Lore-Roman 173 - Maria Treuberg - E-Book

Lore-Roman 173 E-Book

Maria Treuberg

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Beschreibung

Die Mitglieder der Familie Dahlen sind aufgeregt. Was hat der Brief dieses Notars aus Argentinien zu bedeuten? Randolf Dahlen ahnt es schon. Es kann sich nur um seinen Bruder Gisbert handeln, der vor Jahrzehnten seine Familie im Streit verlassen hat und nach Argentinien ausgewandert ist. Aber was Randolf dann aus den wenigen Zeilen erfährt, erschüttert ihn tief. Sein Bruder ist schwerkrank und will ihn noch einmal sehen, bevor er stirbt. Schon wenige Tage später fliegt der Bankdirektor nach Südamerika. Seine Frau Sibille und die beiden Kinder Nicole und Ingo warten gespannt auf die Rückkehr des Vaters. Und er kommt nicht allein zurück: begleitet wird er von Pilar Marie, der wunderschönen jungen Witwe seines Bruders ...


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Inhalt

Cover

Die fremde Frau aus Übersee

Vorschau

Impressum

Die fremde Frau aus Übersee

Ein turbulenter Roman um Liebe, Eifersucht und Geld

Von Maria Treuberg

Die Mitglieder der Familie Dahlen sind aufgeregt. Was hat der Brief dieses Notars aus Argentinien zu bedeuten? Randolf Dahlen ahnt es schon. Es kann sich nur um seinen Bruder Gisbert handeln, der vor Jahrzehnten seine Familie im Streit verlassen hat und nach Argentinien ausgewandert ist. Aber was Randolf dann aus den wenigen Zeilen erfährt, erschüttert ihn tief. Sein Bruder ist schwerkrank und will ihn noch einmal sehen, bevor er stirbt. Schon wenige Tage später fliegt der Bankdirektor nach Südamerika. Seine Frau Sibille und die beiden Kinder Nicole und Ingo warten gespannt auf die Rückkehr des Vaters. Und er kommt nicht allein zurück: begleitet wird er von Pilar Marie, der wunderschönen jungen Witwe seines Bruders ...

Dr. Randolf Dahlen saß noch immer an seinem Schreibtisch. Längst hatte die Bank, deren Direktor er war, die Schalter geschlossen.

Ab und zu hörte er den Schritt des Wachmannes auf seinem Kontrollgang durch die Büroflure des mehrstöckigen Gebäudes. Er wusste, dass Wiebrecht bei jedem Vorübergehen an seiner Tür lauschte, ob der Herr Direktor denn immer noch nicht ans Heimgehen dachte.

Viel zu gern wäre Direktor Dahlen nach Hause gegangen. Wenn ihn ein gemütliches Haus, eine liebevolle Ehefrau erwarten würden, dann könnte ihn in diesem nüchternen, mit viel Chrom und Schwarz ausgestatteten Raum niemand mehr halten.

Oft stellte er sich vor, dass er ein kleiner Angestellter sei, der mit einem fröhlichen Guten Abend in einen schmalen Korridor eintrat, in dem schon der Essensgeruch hing. »Was gibt's heute Feines?«, würde er fragen und den Kopf durch die Küchentür stecken.

Und seine Frau würde ihm mit dem Kochlöffel scherzhaft drohen: »Topfgucker mag ich nicht! Du wirst gleich sehen, was es gibt. Dein Lieblingsgericht nämlich!«

Wenn Direktor Dahlen mit seinen Gedanken hier angelangt war, seufzte er tief auf. Seine Frau Sibille hatte noch nie nach seinem Lieblingsgericht gefragt. Er konnte sich auch nicht erinnern, dass sie jemals in der Küche gestanden hätte. Und ganz gewiss befand sich in ihrem fünf Meter langen Kleiderschrank keine einzige Schürze.

Sibille hatte außer einer namhaften Geldsumme auch eine Haushälterin in die Ehe mit eingebracht. Annafrida Beil. Die überaus tüchtige und gewissenhafte Annafrida hatte die Haushaltsführung an sich gerissen, im Laufe der Jahre war ihr Pflichteifer in tyrannische Beherrschung sämtlicher Familienmitglieder umgeschlagen.

