Lorenz von Stein - Utz Schliesky - E-Book

Lorenz von Stein E-Book

Utz Schliesky

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Beschreibung

Lange Zeit war er beinahe in Vergessenheit geraten, erst in den letzten 50 Jahren ist er wiederentdeckt worden: Lorenz von Stein (1815-1890), einer der bedeutendsten Verwaltungs- und Sozialwissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Geboren in Borby, Schüler in Eckernförde und Flensburg, Student der Philosophie und Rechtswissenschaft an der Kieler Universität - Stein, der als einer der Gründungsväter der Soziologie bezeichnet werden kann, ist ein echter 'norddeutscher Jung'. Als einer der ersten Deutschen befasste Lorenz von Stein sich mit dem französischen Sozialismus und Kommunismus und setzte damit Impulse für die Politik in Deutschland, etwa für Bismarck - Impulse, die noch heute von Bedeutung sind. Er engagierte sich politisch, verlor seinen Lehrstuhl in Kiel und wurde später von Wien aus ein auch international beachteter Verwaltungsjurist. Utz Schliesky und Jan Schlürmann zeigen in dieser Biografie dieses großen Norddeutschen dessen gewaltiges Lebenswerk auf, sein Wirken und sein Nachwirken - bis heute. Kompakt, informativ und prägnant.

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WISSEN IM NORDEN

 

Utz Schliesky Jan Schlürmann

Lorenz von Stein

Leben und Werk zwischen Borby und Wien

© 2015 Wachholtz Verlag – Murmann Publishers, Kiel / Hamburg

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlagfoto: akg-images Satz: Das Herstellungsbüro, Hamburg Gesamtherstellung: Wachholtz Verlag

ISBN 978-3-529-07605-3e-ISBN 978-3-529-09224-4

Besuchen Sie uns im Internet:www.wachholtz-verlag.de

Inhalt

Vorwort

I Das Leben

von Jan Schlürmann

1 Der Schüler: Eckernförde und Flensburg 1815 — 1835

2 Der Student: Kiel und Jena 1835 — 1840

3 Der Wissenschaftler I: Berlin, Paris, Kiel 1841 — 1848

4 Der Politiker: Schleswig-Holstein 1848 — 1852 / 54

5 Der Wissenschaftler II: Wien 1855 — 1890

II Das Werk

von Utz Schliesky

6 Die Kieler Zeit (1839 — 1855)

7 Die Wiener Zeit (1855 — 1890)

8 Miscellanae

Schluss

Anhang

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Über die Autoren

Anmerkungen

Vorwort

Am 15. November 2015 jährt sich der Geburtstag Lorenz von Steins zum 200. Mal. Lorenz von Stein ist ein bedeutender Sohn Schleswig-Holsteins, ein Kämpfer für die schleswig-holsteinische Sache, der Vordenker der sozialen Frage, ein Ahnherr mehrerer Wissenschaftsdisziplinen und einer der letzten Universalgelehrten – und dennoch ist er in seiner Heimat, der er aufgrund seines Eintretens für die Einheit und Eigenständigkeit Schleswig-Holsteins den Rücken kehren musste, weitgehend vergessen. Die Verfasser – ein Jurist und ein Historiker – wollen Lorenz von Stein dem Vergessen entreißen und mit der hiermit vorgelegten kleinen Biografie den Menschen und den Wissenschaftler Lorenz von Stein würdigen. Der biografische Teil legt dabei seinen Schwerpunkt auf die schleswig-holsteinische Zeit, da diese Phase den Menschen von Stein entscheidend geprägt hat. Die Darstellung des Werks widmet sich gleichmäßig beiden Schaffensperioden, also sowohl der Kieler als auch der Wiener Zeit. Um die Leser nicht zu verwirren, wird durchgängig von Lorenz von Stein gesprochen, auch wenn erst der österreichische Kaiser ihm dieses Adelsprädikat verliehen hat.

Die Verfasser danken Herrn Geschäftsführer Olaf Irlenkäuser für die Aufnahme des Bandes in die neue Reihe des Wachholtz Verlages und hoffen, auf diese Weise Leben und Werk eines bedeutenden Schleswig-Holsteiners wieder einem größeren Publikum bekannt machen zu können.

