Lost & Found - Kathryn Schulz - E-Book

Lost & Found E-Book

Kathryn Schulz

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Beschreibung

Kann man im Moment größter Trauer wahres Glück empfinden? Ein Buch über die Liebe in all ihren Facetten von der preisgekrönten Essayistin Kathryn Schulz. Helen Macdonald, Autorin von »H wie Habicht«, liebt dieses Buch:»Ein außergewöhnliches Geschenk von einem Buch, eine zärtliche, suchende Meditation über Liebe und Verlust und darüber, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Ich habe mit diesem Buch geweint, gelacht, war vollkommen fasziniert davon. Nach der Lektüre hatte ich das Gefühl, dass die Welt um mich herum eine neue ist.« Kathryn Schulz verliert ihren Vater, als sie ihre große Liebe findet. In diesem Nebeneinander der Extreme von Verlust und Neuanfang, von Trauer und Liebe, von Schmerz und Freude schenkt »Lost & Found« uns einen Anker der Hoffnung. Voller Witz, Neugier, Einsicht und Charme zeigt Schulz, dass Verlieren und Finden zusammengehören, sich bedingen und unserem Leben ebenjene bereichernde Vielseitigkeit verleihen, die es kostbar, aufregend und einzigartig macht. Ein intensives, stärkendes Leseerlebnis, das lange nachhallt. »Wie erstaunlich es doch ist, jemanden zu finden. Ein Verlust kann unser Gefühl für Maßstäbe verändern und uns daran erinnern, dass die Welt überwältigend groß ist und wir unglaublich klein. Und genauso ist es beim Finden. Der einzige Unterschied besteht darin, dass es uns zum Staunen und nicht zum Verzweifeln bringt.«

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Kathryn Schulz

Lost & Found

Vom Verlieren und Finden der Liebe

 

Aus dem Englischen von Nicole Seifert

 

Über dieses Buch

 

 

»Ein außergewöhnliches Geschenk von einem Buch, eine zärtliche, suchende Meditation über Liebe und Verlust und darüber, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Ich habe mit diesem Buch geweint, gelacht, war vollkommen fasziniert davon. Nach der Lektüre hatte ich das Gefühl, dass die Welt um mich herum eine neue ist.«Helen Macdonald, Autorin von »H wie Habicht«

 

Kathryn Schulz verliert ihren Vater, als sie ihre große Liebe findet. In diesem Nebeneinander der Extreme von Verlust und Neuanfang, von Trauer und Liebe, von Schmerz und Freude schenkt »Lost & Found« uns einen Anker der Hoffnung.

 

Voller Witz, Neugier, Einsicht und Charme zeigt Schulz, dass Verlieren und Finden zusammengehören, sich bedingen und unserem Leben ebenjene bereichernde Vielseitigkeit verleihen, die es kostbar, aufregend und einzigartig macht. Ein intensives, stärkendes Leseerlebnis, das lange nachhallt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Kathryn Schulz, geboren 1973 und aufgewachsen in Cleveland, Ohio, ist Journalistin und Schriftstellerin. Sie studierte an der Brown University und war Literaturkritikerin beim »New York Magazine«, bevor sie 2015 als Redakteurin zum »New Yorker« ging. Schulz ist Trägerin des National Magazine Award und wurde 2016 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Nach dem Tod ihres Vaters schrieb sie den Essay »Losing Streak« (»Pechsträhne«), der sie zu »Lost & Found« inspirierte. Mit ihrer Frau, der Autorin Casey Cep, lebt Schulz an der Ostküste von Maryland.

Inhalt

[Widmung]

[Motto]

I Verlieren

II Finden

III Und

Dank

Literatur

Für meinen Vater, den ich verlor,

und für C., die mich fand

Nichts beinhaltet alles oder beherrscht alles. Das Wort »und« folgt jedem Satz.

William James, Das pluralistische Universum

IVerlieren

Ich habe Euphemismen für das Sterben noch nie gemocht. »Ableben«, »von uns gegangen«, »heimgekehrt«, »nicht mehr bei uns«: Obwohl diese Worte gutgemeint sind, haben sie mich nie getröstet. Sie versuchen, sich im Namen des Taktgefühls von der entsetzlichen Schonungslosigkeit des Todes abzuwenden; im Namen des Wohlbefindens ziehen sie das Sichere und Vertraute dem Schönen oder Deutlichen vor. Auf mich wirkt all das ausweichend, als würde man verbal den Blick abwenden. Aber dem Tod kann man nicht ausweichen – das ist das Grundlegende, Felsenfeststehende an ihm – und zu versuchen, drumherum zu reden, scheint in die Irre zu führen. Wie der Dichter Robert Lowell schrieb: »Warum nicht sagen, was passiert ist?«

