter Vertreter der Aufklärung war und später Professor für Orientalistik in Cambridge werden sollte, trat Nachman nach seiner Ankunft in Uman im Mai 1810 in freundschaftliche Beziehungen, und ausgerechnet im Haus eines anderen bekannten Umaner Aufklärers, Nachman Natan Rapoport, nahm er seine erste Wohnung in der Stadt. Die Jüngergemeinde, der dies als eine ungebührliche Annäherung an die erklärten Feinde der chassidischen Tradition erschien, reagierte darauf mit Unverständnis, teilweise auch mit offenem Widerspruch; viele wandten sich in diesen letzten Monaten seines Lebens von ihm ab.

Einen entscheidenden Impuls hatte Nachmans innere Beschäftigung mit der Haskala durch seinen achtmonatigen Aufenthalt in Lemberg in den Jahren 1807/1808 erhalten. Dass er dort den Rat von Ärzten suchte, war mehr als ungewöhnlich für einen Zaddik, denn die jüdischen Ärzte im habsburgischen Lemberg waren keine Wunderheiler, sondern von den Ideen der Aufklärung geprägte Männer, die mit ihrem Beruf zum Teil auch die Vermittlung aufklärerischer Ideen verbanden. Natan war dieser Schritt seines Meisters unerklärlich und wohl auch ein Ärgernis. Nachmans spätere Äußerungen über die Lemberger »Doktoren« stellt er als durchweg negativ dar: Sie seien oft unschlüssig, geteilter Meinung, nicht in der Lage, die Dinge gründlich zu erforschen, und ihre Arzneien seien gefährlich.7 Dass Nachman sich kritisch äußerte, liegt zwar auf der Hand. Wahrscheinlich hat aber Natan diese Urteile mit Rücksicht auf die spätere Unterweisung der Breslaver Gemeinschaft besonders stark betont, anderes dagegen weniger.8 Das gilt auch für Natans Darstellung der Umaner Zeit. Nach dem Tod Nachmans war ihm besonders daran gelegen, jede Verunsicherung der Anhängerschaft im Hinblick auf die Aufklärer zu vermeiden, denen sich der Meister mit so verwirrender Entschiedenheit zugewandt hatte. Spätere Quellen berichten, er habe sogar mit ihnen Schach gespielt und sich aus Schillers Kabale und Liebe vorlesen lassen. Nachman hatte die geistige Auseinandersetzung mit der Haskala gesucht. Er betrachtete es als die dem Zaddik zugedachte Aufgabe, nicht nur die Seelen der Umaner Toten, sondern auch die der verirrten und gefährdeten Lebenden auf eine höhere Stufe zu heben. Seinen Jüngern traute er dies nicht zu, und noch viel weniger glaubte Natan, dass sie den Argumenten der Aufklärer würden standhalten können. Daraus erklären sich die vielen Warnungen vor den »Doktoren«, »Forschern« oder »Philosophen« in den »Lehrgesprächen«: Man solle sich von ihnen fernhalten und in ihre Bücher gar nicht erst hineinschauen.9 Unter diesem negativen Vorzeichen lassen Nachmans Ausführungen dann doch manches von dem erkennen, was er selbst solchen Büchern entnehmen konnte.10

Der kabbalistische Hintergrund

Die Lehren Rabbi Nachmans setzen, wie die gesamte chassidische Lehrüberlieferung, nicht nur die Kenntnis der rabbinischen Literatur voraus, sondern ebenso die der soharischen Bücher und der Schriften aus dem Kreis um Jizchak Luria in Zefat.11 Luria hatte in das abstrakte, theosophische System der klassischen spanischen Kabbala mythische Elemente eingeführt: die Lehren von der Selbstbeschränkung Gottes zur Ermöglichung der Schöpfung (hebräisch zimzum) und vom »Bruch der Gefäße« (schevirat ha-kelim), der uranfänglich die Vollendung der Schöpfung in der rechten Ordnung verhinderte und zur Vermischung von Gut und Böse, zur Gefangenschaft eines Teils des göttlichen Lichts in den »Schalen« (kelippot) der Finsternis führte. Die kabbalistische Lehre erhielt dadurch eine geschichtliche Dimension, die der messianischen Erwartung wieder mehr Raum gab. Das Werk des Messias würde darin bestehen, die unvollkommene Welt zurechtzurücken, ihre »Wiederherstellung« (tikkun) zum Abschluss zu bringen und sie in den ursprünglich gewollten Zustand zu überführen. Diesem entscheidenden Geschehen geht ein Prozess der Reinigung und Erhebung voraus, für den ganz Israel verantwortlich ist. Die Konstellation, die das messianische Wirken erst ermöglicht, wird durch Gebet, Studium der Tora und Halten der Gebote mit Konzentration und mystischer Ausrichtung (kawana) herbeigeführt.

Ein Verständnis der Lehren Rabbi Nachmans ohne diesen kabbalistischen Hintergrund scheint an vielen Stellen kaum möglich. Andererseits war er der Auffassung, dass im Dienst Gottes keinerlei Weisheit, auch keine kabbalistische, nötig sei. Für den einfachen Gläubigen ist nicht die Gelehrtheit, sondern die Einfachheit des Glaubens entscheidend. Das Aufblitzen der Größe Gottes lässt sich durch Weisheit weder erreichen noch vermitteln. Die besondere Aufgabe des Zaddik verlangt von ihm, dass er die Zusammenhänge tiefer erfasst, denn er muss in die »Tiefe der Schalen« hinabsteigen, um die dort befindlichen Lichtfunken zu heben und den Schaden zu heilen. Der einfache Jünger wird genug damit zu tun haben, das in ihm selbst verborgene Licht an seinen göttlichen Ursprung zu binden (devekut). Er wird das In-sich-Gehen (hitbodedut) üben und den Wegen zum Dienst Gottes folgen, die ihm sein Meister weist. Der trägt umso größere Verantwortung für jede einzelne Seele.

Natan schreibt in seinem Vorwort, sogar der »Geringste in Israel« könne auf diesen Wegen Gott nahekommen, »jede Seele, klein oder groß, gleichermaßen«; jeder könne »hohe und heilige Stufen erreichen wie nur irgendeiner der Himmelssöhne«. Seinen letzten öffentlichen Lehrvortrag im August 1810 in Uman begann Nachman in dem Bewusstsein, selbst dieser Geringste zu sein, ein »Prostik«, ein Mensch ohne jede Erkenntnis: »Warum reist ihr zu mir, da ich doch jetzt gar nichts weiß? … Lange verweilte er bei dieser Rede; doppelt und dreifach wiederholte er mehrmals, er wisse gar nichts, er sei nur ein völlig einfacher Mann.«12 Natan beschreibt dann, wie sich der Meister während seiner Rede vor der gebannt lauschenden Anhängerschaft aus dieser Niedrigkeit erhob durch die Erinnerung daran, dass er im Land Israel gewesen war, wie er schließlich in großer Freude ein Sabbatlied anstimmte und bei der folgenden Mahlzeit die Jünger aufrief, sich immer wieder stark zu machen: »Verzweifelt nur nicht! Es gibt gar keine Verzweiflung!« Natan ringt um Worte bei der Beschreibung dieses Nachmittags: »Es ist unmöglich, seine heiligen Bewegungen darzustellen, mit denen er uns andeutete, wie sehr man sich stark machen muss, ohne Ende und Ziel.« »Um die Anmut, Wahrheit und Schönheit, den Ruhm, die Heiligkeit, die Furcht und die Freude dieses Sabbats darzustellen und zu beschreiben, würden die Häute aller Widder von Nevajot nicht ausreichen.« »Damals sahen wir das Heil des Herrn, seine tiefen und ehrfurchtgebietenden Wunder, mit denen er sich zu jeder Zeit über sein Volk Israel erbarmt.« Diese Sätze zeigen, wie wenig sich Nachmans Lehre von seiner Person trennen ließ. Das gilt bis heute. Es ist der mit ihm unauflöslich verbundene »Tikkun«, die Erlösung, Verwandlung und Erhebung der Welt, dessen messianischer Vollendung die Breslaver entgegensehen.