Kiel, im August 2015

Utz Schliesky, Jan Schlürmann

I Das Leben

von Jan Schlürmann

 

1 Der Schüler: Eckernförde und Flensburg 1815 — 1835

Lorenz von Steins Herkunft und Familie

»Zwischen Borby und Wien« – von einem kleinen Dorf bei Eckernförde in die Hauptstadt Österreich-Ungarns, das sind die beiden ganz unterschiedlichen geografischen Eckpunkte des Lebens von Lorenz von Stein. Nichts deutete bei seiner Geburt am 15. November 1815 auf die außergewöhnliche Karriere hin, die den unehelich geborenen Eckernförder rund acht Jahrzehnte später zu einem der meistgelesenen Verwaltungs- und Sozialwissenschaftler Europas werden ließ.

Mit diesem Lebensweg änderte sich auch der Name Lorenz von Steins. Noch im Taufregister wurde der Neugeborene als »Wasmer Jakob Lorentz« eingetragen. Lorentz, mit einem »t«, war demnach eigentlich der Familienname des jungen Täuflings, nicht sein Vorname. Diese Eigentümlichkeit erklärt sich aus der unklaren Vaterschaft des Jungen. Offiziell gab die Mutter, Anna Juliana Elisabeth Helms aus einer alteingesessenen Eckernförder Familie, einen »Kaufmann aus Berlin« mit Nachnamen »Lorentz« als Vater an. Inoffiziell war allgemein bekannt, dass Anna Juliana Elisabeth Helms bis 1815 bereits sechs Töchter geboren hatte, von denen zwei schon kurz nach der Geburt verstarben. Als Vater hatte sie zumindest für drei der Kinder den aus Leipzig stammenden und in dänische Dienste getretenen Unteroffizier Carl Friedrich Stein als Vater angegeben, den sie allerdings erst 1803 – fünf beziehungsweise drei Jahre nach der Geburt ihrer ersten Tochter – heiratete. Das fünfte Kind, das 1809 geboren wurde, hatte gemäß Taufregister einen »Seefahrer aus Kiel« zum Vater; zu diesem Zeitpunkt war die Ehe mit Carl Friedrich Stein bereits zerrüttet und der Ehemann, aus dem Militärdienst entlassen, ins Ausland gegangen, wo er 1815 verstarb. Die sechste Tochter schließlich, 1814 geboren, hatte einen gewissen »Anton von Remsaw« zum Vater, ein Name, der auch bei Lorenz von Steins Geburt in einem zum Taufregister parallel geführten Protokollbuch vermerkt ist. Hinter diesem Namen verbarg sich der langjährige Geliebte der verwitweten Anna Julia Elisabeth Stein geb. Helms, der Offizier Lorentz Jacob von Wasmer. Die schlichte Umstellung der Buchstaben seines Nachnamens (Wasmer → Remsaw) sowie die Taufe des jungen Lorenz von Stein auf den Namen Wasmer Jakob ebenso wie der Taufname des letzten, 1817 von Anna Juliana Elisabeth geborenen Kindes, Julius Wasmer, lassen den Schluss zu, dass der in Eckernförde stationierte Oberstleutnant von Wasmer der Vater der seit 1814 geborenen drei Kinder der Witwe Stein und damit auch der Vater von Lorenz von Stein gewesen ist, zumal er sowohl für »Wasmer Jakob Lorentz« als auch für »Wasmer Jakob« als offizieller Taufpate auftrat. Wasmer selbst war seit 1789 mit Sophia Henningia von Brockdorff verheiratet. Beide gingen aber um 1805 getrennte Wege, ohne dass eine offizielle Ehescheidung stattgefunden hätte.

Diese durchaus verworrenen Familienverhältnisse waren gewiss nicht die Regel im beginnenden 19. Jahrhundert, aber auch nicht gerade selten. Die unruhigen, von Krieg und Krisen gekennzeichneten Jahre zwischen 1801 und 1815 erschütterten die traditionellen Bande vieler Familien und vielfach auch die engen moralischen Regeln der Friedenszeit. Überall waren während der napoleonischen Kriege Soldaten unterwegs, knüpften meist kurzlebige Kontakte zu Frauen und zeugten Kinder. Die Anhänglichkeit, die der bereits verheiratete Oberstleutnant von Wasmer der Witwe Stein und den von ihm gezeugten Kindern gegenüber zeigte, bewies wiederum, dass auch vor dem Hintergrund einstürzender Moralvorstellungen damals Verantwortungsbewusstsein und Liebe dauerhafte Verbindungen jenseits der Ehe stiften konnten. Denn obgleich er sein Verhältnis zur Mutter niemals legalisierte, kümmerte sich Lorentz Jacob von Wasmer nach Kräften um seine Kinder. Als pensionierter Offizier hatte er sich 1816 in Borby niedergelassen und unterrichtete seine Söhne, aber wohl nicht seine Tochter, in den ersten Lebensjahren selbst. Um beiden eine gute weiterführende Ausbildung zu ermöglichen, ließ er seine alten militärischen Kontakte spielen und verschaffte Lorenz Jacob Stein – wie Lorenz von Stein nun genannt wurde – und seinem Bruder Julius zwei der begehrten Plätze in einer besonderen Eckernförder Bildungseinrichtung, dem Christians-Pflegehaus.

