Lockruf der Geister - Dana Müller - E-Book
SONDERANGEBOT

Lockruf der Geister E-Book

Dana Müller

0,0
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Albträume begleiten Sidney, seit sie zurückdenken kann.   Als sie ein Medikament testet, dessen unbekannte Nebenwirkung ihre Träume unterdrückt, ist sie zunächst zufrieden. Doch bald schon quälen sie Tagträume, die Sidney an ihrem Verstand zweifeln lassen. Als sie ihre Eltern besucht, fügen sich die Zeichen wie Puzzleteile zusammen. Alles deutet auf ein altes Familiengeheimnis hin.   Ist Sidney wirklich die, für die sie sich hält?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dana Müller

Lockruf der Geister

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Lockruf der Geister

 

Mystery

 

von

 

Dana Müller

Tagtraum

Ich setzte ein paar letzte Striche und legte den Pinsel weg. Enttäuschung machte sich beim Betrachten der Leinwand in mir breit. Was hatte ich da nur gemalt? Das konnte ich auf keinen Fall abliefern. Die Zeit lief mir davon und je weiter sie fortschritt, umso stärker verblassten die Ideen. Hatte mich meine Muse etwa verlassen? Mir blieben nur noch sechs Wochen bis zur Ausstellung, die offenbar ohne meine Bilder stattfinden würde. Es fiel mir zunehmend schwer, mich zu dem Thema Ängste in einem Farbenspiel auszudrücken. Dabei war die Aufgabe wie für mich gemacht. Stattdessen steckte ich in einer ausgewachsenen Schaffenskrise, die sich wie eine Schlinge um meinen Hals legte und mir den Atem raubte.

Frustriert verließ ich das Atelier, um Nicolas in Empfang zu nehmen, der gerade das Haus betrat und nach mir rief. Ich bemühte mich, ein Lächeln aufzusetzen.

Er sah mich besorgt an und fragte: »Schatz, was ist los?«

Meine Fassade brach wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Er hatte mich eiskalt erwischt. Ich löste das aufgelegte Lächeln aus meinem Gesicht und sagte: »Bin am Ende. Da kommt nichts mehr. Bye, bye, Karriere.«

Nick schlüpfte aus der Jacke, hängte sie an den Haken und kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu.

Um seinem Charme zu entfliehen, begnügte ich mich mit einem flüchtigen Kuss, drehte mich geschmeidig aus seinen Armen und eilte in die Küche. Nähe war das Letzte, was ich in dieser Situation brauchte.

»Ich wette, du hast heute nichts gegessen«, rief er mir hinterher.

Das hatte ich tatsächlich nicht. Der Abgabetermin saß mir nicht nur im Nacken, er raubte mir den Appetit und wenn ich ehrlich war, auch den Spaß an meiner Arbeit. Was hatte ich mir nur mit meiner Zusage gedacht?

Mir tat es leid, dass er manchmal meiner Zuneigung hinterherrennen musste, aber ich kam nicht aus meiner Haut. Wer kann das schon? Schweigend bearbeitete ich den Kaffeeautomaten und wartete auf das dampfende Glück. Doch die Maschine rumorte und zischte, zog aber kein Wasser. »Mist«, fluchte ich leise vor mich hin. Nicks Hand schob sich langsam an mir vorbei. Er drückte ein paar Knöpfe und überredete auf diese Weise das Gerät, endlich meinen Kaffee auszuspucken.

»Es gibt Künstler, die plötzlich so ausgebrannt sind, dass sie nie wieder einen Pinsel in die Hand nehmen.« Dieser verheerende Gedanke huschte über meine Lippen, ehe ich ihn daran zu hindern vermochte. So ein Mist, denn jetzt dachte er womöglich, mich trösten oder bemitleiden zu müssen. Bei aller Liebe, aber das war das Letzte, was ich brauchte.

»Sidney, das wird schon wieder. Kreativität ist ein Prozess. Wie oft hast du gedacht, dass alles vorbei ist und dann Bilder abgeliefert, die heute noch ihren Meister suchen.«

Mir entglitt ein Seufzen. Ja, er hatte recht. Dennoch fühlte sich meine Schaffenskrise so endgültig an, dass sie mich ängstigte. Wenn ich nicht mehr malen konnte, wozu wäre ich dann zu gebrauchen?

»Jetzt mach dich nicht verrückt. Lass uns essen gehen.«

Raus gehen? Dazu hatte ich keine Lust. Ich zupfte an meinem Haar. »Ich glaube, die Wiederherstellung meiner Fassade würde zu lange dauern. Bestellen?«

Nick schenkte mir ein Lächeln. Eines, das seine zarten Grübchen zum Vorschein brachte, denen ich einfach nicht widerstehen konnte. »Du siehst wunderschön aus.« Er näherte sich und breitete erneut die Arme aus. Diesmal ließ ich die Umarmung zu und bereute es nicht. Sein Duft hüllte mich wie ein prickelndes Versprechen ein.

»Hast du mal daran gedacht, diese Pillen abzusetzen? Ich meine, die besten deiner Ideen stammen aus Träumen.«

Wie ein hartgeworfener Baseball traf mich seine Aussage. Meine Träume waren so grausam, dass ich gar nicht daran dachte, sie zurückzuholen. Deshalb hatte ich mich freiwillig gemeldet, an dieser Medikamentenstudie teilzunehmen. »Vergiss es«, war daher meine knappe Antwort. Ich schälte mich aus seiner Umarmung und lief ins Bad.

»Warte, so war das doch nicht gemeint.«

»Ich geh mich nur frisch machen. Essen gehen ist doch eine gute Idee«, erwiderte ich und schloss die Badezimmertür hinter mir ab.

Ich ließ das Wasser über meine Handgelenke laufen, dessen Kälte mich wie ein frischer Frühlingsmorgen erfüllte, der meine Seele berührte und sich in ihr niederließ. Nur für einen Moment, nur so lange, bis sich mein Innerstes dagegen sträubte und die Lebendigkeit abschüttelte. Denn da gab es einen Teil in mir, der mich ermüdete. Dieser Teil war stärker als alles andere.

Früher dachte ich, diese allumfassende Erschöpfung wäre von den Träumen verursacht worden, die mich jede einzelne Nacht heimgesucht hatten. Nun, da ich dank moderner Medizin und deren Nebenwirkung nicht mehr träumte, musste ich die Quelle dafür woanders suchen. Ich blickte auf. Mein Spiegelbild zeigte eine Frau, die ich nicht mochte.

Die rotbraunen Haare zu einem zerzausten Dutt hochgesteckt, dunkle Augenringe und nackte Sommersprossen, die sich in meinem Gesicht breitgemacht hatten. Ich hasste diese Sprenkel. Sie entwickelten sich mit den ersten Sonnenstrahlen im Jahr und verblassten erst wieder in den Wintermonaten.