Dieses Buch

Das vorliegende Doppelwerk ist einer der Klassiker des Breslaver Schrifttums. Nachmans Schüler und Sekretär Natan von Nemirov hat es teils verfasst, teils aus älteren Quellen zusammengestellt. Buch I ist insgesamt mit dem Titel »Lobpreis Rabbi Nachmans« (Schivche ha-Ra“n) überschrieben, der besagen will, dass in diesem Buch Rabbi Nachmans Leben und Lehre gepriesen werden. Es setzt sich aus zwei je mit einer eigenen Abschnittszählung versehenen Teilen zusammen. Teil 1 enthält hagiographische Stücke über Nachmans Kindheit und Jugend, Teil 2 berichtet, wie auch die ihm eigens vorangestellte Überschrift besagt, über den »Verlauf seiner Reise in das Land Israel« in den Jahren 1798/99. Buch II mit dem Titel »Lehrgespräche Rabbi Nachmans« besteht ebenfalls aus zwei Teilen, allerdings mit durchgehender Abschnittszählung. Der erste Teil (Nr. 1-116) ist redaktions- und druckgeschichtlich älter. Er erschien zusammen mit Nachmans »Erzählungen« und dem vollständigen »Lobpreis« zuerst im Jahre 1816 im ukrainischen Ostrog. Teil 2 (Nr. 117-308) besteht aus Nachträgen, die Natan, zum Teil aus eigener Erinnerung, zum Teil aus Überlieferungen des weiteren Jüngerkreises, nach der Veröffentlichung von Teil 1 noch zusammengestellt hat. Das vollständige Doppelwerk aus »Lobpreis« und »Lehrgesprächen« samt Nachträgen erschien erst nach Natans Tod 1850 in Zolkiew. Später wurde es in Königsberg, Lemberg, Warschau und Jerusalem in dieser Form immer wieder nachgedruckt. Dabei gab man dem Buch verschiedene, griffigere Gesamttitel, die sich aber nicht durchsetzen konnten. In den Jahren 1904 (Jerusalem) und 1911 (Lemberg) erschien der »Lobpreis« separat auch in jiddischer Übersetzung, 1973 wurde das Gesamtwerk unter dem Titel Rabbi Nachman's Wisdom von Aryeh Kaplan als erste Breslaver Schrift überhaupt ins Englische übertragen. Mehrfach nachgedruckt, war dies die Grundlage von Übersetzungen ins Französische (1983) und Spanische (1995).

Das Werk vereint in sich mehrere verschiedene Genres und ist auch sonst eines der eigenwilligsten Werke der chassidischen Literatur. Die Gattung der »Lobpreisungen« existierte zwar schon. Das erste hagiographische Werk dieser Art wurde im Jahre 1629 dem Kabbalisten Jizchak Luria (1534-1572) gewidmet, sodann erschien 1815 der Lobpreis des Ba'al Schem Tov. Verglichen damit ist der »Lobpreis Rabbi Nachmans«, auch wenn er konventionelle Elemente aus beiden enthält, jedoch ausgesprochen originell. Chronologisch kaum geordnet, lassen die Schilderungen aus Kindheit und Jugend stark individuelle Züge hervortreten. Die beschriebenen Schwierigkeiten des Kindes beim Lernen konterkarieren das nicht nur chassidische Klischee vom »Wunderkind«. Die früh geübte Askese, die auf seine spätere Bedeutung vorausweisen könnte, findet im Verborgenen statt. Die breite Darstellung seiner Auseinandersetzung mit sexuellen Anfechtungen ist beispiellos. Noch stärker fällt der »Verlauf seiner Reise ins Land Israel« aus dem Rahmen der chassidischen literarischen Konventionen. Was zunächst wie ein Reisebericht aussieht, rückt durch eine Reihe phantastischer Motive in die Nähe der mystischen »Erzählungen« Rabbi Nachmans. Nur ist er diesmal nicht selbst der Erzähler, sondern zentraler Gegenstand der Erzählung. Das verarbeitete Material stammt vermutlich weitgehend von Nachmans Reisebegleiter. Natan, der den Meister erst zwei Jahre nach der Israelfahrt kennenlernte, hat es zu einer einzigartigen heiligen Geschichte gestaltet, deren Vortrag dieselbe bahnbrechende, reinigende Kraft haben sollte wie die Reise selbst.

Musste Natan für den »Lobpreis« auf ältere Überlieferung zurückgreifen, so verbürgt er sich für den größten Teil der »Lehrgespräche« selbst. Diese lassen sich insgesamt keiner der bekannten chassidischen Gattungen zuordnen, auch wenn sie im Einzelnen Elemente der chassidischen Lehrüberlieferung und der verbreiteten Geschichten über Zaddikim enthalten. Weit überwiegend stehen Worte des Meisters im Mittelpunkt, seien es Sentenzen, Kurzvorträge, Unterweisungen oder Auslegungen. Nur selten handelt es sich dabei um »Gespräche« in einem dialogischen Sinn. Der hebräische Titel »Sichot« bezeichnet hier gesprächsweise geäußerte »Aussprüche« verschiedenster Art und Länge, die öfter, aber nicht immer in einen biographischen oder erzählerischen Zusammenhang gestellt sind. Eine chronologische oder thematische Ordnung der Stücke ist nur streckenweise erkennbar. In Teil 2 geben Zwischenüberschriften eine gewisse Orientierung.13 Nahtstellen der Sammlung sind im Text deutlich sichtbar, manche sind sogar ausdrücklich als solche markiert.14 Auch an stilistischer Vereinheitlichung war Natan nicht viel gelegen. Vielmehr ging es ihm vor allem um wortgetreue Überlieferung. Zumeist nennt er seine Quellen, um den Grad der Authentizität anzugeben (»Ich hörte von anderen, was er zu Rabbi Schim'on sagte …« u. ‌Ä.), und wo er kann, zitiert er bei besonders prägnanten Aussprüchen Rabbi Nachmans den originalen, jiddischen Wortlaut – die ipsissima vox des Meisters, dessen Worte man möglichst im Ohr haben sollte, nicht nur vor Augen.

Rabbi Nachmans Gedanken zur Größe Gottes

An manchen Stellen mögen Nachmans Worte durch ihren konzisen, nach talmudischer Diktion fast stenogrammartigen Stil schwer zugänglich erscheinen, an anderen wird gerade umgekehrt die scheinbare Wiederholung von Bekanntem die Geduld des modernen Lesers herausfordern. Die Stellen in gedrängtem Stil wollen entfaltet, die ausladenden meditiert werden. Die folgenden Erläuterungen zum ersten und dritten Abschnitt der »Lehrgespräche« möchten dazu anregen und entmutigenden Leseerfahrungen vorbeugen. Sie vermögen zugleich einen ersten Einblick in die Gedankenwelt Rabbi Nachmans zu geben.

Die »Lehrgespräche« beginnen mit einer sehr dichten Auslegung von Psalm 135,5. Der Text steht programmatisch am Anfang und wirkt in dieser hervorgehobenen Stellung wie eine Überschrift. Das Wichtigste kommt zuerst: die Größe Gottes. Gott ist so groß, dass es unmöglich zu vermitteln ist:

»Ja, ich habe erkannt, dass der Herr groß ist, unser Herr allen Göttern zuvor.« (Psalm 135,5) König David, Friede sei mit ihm, sagte: »Ja, ich habe erkannt« – »Ich habe erkannt« im genauen Wortsinn, denn es ist unmöglich, einem anderen die Größe des Schöpfers, Er sei gepriesen, zu sagen. Ja, nicht einmal sich selbst kann man von einem Tag zum anderen vermitteln, was einem aufschien und aufblitzte; man kann sich das gestrige Aufscheinen und Aufblitzen der Größe Gottes, Er sei gepriesen, am nächsten Tag selbst nicht erzählen. Darum sagte David: »Ja, ich habe erkannt« – »Ich habe erkannt« im genauen Wortsinn, denn es ist unmöglich mitzuteilen.