Im Christians-Pflegehaus 1821 — 1832 und an der Flensburger Lateinschule 1832 — 1835

Das Christians-Pflegehaus, benannt nach dem dänischen König Christian VII., gegründet aber von dessen Vater Friedrich V. im Jahr 1765, war ursprünglich eine Einrichtung zur Aufnahme invalid gewordener Soldaten der dänischen Armee. Auch Soldatenwitwen, Soldatenkinder und insbesondere Soldatenwaisen fanden Aufnahme in dieser Anstalt. 1785 wurde sie auf Bitten des Landgrafen Carl von Hessen, des königlichen Statthalters in den Herzogtümern Schleswig und Holstein, nach Eckernförde verlegt.

Als der junge Lorenz zu Ostern 1821 in das Heim aufgenommen wurde, hatte dieses gerade eine wichtige Phase der inneren Reform hinter sich gebracht. Zwar blieb das Haus auch weiterhin eine streng militärisch geführte Bildungsanstalt – alle Schüler hatten die übliche rote dänische Heeresuniform zu tragen –, doch waren mit der Einführung des sogenannten »wechselseitigen« Unterrichtssystems nach den neuesten Erkenntnissen der Briten Andrew Bell und Joseph Lancaster auch sehr moderne pädagogische Ansätze verwirklicht worden. Hinter dem Konzept stand die Idee, dass ältere Schüler als Assistenten des Lehrers in den Unterricht eingebunden werden sollten, also »wechselseitig« mal die Rolle des Schülers, jüngeren Mitschülern gegenüber aber die Rolle des Lehrers annehmen sollten. Das Pflegehaus war für die Herzogtümer Schleswig und Holstein als Modelleinrichtung für dieses fortschrittliche Konzept vorgesehen, und alle Lehrer hatten sich dort weiterzubilden.

Mit der Umsetzung dieser Idee war maßgeblich der Direktor des Pflegehauses, Hauptmann August Friedrich Krohn (1782 – 1856), betraut. Krohn war ein enger Mitarbeiter des Landgrafen Carl von Hessen und – was für die Zukunft der Brüder Lorenz und Julius entscheidend war – ein alter militärischer Weggefährte von Lorentz Jacob von Wasmer. Lorenz von Stein dürfte seine Ausbildung auf dem Eckernförder Institut ganz entscheidend dieser alten Männerfreundschaft verdankt haben, denn die insgesamt 80 für Soldatenkinder vorhandenen Plätze des Heimes waren begehrt.

Trotz des modernen »wechselseitigen Unterrichts« nach Bell und Lancaster war der Alltag im Pflegehaus von Strenge und Entbehrungen geprägt. Der nicht einmal ganz sechsjährige Lorenz teilte sich wie seine Kameraden ein Bett mit einem Mitschüler und musste sich an eine karge, wenig abwechslungsreiche Kost gewöhnen. Der Tag, der um 5 Uhr mit dem Wecken begann und nur von 20 bis 21 Uhr eine »Freistunde« vorsah, war geprägt von theoretischem Unterricht in allen damals üblichen Fächern, einschließlich einiger Unterrichtsstunden auf Dänisch, was in den deutschen Schulen des dänischen Gesamtstaates um 1820 eine Seltenheit darstellte. Besonderen Wert legte das Heim auf einen intensiven Musikunterricht, die Eleven bildeten dazu eine kleine Militärmusikkapelle, die auch öffentlich auftrat. Dazu kam ein regelmäßiger Sportunterricht, vor allem Springen, Klettern und Fechten, aber auch das vom deutschen Pädagogen Johann Christoph Friedrich Gutsmuths (1759 – 1839) propagierte Schwimmen in der freien Natur bis in den Herbst hinein. Tägliche »Arbeitsstunden«, die mit Spinnen und Strümpfestricken ausgefüllt waren, ergänzten die Erziehung, die nur an Sonntagen einige wenige Ruhestunden erlaubte.