Für einen winzigen Augenblick hatte ich den Eindruck, als verberge sich ein anderes hinter meinem Gesicht. Aber als ich blinzelte, blickten mich nur müde Augen an.

Ein sachtes Klopfen an der Tür unterbrach meine Betrachtung. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, klar«, log ich rasch, um weiteren Fragen auszuweichen, und kümmerte mich um die Wiederherstellung meines Äußeren. Zum Glück verriet die Fassade nicht viel von meinem Innenleben.

Nicolas wartete geduldig auf dem Sofa. Seine Beine lagen verschränkt auf dem niedrigen Tisch. Nach einem harten Arbeitstag legte er sie immer hoch. Offenbar hatte ihn sein Dad wieder einmal wie eine Zitrone ausgepresst. Dieser Mann war ein Erfolgsmensch durch und durch. Kalt und rational – in der Lage, jeden mit nur wenigen Worten mundtot zu machen. Es tat mir um Nicks Seele leid, die Tag für Tag dieser Kälte ausgesetzt war. Mein Räuspern ließ ihn aufschrecken. Sofort stand er auf und strich hastig seine Hose glatt.

»Können wir?«, fragte ich.

»Zum Italiener?«

»Mir egal«, antwortete ich lapidar und dachte mir nichts dabei. Nick aber wirkte tief getroffen.

Er sah mich an, als hätte ich mit meiner Bemerkung zehn Tage Sturm heraufbeschworen. Also revidierte ich meine Aussage. »Italiener ist gut.«

Ich schlüpfte in meinen Kurzmantel. Der Sommer wollte sich nicht einstellen, versteckte sich hinter eisiger Luft und heftigen Regenfällen. Dieser Juni war eindeutig zu kalt. Als ich mein Haar über den Jackenkragen hob, hörte ich ein leises unverständliches Flüstern. »Was hast du gesagt?«

Nick stand bereits an der Tür und war im Begriff hinauszutreten. Er drehte sich mir zu und blickte mich verwirrt an. »Ich hab nichts gesagt«, erwiderte er und hielt mir die Tür auf.

Dem Flüstern schenkte ich keine weitere Beachtung, wahrscheinlich hatte ich es mir eingebildet, genauso wie das seltsame Doppelgesicht im Spiegel.

Wir ergatterten einen Tisch am Fenster. Das Restaurant war nicht sonderlich gut besucht, seit der Asiatempel gegenüber seine Pforten geöffnet hatte. Die Leute waren übersättigt von dem, was sie kannten. Sie brauchten etwas Neues, das sie aus ihrer kulinarischen Lethargie zu reißen vermochte.

Genauso verhielt es sich mit der Kunst. Ich sollte etwas Neues, nie Dagewesenes erschaffen – etwas, das die Seele des Betrachters berührte. Doch mir fiel einfach nichts ein.

Plötzlich spürte ich, dass mich jemand beobachtete. Doch in dem Gastraum war nur ein weiterer Tisch belegt. An ihm saß ein Paar, das nur Augen füreinander hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich die beiden für mich interessierten. Aufmerksam ließ ich meinen Blick durch das Lokal schweifen. Der Kellner stand hinter dem Tresen und war geradezu meditativ in das Polieren von Gläsern vertieft. Er hob das Glas in seiner Hand, betrachtete es im gelben Licht der Barbeleuchtung und zog es erneut durch das Poliertuch. Sonst war niemand da.

Und doch spürte ich Augen in meinem Nacken. Ich wandte meinen Blick dem Fenster zu meiner Rechten zu. Ein Moment der Unsicherheit erfasste mich, denn draußen stand eine Frau mit schulterlangen Haaren und dunklen Augenringen, und sah zu, wie ich aß.

Es dauerte einige Sekunden, bis ich registrierte, dass sie gar nicht auf der Straße stand, sondern sich in der Scheibe spiegelte. Wenn ich die physikalischen Gesetze nicht gänzlich missverstanden hatte, musste sie im Lokal neben dem Tisch stehen.

Jemanden beim Essen zu beobachten, gehörte sich einfach nicht. Mein Kopf schnellte zur Seite, während sich Worte auf meine Zunge schlichen, mit denen ich sie vertreiben wollte. Doch zu meiner Verwunderung blickte ich direkt zum Kellner, der noch immer mit seinem Glas innig verschmolzen zu sein schien. Wo war sie hin? So schnell konnte sie doch nicht verschwunden sein. Als ich darüber nachdachte, kam mir in den Sinn: Ich hatte bereits von ihr geträumt. Das lag einige Monate zurück. Eine Zeitlang hatte sie meine Träume regelrecht beherrscht.

»Schmeckt es dir nicht?«, fragte Nicolas und schob sich eine mit Pasta befüllte Gabel in den Mund.

»Doch, es war nur ...« Was sollte ich sagen, um nicht verrückt zu erscheinen? »Ach, nicht so wichtig.«

Den restlichen Abend im Restaurant schwiegen wir uns an. Ich stocherte in meiner Pasta herum und dachte darüber nach, warum ich diese Halluzinationen hatte.

Lag es an dem neuen Medikament? Das durfte nicht sein, denn es hatte mir in den letzten Wochen seit langer Zeit echten Schlaf beschert. Meine Anspannung wurde mit jeder Minute größer, bis es schließlich aus mir herausplatzte wie Süßkram aus einer angestochenen Piñata.

»Ich sehe seltsame Dinge.«

Nick blickte verdutzt von seinem Teller auf. Die Gabel hatte er bis zur Hälfte in den Mund geschoben. Er hielt inne, sah sich vorsichtig um und zog die Gabel samt Inhalt wieder heraus. »Was?«, schmetterte er mir ungläubig entgegen und riss die Brauen hoch. »Was für Dinge?«

Ich hatte nicht erwartet, dass er mich auf Anhieb verstehen würde, aber mit dieser impulsiven Reaktion hatte ich auch nicht gerechnet. Sorgfältig sammelte ich meine Gedanken und wog die nächsten Worte ab. »Ich bin mir nicht sicher.«

Wie zur Salzsäule erstarrt sah er mich voller Erwartung an.

Ich fuhr also fort: »Sie sind für den Bruchteil einer Sekunde da und dann wieder weg.«

Endlich reagierte er mit einem Nicken. Doch in seinen Augen konnte ich genau sehen, dass er mir kein Wort glaubte. Und dann sprach er meine Befürchtung auch noch laut aus.