Für mich gibt es jedoch eine Ausnahme von dieser Regel: »Ich habe meinen Vater verloren.« Er war noch keine zehn Tage tot, als ich mich diese Formulierung zum ersten Mal benutzen hörte. Ich war inzwischen wieder zu Hause, nach den langen unstrukturierten Wochen im Krankenhaus an seiner Seite, nach dem Tod, nach dem Beerdigungsgottesdienst, zurückgeworfen in ein Leben, das genauso aussah wie vorher, wohlgeordnet und taghell – dessen alltägliche Verpflichtungen nun aber anstrengender waren, weil die Trauer sie begleitete. Ständig klemmte das Telefon zwischen Schulter und Kinn. In der Zeit, als mein Vater auf der kardiologischen Station gelegen hatte und dann auf der Intensivstation und dann im Hospiz, wo er starb, hatte ich von der Zeitschrift, für die ich arbeitete, mehrere automatisierte Mails bekommen, die mich informierten, dass ich keinen Zugriff mehr auf meine E-Mails haben würde, wenn ich mein Passwort nicht änderte. Man konnte die Uhr nach diesen Mails stellen, die mich daran erinnerten, dass mein Zugang in zehn Tagen, in neun, in acht, in sieben ablaufen würde. Es ist bemerkenswert, wie das Alltägliche und das Existenzielle einander durchdringen, so wie die Schrift auf einer Buchseite mit der Zeit auf der Rückseite des Blattes durchscheint. Ich hatte mich nicht um das Passwortproblem gekümmert und keinen Zugriff mehr, womit mir auch die einzige Möglichkeit genommen war, das Problem selbst zu lösen. Also telefonierte ich nach dem Tod meines Vaters mit einem Mitarbeiter des Kundendienstes und erklärte ihm, obwohl das absolut unnötig war, warum ich mich nicht rechtzeitig um die Sache gekümmert hatte.

Ich habe letzte Woche meinen Vater verloren. Vielleicht lag es an diesen ersten, verzerrten Tagen der Trauer, in denen sich die vertraute Welt fremd und unzugänglich anfühlt, dass mich die Seltsamkeit dieses Satzes so sehr traf. Natürlich war mein Vater nicht davon spaziert wie ein Kleinkind bei einem Picknick oder verschwunden wie ein wichtiges Dokument in einem unaufgeräumten Büro. Und doch wirkte diese indirekte Formulierung für den Tod nicht so ausweichend oder leer wie andere. Sie wirkte klar, traurig und einsam, wie die Trauer selbst. Von dem Moment an, an dem ich sie an diesem Tag am Telefon zum ersten Mal aussprach, fühlte sie sich wie etwas an, das ich sagen und benutzen konnte, so wie man eine Schaufel oder eine Klingel benutzt: kalt und durchdringend hat sie sowohl etwas Verzweifeltes an sich als auch etwas Resigniertes, das der Verwirrtheit und Trostlosigkeit des Verlustes entspricht.

Später, als ich das Wort nachschlug, wurde mir klar, warum mir »verloren« so passend erschien. Ich hatte immer angenommen, dass wir das Wort im übertragenen Sinne verwendeten, wenn wir über die Toten sprachen, dass die Trauernden es vereinnahmten und weit über seine eigentliche Bedeutung hinaus ausdehnten. Aber das stellte sich als falsch heraus. Das Verb »to lose«, verlieren, wurzelt in der Traurigkeit, es ist verwandt mit dem »lorn« in »forlorn« – verlassen, verloren. Es stammt von einem altenglischen Wort ab, das »sterben« bedeutet, was wiederum auf ein noch älteres Wort zurückgeht, das »trennen« oder »auseinanderschneiden« bezeichnet. Die moderne Bedeutung – einen Gegenstand verlegen – erhielt es erst im dreizehnten Jahrhundert; hundert Jahre darauf meint »to lose« dann erstmals »nicht gewinnen«. Im sechzehnten Jahrhundert begannen wir den Verstand zu verlieren, im siebzehnten unsere Herzen. Mit anderen Worten: Der Kreis dessen, was wir verlieren können, fing mit unserem eigenen Leben und einander an und weitet sich seitdem ständig aus.