Nicht einmal Sibille wagte es, sich Annafrida zu widersetzen. Denn so einfach war es nicht, eine gleichwertige, in punkto Gehalt anspruchslose Kraft zu bekommen.

Also ertrug man Annafridas »Betreuung« klaglos. Randolf Dahlen musste allerdings zugeben, dass in der Jugendstilvilla vor den Toren der Stadt alles wie am Schnürchen lief. Nur es fehlte eben das Anheimelnde eines behaglichen, häuslichen Lebens.

Jetzt pochte es leise an die Tür.

»Kommen Sie nur herein, Herr Wiebrecht!«, rief Randolf Dahlen.

Eine lange, schmale Gestalt schob sich durch den Türspalt. Wiebrecht riss die Mütze vom Kopf und knickte leicht mit dem Oberkörper nach vorn.

»Guten Abend, Herr Direktor. Ich musste doch mal nachgucken, ob Sie in Ihrem Sessel eingeschlafen sind. Es war so still hinter der Tür, und Licht habe ich auch keins gesehen.«

»Ach ja, das habe ich ganz vergessen.« Randolf Dahlen drückte auf den Schalter der Schreibtischlampe. In ihrem Schein sah sein Gesicht müde aus. Dunkle Schatten lagen unter den Augen.

»Wollen Sie nicht Feierabend machen, Herr Direktor?«, fragte Wiebrecht besorgt. »Das lange Arbeiten tut nicht gut.«

»Ich habe nur nachgedacht, Herr Wiebrecht.«

»Denken ist genauso anstrengend«, erklärte Wiebrecht in belehrendem Ton. »Da wird es einem ganz schummrig um den Kopf. Denken geht an die Nerven.«

»Setzen Sie sich ein bisschen zu mir, Herr Wiebrecht.« Randolf taten die gutgemeinten Worte des braven Mannes sichtlich wohl. »Wir trinken zusammen einen Kognak.«

Aber Wiebrecht winkte ab. »Tut mir leid, Herr Direktor. Ich darf meinen Kontrollgang nicht unterbrechen. Und Alkohol im Dienst ... das ist schwer verboten.«

Randolf nickte. »Jaja, Sie haben recht. Ich habe ganz vergessen, dass bei Ihnen die Arbeitszeit erst anfängt, wenn sie bei anderen aufgehört hat. Und darum tue ich Ihnen jetzt den Gefallen und fahre nach Hause.«

»Dann gute Nacht, Herr Direktor. Ich schaue dann noch mal nach, ob Ihr Zimmer ordnungsgemäß abgeschlossen ist.«

Wiebrecht zog sich zurück, leise schloss er die Tür. Erst auf dem Flur drückte er die Mütze wieder auf den Kopf.

Im Weitergehen murmelte er vor sich hin: »Mit dem möchte ich nicht tauschen.«

Randolf Dahlen stand auf. Er trat ans Fenster, die unter ihm liegende Straße war von den Straßenlaternen und den Lichtreklamen der Geschäftshäuser fast taghell erleuchtet.

Der Verkehr war abgeflaut. Das Nachtleben der Großstadt spielte sich in anderen Bezirken ab. Aber Randolf wusste schon jetzt, dass ihn in der eigenen Villa auch eine Art »Nachtleben« erwarten würde.

Der laue Sommerabend verlockte nachgerade dazu, ein Gartenfest abzuhalten. Im Organisieren solcher Feten waren seine beiden Kinder ganz groß. Es verging keine Woche, in der nicht mindestens zweimal irgendeine Clique in der Villa herumtobte.

Laute Musik gellte durch alle Stockwerke, sie tat Randolfs Ohren weh. Selbst die Doppeltür seiner kleinen Bibliothek wurde von den Schallwellen der vier Stereo-Lautsprecher durchbrochen.

Frau Sibille pflegte an solchen Tagen das Weite zu suchen. War einmal Ruhe im Haus, dann tagte ihr esoterischer Zirkel im verdunkelten Wohnzimmer.