Die berufliche Zukunft der Pflegeheim-Schüler war weitgehend vorgezeichnet. Mit der Konfirmation verließen die Jungen die Einrichtung und machten eine Lehre bei einem der rund 400 Handwerker in Eckernförde. Daran schloss sich eine achtjährige Militärdienstzeit an, von der sich die Schüler aber auch freikaufen konnten – eine damals im dänischen Gesamtstaat, aber auch in anderen Staaten Europas übliche Praxis. Dass Lorenz von Stein diesen Weg nicht hatte einschlagen müssen, verdankte er wiederum dem Kameraden seines Vaters, Direktor Krohn, wie auch dem durchaus bekannten Namen seines 1829 verstorbenen Vaters, obwohl er diesen ja offiziell gar nicht trug. Bei einem Besuch König Friedrichs VI. am 26. Juni 1831, Lorenz war noch keine 16 Jahre alt, wurde der Monarch auf den besonderen Schüler, den »jungen Wasmer«, vom Direktor Krohn aufmerksam gemacht. Dieser Tag, den Lorenz von Stein selbst als einen schicksalhaften Wendepunkt seines Lebens empfand, verschaffte ihm einen Ausweg aus dem für seine Altersgenossen ansonsten vorgezeichneten Weg eines Christians-Pflegeheim-Eleven. Der König gewährte dem bildungshungrigen Jungen ein dreijähriges Stipendium für einen Aufenthalt an der Flensburger Lateinschule. Diese Schulen, von denen um 1820 etwa zehn in den Städten beider Herzogtümer bestanden, waren die höheren Bildungsstätten des Landes, die – ausnahmslos Jungen vorbehalten – auf ein Studium an der Kieler Universität vorbereiteten. Mit der zwar noch fernen, aber nun greifbaren Möglichkeit eines Studiums an der Landesuniversität waren für den aus armen Verhältnissen stammenden Lorenz von Stein die Türen für eine Karriere im Staatsdienst und damit für eine gesicherte materielle Zukunft geöffnet worden. Das Stipendium des Königs war dabei eine notwendige Starthilfe, die allerdings im Kontext der Zeit nicht so außergewöhnlich war, wie sie Lorenz von Stein in der Nachschau in Erinnerung behalten hat.

Die Vergabe von Stipendien an talentierte Schüler und Studenten sowie an bereits fortgeschrittene Wissenschaftler und Künstler hatte im dänischen Gesamtstaat eine lange Tradition. Sie machte die ansonsten von unüberwindbaren sozialen Schranken geprägte Gesellschaft an einigen wenigen Stellen durchlässig und ermöglichte es dem Monarchen, nach eigenen Vorstellungen Untertanen zu fördern. Der junge Lorenz von Stein gehörte zu diesem Kreis und verließ Ostern 1832 nach seiner Konfirmation in der Eckernförder St. Nicolaikirche Mutter und Geschwister, um in Flensburg den ersten wichtigen Schritt auf seiner ungewöhnlichen und damals gewiss noch nicht zu erahnenden akademischen Laufbahn zu machen. Aus den ersten Schuljahren Lorenz von Steins ist nichts überliefert, und selbst der erste Wohnort ist nicht bekannt. 1835 jedenfalls, im entscheidenden letzten Prüfungsschuljahr, wohnte von Stein bei einer Flensburger Witwe zur Untermiete. Das Vertrauen, das das königliche Stipendium in den jungen Lorenz gesteckt hatte, wurde nicht enttäuscht. Für den erfolgreichen Abschluss der Lateinschule hatte er nur drei der sonst üblichen vier Jahre benötigt und von Stein muss auch den Flensburgern aufgefallen sein, denn die Stadt stattete ihn großzügig mit einem Folgestipendium für seine Studien an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel aus. Mit seiner Immatrikulation am 8. Mai 1835 als Student der Rechtswissenschaften und der Philosophie begann eine akademische Laufbahn, die den unehelich geborenen Borbyer und Christians-Pflegeheim-Schüler bald in die großen europäischen Metropolen führen sollte.