Psalm 135 beschreibt in den auf Vers 5 folgenden Sätzen Gott zunächst als Herrn der Schöpfung: »Alles, was sich der Herr wünscht, macht er im Himmel und auf der Erde, im Meer und in allen Tiefen; der die Wolken aufsteigen lässt vom Ende der Erde, der die Blitze samt dem Regen macht, der den Wind herausführt aus seinen Kammern.« (Verse 6-7) Dann geht er dazu über, Gottes Machttaten in der Geschichte aufzuzählen: »Der die Erstgeburten schlug in Ägypten« usw., »der viele Völker schlug und tötete mächtige Könige« etc. (Verse 8-12) Diese Fortsetzung erscheint im Psalm selbst als Konsequenz aus dem Vorsatz in Vers 5: In den beschriebenen Werken erweist sich Gottes Größe. Da er dies alles tut und getan hat, weiß der Beter, dass Gott groß ist.

Rabbi Nachman dagegen löst den Zusammenhang von Vers 5 mit den folgenden Versen bewusst auf:

Er sagte, mit dem anschließenden Satz, »Alles, was sich der Herr wünscht, macht Er im Himmel und auf der Erde« etc., beginne ein völlig neues Thema, weit entfernt vom Lobpreis des »Ja, ich habe erkannt«. Es sei nämlich unmöglich, die Intention in diesen Worten »Ja, ich habe erkannt« weiter auszuführen; sie sei sehr, sehr hoch, höher als hoch, dem Mund unsagbar – lediglich »Ich habe erkannt« im genauen Wortsinn, wie oben gesagt. Und so heißt es im Sohar: »›Erkannt wird ihr Ehemann in den Toren‹ – ein jeder gemäß dem, was er eröffnet in seinem Herzen«, wie an anderer Stelle erläutert.

Die Erkenntnis der Größe Gottes kommt demnach nicht aus dem Bericht über seine Machttaten in Natur und Geschichte, weil Gott größer ist als alles, was man mit Worten vermitteln kann. Vielmehr steht Vers 5 für sich. Um der Erkenntnis Davids, der in der jüdischen Tradition als Verfasser der meisten Psalmen gilt, näherzukommen, achtet Nachman genauestens auf den hebräischen Wortlaut des Verses. Die meisten deutschen Bibelübersetzungen lesen: »Ich weiß, dass der Herr groß ist.« Eine solche Aussage aber hätte David, Nachman zufolge, gar nicht treffen können, weil niemand die Größe Gottes so im Schatz des Wissens bewahren kann, wie man etwa weiß, dass David ein König ist. Man kann nicht im herkömmlichen Sinne »wissen«, dass Gott groß ist, weil die Größe Gottes alles angesammelte Wissen übersteigt – sie ist »sehr, sehr hoch, höher als hoch«. Das heißt: Unsere Worte sind der Größe Gottes unangemessen, das Wort »hoch« kann sie nicht beschreiben, da sie »höher als hoch« ist. Zur Beschreibung der Größe Gottes haben wir keine Worte, sie ist also im Grunde nicht tradierbar, nicht lehr- und nicht lernbar. Man kann sie nicht als Teil des Wissensschatzes überliefern.

Dies bringt der hebräische Wortlaut von Psalm 135,5 dadurch zum Ausdruck, dass er hier ein Verb verwendet, das an anderen Stellen in der Bibel nicht »wissen« im Sinne von »kennen«, sondern von »erkennen« bedeutet. Dasselbe Wort steht etwa in Genesis 4,1: »Und Adam erkannte sein Weib Eva.« Außerdem spricht der Psalmist hier ausdrücklich von sich selbst, und zwar in der 1. Person Singular. Der Verfasser des Psalms, nach jüdischer Tradition also David, sagt »Ich« und benutzt zugleich eine hebräische Perfektform. Sie bezeichnet einen abgeschlossenen Vorgang, etwas in der Vergangenheit Liegendes, und ist entsprechend zu übersetzen: »Ich habe erkannt.« Nachman erfasst nun den genauen Wortsinn auf zweifache Weise. Zunächst ist das »Ich« betont. Diese Erkenntnis ist also eine höchst individuelle, so individuell, dass es unmöglich ist, sie einem anderen Menschen zu vermitteln. Soviel man auch zu anderen davon spricht, so wenig kann man ihnen doch mit Worten das sagen, was sie verstehen sollen. Die Worte »Gott ist groß« können einen Menschen nicht mit der Größe Gottes selbst erfüllen, denn man kann die Größe Gottes nicht kognitiv zur Kenntnis nehmen. Rabbi Nachman geht aber darüber noch hinaus, indem er sagt, dass man nicht nur anderen, sondern auch sich selbst das Aufscheinen und Aufblitzen der Größe Gottes nicht vermitteln kann. Es ist eine plötzliche, unvermittelte Erkenntnis, die David hier meint. Schien sie ihm gestern auf, so kann er sie sich heute mit Worten nur noch in Erinnerung rufen: »Ich habe erkannt«, gestern oder vor einer Stunde, »dass Gott groß ist«, die Erkenntnis selbst aber besitze ich nicht mehr, weiß nur, dass ich sie hatte. Ich halte mich daran mit den dürren Worten fest, die mir von diesem Aufblitzen der Erkenntnis übrig bleiben, nämlich den Worten: »dass der Herr groß ist«. Aber die Erkenntnis selbst kann ich mir nicht von einem Tag zum anderen vermitteln, denn ich bin heute nicht mehr derselbe wie gestern, im Moment der Erkenntnis. Darin steckt eine starke Betonung der Diskontinuität der menschlichen Zeit. Sie besteht aus lauter Gegenwart. Das Vergangene ist immer Gegenstand der Erinnerung, weil ein Mensch nie der ist, der er einmal war. Darum sind die Dinge, die ihm begegnen, für ihn niemals dieselben. Die Erkenntnis, dass Gott groß ist, bleibt eine in der Lebenszeit verortete, an die individuelle Gegenwart und den geschenkten Augenblick gebundene Erkenntnis. Sie ist jedes Mal neu und auf keine Weise objektivierbar. Man kann sie daher weder jemand anderem vermitteln, noch bei sich selbst festhalten. Man kann sie »sich selbst nicht erzählen«, wie Nachman sich ausdrückt, das heißt, man kann die Größe Gottes nicht in eine Geschichte gießen, die man dann in einem kürzeren oder längeren Zeitraum, je nach Länge der Geschichte, erzählen, also jedenfalls auf die sich erstreckende Zeit projizieren könnte. Die Erkenntnis Gottes lässt sich mit der Kategorie der Zeit überhaupt nicht fassen.

Man kann sich lediglich erzählen, dass man diese Erkenntnis einmal hatte. Aber das ist nichts Geringes! An einmal Erkanntem festzuhalten, ist sehr wichtig, gerade in Zeiten, in denen dies früher Erkannte der gegenwärtigen Einsicht sehr fernzuliegen scheint. Sogar wenn man selbst nichts erkannt hat, kann man sich an der Erinnerung anderer, vertrauenswürdiger Menschen festhalten. Wer seiner eigenen Erinnerung misstraut, kann sich auch an David halten, der gesagt hat: »Ich habe erkannt, dass der Herr groß ist.« Dem Festhalten an der Erinnerung steht also das Festhalten an der biblischen Tradition zur Seite, die eine Art kollektiver Erinnerung daran ist, dass es Erwählte und Berufene gab, die erkannt haben, dass Gott groß ist. Insofern ist die Tora das Gedächtnis der Größe Gottes, wie sie sich immer wieder individuell zu erkennen gegeben hat. Sie gibt nicht der Erkenntnis, aber doch der Erinnerung an die Erkenntnis einen literarischen und geschichtlichen Raum, in dem sie bewahrt ist und aus dem heraus sie immer wieder neu entfaltet werden kann. Aus diesem Grund hat sie die Kraft, die individuellen Brüche und Diskontinuitäten zu heilen.