Randolf Dahlen hatte also allen Grund, das ungemütliche, aber stille Büro seiner Villa vorzuziehen. Doch jetzt musste er wirklich nach Hause fahren, um wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu finden.

Schon von Weitem erkannte Randolf, dass seine Befürchtung sich bestätigte. Die bunte Lichterkette über der Terrasse, die fest installiert worden war, leuchtete ihm entgegen. Zwischen den Lücken der Parkbäume sah er mehrere Personen herumhüpfen. Und als er in der Garage den Motor abstellte, hörte er auch die Musik und das Lachen um die Hausecke schallen.

Das Garagentor schloss sich automatisch. Randolf betrat die Villa durch die von der Garage aus ins Untergeschoss führende Tür. Wenige Stufen endeten in der großen, pompös eingerichteten Diele.

Kaum hatte er den Fuß auf den wertvollen Orientteppich gesetzt, als sich die im Hintergrund liegende Tür öffnete. Annafrida eile heran. Sie ging niemals langsam, sondern war immer wieselflink zur Stelle.

»Sie kommen wieder so spät, Herr Dahlen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Warum rufen Sie nicht wenigstens an? Ich habe das Abendessen bis jetzt aufbewahrt. Es steht im kleinen Frühstückszimmer.«

»Ich habe keinen Hunger, Annafrida. Sie können es wegtragen.«

»Das darf ich nicht dulden.« Ihr Ton wurde strenger. »Sie ruinieren Ihre Gesundheit. Etwas Leichtes müssen Sie noch zu sich nehmen. Darauf bestehe ich.«

Randolf wusste, dass jeder Widerstand zwecklos war. Annafrida würde keine Ruhe geben.

»Wo ist meine Frau?«, fragte er.

»Heute ist Mittwoch, da findet der Zirkel bei Frau Dr. Böhten statt«, belehrte ihn Annafrida.

»Ah ... dann brauche ich nicht damit zu rechnen, dass sie vor Mitternacht zurückkommt.« Er überlegte einen Augenblick. Dann bat er: »Bringen Sie mir das Essen in die Bibliothek. Dort ist es etwas ruhiger als im Frühstückszimmer.«

Annafrida eilte davon. Sie murrte selten, aber ihr Rücken drückte deutlich ihr Missfallen aus. Als sie dann auf dem alten, schweren Tisch in der Bibliothek noch eine Flasche Rotwein stehen sah, rutschten ihre Augenbrauen vorwurfsvoll bis fast an den Haaransatz herauf.

»Herr Dahlen, ich muss Sie daran erinnern ...«

»... dass der Arzt mir alle leiblichen Genüsse verboten hat. Ich weiß es, Annafrida. Und trotzdem gibt es Augenblicke, in denen mir eine Flasche Rotwein lieber ist als ein um zwei Jahre verlängertes Leben. Außerdem ..., wenn sich alle vergnügen oder ihren Freuden nachgehen, warum soll ich verzichten müssen?«

»Herr Dahlen, bitte, denken Sie nicht nur an sich, sondern auch an Ihre Familie!«

»Denkt denn die Familie an mich, Annafrida? Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass meine Frau, mein Sohn und meine Tochter ständig darauf bedacht sind, auf mich Rücksicht zu nehmen?«

Darauf wusste Annafrida nichts zu antworten. Sie wunderte sich nur, dass der Hausherr plötzlich derartige Töne anschlug, nachdem er um des häuslichen Friedens willen jeglichen Widerspruch vermieden hatte.

Die Verwunderung auf Annafridas Gesicht brachte Randolf vollends in Rage.

»Jetzt ist Schluss da draußen! Ich will meine Ruhe haben!«, rief er und stürmte aus der Bibliothek. Er platzte mitten hinein in einen wilden Lambada, bei dem sich seine Tochter Nicole durch besonders gekonnte Verrenkungen hervortat.