»Das sind die Pillen. Ich bin mir ganz sicher. Du solltest den Doc anrufen.«

Hätte er nicht einfach nichts sagen können? Schließlich platzte mir der Kragen. »Du hältst mich für durchgeknallt, stimmts?« Meine Stimme klang selbst für meine Ohren viel zu schrill. Vor Scham wäre ich am liebsten im Boden versunken.

Der Kellner stellte das Glas weg und richtete den Blick auf uns. Nicolas schob seine Hand über den Tisch und berührte meine, während er mich besorgt ansah. Ich entzog sie ihm und verschränkte die Arme vor der Brust. Meine Abwehrhaltung deutete Nick richtig und schnippte nach dem Kellner, der sofort herangeeilt kam. »Ist alles in Ordnung?«

Nicolas ging nicht auf seine Frage ein und verlangte die Rechnung.

Doch der Mann ließ nicht locker. »Gibt es ein Problem?«

»Ich hätte nur gerne die Rechnung«, wiederholte Nick.

Der Kellner ließ seinen prüfenden Blick über den Tisch schweifen und blieb erst an meinem Teller haften, dann an mir.

»Hat es nicht geschmeckt?«

»Nein, nein«, beschwichtigte Nick. »Mit dem Essen ist alles in Ordnung.« Sein Blick wanderte anklagend zu mir.

Der Mann schien sofort zu verstehen, wo das Problem lag. Mit einem aufgesetzten Lächeln drehte er sich auf dem Absatz um und kehrte nach weniger als einer Minute mit der Rechnung zurück. Na wunderbar! Jetzt lag die Schuld an dem geplatzten Abend bei mir. Nicolas bezahlte und gab reichlich Trinkgeld.

Auf dem Weg zum Auto fühlte ich mich schlecht. Ich hätte auch schweigen können, aber ich musste ja wie eine Bombe platzen und ihm vorwerfen, mich für verrückt erklärt zu haben. Nach einiger Überlegung fiel mir auf, dass er das gar nicht getan hatte. Mit keinem Wort hatte er erwähnt, dass ich nicht sauber tickte. Ich hatte mich einfach in die Sache reingesteigert. Das verpasste mir den Rest.

»Tut mir leid«, murmelte ich, als er einsteigen wollte.

Er hielt inne und sah mich an, schüttelte den Kopf und setzte sich wortlos auf den Fahrersitz. Wie angewachsen blieb ich stehen, bis er mich fragte, ob ich hier Wurzeln schlagen wollte.

Während der Fahrt versuchte ich mein Glück erneut. »Es tut mir wirklich leid. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.«

»Ich schon«, erwiderte er und warf mir einen raschen Blick zu. Dann starrte er wieder auf die Straße. »Es ist doch so: Im Traum verarbeitet der Mensch die Eindrücke des Tages und wenn du nicht träumst, muss dein Hirn irgendwie anders den Ballast loswerden.«

»Aber wenn ich die Pillen absetze, sind die Albträume wieder da.«

»Ich weiß. Ich verstehe sowieso nicht, warum Dr. Pennywise ...«

»Pennywhore«, verbesserte ich ihn.

»Wie auch immer. Warum arbeitet sie nicht an den Träumen. Pillen kann doch jeder verschreiben. Vielleicht solltest du dir eine andere Psychiaterin suchen.«

»So ist das nicht. Du kannst das nicht verstehen. Ich wollte einfach mal durchschlafen. Nichts, was ich sonst probiert habe, hat geklappt. Außerdem ist das mit dem traumlosen Schlaf nur eine Nebenwirkung.«

Seine Kiefermuskeln zuckten. Er nickte. »Okay, solange es dir guttut, ist das alles legitim.« Er betonte das letzte Wort so, als wollte er noch weitersprechen. Aber er schwieg.

Also half ich ihm auf die Sprünge: »Aber?«

Hektisch manövrierte er den Wagen in einen schmalen Parkplatz und sah mich an, holte tief Luft, plusterte die Backen und entließ sie durch einen schmalen Lippenspalt. »Also gut, Tacheles! In letzter Zeit scheinst du nicht mehr vollständig zu sein. Dein Kopf hängt andauernd in den Wolken.«

»Ich bin Künstlerin«, beschwerte ich mich.

»Ich weiß. Es wäre auch nichts daran auszusetzen, wenn nicht diese Leere aus deinen Augen dringen würde. Verstehst du nicht? Die bescheuerten Pillen unterdrücken deine Seele oder so was. Das muss aufhören, bevor nur noch eine Hülle von dir übrig ist. Verstehst du das?« Er sah mich eindringlich an, was in mir zwei völlig unterschiedliche Gefühle zum Vorschein brachte.

Einerseits kochte ich vor Wut. Wie konnte er mir vorwerfen, meinen Gedanken nachzuhängen? Andererseits war ich ihm dankbar für seine offenen Worte. Mir selbst fielen solche Dinge nicht auf, wie auch. In mir hatte sich ein gewaltiges schwarzes Loch festgesetzt, das an meiner Seele zerrte und alles mit sich riss, was mich ausmachte. Lange Zeit hatte ich gedacht, es läge am Schlafmangel.

»Du weißt, dass ich mir Sorgen um dich mache. Früher hast du vor Ideen nur so gesprüht, dass mir ganz schwindelig wurde. Und jetzt ist es, als wärst du ganz woanders.«

Ich schluckte Tränen hinunter. Mein Kinn zitterte, aber es gelang mir, eine Heulattacke zu unterdrücken. Einen Moment sammelte ich mich, um ihm zu sagen, dass ich verletzt war. Doch all meine Gefühle pressten sich in nur ein Wort, das über meine Lippen huschte: »Wow!«

»Wow?«, wiederholte er und warf mir einen skeptischen Blick zu.

»Das war ehrlich«, warf ich rasch hinterher, um ihm nicht das Gefühl zu geben, seine Sorge nicht ernst zu nehmen. Doch meine nächsten Worte klangen selbst in meinen Ohren wütend: »Okay, morgen Vormittag fahre ich zu Dr. Pennywhore. Einverstanden?«

»Jetzt bist du sauer!«, stellte er fest.

Oh ja, ich war sauer. Ich war sogar ziemlich sauer. Aber nicht auf ihn, denn er hatte ausgesprochen, was ich nicht einmal zu denken wagte. Seit Wochen versuchte ich, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, und brachte nichts zustande. Dabei lag die Lösung so nah, dass ich sie selbst nicht gesehen hatte.

Stillschweigend betraten wir das Haus, ebenso wortlos machte ich mich bettfertig und legte mich auf meine Seite der weichen Matratze. Ich schob mein Kissen zurecht und drehte mich von ihm weg.

»Gute Nacht«, sagte er.

Mir entkam nur ein leises »Hm«, bevor er das Licht löschte.