In Nachmans Lehrgespräch wird diese der Erinnerung Raum gebende literarische Tradition in den anschließenden Versen des Psalms 135, die von den Macht- und Heilstaten Gottes in Natur und Geschichte erzählen, ja auch aufgerufen. Dennoch besteht ein unüberbrückbarer qualitativer Unterschied zwischen der Erkenntnis selbst und ihrer Erzählung. Um diesen Unterschied hervorzuheben, sagt Nachman, mit Vers 6 beginne ein völlig neuer Gedankengang, »weit entfernt vom Lobpreis des ›Ja, ich habe erkannt‹«. Denn in diesen Worten kommt nicht tradiertes Wissen zur Sprache, sondern mystische »Intention«, hebräisch kawana, das heißt »Ausrichtung« aller menschlichen Energien auf Gott. Sowenig die Größe Gottes selbst zu vermitteln ist, so wenig auch der Moment ihrer Erkenntnis. Selbst die Intention und die Kraft der spontanen Antwort des Lobpreises in den Worten: »Ich habe erkannt, dass der Herr groß ist«, sind nicht zu vermitteln.

Die Erkenntnis scheint und blitzt auf. Sie ist also etwas Gegebenes, auch Geschenktes. Aber die Gabe geschieht nicht unabhängig von der Bereitschaft des Menschen. Die Erkenntnis wird ins Herz gegeben, aber das Herz muss dazu auch Raum schaffen. Ja, noch mehr: Nachman zufolge steht die Erkenntnis in einem Entsprechungsverhältnis zu dem, was der Mensch in seinem Herzen an Raum eröffnet. Auch wenn es sich immer um dieselbe Erkenntnis handelt, nämlich dass Gott groß ist, erscheint sie doch auf verschiedene Weise. Die Größe Gottes hat also, wenn man so sagen darf, immer auch eine individuelle Dimension. Sie scheint den Menschen verschieden auf, nämlich jeweils genau dort, wo sie ihr das Herz öffnen. Das Herz ist im biblischen und jüdischen Verständnis der Ort der Erkenntnis und des Willens. Daher ist auch »Erkenntnis« im Hebräischen nicht etwas Abstraktes, sondern dem Menschen zutiefst Verbundenes und Eigenes. Sie betrifft nicht nur den Verstand, sondern den ganzen Menschen, sein Zentrum, das Herz.

In diesem Sinne führt nun Nachman ein Zitat aus dem Buch Sohar an. Der Sohar ist das wichtigste Buch der spanischen Kabbala, das neben der Bibel heiligste Buch der jüdischen Mystik. Es hat selbst die äußere Form eines Kommentars zur Bibel. Hier wird ein Vers aus Sprüche 31,10-31 ausgelegt. Dieser Abschnitt ist in der Lutherübersetzung mit der Überschrift »Lob der tüchtigen Hausfrau« versehen. Das Wohlergehen und Ansehen eines Ehemannes wird dort in weisheitlicher Manier weitgehend auf die Tüchtigkeit seiner Frau zurückgeführt. In diesem Zusammenhang heißt es in Vers 23 nach den meisten Übersetzungen: »Ihr Mann ist bekannt in den Toren, wenn er sitzt bei den Ältesten des Landes.« Nun geht aber »bekannt« in diesem Vers auf die Wurzel desselben Wortes zurück, das auch in Psalm 135,5 verwendet wird. Nachman folgt hier einem Grundsatz des rabbinischen Midrasch, nach dem zwei Verse, in denen dasselbe hebräische Wort auftaucht, in einer exegetisch näher zu bestimmenden Beziehung zueinander stehen. Um den Zusammenhang zwischen den beiden Versen deutlich zu machen, zieht Nachman zum Vers aus den Sprüchen dessen soharische Auslegung hinzu. Das Buch Sohar deutet das »Lob der tüchtigen Hausfrau« durchweg theosophisch-allegorisch. Der »Ehemann« steht dort für Gott. Im Nachman'schen Sinne geht es in diesem Vers um die Erkenntnis Gottes durch den Menschen: »Erkannt wird ihr Ehemann in den Toren«. Dieser Wortlaut verspricht Aufschluss darüber, auf welche Weise und wie weit Gott erkannt werden kann. Entscheidend ist dabei die Deutung des Wortes »Tore« im Sprüche-Vers, hebräisch sche'arim. Aus der diesem Nomen zugrunde liegenden Wurzel wird auch ein Verb mit der Bedeutung »ausmessen« oder »öffnen« gebildet. Wenn Gott »in den Toren« erkannt wird, dann müssen diese Tore geöffnet sein. Da Gott im Herzen erkannt wird, handelt es sich um die Tore des Herzens. Diese Tore aber öffnen sich nicht nach außen, sondern nach innen. Das Herz ist wie eine Wohnung, in der es Türen und Kammern gibt. Geöffnet werden müssen also die Kammern im Herzen, und die Erkenntnis Gottes vollzieht sich bei jedem entsprechend den Kammern, die er in seinem Herzen öffnet. Andere Instrumente der Erkenntnis hat der Mensch nicht. Doch so blitzartig die Größe Gottes in diesen Kammern seines Herzens nur einen Augenblick lang Raum greift, so sehr bleibt er verwiesen auf die Tradition, die die Erinnerung an diese erfüllende Erkenntnis bewahrt.

Auch Nachman kann gar nicht anders, als sie mit Hilfe der Tradition sozusagen zu rekonstruieren und sich damit in seiner Bezogenheit auf Gott selbst zu konstituieren. Darum zieht er den Psalm heran, den Vers aus den Sprüchen, das Sohar-Zitat. Denn nicht nur die Erinnerung, auch der Geist bleibt angewiesen auf die Tradition, zumindest auf die konstitutiven, tradierten Kategorien der Sprache, ohne die ein reflektiertes Gottes- und Selbstverständnis unmöglich wäre. Die Größe Gottes selbst ist letztlich eine solche Kategorie, insofern sie nicht nur eine Erkenntnis, sondern auch ein Begriff ist. So existenziell und individuell den Menschen die Erkenntnis berührt, dass Gott groß ist, so wenig ist doch diese Erkenntnis abgelöst von all dem, was er erfahren und gelernt hat. Sosehr diese Erkenntnis alle Begriffe übersteigt, so sehr ist doch der Mensch angewiesen auf diese Begriffe, wenn er überhaupt sprechen und seine Erkenntnis geistig integrieren möchte. Das kann er nur mit Hilfe seiner partikularen Tradition, in der er groß geworden ist, selbst dort, wo er über sie hinauswächst. Aus ihr kommen ihm die zentralen, Identität stiftenden Begriffe zu. Das, was aufblitzt, ist die Erkenntnis, dass die Größe Gottes alles übersteigt, höher ist als unsere Kategorien, auch höher als unsere Tradition. Diese Tradition bleibt aber insofern unverzichtbar, als sie ebendieser Erkenntnis, dass die Größe Gottes alles übersteigt, erst den Weg bereitet. Denn diese Erkenntnis braucht den Wurzelboden unserer Kategorien, gerade um sie zu überschreiten. Sonst stünde sie außerhalb jeder Relation und könnte sich uns nicht verbinden. Die Kategorien sind die Kammern, in die die Erkenntnis einzieht.