Dieser hautenge Tanzstil missfiel Randolf Dahlen. Er spürte, wie ihm das Blut heiß ins Gesicht schoss. Und er kannte seine Stimme selbst kaum wieder, als er empört schrie: »Schluss! Feierabend, meine Damen und Herren! Dies hier ist kein Vergnügungsetablissement!«

Alles blieb wie erstarrt stehen, nur die Musik plärrte weiter. Nicole löste sich langsam von ihrem Tänzer. Sie wollte ihren Vater schmeichelnd umfangen, aber er stieß sie zurück. Wütend zischte er: »Es ist eine Schande, wie du dich benimmst. Ich schäme mich für dich.«

»Aber Paps«, lachte Nicole unbekümmert, »das ist doch nur ein Modetanz! Zwar schon wieder etwas out, aber uns macht er eben noch Spaß.«

»Aber mir nicht, verstanden? Ich verlange, dass dieses sogenannte Fest sofort beendet wird. Ich habe den ganzen Tag hart gearbeitet. Dann darf ich wohl mit Fug und Recht verlangen, dass in meinem Haus Ruhe herrscht.«

Jetzt kam auch Ingo, der Sohn, näher.

»Ist ja gut, Vater. Bitte, reg' dich ab. Wir gehen schon.«

Zu den Freunden gewandt, rief er: »Los, kommt. Wir fahren alle miteinander zu ›Devils Inn‹!«

»Ja!« ... »He, los, ihr müden Krieger!« ...« Jetzt hau'n wir erst richtig auf den Putz!«

Unter Johlen und Kreischen stürmte die Gesellschaft an Randolf vorüber. Einige rempelten ihn dabei sogar an. Ob aus Versehen oder mit Absicht, das war nicht auszumachen.

Zurück blieb ein Schlachtfeld. Leere Flaschen, jede Menge Gläser, umgekippte Stühle. Nicht einmal das Tonband hatte man abgestellt. Auf den Lambada folgte ein anderer dieser modernen Tänze. Das Schlagzeug dröhnte so laut, dass der müde Mann einen dumpfen Schmerz im Kopf davon verspürte. Mit schleppenden Schritten kehrte er ins Haus zurück.

Nicht einmal die Flasche Rotwein konnte Randolf Dahlen an diesem Abend von seiner depressiven Stimmung befreien. Noch nie hatte er sich so einsam gefühlt wie heute.

***

Es kam so gut wie niemals vor, dass die Familie sich gemeinsam am Frühstückstisch einfand.

Frau Sibille pflegte spät zu Bett zu gehen und spät aufzustehen. Da keinerlei Pflichten auf sie warteten, konnte sie sich diese Tageseinteilung erlauben.

Nicole war eigentlich gar nicht mehr zu Hause. Sie studierte in Paris Sprachen. Da dieser Wunsch nicht ihr eigener, sondern der ihres Vaters war, zeigte sich Nicoles Eifer in nur begrenztem Umfang.

Ihr Interesse galt mehr dem cleveren Ricky Lauritz, einem ewigen Studenten, der von einer Universität zur anderen wechselte. Jetzt studierte er angeblich in Freiburg. Seinetwegen kam Nicole immer wieder ins Schwabenländle zurück, um entweder auf dem Weingut von Rickys Eltern einzukehren oder im Elternhaus zusammen mit dem Bruder tolle Partys zu geben.

Ingo war einmal Randolf Dahlens ganze Hoffnung gewesen. Wie so viele Väter war Randolf dem Irrtum erlegen, dass der Sohn seine eigenen Interessen und Fähigkeiten geerbt haben musste und mit Begeisterung zur Vollkommenheit ausbauen würde! Ingo sollte mehr erreichen als der Vater, er sollte nicht auf einem Direktionsstuhl Halt machen, sondern nach Höherem streben. Vielleicht gar bis zum Chef der Bundesbank emporsteigen!

Aber Ingo zeigte eine ganz andere Seite. Er vermied jede Anstrengung körperlicher oder geistiger Art. Das Abitur hatte er dank vieler Nachhilfestunden ganz gut hinter sich gebracht. Er studierte sogar Jura, wie der Vater ihm vorsichtig vorgeschlagen hatte.