2 Der Student: Kiel und Jena 1835 — 1840

Die Christian-Albrechts-Universität und das Erwachen des politischen Bewusstseins in den Herzogtümern um 1835

Die Christian-Albrechts-Universität in Kiel war seit ihrer Gründung im Jahr 1665 das unbestrittene geistige Zentrum der Herzogtümer Schleswig und Holstein. Als ausgesprochene Landesuniversität hatte sie vor allem die Aufgabe, Pastoren, Mediziner und Juristen für den Staatsdienst auszubilden. Diese Funktion war 1768 durch eine königliche Verordnung unterstrichen worden, die ein zweijähriges Studium – das »Biennium« – für alle diejenigen Studenten vorschrieb, die in den Herzogtümern in Kirche, Justiz oder Verwaltung eine Anstellung finden wollten.

Als sich Lorenz von Stein 1835 an der Christian-Albrechts-Universität immatrikulierte, genoss die Hochschule vor allem durch eine Reihe hervorragender und zum Teil weit über die Landesgrenzen hinaus bekannter Köpfe einen guten Ruf. Zu den bekanntesten Namen zählten der Jurist Niels Nicolaus Falck (1784 – 1850), der zu von Steins wichtigstem Lehrer werden sollte, sodann der Mediziner Franz Hermann Hegewisch (1783 – 1865), der Historiker Andreas Ludwig Jakob Michelsen (1801 – 1881) sowie der Orientalist Justus Olshausen (1800 – 1882). Im Gegensatz zur zweiten großen Universität im dänischen Gesamtstaat, der Universität in Kopenhagen, orientierten sich Professoren und Studenten in Kiel ganz in Richtung des akademischen Deutschlands. Zwar kam es häufiger vor, dass ein Student aus dem Herzogtum Schleswig – allzumal wenn er aus dem mehrheitlich dänischsprachigen Nordschleswig kam – einige Semester in Kopenhagen studierte. Da jedoch auch im Norden des Herzogtums eine Anstellung als Pastor, Lehrer, Verwaltungsbeamter oder Arzt nur bei Nachweis des »Bienniums« möglich war, kehrten die meisten Studenten nach Kiel zurück, um dort ihr Studium zu beenden.

Sehr viel häufiger als nach Kopenhagen gingen die deutschsprachigen Holsteiner und Schleswiger um 1830 nach Göttingen, Halle, Jena oder Heidelberg. In diesen Universitätsstädten gab es bereits seit dem 18. Jahrhundert landsmannschaftliche Zusammenschlüsse von Studenten. Eine neue Form des studentischen Zusammenschlusses war seit 1815 die deutsche Burschenschaft. In Jena entstanden, hatte sich dieser Bund auf fast alle anderen deutschen Universitäten und damit auch nach Kiel ausgedehnt. Kieler »Burschenschafter« wie der Sylter Kapitänssohn Uwe Jens Lornsen (1793 – 1838) oder Theodor Olshausen (1802 – 1869), der jüngere Bruder des oben genannten Kieler Orientalisten, waren sogar maßgeblich an der organisatorischen Festigung des neuen Studentenbundes in seinen Anfangsjahren beteiligt. Unter der Devise »Ehre, Freiheit, Vaterland« orientierte sich die Burschenschaft am Geist der »Befreiungskriege« der deutschen Staaten gegen Napoleon. Ihre politischen Ziele waren die durch eine Verfassung verankerte Beschränkung der Monarchie, die Garantie wichtiger Bürgerrechte, insbesondere der Meinungs- und Pressefreiheit, sowie der nationale Zusammenschluss aller Fürsten zu einem einigen deutschen Nationalstaat.

Dieser Wunsch nach Verfassung, Bürgerrechten und nationaler Einheit blieb allerdings im »Deutschen Bund«, dem nach Napoleons Sturz 1815 entstandenen, sehr lockeren politischen Zusammenschluss deutscher Staaten, fast überall unerfüllt. Die Ideen von Freiheit, Einheit und politischen Grundrechten, die kurz zuvor noch viele Deutsche dazu bewogen hatte, freiwillig mit der Waffe in der Hand gegen die französische Fremdherrschaft zu kämpfen, fürchteten nun ihrerseits die von Napoleon befreiten deutschen Fürsten, die in ihrer Mehrzahl eine Rückkehr zu den politischen Verhältnissen der Zeit vor Napoleon wünschten. Die Forderung nach nationaler Einheit stieß vor allem solche deutschen Bundesfürsten vor den Kopf, die eigentlich gar keine Deutschen waren. Der niederländische König gehörte als Großherzog von Luxemburg dem Kreis der Bundesfürsten an, zeitweilig auch der König von Hannover, der bis 1837 in Personalunion auch Großbritannien regierte, vor allem aber auch der dänische König.