Das im »Lobpreis« über den jungen Nachman mehrfach berichtete schmerzhafte Bemühen, zu lernen und einen Schatz an Wissen zu erlangen, bleibt darum wesentlich auch für die höhere Erkenntnis. Denn das Innewerden, dass letztlich all unser Wissen inadäquat ist, soll selbst zum Bestandteil unseres erinnernden Wissens, unseres Gedächtnisses werden. Als solches wird es zum kritischen Moment unseres Wissens und unterstreicht dessen Vorläufigkeit. So entlässt die Erkenntnis der Größe Gottes wieder auf den Weg der Tradition, des Lernens, der unzureichenden Kategorien, sozusagen in den Alltag, in dem selten etwas aufblitzt.

Sowenig die Erkenntnis der Größe Gottes als Wissen angeeignet werden kann, so sehr hilft doch die Erinnerung an ihre Möglichkeit, die Relativität und Unzulänglichkeit allen Wissens einzusehen. Insofern nimmt Rabbi Nachman hier auf seine ganz eigene Art einen Satz des mittelalterlichen Philosophen Bachja ibn Pakuda auf, in dessen Werk Herzenspflichten (1,10) es heißt: »Der Mensch, der am weisesten ist in seiner Erkenntnis Gottes, ist sich zugleich der Unkenntnis seines Wesens am bewusstesten. Nur wer ihn nicht kennt, meint ihn zu kennen.« Im Gegenüber zur Anmaßung des menschlichen Geistes wird die Erkenntnis der Größe Gottes zum qualifizierenden und relativierenden Moment im Prozess der Aneignung von Wissen.

Dieser Prozess wird in Abschnitt 3 der »Lehrgespräche« beschrieben:

Er hat die Größe des Schöpfers, Sein Name sei gepriesen, so stark hervorgehoben, dass man es schriftlich unmöglich beschreiben kann. Er sagte, die Größe des Schöpfers, Er sei gepriesen, sei ohne Maß, denn es geschähen sehr wunderbare und ehrfurchtgebietende Dinge in der Welt, ohne dass man davon etwas wüsste, das heißt, ohne dass bis jetzt auch nur das geringste Wissen darüber vorhanden wäre. So betrifft auch jener Satz, nach dem das Ziel des Wissens darin besteht, dass wir nicht wissen, jedes Wissen für sich. Selbst wenn man also zum Ziel des Wissens gelangt, das darin besteht, dass wir nicht wissen, ist dies noch nicht das letzte Ziel. Denn jenes Ziel betrifft nur jenes Wissen, während man mit dem Wissen, das über jenem steht, noch gar nicht angefangen hat, und so höher und höher. Daher weiß man nie irgendetwas und hat doch das Ziel nicht erreicht, weil man nämlich noch gar nicht angefangen hat, etwas zu wissen von dem Wissen, das über jenem Wissen steht, durch das man zu dem Ziel gelangt ist, dass wir nicht wissen etc.

Zunächst deutet der Text eine grundlegende Relation an, indem er Gott als Schöpfer benennt. Die Welt ist seine Schöpfung, daher ist Gott größer als sie. Er umschließt sie, er war vor ihr und wird nach ihr sein. Gott transzendiert die Schöpfung, wie es ein rabbinisches Diktum formuliert: Die Welt ist nicht sein Ort, sondern er ist der Ort seiner Welt.15

Die Welt ist ihrerseits größer als der Mensch und übersteigt seine Erkenntnismöglichkeiten. Das heißt: Unser Wissen steht weit unter dem zu Wissenden, also dem, was insgesamt gewusst werden könnte, wenn unsere Perspektive auf die Welt nicht so beschränkt und einseitig wäre. Unsere menschliche Verfasstheit, die Tatsache, dass wir Menschen und nicht Gott sind, verwehrt uns eine umfassende Perspektive. Unsere Beschränktheit bezieht sich zunächst wieder auf die Erkenntnis Gottes selbst. Er ist immer weit größer als das, was wir erkennen können. Zu erkennen, dass er groß ist, bedeutet für uns deshalb: zu erkennen, dass er immer größer ist und bleibt als unsere Erkenntnis. Dies wurde besonders von den jüdischen Philosophen des Mittelalters stark betont. Nachman führt einen Satz aus einem philosophisch gefärbten Lehrgedicht des im 14. Jahrhundert schreibenden Jedaja ha-Pnini an, der übersetzt etwa lautet: Das Ziel dessen, was wir von dir wissen, ist, dass wir dich nicht wissen.16

Ein persönliches Moment kommt hinzu, wenn sein Schüler und Biograph Natan von Nemirov hier schreibt, Nachman habe die Größe des Schöpfers nicht nur einfach betont, sondern er habe sie so stark unterstrichen, »dass man es schriftlich unmöglich beschreiben kann«. Worte allein können also die Eindringlichkeit nicht wiedergeben, mit der Nachman von der Größe Gottes gesprochen hat. Das heißt: Nicht nur die Größe Gottes selbst und ihre Erkenntnis entziehen sich der Beschreibung, sondern auch die Art und Weise, wie Rabbi Nachman zu seinen Schülern von ihr gesprochen, manchmal vielleicht auch ebenso eindringlich geschwiegen, jedenfalls sie in einer adäquaten Geste hervorgehoben hat.

Nun ist das menschliche Wissen nicht nur in Bezug auf Gott, sondern auch in Bezug auf seine Welt weit davon entfernt, umfassend zu sein. Was wirklich in der Welt geschieht, so Nachman, bleibt uns unerkennbar. Unser Wissen um das, was geschieht, ist sogar doppelt beschränkt. Zum einen sind wir nicht in der Lage, Sinn und Ursache dessen, was wir geschehen und vorfallen sehen, in seiner Tiefe zu erfassen. Zum anderen aber, und dies ist noch gravierender und vielleicht der Grund für unsere Unfähigkeit, den Sinn der Geschehnisse zu erfassen, sehen wir nur einen geringen Ausschnitt dessen, was in der Welt geschieht, haben also einfach keine vollständige Kenntnis davon. Unsere Sinnesorgane sind nicht dazu angetan, alles, was existiert, auch wahrzunehmen. Wollen wir über diesen Horizont hinausgelangen, brauchen wir schon ein Fernrohr oder ein Mikroskop. Aber nicht nur unsere Sinnesorgane, auch unser Verstand reicht nicht hin, die Welt vollständig zu erfassen. Weil wir selbst Teil der Welt sind, können wir sie nicht vollständig erkennen. Wir können sie uns nur nach den rationalen Mustern, die der Verstand nahelegt, konstruieren, das Unerkennbare in uns zugängliche Kategorien, Bilder, Symbole fassen. Das Gegebene, die Wirklichkeit selbst, kann nicht direkt erkannt werden, sondern bleibt Konstruktion des menschlichen Verstandes.

Den zitierten Satz, nach dem das Ziel der Erkenntnis Gottes darin besteht, dass man ihn nicht erkennen kann, bezieht Nachman in einem ersten Schritt über Gott hinaus auch auf die Welt. Auch das Ziel der Welterkenntnis besteht darin zu erkennen, dass man sie nicht erkennen kann. Damit wären allerdings alle menschlichen Versuche, mehr Erkenntnis zu erreichen, nichtig. Denn wozu ist ein Wissenwollen gut, das nicht zum Ziel führt? Darum ist der entscheidende, geniale Schritt Nachmans der zweite: Der Satz, nach dem das Ziel des Wissens darin besteht, dass wir nicht wissen, betrifft »jedes Wissen für sich«.

Jeder Wissensfortschritt endet mit der Gewissheit, dass wir das Ziel der Erkenntnis nicht erreicht haben. Trotzdem und gerade deswegen sind wir diesen Weg nicht vergeblich gegangen. Denn nun können wir auf einer neuen, höheren Stufe weiterforschen, um am Ende noch gründlicher zu wissen, dass wir im Grunde nichts wissen. Das eigentlich Interessante, jedenfalls der Fokus von Nachmans Interesse, ist also nicht das Wissen, sondern das Nichtwissen. Es gibt unendlich viele Stufen des Nichtwissens, eine höher als die andere. Die Aufgabe besteht darin, diese Stufen hinaufzusteigen, jeweils bis zum Ende zu gehen und die nächsthöhere Stufe zu erklimmen. Das Wissen ist nur Mittel zum Zweck der Erkenntnis des Nichtwissens. Es geht darum, auf jeder Stufe der Erkenntnis eine höhere Qualität des Nichtwissens zu erreichen, und das heißt: immer besser zu wissen, dass wir nichts wissen.