Nach dem Staatsexamen aber war die Luft aus dem Ballon heraus. Ingo privatisierte. Er zeigte kein Verlangen, irgendeine Tätigkeit aufzunehmen.

Randolf saß also stets allein am Frühstückstisch, den Annafrida mithilfe des Hausmädchens ansprechend dekorierte. Was auf den Tellern lag, gefiel Randolf nicht besonders.

Annafrida huldigte der Gesundheitskost in Form von Müslis, Obstsäften, pflanzlichen Brotaufstrichen und Quark. Viel Quark gab es bei Annafrida, weil er eiweißhaltig und daher sehr gesund war. Ein weiches Ei gab es nur einmal in der Woche, und zwar am Sonntag.

Ein solcher Sonntag war der zehnte September. Randolf Dahlens Geburtstag. Ihm zu Ehren versammelten sich Frau und Kinder in aller Herrgottsfrühe am Tisch, nämlich um neun Uhr. In der Mitte prangte ein mächtiger Strauß aus roten, gelben und weißen Rosen.

Und ausnahmsweise hatte Annafrida Weißbrot genehmigt, es gab dazu sogar zarten Holsteiner Schinken und, wie gesagt, für jeden ein weiches Ei. Man saß auf der Terrasse, denn es war ein herrlicher, sonniger Tag.

Sibille hatte mit viel Make-up die Morgenmüdigkeit überdeckt. Für ihr Alter – sie war etwas über fünfzig – sah sie noch blendend aus. Als Randolf kam, ging sie ihm entgegen.

»Mein Lieber! Ich gratuliere dir ganz herzlich und wünsche dir alles, alles Gute!«

Ihr Kuss schmeckte kühl. Sie hängte sich in Randolfs Arm und führte ihn zum Tisch. Dort standen Ingo und Nicole hinter ihren Stühlen und sangen zweistimmig: »Happy Birthday to you ...«

Randolf lächelte. »Vielen Dank für die Ovation. Allmählich komme ich in ein Alter, in dem man am liebsten nur alle zwei Jahre Geburtstag feiern möchte.«

»Eitel, mein Guter?«, fragte Sibille, ebenfalls freundlich lächelnd. »Das kenne ich ja gar nicht an dir. Du, du«, drohte sie scherzhaft, »dass mir jetzt nicht der zweite Frühling kommt!«

Ingo und Nicole lachten laut. Ihr Vater und ein zweiter Frühling! Der kannte doch nichts als Zahlen, Wertpapierkurse und Devisen.

Annafrida kam mit der Kaffeekanne. »Herzlichen Glückwunsch auch von mir, Herr Dahlen.« Das Hausmädchen folgte ihr auf dem Fuß. Es stellte – oh Wunder! – eine Torte auf den Tisch.

»Von mir für Sie gebacken, Herr Dahlen«, verkündete Annafrida stolz. »Vollkornmehl mit Nüssen und einer leichten Füllung, die Sie alle unbedenklich essen dürfen. Ich habe die Kalorienmenge genau berechnet. Ein Stück Torte hat nur hundertfünfzig Kalorien.«

»Wie besorgt Sie um uns sind, Annafrida«, tat Randolf gerührt. »Vielen Dank.«

Im Stillen sehnte er sich jetzt nach einer Buttercremetorte, wie sie seine Mutter früher zuzubereiten pflegte. Sibille allerdings spendete Annafrida noch ein zweites, dickes Lob. Bei ihr drehte sich alles darum, kein Gramm zuzunehmen.

Trotz der unter den vier Personen bestehenden vier verschiedenen Meinungen, verlief das Frühstück harmonisch. Randolf schlug vor, anschließend gemeinsam an den Bodensee zu fahren.

»Dabei erinnere ich mich an einen Geburtstag, an dem sich meine Eltern etwas Besonderes ausgedacht hatten. Es ist genau vierzig Jahre her. Ich wurde achtzehn, mein Bruder Gisbert war vier Wochen vorher zwanzig geworden. Es war übrigens das letzte Mal, dass wir alle zusammen einen Familiengeburtstag feierten. Kurz darauf ging mein Bruder auf und davon ...«

Mitten in Randolfs Worte hinein schrie Sibille schrill auf. Alle zuckten erschrocken zusammen.