Als Herzog von Holstein und Lauenburg war König Friedrich VI. (1768 – 1839, Kg. seit 1808), der großzügige Stipendiengeber Lorenz von Steins, Fürst zweier zum Deutschen Bund gehöriger Herzogtümer. Erschwerend aus Sicht der neuen nationalen Ordnungsvorstellungen kam hinzu, dass das Herzogtum Schleswig, das ebenfalls zur dänischen Gesamtmonarchie gehörte, zwar kein Teil des Deutschen Bundes war, aber etwa zur Hälfte von deutschsprachigen Schleswigern bewohnt wurde. Eine klare Aufteilung der Herzogtümer nach nationalen Gesichtspunkten war also kaum möglich und wurde auch von vielen Zeitgenossen Lorenz von Steins in den 1830er Jahren gar nicht gewünscht. Diese von den radikalen Forderungen der deutschen Burschenschafter abweichenden »Gesamtstaatspatrioten« wollten den dänisch-deutschen »Vielvölkerstaat« erhalten.

Abseits der Frage, ob künftig ein deutscher Nationalstaat anzustreben sei oder nicht, diskutierten Akademiker, darunter gewichtige Stimmen wie von Steins Kieler Jura-Professor Niels Nicolaus Falck, politische Veränderungen des bestehenden absolutistischen Regierungssystems. Falck und anderen ging es um ein politisches Mitspracherecht der staatstragenden Stände aus Ritterschaft und Bürgertum. Nicht jeder Untertan des dänischen Königs, aber doch jene, die durch ihren Beruf und ihr Vermögen die materielle und geistige Grundlage des Gesamtstaates bildeten, sollten eine politische Vertretung erhalten.

Ausgangspunkt für Falcks Überlegungen, die er nachweislich in seinen Vorlesungen auch an Studenten wie Lorenz von Stein weitergab, war der Verweis auf die Geschichte und das dort entwickelte und festgeschriebene historische Recht. Während die radikaleren, national gesinnten politischen Stimmen jener Jahre den Anspruch auf politische Mitsprache als eine fundamental neue, vom überlieferten Recht unabhängig bestehende Forderung verstanden, suchte Falck nach historischen Beweisen dafür, dass den Untertanen in den beiden Herzogtümern Schleswig und Holstein das Recht auf eine ständische Versammlung von ihrem Landesherrn nicht abgeschlagen werden konnte, weil es ihnen von jeher zustand.

Beiden politischen Richtungen, also sowohl der gemäßigten Verfassungsbewegung von Professor Falck als auch der national orientierten Bewegung, zu der die Kieler Burschenschaft zählte, war trotz aller Differenzen eine Vorstellung gemeinsam: Beide sahen die aus Kopenhagener Sicht voneinander getrennten Herzogtümer Schleswig und Holstein als eigentlich eng miteinander verbunden an. Aber während Falck diese Verbundenheit wiederum aus altem, mittelalterlichem Recht, vor allem aber aus der sogenannten »Ripener Handfeste« von 1460 mit dem dort entnommenen Schlagwort der »op ewich ungedeelten« Herzogtümer ableitete, betonte die nationale Bewegung die kulturelle und damit nationale Zugehörigkeit Schleswigs und Holsteins zu Deutschland. Eine Vorstellung, die zumindest für das auch von Friesen und Dänen bewohnte Schleswig nicht uneingeschränkt zutraf. Uwe Jens Lornsen, Burschenschafter und nach seinem Studium in Kiel und Jena dänischer Staatsbeamter in Kopenhagen, hatte dieser nationalen Vorstellung zusammen mit dem Wunsch nach Einführung einer Verfassung 1830 in der Veröffentlichung einer kleinen Flugschrift Ausdruck verliehen. Die Schrift Ueber das Verfassungswerk in Schleswigholstein, die dem damals 15-jährigen von Stein wohl nicht bekannt gewesen sein dürfte, prägte vor allem einen politisch aufgeladenen Kampfbegriff: Schleswig und Holstein in einem Wort, also buchstäblich »ungeteilt« zu benennen war eine Provokation und löste im dänischen Gesamtstaat eine Debatte über die politische Zukunft der Monarchie und der bestehenden Personalunion zwischen Königreich und Herzogtümern aus.