Ein zarter Zweifel drängte in mein Bewusstsein. War ich bereit, mich den lähmenden Grausamkeiten meiner Träume zu stellen? Es dauerte nicht lange, da hörte ich das schwere Atmen meines Verlobten und gleichzeitig das Flehen meines Inneren. Lange widerstand ich ihm nicht und griff im Dunkeln zu dem Fach meines Nachttisches, zog es auf und ertastete die Plastikdose. Ich nahm zwei Pillen heraus und schluckte sie ohne Wasser hinunter. Zumindest würde ich in dieser Nacht nicht träumen.

 

Schweißgebadet schreckte ich aus dem Schlaf. Mein Mund war staubtrocken. Trotz schier unüberwindbarer Trägheit schälte ich mich aus der Decke und setzte mich auf. Ich fühlte mich beobachtet. Vorsichtig wandte ich mich Nicolas zu, aber er schlief seelenruhig. Als ich mich wieder hinlegen wollte, erfasste mein schweifender Blick eine Gestalt. Ich erstarrte.

Durch meine Lähmung hindurch klärte sich mein Verstand. Deutlich sah ich eine Frau, die sich dem Fußende des Bettes näherte. Schlagartig sank die Temperatur im Zimmer. Ihr Umriss zeichnete sich vor dem Fenster dahinter ab, durch dessen weißen Vorhänge zartes Licht des anbrechenden Morgens hereinfiel.

Ich atmete flach, meine Gedanken vereisten wie unter dem Hauch der Eiskönigin. Mit jedem Herzschlag wurden die Konturen der Frau schärfer, sodass ich ihr blasses Gesicht sah, in dem dunkelgerahmte, tote Augen lagen, aus denen sie mich betrachtete.

Es war mir nicht möglich, meine Lider zu schließen oder gar wegzusehen. Ich wollte schreien, aber aus meinem Mund kam kein Ton. Ihr langes Haar fiel wallend über die Schultern und sie hob den Arm, um mit ausgestrecktem Finger auf mich zu zeigen.

Das Zimmer drehte sich, ich konnte nicht atmen, als säße sie mit all ihrem Gewicht auf meiner Brust. Schweiß perlte auf meiner Stirn und mein Herz überschlug sich angstgenährt. Ich spürte Druck auf den Ohren, als wäre ich tief in den Ozean hinabgetaucht. Etwas in meinem Innersten klammerte sich an dieses Bild.

Unerwartet verblasste die Erscheinung und nahm meine Starre mit sich. Nur langsam kam ich wieder zu mir. Was zum Teufel war geschehen? Wurde ich wirklich verrückt? Meine Hand glitt zum Lichtschalter der kleinen Nachttischlampe. Sanftes Licht vertrieb die Ausläufer meiner Angst. Einige Minuten blieb ich im Bett sitzen, ehe ich aufstand und in die Küche schlich.

Es war drei Uhr in der Früh. Nicolas musste erst in drei Stunden aufstehen und ich konnte nicht mehr schlafen. An die Gestalt erinnerte ich mich nur noch schemenhaft. Darüber war ich nicht traurig.

Trotzdem konnte ich das Gefühl nicht abstreifen, beobachtet zu werden. Gänsehaut breitete sich über meinen Körper aus. Ich genehmigte mir ein Glas kaltes Wasser, aber es half mir nicht im Geringsten. In meinem Inneren blieb ich aufgewühlt.

Vor vier Wochen hatte ich das Rauchen aufgegeben. Die angebrochene Schachtel mit Feuerzeug lag im Tütenfach unter dem Kaffeeautomaten. Was auch immer Nick dazu sagen würde, ich musste jetzt eine rauchen. Da ich eh nicht schlafen konnte, bereitete ich mir einen Kaffee Latte und streute etwas Kakaopulver darauf.

Mit meinem Kaffee und der Zigarettenschachtel schlich ich in den Garten. Kühle Luft empfing mich mit weit ausgebreiteten Armen. Nebel lag über dem Grundstück und verlieh ihm einen märchenhaften Zauber. In meine kuschelige Strickjacke gehüllt, schlüpfte ich in Nicks Badelatschen, die auf der Terrasse lagen, und zog mich auf eine steinerne Bank am Teich zurück.

Frösche quakten und die ersten Vögel stimmten ihre Lieder an. Je länger ich hier saß, umso mehr wurde mir klar, wie dämlich ich reagiert hatte. Ich hatte mich vor meiner eigenen Einbildung erschreckt. Kopfschüttelnd nahm ich einen Schluck Kaffee und zündete eine Zigarette an, von der ich einen vorsichtigen Zug nahm.

Meine Gedanken kreisten um den gestrigen Abend und die Spiegelung im Fenster, die offenbar keine war. Ich konnte mich nur verschwommen daran erinnern, was ich gesehen hatte. Dennoch beschlich mich die Befürchtung, dass die Frau im Schlafzimmer dieselbe war wie die in der Glasscheibe.

Entsprang sie meiner Fantasie? Vielleicht war ich ihr irgendwo begegnet, ohne mich daran zu erinnern. Womöglich war das der Versuch meiner Muse, mich an meine Arbeit heranzuführen. Was ich erlebte, passte eindeutig zum Ausstellungsthema Angst. Wer auch immer es gewählt hatte, musste in den Tiefen seines Herzens ein Sadist sein. Entschlossen, die Erscheinung auf eine Leinwand zu bannen, trat ich die Zigarette aus und stand auf.

Sonderlich großen Erfolg versprach ich mir nicht, denn alles, was ich in letzter Zeit gemalt hatte, war nicht besser als die Kritzeleien eines Grundschülers. Dennoch wollte ich es versuchen.

 

 

 

 

Zeichen

Der Nebel zog sich mit der Gemächlichkeit einer alten Frau zurück. Er hinterließ feinen Tau auf der Wiese, der meine Füße benetzte. Die kühle Nässe machte mir klar, nicht zu träumen. Umso verwirrter war ich, als mein Blick zum Fenster des Ateliers wanderte und einen Schatten erfasste, der sich entfernte, kaum dass ich ihn entdeckt hatte.

War das Nick? Beobachtete er mich etwa? Was hatte er in meinem Bereich verloren? Ich eilte hinein, um ihn zur Rede zu stellen. Als ich jedoch am Schlafzimmer vorbeiging, hörte ich das schwere Atmen meines tiefschlafenden Verlobten. Ich schluckte, mein Herz blieb stehen, rutschte in meine Kniekehlen und setzte in schnellerem Takt seine Arbeit fort. Wer zum Teufel war im Atelier?

Meine bleiernen Beine wollten mich kein Stück weiter tragen, aber ich zwang sie dazu. Womöglich hatte sich ein Einbrecher eingeschlichen. In meinem Kopf überschlugen sich die Möglichkeiten. Sollte ich die Polizei rufen?