Nachman beschreibt hier einen Weg. Der Satz »Ich weiß, dass ich nichts weiß« steht bei ihm am Ende jeder Stufe der Erkenntnis. Danach geht es auf einer höheren Stufe weiter. Ziel ist also nicht, etwa in einer Meditation ein für alle Mal die Unzulänglichkeit des menschlichen Geistes einzusehen. Dieses Ein-für-alle-Mal gibt es nicht. Es ist nicht eine einmalige Erkenntnis, sondern ein Exerzitium, ein beständiges, paradoxes Lernen. Wie andere sich ihres Wissens rühmen, so rühmt sich Rabbi Nachman seines Nichtwissens: Er habe die höchsten Stufen des Nichtwissens erreicht. Eine Andeutung der Freude darüber, auch ein gewisser Stolz auf dieses hart erarbeitete Nichtwissen findet sich etwa im 33. Abschnitt des »Verlaufs seiner Reise in das Land Israel«:

Etliche Male war es seine Art zu sagen, er wüsste nun ganz und gar überhaupt nichts. Und manchmal schwor er, dass er wirklich gar nichts wüsste, obwohl er am Tag zuvor, ja in der Stunde zuvor erhabenste Dinge enthüllt hatte. Dennoch sagte er danach, er wüsste überhaupt nichts. In dieser Sache war er eine sehr, sehr große Neuerung. Über sich selbst sagte er ausdrücklich, zwar sei seine Lehre eine sehr große Neuerung, aber sein Nichtwissen sei die größte Neuerung.

Nachmans Wissen ist lehrend entwickeltes Wissen, es gewinnt Gestalt im Gegenüber zu seinen Schülern, im Lehrvortrag, der oft ungemein assoziativ ist, große Freude an Zusammenhängen beweist, die sich unerwartet erschließen, und doch am Ende ins Bewusstsein des Inadäquaten der gesamten Denkbewegung im Verhältnis zur Unerforschlichkeit Gottes und seiner Welt münden. Am Ende der Anstrengung des Vortrags steht eine Leere, eine Erschöpfung, nicht eine Sicherung der Ergebnisse. Am Ende steht das geschärfte Bewusstsein des Nichtwissens, aber zugleich auch das Bewusstsein der Unangemessenheit des menschlich möglichen Wissens überhaupt.

Seine Lehre schätzt Nachman dabei nicht gering. In der Tat stellen die Nachman'schen Lehrvorträge (Likkute Mohara“n) einen Höhepunkt sowohl der geistigen Selbstvergewisserung der jüdischen Tradition als auch der Originalität ihrer Aneignung und Umformung dar. In der rabbinischen Toragelehrsamkeit ist eines der höchsten Ziele, die erreicht werden können, ein neuer Gedanke, eine Neuerung im Verhältnis zur Tradition, die von ebendieser Tradition getragen ist, aber in einer fruchtbaren Spannung zu ihr steht, so dass die Tradition durch diese Neuerung neu spricht. Nachmans Lehrvorträge enthalten viele solcher Neuerungen (hebräisch chiddusch). Es ist aber höchst charakteristisch, dass hier nicht nur Nachmans Lehre als Neuerung bezeichnet wird, sondern auch der, der sie lehrt. »In dieser Sache«, nämlich der des Nichtwissens, war er selbst, als Person, »eine sehr, sehr große Neuerung« – so betrachten es seine Schüler. Dies ist nie zuvor von einem Rabbi gesagt worden.

Die paradoxe Gestalt des unwissenden Zaddik ist der Chiddusch par excellence, weil er die Lehre als Ganze unter einen Vorbehalt stellt, auf den sie selbst hinführt. Die Bewegung des Wissenwollens ist unverzichtbar, führt aber zugleich zu Wissen und Nichtwissen, nämlich zu einem Wissen, das auf das Nichtwissen verweist. Rabbi Nachmans »überhaupt gar nichts Wissen« ist eine Stufe, die andere nicht erreicht haben. Im Blick auf das Wissen bedeutet das, dass die Denkbewegung immer wieder von vorn beginnen muss. Am Ende jeder Stufe steht, was der italienische Kernphysiker Enrico Fermi nach einem Vortrag sagte: »Ich bin noch immer verwirrt, aber auf einem höheren Niveau.« Mit dem stufenweise strukturierten Weg als Konstante ist jedoch für Nachman nicht nur ein intellektueller Prozess beschrieben, sondern die Lebensbewegung in einem umfassenderen Sinn. Ihre Auf- und Abstiege setzen eine fortwährende Bereitschaft zu Aufbruch und Neuanfang voraus.

Lesehilfen

Die vorliegende Übersetzung hält sich eng an das hebräische Original und vermeidet bewusst stilistische Glättungen. Sie folgt dem vokalisierten Standardtext, der zum Beispiel in der Ausgabe von Meschech ha-Nachal, Jerusalem 1981, oder von Torat ha-Nezach, Jerusalem 1992, vorliegt.17 Die Schreibweise aller Ortsnamen, zum Beispiel »Breslav« statt ukrainisch »Brazlav«, Medschibusch statt Miedzybóz usw., folgt diesem traditionellen Text. Auf ihn stützt sich auch die vereinfachte Transkription einzelner jiddischer Wörter und Sätze.

Klammern im Originaltext umschließen erklärende Zusätze, teils von Natan, teils vom Setzer der Erstausgabe. Sie sind in der Übersetzung durch eckige Klammern wiedergegeben. Häufiges »etc.« oder »usw.« gibt eine entsprechende Abkürzung im Original wieder, die dort Zitate beendet oder Lücken andeutet, die zum Teil durch absichtlich ausgelassenen Text entstanden, den Natan der Allgemeinheit nicht überliefern wollte.

Die Anmerkungen dienen dem besseren Verständnis, geben weiterführende Hinweise und identifizieren Zitate. Stellenverweise auf die klassische rabbinische, kabbalistische und philosophische Literatur beziehen sich auf die gebräuchlichen Textausgaben und Übersetzungen. Auf Querverweise in die umfangreiche, nur zum geringsten Teil in Übersetzungen vorliegende chassidische Lehrüberlieferung außerhalb des Breslaver Schrifttums wurde verzichtet. Die in den Anmerkungen immer wieder angeführten Werke Rabbi Nachmans und Rabbi Natans werden im Folgenden nach ihren Titeln und unter Angabe der vorhandenen Übersetzungen aufgelistet:

Chaje Mohara“n (»Das Leben unseres Meisters Rabbi Nachman«)

Biographie Rabbi Nachmans, von Rabbi Natan von Nemirov, in zwei Teilen.

Erstausgabe Lemberg 1874.

Verwendete Ausgabe: Meschech ha-Nachal/Nachman J. Burstein, Jerusalem 1982.

Englisch von Avraham Greenbaum: Tsaddik (Chayey Moharan). A Portrait of Rabbi Nachman by Rabbi Nathan of Breslov, Jerusalem/New York 1987.

Jeme Moharna“t (»Die Tage unseres Meisters Rabbi Natan«)

Autobiographie des Rabbi Natan von Nemirov, in zwei Teilen.

Erstausgabe Teil 1: Lemberg 1876; Teil 2: Jerusalem 1904.

Verwendete Ausgabe: Meschech ha-Nachal, Jerusalem 1982.

Englisch von Chaim Kramer: Through Fire and Water: The Life of Rebbe Noson, Jerusalem/New York 1992.