So fühlte sich der Verlust nach dem Tod meines Vaters an: wie eine Macht, die sich immer weiter ausbreitet, die nach und nach immer mehr Gebiet erobert. Irgendwann begann ich eine Liste all der anderen Dinge zu machen, die ich mit der Zeit verloren hatte, einfach, weil sie mir immer wieder in den Sinn kamen. Ein Spielzeug aus der Kindheit, eine Kindheitsfreundin, eine geliebte Katze, die eines Tages nach draußen spazierte und nie wiederkam, der Brief, den meine Großmutter mir zu meinem College-Abschluss schrieb, ein fadenscheiniges, aber perfektes blaukariertes Hemd, ein Tagebuch, das ich fast fünf Jahre lang geführt hatte – es kam immer mehr dazu, eine Art Anti-Sammlung, ein melancholischer Katalog all dessen, was mir je abhandengekommen war.

Jede Liste dieser Art – und wir haben alle so eine – offenbart schnell, wie seltsam die Rubrik Verlust ist, wie riesig und sperrig, und wie wenig die dort versammelten Punkte sonst miteinander gemein haben. Als ich darüber nachdachte, stellte ich überrascht fest, dass es auch gute Arten des Verlusts gibt. Wir können unsere Schüchternheit und unsere Angst verlieren, und auch wenn es erschreckend ist, in der Wildnis verlorenzugehen, ist es wunderbar, sich in einem Buch oder einem Gespräch zu verlieren. Aber das sind glückliche Ausnahmen in einem ansonsten schwierigen Bereich menschlicher Erfahrungen; überwiegend gehören unsere Verluste in das Umfeld des Todes meines Vaters, weil sie unser Leben reduzieren. Wir können unsere Kreditkarte verlieren, unseren Führerschein, die Quittung für etwas, das wir zurückgeben wollen; wir können unseren guten Ruf verlieren, unsere Ersparnisse, unseren Job; wir können den Glauben verlieren, die Hoffnung und das Sorgerecht für unsere Kinder. Liebeskummer fällt überwiegend in diese Kategorie, denn eine ungewollte Trennung oder Scheidung bedeutet nicht nur den Verlust einer geliebten Person, sondern auch den Verlust der vertrauten Struktur unseres Alltags und der Vorstellung, die man sich von seiner Zukunft gemacht hat. Dasselbe gilt für ernste Krankheiten und Verletzungen, die den Verlust von allem bedeuten können, angefangen mit körperlichen Fähigkeiten bis hin zu entscheidenden Teilen unserer Identität. In diesen Bereich fallen einige unserer intimsten Erfahrungen, wie zum Beispiel eine Fehlgeburt, aber auch einige der öffentlichsten und erschütterndsten historischen Ereignisse: Krieg, Hungersnot, Terrorismus, Naturkatastrophen, Pandemien – all die schrecklichen kollektiven Tragödien, die das Äußerste dessen zeigen, was es zu verlieren gibt.

Das ist das gierige Wesen des Verlusts: Es umfasst unterschiedslos das Triviale und das Folgerichtige, das Abstrakte und das Konkrete, das lediglich Verlegte und das endgültig Verschwundene. So oft wir können, ignorieren wir sein wahres Ausmaß, aber nachdem mein Vater starb, konnte ich nicht anders, als die Welt zu sehen, wie sie wirklich ist – überall gezeichnet von Hinweisen auf vergangene und bevorstehende Verluste. Und das nicht, weil sein Tod eine Tragödie gewesen wäre. Mein Vater starb friedlich, mit vierundsiebzig, in seinen letzten Wochen gepflegt von denen, die er am meisten liebte. Sondern weil sein Tod keine Tragödie war; was mich schockierte, war, dass etwas so Trauriges der normale, notwendige Lauf der Dinge sein konnte. In dieser Zeit schien jedes einzelne Leben zu viel Schmerz für seine kurze Dauer zu enthalten. Ich hatte Geschichte immer geliebt, auch dort, wo sie schweigt und verheimlicht, aber plötzlich schien sie mir nur noch eine Aufzeichnung von Verlusten epischen Ausmaßes, vor allem dort, wo es gar keine Aufzeichnungen gab. Die Welt selbst erschien vergänglich, Gletscher und Gattungen und Ökosysteme verschwanden wie im Zeitraffer, als sähen die heute Lebenden aus der erschütternden Perspektive der Ewigkeit zu. Alles fühlte sich fragil an, verwundbar; überall drängte sich mir der Gedanke an Verlust auf, wie eine verborgene Ordnung des Daseins, die sich nur den Trauernden offenbart.