Und Randolf fragte töricht: »Was ist? Hat dich eine Wespe gestochen? Jetzt zur Zwetschgenzeit schwärmen sie wieder.«

Sibille sprang auf. »Nein, nein! Himmel! Mir fällt was Entsetzliches ein!« Sie lief um den Tisch herum und packte ihren Mann am Arm. »Randolf, ich kann wirklich nichts dafür. Weißt du, Frau Dr. Böhten rief an, ich müsse unbedingt sofort zu ihr kommen. Sie hatte nämlich ein ganz ungewöhnliches Phänomen entdeckt. Beim Pendeln ...«

Randolf fiel seiner Frau ins Wort. »Bitte, verschone uns an meinem Geburtstag mit deinen parapsychologischen Spielereien. Außerdem verstehe ich nicht, warum du deswegen in dieses markerschütternde Kriegsgeheul ausbrichst.«

»Du lässt mich ja nicht ausreden.« Sibille kehrte beleidigt zu ihrem Stuhl zurück. »Dabei hat das Pendel von Frau Dr. Böhten sogar indirekt etwas mit deinem Bruder zu tun.«

»Ich wäre dir dankbar, wenn du dich endlich klar ausdrücken würdest.« Randolf faltete geduldig die Hände über dem Leib.

»Es ist ein Brief aus Argentinien gekommen. Aber ich weiß nicht mehr, wo ich ihn hingelegt habe.«

Randolf saß wie erstarrt. Kein Ton kam über seine Lippen. Sibille nutzte das Schweigen aus, um sich weiter zu rechtfertigen.

»Ich war schon auf dem Weg in die Garage, als der Eilbote kam. Er drückte mir den Brief in die Hand, und ich hatte keine Lust, noch mal ins Haus zurückzugehen. Ich steckte ihn in die Handtasche. Frau Dr. Böhten gab mir von sich allerlei Informationsmaterial mit. Ich habe den Brief völlig vergessen. Tut mir leid, Randolf.«

Ihr Mann fand endlich seine Stimme wieder.

»Dann schau doch, bitte, gleich in deiner Handtasche nach, Sibille. Vermutlich steckt der Brief in einem Seitenfach.«

Sibille erhob sich. Alle vier gingen ins Haus. Ingo und Nicole redeten aufgeregt durcheinander. Sie brachten den Brief des unbekannten Onkels mit einer Riesenerbschaft in Verbindung. Ihr Vater drehte sich um.

»Hört mit dem unsinnigen Geschwätz auf.« Er konnte aber nicht abstreiten, dass er selbst an etwas Ähnliches dachte. Denn dass Gisbert plötzlich das Verlangen haben sollte, das jahrzehntelange Schweigen zu durchbrechen, weil ihn Heimweh plagte, das konnte sich Randolf nicht vorstellen.

In ihrem Schlafzimmer angelangt – das Ehepaar benutzte seit Jahren jeder sein eigenes Reich –, postierten sich Ingo und Nicole abwartend an der Tür, während Randolf seiner Frau über die Schulter sah.

Sie konnte sich nicht mal mehr erinnern, welche Handtasche sie an dem bewussten Tag benutzt hatte. Je mehr Taschen sich auf dem Teppichboden sammelten, desto unruhiger wurde Sibille, denn bisher war der Brief nicht zu finden gewesen.

»Du könntest einen Taschenladen aufmachen«, meinte Randolf spöttisch. »Du siehst, dass es ein Fehler ist, wenn man zu viel von einem Gebrauchsgegenstand besitzt. Hättest du nur eine einzige Tasche, dann brauchtest du nicht länger zu suchen.«

Aber auch die letzte Tasche flog auf den Boden, ohne den erwarteten Erfolg zu bringen.

»Mutter, jetzt lass mich mal suchen«, sagte Ingo. Er schob sie beiseite. »Man muss systematisch vorgehen. Vor allem gilt es zu überlegen, wohin du das besagte Informationsmaterial von deiner Frau Dr. Pendlerin gelegt hast.«