Höchstwahrscheinlich kämen die Beamten erst, wenn alles vorbei war. Ich befürchtete, dass der Eindringling mein Telefonat mitbekommen könnte und die Polizisten nur noch unsere Leichen finden würden.

Auf Zehenspitzen schlich ich zum Kamin ins Wohnzimmer, um mich mit einem Feuerhaken zu bewaffnen. Mit dem kalten Eisen in der Hand fühlte ich mich besser. Wem ich damit eins überzog, der würde so schnell nicht mehr aufstehen.

Mein Herz trommelte so heftig, dass ich befürchtete, es könnte mich verraten. Mit angehaltenem Atem näherte ich mich auf leisen Sohlen dem Atelier. Die Tür fand ich offen vor. Mir wollte nicht einfallen, ob ich sie gestern zugezogen hatte. Ich presste den Rücken an die Wand daneben und stützte den Schürhaken gegen das Türblatt. Mit ein bisschen Druck gelang es mir, sie weiter aufzuschieben. Ihr Quietschen erschreckte mich, dabei kannte ich es seit vielen Jahren. Diese dummen Scharniere hätten wir längst schmieren sollen. Ohne mich zu rühren, fasste ich das Eisen mit beiden Händen und verschmolz regelrecht mit der Wand. Das Atmen beschränkte ich auf ein notwendiges Minimum. Was jetzt? Ich stand da wie angenagelt und zitterte wie Espenlaub.

Da polterte es im Atelier.

Mein Geist überschlug sich und belieferte mich mit Bildern meines vorzeitigen Todes. Mit schwitzigen Händen packte ich den Schürhaken noch fester, bis sich meine Nägel ins Fleisch der Handflächen fraßen. Aber es half nichts. Ich musste meine Angst überwinden und da rein, um den Einbrecher unschädlich zu machen. Also zählte ich in Gedanken bis drei und betrat mit puddingweichen Knien den Raum. Mein Blick rasterte die Wände, aber ich sah nicht einmal einen Hemdzipfel von ihm. Es war unwahrscheinlich, dass sich der Kerl zwischen den an der rechten Wand lehnenden Leinwänden und den fein säuberlich gestapelten Papierblöcken in dem Regal der linken Wand verkrochen hatte und in meinen Tuben und Flaschen steckte er sicherlich auch nicht. Er war über alle Berge. Dennoch blieb ich vorsichtig. Jede Faser meines Körpers war zum Zerreißen angespannt. Jemand hatte hier gewütet, denn auf dem Boden lagen meine Pinsel verstreut, daneben die Metalldose, in der sie für gewöhnlich standen. Beim genauen Hinsehen fiel mir auf, dass sie seltsam gereiht waren. Und falls ich nicht im Wachzustand träumte, bildeten die Pinsel die Zahl 4. Konnte das ein Zufall sein? Hatte die Dose so weit am Tischrand gestanden, dass sie der Schwerkraft nachgegeben hatte? Ich stand mitten im Raum und überlegte, was geschehen sein könnte.

Da! Schritte.

Direkt hinter mir kamen sie zum Stehen. Ich griff den Schürhaken mit beiden Händen, holte aus und machte eine Drehung, um dem Typen den Schädel zu spalten.

Gerade noch rechtzeitig erfassten meine Augen Nick.

Er packte meine Handgelenke und wich mir aus. »Hey! Willst du mich umbringen?«

Sofort ließ ich das Eisen los. Es ging klirrend zu Boden. »Oh Gott, beinahe hätte ich dich getroffen. Was schleichst du dich auch so an?«

»Warum schlägst du denn um dich?« Nick blickte verwirrt von mir zum Feuerhaken.

»Ich …«, begann ich und drehte mich zu den Pinseln um. »Da! Siehst du das?«, sagte ich viel zu laut und zeigte auf die 4, die noch immer so dalag, wie ich sie gefunden hatte. Das war ein Beweis, der Beweis. Ich war nicht verrückt und bildete mir auch nichts ein. Zumindest nicht diesen Einbrecher.

Aber war es wirklich ein Einbrecher, der nichts weiter tat, als eine 4 aus Pinseln zu bilden? Plötzlich wusste ich gar nichts mehr. »Hier war einer, der hat die Pinsel umgeworfen und diese Zahl daraus gelegt«, sagte ich.

Er gähnte und kratzte sich am Hinterkopf. »Meinst du nicht, sie könnten einfach runtergefallen sein?«

Was? »Nein! Ich habe ihn gesehen«, sagte ich und trat näher an ihn heran. »Nick, hier an diesem Fenster hat er gestanden.« Ich schnellte herum und zeigte auf die Stelle, an der ich ihn entdeckt hatte. »Ich war im Garten und ...«

»… hast geraucht!«, stellte er fest.

Erwischt. »Ja, aber nur, weil ich vorher diese Frau gesehen habe, die an unserem Bett stand.«

»Was denn nun? Mann oder Frau? Sid, ich glaube, du bist ziemlich durcheinander.«

»Nein! Nick, was, wenn der noch immer hier im Haus ist?«

Er seufzte und warf mir diesen Wenn-es-dich-beruhigt-Blick zu. »Soll ich nachsehen?«

Ich schluckte. »Aber sei vorsichtig.«

»Gut«, sagte er und bückte sich nach dem Feuereisen. »Du wartest hier.«

Ich blieb wie ein verstörtes Kind zurück, das ein Monster in seinem Schrank vermutete. Angespannt lauschte ich dem Geschehen. Nick rief lautstark, erhielt aber keine Antwort. Ich hatte den Eindruck, er nahm die Situation auf die leichte Schulter.

Schritte näherten sich dem Atelier.

Mein Puls beschleunigte. Schnell begab ich mich an die Wand neben der Tür, um nicht wie auf dem Präsentationsteller zu stehen. Mit dem Rücken an der Wand und vor der Brust verschränkten Armen lauschte ich den Schritten, die sich schlurfend vom Flur her näherten. Plötzlich blieben sie stehen. Mein Herz beschloss, in meinen Hals zu rutschen. Dort trommelte es und raubte mir den Atem.

»Sidney?«

Erleichtert, Nicolas zu hören, antwortete ich: »Hier« und trat vor, als meine Ohren wie aus dem Nichts ein Flüstern traf. Es kam vom Fenster. Vor Schreck machte ich einen Hüpfer in Nicks Richtung und blickte mich um.

»Was ist denn jetzt schon wieder?« Er klang genervt.

»Hast du das nicht gehört?«

Nicolas stemmte die Hände in die Hüfte und sah mich fragend an.