Dieses unaufhaltsame Verschwinden ist nicht die ganze Geschichte unseres Lebens; es ist nicht einmal die ganze Geschichte dieses Buches. Aber in den Wochen und Monaten nach dem Tod meines Vaters konnte ich nicht aufhören darüber nachzudenken – einerseits, weil es mir wichtig erschien zu verstehen, was alle diese Verluste miteinander zu tun hatten, andererseits, weil es mir wichtig erschien zu verstehen, was sie mit mir zu tun hatten. Eine verlorene Brieftasche, ein verlorener Schatz, ein verlorener Vater, eine verlorene Gattung: So verschieden sie waren, sie alle und alles, was sonst noch verlorengegangen war, schien plötzlich fundamental für die Frage, wie man leben sollte – weil es weg war, schien es etwas Wichtiges über das Dasein auszusagen.

 

Mein Vater hatte zu fast allem etwas Wichtiges zu sagen. Die Welt war für ihn unendlich interessant, und er fand Vergnügen daran, alles an ihr zu diskutieren: die Romane von Edith Wharton, das Wesen kosmischer Hintergrundstrahlung, die Infield-Fly-Regel im Baseball, die Auswirkungen des Taft-Hartley-Gesetzes von 1947, die Entdeckung einer neuen nachtaktiven Affenart in Südamerika, die Vorzüge von Apfelauflauf gegenüber Apfelchips. Kaum dass wir sprechen konnten, waren meine ältere Schwester und ich herzlich dazu eingeladen, an diesen Gesprächen teilzunehmen, er fand aber auch immer ohne weiteres neue Gesprächspartner. Wenn es um andere Menschen ging, hatte mein Vater die Anziehungskraft eines mittelgroßen Planeten. Er hatte eine dröhnende Stimme, einen starken Akzent, einen beeindruckenden Verstand, den Bart eines Rabbiners, den Bauch vom Weihnachtsmann und die gestische Bandbreite des vitruvianischen Menschen; der Gesamteindruck war teils Sokrates, teils der des väterlichen Geschichtenerzählers Tevye.

Der Akzent war eine Folge der wurzellosen Kindheit meines Vaters, durch die er außerdem sechs Sprachen fließend sprach – ungefähr in der Reihenfolge ihres Erwerbs: Jiddisch, Polnisch, Hebräisch, Deutsch, Französisch und Englisch. Zu meinem späteren Bedauern brachte er meiner Schwester und mir nur die letzte davon bei, aber er glich es aus durch den Aufwand, mit dem er das tat. Es war meine Mutter, eine Französischlehrerin und wunderbar klare Grammatikerin, die mir beibrachte, mit Sprache zu arbeiten: wann man den Konjunktiv verwendet, wann man »who« benutzt und wann »whom«, wie man »epitome« ausspricht. Aber es war mein Vater, der mir beibrachte mit Sprache zu spielen. Dank seines polyglotten Hintergrunds war sein Verhältnis zu Grammatikregeln das eines Relativisten; er widersetzte sich ihnen gar nicht konkret, aber er liebte es, einen Satz bis kurz vorm Zerbrechen zu biegen, um ihn dann wieder zurück in seine Form springen und sein wildes Echo nachhallen zu lassen. Ich habe nie jemand anderen kennengelernt, der aus dem Stand derart überraschende Sätze fabrizieren konnte, und auch niemanden, der so viel Freude allein am Sprechen hatte. Als meine Aussprache des Wortes »epitome« verbessert wurde und ich nicht glauben wollte, dass das stimmte, lieferte er innerhalb einer Sekunde eine unvergessliche Gedächtnisstütze: »Die Betonung ist wie bei you gotta be kidding me.«

Über Schriftsteller*innen gibt es das Klischee, sie kämen alle aus unglücklichen Familien und wendeten sich Sprache und Geschichten zu, um ihrer Misere zu entkommen oder ihr eine Stimme zu geben. Dies entspricht nicht meiner Erfahrung. Ich komme aus einer glücklichen Familie, in der Sprache und Geschichte ein allgegenwärtiges, von allen geteiltes Vergnügen waren. In einer meiner frühesten Erinnerungen taucht mein Vater mit seinen ein Meter siebzig im Türrahmen des Zimmers auf, in dem ich spielte, erscheint meinen überraschten Augen aber wie ein gütiger und aufregender Riese – in der einen Hand eine Norton Anthology of Poetry, die andere wedelnd erhoben wie Merlin und dabei »Kubla Khan« zitierend. Eine ähnlich lebendige Erinnerung habe ich daran, wie er meiner Schwester und mir ein paar Jahre später den Prolog der Canterbury Tales vortrug, in mitreißendem Mittelenglisch laut deklamierend. Meine Mutter gab den Versuch, ihn dazu zu bringen, uns vor dem Schlafengehen nicht mehr aufzuregen, früh auf. Es war seine Aufgabe, uns jeden Abend vorzulesen, und er erledigte sie mit extravaganten Gesten, dramatischer Stimme, viel Klopfen auf die Knie, auf denen wir saßen, und einer erheiternden Missachtung des Textes. An den besten Abenden ließ er die Bücher ganz beiseite und erfreute uns mit einer Reihe von selbst erfundenen Geschichten über die Abenteuer von Yana und Egbert, zwei gefährlichen Geschwistern, die ausgerechnet aus Rotterdam stammten – ein Ort, den er gewählt hatte, weil er wusste, dass der Klang des Wortes seine kleinen Töchter zum Lachen bringen würde.