Likkute Mohara“n (»Sammlungen unseres Meisters Rabbi Nachman«)

Lehrvorträge Rabbi Nachmans, in zwei Teilen.

Erstausgabe Teil 1: Ostrog 1808; Teil 2: Mogilev 1811.

Verwendete Ausgabe: Meschech ha-Nachal, Jerusalem 1990.

Englisch von Simcha Bergman (nur Band 1,1) und Moshe Mykoff, mit Anmerkungen von Chaim Kramer, in der von Moshe Mykoff, Ozer Bergman und Yisrael Abba Rosenfeld herausgegebenen hebräisch-englischen Ausgabe: Likutey Moharan, 15 Bände, Jerusalem/New York 1986-2012.

Sefer ha-Middot (»Buch der Attribute«, auch: »Das Alef-Bet-Buch«)

Aphorismen Rabbi Nachmans zu alphabetisch geordneten Stichwörtern.

Erstausgabe Mogilev 1810/11.

Verwendete Ausgabe: Meschech ha-Nachal/Nachman J. Burstein, Jerusalem 1980.

Englisch von Moshe Mykoff: The Aleph-Bet Book. Rabbi Nachman's Aphorisms on Jewish Living (Sefer Hamiddot), Jerusalem/New York 2000.

Sippure Ma'assijot (»Erzählungen von Begebenheiten«)

Die dreizehn Erzählungen Rabbi Nachmans.

Erstausgabe Lemberg 1815.

Verwendete Ausgabe: Meschech ha-Nachal, Jerusalem 1980.

Englisch von Aryeh Kaplan: Rabbi Nachman's Stories (Sippurey Ma'asioth), Jerusalem/New York 1983. Deutsch von Michael Brocke: Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw, München/Wien 1985.

Zum Weiterlesen

Seit jeher zieht das Werk Rabbi Nachmans von Breslav das besondere Interesse der judaistischen Forschung auf sich. Eine umfangreiche Bibliographie legte schon im Jahr 2000 davon Zeugnis ab.18 Seither hat die Dichte der Publikationen noch erheblich zugenommen. Die meisten Beiträge sind auf Hebräisch oder Englisch verfasst. Die folgende kleine Auswahl an Literaturhinweisen nennt vorwiegend deutsche sowie einige unverzichtbare englische Titel, die auch ohne spezielle Vorkenntnisse verständlich und zur weiteren Information über Breslav und den Chassidismus allgemein gut geeignet sind. In den Anmerkungen zur Übersetzung werden einige von ihnen in abgekürzter Form zitiert:

Martin Cunz, Die Fahrt des Rabbi Nachman von Brazlaw ins Land Israel (1798-1799), Tübingen 1997.

Simon Dubnow, Geschichte des Chassidismus. In zwei Bänden, Berlin 1931, Nachdruck Königstein/Ts. 1982.

Rachel Elior, The Mystical Origins of Hasidism, Oxford/Portland 2008.

Arthur Green, Tormented Master. A Life of Rabbi Nahman of Bratslav, New York 1981.

Karl Erich Grözinger, Jüdisches Denken. Theologie, Philosophie, Mystik, Band 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus, Frankfurt a. ‌M./New York 2005.

Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden, München 1990 (mehrere Neuauflagen).

Moshe Idel, Hasidism. Between Ecstasy and Magic, Albany 1995.

Gerold Necker, Einführung in die lurianische Kabbala, Frankfurt a. ‌M./Leipzig 2008.

Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957 (mehrfach nachgedruckt bei Suhrkamp, Frankfurt a. ‌M.).

Gershom Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala, Zürich 1962 (mehrfach nachgedruckt bei Suhrkamp, Frankfurt a. ‌M.).

Susanne Talabardon, Chassidismus, Tübingen 2016.

Über diese Lektüre hinaus lohnt es sich, die Internetseiten der Anhänger und Gemeinden des Breslaver Chassidismus zu besuchen, um einen Eindruck von ihrer Vielfalt und den unterschiedlichen Zugängen zu bekommen. Wichtige Beispiele sind: 〈www.breslov.org〉, 〈www.breslovtorah.com〉, 〈www.breslev.co.il〉, 〈www.nanach.org〉, 〈breslovcenter.blogspot.com〉, 〈asimplejew.blogspot.com〉, 〈www.azamra.org〉.

Buch I

שבחיהר"ן – Schivche ha-Ra“nLobpreis Rabbi Nachmans

Vorwort Natans von Nemirov

Ich habe es für richtig gehalten, zu berichten – wie lückenhaft und unvollkommen auch immer – und zu erzählen von der Heiligkeit des Wegs unseres heiligen, ehrfurchtgebietenden Meisters, sein Andenken sei zum Segen, von dem Tag seiner ersten Erkenntnis bis zu dem Tag, an dem er in Frieden dahinschied. Einen Teil hörte ich aus seinem eigenen, heiligen Mund, einen Teil von anderen Menschen, die ihn von klein auf kannten, und einen Teil haben wir mit eigenen Augen gesehen.

Nun weiß ich zwar, dass viele diese Dinge nicht glauben werden, denn viele haben sich gegen ihn erhoben; dennoch konnte ich mich dem Wunsch und Verlangen vieler aufrechter Menschen, die mich bis zur Beschämung bedrängten, nicht entziehen, ein wenig davon drucken zu lassen. Auch mein Verstand ermutigt mich,1 und meine Nieren raten es mir,2 denn sind nicht die hier beschriebenen Wege in jedem Fall heilige und sehr gute Wege – glücklich, wer ihnen folgt! –, und sind diese Wege nicht wert, in einem Buch aufgezeichnet zu werden, unabhängig, von wem sie stammen? Ja, diese Wege sind auf jeden Fall gut und sehr heilig, und wie könnte ich denen das Gute vorenthalten, die in Einfalt wandeln, deren Seele begierig danach ist, diese geraden Wege in einem Buch zu finden? Außerdem zeugt die Wahrheit für sich selbst.

Und wer mit dem Auge der Wahrheit in die Schriften unseres Meisters, sein Andenken sei zum Segen, hineinschaut, wird selbst verstehen, dass es ganz unmöglich ist, solche Dinge durch menschliche Vernunft zu erlangen. Nur ein Heiliger wie er, der rein ist in Heiligkeit und überbordender Reinheit, kann sie erreichen. Das aber lässt sich mit Worten nicht weiter beschreiben; sie wären überflüssig, denn – wie die Welt zu sagen pflegt – entweder eine Sache nützt, oder sie ist unnötig. So neigte sich mein Herz in dieser Angelegenheit einmal zu dieser, einmal zu jener Seite, bis ich mir sagte: Sei es, wie es wolle, ich bringe diese Dinge in Umlauf, auf dass spätere Generationen sie erfahren, aufstehen und sie ihren Kindern weitererzählen.3 Sie sollen sie für gut befinden und entsprechend handeln, auf diesen Pfaden gehen und seinen Spuren folgen. Denn dass es sich um heilige und kostbare Wege handelt, ist offenkundig. Jeder kann Gott, Er sei gepriesen, auf solchen Wegen nahekommen, jede Seele, klein oder groß, gleichermaßen. Selbst der Geringste in Israel ist gewiss des ewigen Lebens wert, wenn er auf sein Leben achten und sein ewiges Ziel bedenken will und wenn er sich darin übt, auf den Pfaden und Wegen zu gehen, die hier beschrieben sind. Jeder kann hohe und heilige Stufen erreichen wie nur irgendeiner der Himmelssöhne,4 wenn er beständig bleibt in seinem Sinn und immer an seinem guten Weg festhält, wie ein Pfeiler, der nicht wankt, so wie es hier im Weiteren beschrieben ist.