»Da hat jemand meinen Namen geflüstert.« Kaum ausgesprochen, bemerkte ich selbst, wie dämlich mein Verhalten auf ihn wirken musste.

»Sid, gib endlich Ruhe. Ich bin viel zu früh wach. Kannst du dich jetzt bitte zusammenreißen, damit ich mich noch mal hinlegen kann?«

Ich nickte und senkte verschämt meinen Kopf. Total hysterisch hatte ich reagiert.

»Schön«, ließ er fallen und zog sich zurück.

Ich hielt den Atem an, bis sich die Schlafzimmertür schloss.

 

Den Morgen verbrachte ich im Atelier. Die weiße Leinwand starrte mich hämisch grinsend, pulsierend an. Das vertrieb jeglichen Anflug meiner Fantasie und auch als ich etwas Farbe mit dem Pinsel aufnahm, erschien es mir unmöglich, diese auf den weißen Untergrund aufzutragen. Etwas hielt mich zurück. Nach einer Weile gab ich den Versuch auf und verschwand unter der Dusche. Nicolas hatte das Haus offensichtlich verlassen, ohne sich von mir zu verabschieden. Das tat weh, es bedeutete, dass er ziemlich sauer war. Dabei hatte ich ihn doch nicht absichtlich geweckt.

Die Uhr zeigte zehn. Wo war die Zeit hin? Ich vermochte mich nicht zu erinnern, womit ich mich die letzten Stunden beschäftigt hatte. So viel Zeit hatte ich doch bestimmt nicht im Atelier verbracht. Ich musste diesem Zustand der Ungewissheit ein Ende bereiten. Was auch immer der Auslöser meiner Erlebnisse war – ich musste sie ab sofort unterdrücken, ehe ich mich verlor.

 

Auf dem Weg zu Dr. Pennywhore dachte ich darüber nach, wie ich ihr mein Problem schildern könnte, ohne dass sie mich in die Irrenanstalt einweisen würde. Durfte ich ihr von den Stimmen und Erscheinungen erzählen, die offenbar nicht vorhanden waren? Hoffentlich war sie in der Lage, mich zu beruhigen. Je mehr ich darüber nachdachte, umso stärker hinterfragte ich meine Entscheidung, mich auf diese Medikamentenstudie einzulassen. Das Zeug war bisher nicht an Menschen erprobt worden und ich schluckte es wie Bonbons. Wenn Nicolas davon wüsste, würde er Dr. Pennywhore in der Luft zerreißen – oder mich.

Mit einem mulmigen Gefühl betrat ich die Praxis und nickte der Arzthelferin hinter dem Tresen freundlich zu.

»Miss Clark. Was kann ich denn für sie tun?«

Ich kaute auf meiner Unterlippe herum, warf einen Blick in das leere Wartezimmer und sagte leise: »Ich brauche Hilfe.«

Skeptisch sah sie mich an. »Jetzt sofort?«

»Bitte.«

»Setzen Sie sich. Es kann aber eine Weile dauern. Frau Doktor ist in einem Verkaufsgespräch.«

»Verkaufsgespräch?«

Statt auf meine Frage einzugehen, wiederholte sie: »Bitte setzen Sie sich.«

Gott, wie ich es hasste, so eindeutig abgewimmelt zu werden. Ich verzog mich in das Wartezimmer und setzte mich auf einen der in akkuraten Abständen voneinander aufgestellten Stühle. An jeder von drei Wänden standen drei Stühle, in der Mitte des kleinen quadratischen Raums ein niedriger Tisch, auf dem einige Hefte lagen.

Es war ein ganz normales Wartezimmer, könnte man meinen. Doch irgendetwas störte mich hier. Etwas, das wie ein Schwelbrand unter einem lockeren Haufen Holzwolle lauerte. Was es war, wollte sich mir jedoch nicht erschließen.

Ich wartete eine geschlagene Stunde, bis mein Name aus dem Lautsprecher ertönte. Erschrocken fuhr ich zusammen. Das entging der Dame am Empfang nicht. Sie blickte mich besorgt und eindringlich an, als wollte sie in meinen Kopf hineinsehen. Ich stand auf, strich mein Shirt glatt und begab mich in das Behandlungszimmer.

»Miss Clark«, begrüßte mich Dr. Pennywhore. »Wie geht es Ihnen?«

Ich seufzte und folgte ihrer Handbewegung, die mich dazu aufforderte, Platz zu nehmen. Sie setzte die dünngefasste Brille auf und studierte meine Akte. Eine Strähne ihres brünetten Haares, das sie mit einer Spange am Hinterkopf hochgesteckt hatte, machte sich selbstständig und fiel nach vorne.

Ihre Erscheinung passte nicht zu ihrem Beruf, jedenfalls nicht für meine Vorstellungen. Auch, wenn es reines Schubladendenken war, für mich hatten Psychiater wie Nerds auszusehen. Sie hingegen war hübsch, zu hübsch, um hinter Büchern zu verschwinden. Hätte ich sie woanders getroffen, so hätte ich sie für eine Schauspielerin oder Sängerin gehalten. Sie besaß eine starke Präsenz und verschwendete sie an Spinner wie mich.

»Wie kann ich helfen?« Ihre warme Stimme schmeichelte meinem Gehör.

Ich blickte auf. »Was?«

»Warum sind Sie hier?«

»Ach ja. Ich sehe dauernd seltsame Dinge«, platzte es aus mir heraus. Scheiße! Das war das Letzte, was ich ihr erzählen wollte.

Interessiert sah sie mich über den Brillenrand hinweg an. »Dinge?«

»Nein …« Verzweifelt versuchte ich zurückzurudern, aber ich hatte den Köder ausgeworfen und sie hatte angebissen. Verdammt, dabei wollte ich nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. »Ich, ich …« Was zum Teufel sollte ich nur sagen, um nicht in der geschlossenen Abteilung einer Nervenheilanstalt zu landen? Ich stand auf. »Tut mir leid, ich hätte nicht herkommen sollen.«

»Setzen Sie sich.« Ihr Ton vermittelte eine Befehlsgewalt, der ich mich nicht entziehen konnte. Artig nahm ich wieder Platz und klammerte mich an meine Tasche.

»Also, jetzt ganz langsam«, sagte sie und sah mich eindringlich an. »Was sind das für Dinge, die Ihnen erscheinen?«

Mir gefiel nicht, wie sich die Atmosphäre in dem Raum veränderte. Mit einem Mal fühlte ich mich wie ein Schaf auf dem Weg zur Schlachtbank. »Ich weiß nicht. Das war bestimmt nichts.«

Sie neigte sich über den Tisch. »Wenn ich Ihnen helfen soll, müssen Sie ehrlich zu mir sein. Sie sind doch gekommen, weil Sie sich Hilfe erhoffen, oder etwa nicht?«

»Schon, aber ich glaube, ich sollte wieder gehen«, erwiderte ich, ohne über meine Worte nachzudenken. Das war mein Problem. Immer trug ich mein Herz auf der Zunge und schaffte es nicht, in wichtigen Situationen den Mund zu halten.