Schon im Jahr darauf gelang es den deutschen wie auch den dänischen Verfassungsbefürwortern im Gesamtstaat, vom König die Einsetzung beratender »Provinzialständeversammlungen« in den vier Reichsteilen Seeland / Fünen, Nord-Jütland, Schleswig und Holstein durchzusetzen. Das war ein Teilerfolg der Verfassungsbewegung, der sich aber erst 1835 beziehungsweise 1836 in den ersten Sitzungen dieser Versammlungen für Holstein (in Itzehoe) und Schleswig (in der Stadt gleichen Namens) dann auch konkret zeigte.

Es war diese ereignisreiche Zeit, gekennzeichnet von ineinandergreifenden wie auch einander widerstreitenden politischen Ideen und Forderungen, in der Lorenz von Stein seine Studien in Kiel, später dann in der Gründungsstadt der Burschenschaft, in Jena, aufnahm. Das blieb nicht ohne Folgen für die Politisierung und das spätere akademische Werk des Borbyers.

Das Studium in Kiel und Jena 1835 — 1840

Lorenz von Stein besaß mehr als viele andere seiner Zeitgenossen das geistige Rüstzeug zu einem erfolgreichen Studium. Allerdings erforderten die Semester in Kiel auch materielle Ressourcen für den Lebensunterhalt und den Dozenten zu zahlende Kolleggelder – Ressourcen, die Lorenz von Stein aus eigener Kraft nicht aufbieten konnte.

Ein dringend benötigtes Stipendium in Höhe von 200 Reichstalern aus den Händen seines alten Förderers, des dänischen Königs, war zum Zeitpunkt der Immatrikulation noch nicht bewilligt. So blieb von Stein nur eine Bewerbung um ein sogenanntes »Konviktstipendium«. Dieses seit Gründung der Universität bestehende Stipendium umfasste im Wesentlichen das Recht zur Teilnahme am »Freitisch«, das heißt an regelmäßigen Mahlzeiten, die im Konviktsgebäude gemeinsam mit anderen Stipendiaten eingenommen wurden. Um an diese Vergünstigung zu gelangen, musste der Student eine Prüfung, das »Konviktsexamen«, ablegen. Obgleich diese eigentlich eine Sonderprüfung war, die über die Gewährung eines Stipendiums entschied, hatte das Examen in Kiel zu Zeiten Lorenz von Steins bereits den Charakter einer allgemeinen Aufnahmeprüfung für das Studium angenommen, denn fast jeder Student versuchte, in den Genuss der Vergünstigungen zu kommen. Zu Ostern 1835 bestand Lorenz von Stein diese Prüfung mit »durchschnittlich gutem« Ergebnis, wie es seine Prüfer, die Professoren Justus Olshausen (Orientalist), Gregor Wilhelm Nitzsch (Philologie) und Heinrich Ferdinand Scherk (Mathematik), vermerkten.

Die finanzielle Situation Lorenz von Steins blieb indes prekär: Trotz des dann doch noch gewährten königlichen Stipendiums von 200 Talern für vier Jahre und einer Zuwendung des Flensburger Magistrats für die gleiche Zeit konnte sich der junge Student nur durch zusätzliche Arbeiten über Wasser halten; so verfertigte er bereits als »Zweitsemester« eine prämierte Schrift. Entscheidend für seinen weiteren Weg, der neben der Liebe zur Wissenschaft bald auch die Beschäftigung mit den aktuellen politischen Fragen seiner Zeit umfasste, war von Steins Engagement in der Burschenschaft. Er lernte diese studentische Bewegung sowohl in ihrem Gründungsort in Jena, wo er 1837 bis 1838 studierte, als auch an der burschenschaftlichen »Peripherie« in Kiel kennen. Als Lorenz von Stein sein Studium in Kiel aufnahm, hatte sich die um 1815 noch weitgehend als Einheit auftretende Studentenschaft bereits in miteinander konkurrierende Verbindungen aufgespalten.