Aber dies muss man wissen: dass alles, was hier beschrieben wird, nicht einmal ein Tropfen ist aus dem großen Meer seiner unermesslichen Heiligkeit und der Erhabenheit seines Rangs, der hinaufreicht zu einem Ort, den der menschliche Verstand nicht erfassen kann. So ist es auch nicht unsere Absicht, die ehrfurchtgebietenden Wunder zu beschreiben, die wir von ihm gesehen haben. Vielmehr wollen wir von seinem heiligen Lobpreis nur den Teil berichten, der die Gottesfurcht betrifft. Ich sagte mir: Wenn die Menschen dies für gut erachten, werden sie die Lehre annehmen. Denn alle, die diese Dinge im Manuskript bei uns geschrieben fanden, erfüllte Dankbarkeit; sie lobten und rühmten sie, und ein großes Erwachen zu Gott hin, Er sei gepriesen, berührte ihre Herzen, und alle bedrängten mich und wünschten, dass ich sie in Druck gebe. Sie überschütteten mich mit ihren Worten, bis ich nicht anders konnte, als ihren Wunsch zu erfüllen. Gott, Er sei gepriesen, erbarme sich über uns, auf dass es uns vergönnt sein möge, auf den Wegen unserer Väter zu wandeln, die in Schrecken und Furcht den Willen ihres Schöpfers taten – bis er Zion und Jerusalem erbauen und Israel zurückkehren wird wie Tauben zu ihrem Schlag,5 bald, in unseren Tagen, Amen.

Teil 1 Kindheit und Jugend

1. In den Tagen seiner Kindheit kam es ihm in den Sinn, sich von der Welt abzusondern. Er wollte die Begierde des Essens brechen, aber er hatte noch wenig Verstand und meinte, es sei unmöglich, das Essen, so wie er es am Morgen, am Mittag etc. gewohnt war, zu unterlassen. Darum setzte er für sich fest, alles, was er essen würde, hinunterzuschlingen, das heißt, nicht zu zerkauen, was er aß, sondern es so, wie es war, hinunterzuschlingen, um nichts von dem zu schmecken, was er aß. Er machte es so, und es entstand eine Schwellung an seinem Hals [was man gischwolin nennt]. Er sagte, er sei damals erst sechs Jahre alt gewesen. Dieses Verfahren kam mir als eine große Sache über einen sehr, sehr großen Zaddik zu Ohren, der ebenso verfuhr, dass er sein Essen, ohne zu kauen, hinunterschlang. Er aber, sein Andenken sei zum Segen, tat dies, als er sechs Jahre alt war.

2. Auch wenn er vor seinem Lehrer saß in den Tagen seiner Kindheit, wollte er immer den Vers erfüllen: »Ich stelle mir denHerrnallezeit gegenüber.«6 So trachtete er danach, sich den unaussprechlichen Namen, Er sei gepriesen, vor Augen zu malen. Aber weil er in Gedanken damit beschäftigt war, wusste er nicht, was er lernte, und sein Lehrer war zornig auf ihn. Trotzdem hat er während seiner ganzen Kindheit auch sehr viele kindliche Dinge getrieben, das heißt Streiche, Springen und Wandern [was man far schajt nennt]; das pflegte er sehr viel zu tun.

3. Er wuchs heran, und als er Bar-Mizwa wurde, rief ihn sein Onkel zu sich, unser Lehrer Rav Efrajim, das Andenken des Gerechten sei zum Segen, Vorsteher der heiligen Gemeinde zu Sidilkov,7 und sprach über ihm den Vers: »Heute habe ich dich gezeugt.«8 [Denn dies ist über den Tag gesagt, an dem der Mensch Bar-Mizwa wird, wie in den Büchern angeführt.]9 Er sagte ihm einige wenige belehrende Worte, die in seinen Augen überaus kostbar waren – er war »wie einer, der viel Beute findet«.10 Danach wurde er verheiratet.11 Gleich nach seiner Hochzeit aber entbrannte er sehr und sehnte sich sehr nach dem Dienst Gottes, Er sei gepriesen, und trat mit jedem Tag mehr in den Dienst Gottes ein.

4. In den Tagen seiner Kindheit begann er auch sehr, sehr ausdauernd im Lernen zu sein. Er pflegte dem Talmudlehrer aus eigener Tasche drei große Münzen für jede Seite Gemara zu bezahlen, die er mit ihm lernte. Über das Schulgeld hinaus, das sein Vater dem Lehrer bezahlte, gab er selbst, sein Andenken sei zum Segen, ihm drei große Münzen für jede einzelne Seite, damit der Lehrer sich zwang, mit ihm täglich viele Seiten Gemara zu studieren. Und so kam es, dass der Lehrer täglich mehrere Seiten Gemara mit ihm lernte. Er aber zahlte ihm, wie oben gesagt, drei große Münzen für jede einzelne Seite, über das Schulgeld hinaus.

5. Er trat ein in den Dienst Gottes, und sein ganzer Dienst geschah in sehr, sehr großer Verborgenheit, so dass kein Mensch überhaupt etwas davon wusste, denn er geschah sehr geheim und versteckt; sein ganzer Dienst geschah im Geheimen und in großer Verborgenheit. Und von Anfang an lag das Wesen seines Dienstes in großer Einfachheit, ohne jede Weisheit, nur in vollständiger Einfachheit. Jede Sache, die er unternahm, tat er mit großem Bemühen, mit großer Kraft und unter Einsatz des Lebens. Es gab aber nicht eine einzige Sache im Dienst, die ihm leichtgefallen wäre. Alles gelang ihm nur mit sehr viel Mühe, und nur, indem er sich um jede einzelne Sache im Dienst Gottes mehrmals bemühte. So hatte er immer wieder Aufstiege und Abstiege, Tausende und Abertausende, ohne Maß und Zahl.

Es war für ihn anfangs überaus schwierig und eine schwere Last, in den Dienst Gottes einzutreten, das Joch des Dienstes Gottes, Er sei gepriesen, auf sich zu nehmen. Oft geschah es, dass er begann, sich einige Tage lang mit dem Dienst Gottes zu befassen, dann wieder davon abfiel, wiederum begann und wiederum abfiel. So war es viele Male, bis er sich einmal fest vornahm, sehr stark zu sein und für immer am Dienst Gottes festzuhalten, ohne auf irgendetwas in der Welt zu achten. Von da an hielt sein Herz immer mehr an Gott fest. Trotzdem hatte er auch danach noch sehr, sehr viele Aufstiege und Abstiege, nur dass er danach stark genug war, den Dienst Gottes nie mehr aufzugeben, auch wenn er zuweilen einen Abstieg erfuhr. Dann machte er sich trotzdem stark im Dienst Gottes, Er sei gepriesen, so gut er nur konnte.

6. Er pflegte jedes Mal von Neuem zu beginnen, das heißt, wenn er von seiner Stufe abfiel, verzweifelte er nicht deswegen. Er sagte nur, dass er neu anfangen würde, als hätte er bis dahin noch gar nicht begonnen, in den Dienst Gottes, Er sei gepriesen, einzutreten, so, als finge er erst jetzt ganz neu an. Und so war es jedes Mal: Er pflegte beständig von Neuem zu beginnen. So hatte er mehrere Anfänge an ein und demselben Tag, denn manchmal fiel er auch an einem einzigen Tag von seinem Dienst ab, begann von Neuem, und so mehrere Male an ein und demselben Tag.12

7. Er war sehr ausdauernd im Lernen und lernte sehr viel Talmud, Rechtsentscheide, Bibel, En Ja'akov,13 die Bücher des Sohar, die Tikkunim,14 alle Schriften des Ar“i,15 sein Andenken sei zum Segen, sehr viele andere Bücher und sehr viele ethische Bücher.

Er sagte, alle kleinen Bücher mit ethischer Unterweisung seien in seinem Vaterhaus vorhanden gewesen, und er habe aus allen gelernt. Er lernte auch viel Reschit Chochma;16 er sagte ausdrücklich, er habe das Buch Reschit Chochma unzählige Male studiert.