»Sie sind aufgewühlt. Ich fühle mich unwohl dabei, Sie so gehen zu lassen«, erwiderte sie und schürzte die Lippen. »Wovor fürchten Sie sich?«

»Davor, eingewiesen zu werden«, stahl sich mein Gedanke an die Oberfläche und entlockte meinem Gegenüber ein zartes Lächeln.

»Haben Sie keine Angst. Hier geschieht nichts, was Sie nicht wollen. Warum sollte ich Sie denn gegen Ihren Willen einweisen? Nach meinen Erkenntnissen gefährden Sie weder sich noch andere. Verbessern Sie mich, sollte ich falsch liegen.«

Zaghaft schüttelte ich den Kopf. »Nein, das tue ich nicht.«

»Selbst dann geschieht nichts, was Ihnen schaden würde. Und jetzt schenken Sie mir bitte Ihr Vertrauen und erzählen von den Dingen, die Sie sehen.«

Verflixt! Sie hatte so fest angebissen, dass ich mich da nicht mehr rauswinden konnte. Noch vertraute ich ihr nicht ganz. Aber eindeutig würde sie mich erst vom Haken lassen, wenn ich zumindest ein wenig erzählt hatte. Also holte ich tief Luft und setzte alles auf eine Karte:

»Ich glaube, ich sehe eine Frau.«

»Sie glauben?«

Ich kratzte mich am Kopf. »Ich kann mich nicht erinnern.«

Sie notierte etwas in meiner Akte.

Die Luft knisterte vor Anspannung. Ich fürchtete immer noch um meine Freiheit. »Ich glaube, es kommt von den Tabletten«, warf ich rasch hinterher.

»Das ist durchaus möglich.«

»Und wenn ich sie absetzen würde?« Du meine Güte, meine Worte polterten einfach aus mir raus.

»Nicht empfehlenswert.«

»Warum nicht?«

Mit einem tiefen Seufzen legte sie den Stift hin und nahm die Brille ab. »Sie haben sich zu dieser Versuchsreihe verpflichtet. Wenn sie diese jetzt abbrechen, muss ich Ihnen wieder den vollen Preis für unsere Sitzungen berechnen.«

»Verstehe.« So eine Hexe. Das war eine fiese Art, mich zu erpressen. Sie wusste genau, dass ich Nicks Geldbeutel schonen wollte. Schließlich war er im Moment Alleinverdiener. Das letzte Bild hatte ich vor Monaten verkauft und der Erlös war lange aufgebraucht.

»Sie reagieren mit Traumlosigkeit auf das Sentirox 2000. Andere Testpersonen träumen umso intensiver. Wieder andere erleben Schlafparalysen. Doch keiner von ihnen hat sich bisher dazu entschlossen, den Test abzubrechen.«

»Ich weiß, aber ich bin wie ausgewechselt. Keine Ahnung, ob das an den Tabletten liegt. Ich kann nicht mehr malen. Verstehen Sie? Meine Existenz ist gefährdet.« Damit versuchte ich, ihr mein Dilemma zu verdeutlichen.

Sie nickte. »Ich wüsste gerne, was Sie halluzinieren. Das könnte ein Schlüssel zu ihren Albträumen sein. Vielleicht könnten Sie die Frau skizzieren?«

Diese Idee fand ich sogar gut. »Ich versuche es.«

»Was fühlen sie während einer Halluzination?«

»Ich bin wie erstarrt.«

»Sie haben Angst?«, fragte sie.

»Das hätten Sie auch, glauben Sie mir«, antwortete ich.

»Wie ist es mit akustischer Halluzination?«

»Sie meinen, ob ich Stimmen höre?« Darauf wollte ich wirklich nicht antworten, aber es preschte wie Wasser bei einem Dammbruch aus mir heraus: »Jemand ruft nach mir.«

»Auch jetzt in diesem Moment?«

Ich schüttelte den Kopf.

»In welchen Situationen tritt das verstärkt auf?«

»Ich weiß es nicht.«

Sie atmete tief durch und presste die Lippen aufeinander. »Ich möchte, dass Sie Ihr Traumtagebuch wieder aufnehmen. Diesmal dokumentieren Sie alles, was Sie außerhalb der Realität erleben. Versuchen Sie, sich an Details zu erinnern. Gehen Sie ihnen auf den Grund. Ich vermute, Ihr Unterbewusstsein hat einen neuen Weg gefunden, mit Ihnen zu kommunizieren. Und denken Sie noch mal darüber nach, wie wir weiter machen. Sie können noch immer ins Schlaflabor, wenn Sie wollen. Überlegen Sie gut, ob Sie den Test abbrechen wollen. Dann könnten Ihnen Antworten auf nicht gestellte Fragen verloren gehen.« Sie nahm den Rezeptblock und notierte etwas. »Hier, das ist ein homöopathisches Mittel. Es wird die Angst dämpfen.«

»Sie weisen mich nicht ein?« Warum fragte ich das? Verdammt!

Dr. Pennywhore antwortete mit einem Lächeln. »Nur, wenn das Ihr Wunsch ist.«

Hastiges Kopfschütteln war meine Antwort darauf.

Doch irgendetwas in ihrem Gesicht veränderte sich. Sorgenfalten bildeten sich und sie neigte sich erneut zu mir herüber. »Sie wollen sich doch nichts antun, oder?«

»Ich? Nein, wieso sollte ich das?«

Schulterzuckend lehnte sie sich zurück in ihren Stuhl. »Sehen Sie, dann besteht gar kein Anlass für eine Zwangseinweisung.«

Die Last eines ganzen Hochhauses fiel von meinen Schultern.

»Miss Clark. Diese Halluzinationen können Ihnen nicht wehtun. Sie werden Ihnen lediglich Hinweise auf Verborgenes liefern. Wir sehen uns nächste Woche wieder und dann betrachten wir gemeinsam, was Sie erlebt haben. Einverstanden?«

Ich nickte. Sie stand auf und begleitete mich zur Tür, und ich befürchtete, dass sie dachte: Jetzt ist es aber gut, du Kleinkind. Raus aus meinem Büro und verschwende nicht meine Zeit.

Aber stattdessen reichte sie mir eine Karte. »Auf der Rückseite steht meine Privatnummer. Ich möchte, dass Sie mich anrufen, wenn Sie es nicht aushalten. Und machen Sie sich keine Sorgen, für die telefonische Beratung werde ich Ihnen nichts berechnen.« Mit diesen Worten begleitete sie mich zum Fahrstuhl.

»Vielen Dank.«

»Passen Sie auf sich auf«, sagte sie, lächelte und kehrte zurück in die Praxis.

Ich bewunderte ihren grazilen Gang und betätigte den Fahrstuhlknopf.

 

Meine Tankanzeige befand sich gefährlich nahe am Nullpunkt. Ich musste einen Zwischenstopp einlegen und fuhr einen winzigen Umweg zur nächsten Tankstelle. Ein hungriger Drache meldete sich in meinem Magen. Appetit hatte ich keinen, aber ein Kaffee erschien mir passend. Die Tankstelle war menschenleer. Als ich die Preise an der Tafel betrachtete, verwandelte sich die Anzeige in ein einziges Wort. Ich rieb mir die Augen. Aber das Wort stand noch immer da.

Wahrheit.

Das war genau das, was Dr. Pennywhore meinte. Mein Unterbewusstsein wollte mir etwas mitteilen.

Ich konnte damit nichts anfangen. Da diese Halluzinationen die Angewohnheit hatten, in Vergessenheit zu geraten, kramte ich in meiner Tasche nach einem Stift. Schnell notierte ich das Wort in meinem Skizzenbuch und sah erneut auf die Tafel, an der nun der Preis für Benzin geschrieben stand.

Ich tankte und besorgte mir einen Kaffee. Der Kassierer stierte mich an, als hätte er nie zuvor einen Menschen gesehen.

»Die Nummer 2 bitte und diesen Kaffee hier«, half ich ihm auf die Sprünge.

»Ke… ke… kenne ich Sie?«, fragte er stotternd mit monotoner Stimme, deren Klang mich in eine ungewöhnliche Unruhe versetzte.

Seltsamerweise hatte auch ich den Eindruck, ihn zu kennen, konnte ihn aber nicht einordnen. Er war etwa so groß wie Nick, hatte grüngraue Augen und eine sportlich schlanke Statur. Sein Haar besaß die Farbe von Mahagoniholz und einige Sommersprossen sah ich auf seinem Nasenrücken. Je länger ich ihn betrachtete, umso sicherer war ich, ihn irgendwo schon einmal gesehen zu haben.

»Nein«, sagte ich streng und reichte ihm einen Zwanziger.

Er schüttelte den Kopf. »Tu… tu…  tut mir leid.«

»Schon okay. Ich will nur bezahlen, dann bin ich wieder weg. Ich habe es eilig«, erwiderte ich.

Er kassierte und wollte mir Rückgeld geben.

»Stimmt so«, sagte ich und verließ in Windeseile die Ladenfläche mit meinem Kaffee.

Irgendetwas war ziemlich schräg an dem Typen gewesen. Könnte er ein Serienkiller sein? Wie Norman Bates, der ganz unschuldig wirkte und Frauen die Kehlen durchschnitt. Ich machte, dass ich von dem Gelände kam. Den Kaffeebecher warf ich, ohne einen Schluck daraus genommen zu haben, in den Mülleimer am Ausgang und eilte zum Auto. Mein Blick huschte automatisch zu dem Kassenfenster. Da stand er und blickte mir mit dem Gesichtsausdruck von Mr. Bates nach. Über dem Fenster hing ein Schild mit dem Wort Gerechtigkeit.

Ich erschrak. Warum stand da nicht Kasse oder so was? Verwirrt blickte ich den Kerl direkt an – als wäre ich durch eine unsichtbare Macht an ihn gefesselt.

Hatte er sich in meinen Kopf geschlichen? Manche Menschen beherrschten die Manipulation anderer, ohne dass diese etwas davon mitbekamen.

Ich schluckte, schnallte mich an und fuhr mit weichen Knien los. Das Gefühl, seine Augen lägen überall auf mir, fraß sich wie eine Krankheit durch mich hindurch. Erst, als die Tankstelle aus meinem Rückspiegel verschwand, legte sich dieser Eindruck. Dennoch musste ich kurz halten und fuhr an den Straßenrand.

War das eine Panikattacke? Auf jeden Fall fühlte ich mich normalerweise nicht so ängstlich. Es dauerte einige Minuten, bis ich mich wieder im Griff hatte und mir eine Weiterfahrt zutraute. Meine verschwitzten Hände wischte ich an der Hose ab und öffnete das Fenster, um etwas Luft hereinzulassen.

Im Nachhinein wunderte ich mich, warum ich so panisch auf diesen jungen Mann reagiert hatte, als hätte er mich auf irgendeine Weise bedroht. Dabei hatte der arme Kerl nur gefragt, ob wir uns schon mal irgendwo begegnet seien.

Auf dem Nachhauseweg schämte ich mich für mein Verhalten. Zum Glück war ich nicht auf diese Tankstelle angewiesen. Beim nächsten Mal würde ich mir einfach eine andere suchen und ihn nie wiedersehen.

Ich fuhr die Straße zu unserem Haus hinauf und entdeckte Nicks Auto in der Einfahrt. Warum war er denn schon zu Hause? Wenn er so früh Feierabend machte, stimmte etwas nicht. Ich konnte mich an das letzte Mal erinnern, als sein Vater mit dem Verdacht auf einen Herzinfarkt in die Klinik gekommen war. Der heutige verdammte Tag drohte aus dem Ruder zu laufen. Schnell parkte ich den Wagen neben Nicks und beeilte mich, ins Haus zu kommen.

»Bin wieder da«, rief ich.

Er kam auf mich zu und lächelte. Nicht die geringste Spur von Besorgnis oder Unheil lag in seinem Gesicht.

Ein Glück! »Was ist passiert?«, erkundigte ich mich.

Er nahm mich in den Arm und sagte: »Mein Vater hat mir einige Tage frei gegeben.«

»Was? Warum denn? Ist jemand gestorben?«

Er lachte. »Aber nein. Ich dachte, du machst eine seltsame Phase durch und solltest nicht allein sein. Vielleicht können wir ein bisschen wegfahren. Möglicherweise inspiriert dich eine Reise.«

Verdutzt sah ich ihn an. Was sollte ich sagen? Einerseits fand ich es rührend, dass er sich Gedanken um mich machte, aber andererseits wollte ich ihm nicht zur Last fallen. Und ich stellte mir die Frage: Für wie gefährdet hielt er mich, dass er sich meinetwegen freinahm? Was hatte er seinem Vater gesagt? Vielleicht so was wie: Hey Dad, meine durchgeknallte Verlobte könnte irgendwas anstellen, was die Menschheit gefährdet, deshalb muss ich sie im Auge behalten. Hin- und hergerissen antwortete ich mit einem von Skepsis getragenen »Okay.«