Obwohl mein Vater sehr viel belesener war, als ich es je sein werde, war Literatur seine Passion, nicht seine Berufung. Seiner Ausbildung nach war er Anwalt und gelegentlich lehrte er an der juristischen Fakultät; beide Berufe lagen ihm, besonders letzterer, denn den geistesabwesenden Professor verkörperte er bis zur Perfektion. Er verfügte über ein erstaunliches Gedächtnis, eine panoptische Neugier und die Fähigkeit, angesichts von Problemen aller Art das Unwichtige vom Wichtigen so schnell zu trennen wie eine Münzmaschine die Pennys von den Quarters. Worüber er in neun von zehn Fällen nicht verfügte, war seine Brieftasche oder irgendeine Ahnung davon, wo er geparkt hatte. Um dem Stereotyp treu zu bleiben: Diese Defizite wirkten immer wie die Folge seines außergewöhnlichen Intellekts, als wüsste er Besseres anzufangen mit der mentalen Energie, die wir anderen darauf verwandten, unser Eigentum nicht zu verlegen. Aber ob sie nun zusammenhingen oder nicht: Diese seltsam widersprüchlichen Eigenheiten – eine bemerkenswerte Aufnahmebereitschaft für die Welt und eine bemerkenswerte Gleichgültigkeit ihr gegenüber – waren zwei seiner entscheidenden Charaktereigenschaften.

Zu all dem, was mein Vater gerne mal verlor, gehörte auch er selbst. Ich wuchs in den Vororten Clevelands auf, und meine Familie fuhr mehrmals im Jahr nach Pittsburgh, um meine Großmutter mütterlicherseits zu besuchen. Theoretisch brauchte man für die Fahrt gut zwei Stunden, aber ich lernte schon im Grundschulalter alarmiert zu sein, wenn mein Vater sich auf dem Fahrersitz niederließ und verkündete, wir würden eine Abkürzung nehmen. Für Kinder dauern alle Autofahrten ewig, aber diese waren wirklich extrem viel länger, als sie hätten sein müssen, weil mein Vater – von Natur aus genial, aber auch von Natur aus stur – sich nicht davon überzeugen ließ, dass er keine Ahnung hatte, wo es langging. Ich erinnere mich an eine Variante dieses Erlebnisses, in der wir eine geschlagene halbe Stunde lang Richtung Westen fuhren, statt Richtung Osten, und an eine andere, bei der wir dreimal hintereinander die falsche Ausfahrt nahmen. Meine Mutter hätte all dem ein Ende machen können, weil sie den viel besseren Orientierungssinn hatte, aber sie war auch eine liebende und pragmatische Ehefrau und griff nur behutsam ein, falls nicht gerade die Zeit drängte, und das war nach Meinung meines Vaters selten der Fall, denn er hatte nicht nur keinen Orientierungssinn, sondern auch kein Zeitgefühl.

Aus seiner Schwierigkeit, Pittsburgh zu finden, können Sie schließen, was für ein hoffnungsloser Fall mein Vater war, wenn es darum ging, kleinere Sachen im Blick zu behalten. Sein Kosename für meine Mutter war Maggie (abgeleitet von ihrem Taufnamen Margot, den alle anderen benutzten), und einer der Sätze, den ich in meiner Kindheit am häufigsten hörte war »Maggie, wo ist denn« – mein Scheckbuch, meine Brille, mein Einkaufszettel, meine Vorladung, meine Kaffeetasse, mein Wintermantel, mein zweiter Strumpf, mein Baseballticket. Mehrmals täglich vervollständigte irgendein anderer verlorengegangener Gegenstand diese Frage. Ausnahmslos war die zweite Hälfte dieses Frage-Antwort-Spiels: »Hier liegt es doch, Isaac.« Zum Glück für meinen Vater hatte meine Mutter den verlorenen Gegenstand in der Regel gesehen und erinnerte sich, wo er war, und wenn nicht, dann war sie in der Lage, ihn zu finden. Passend zu ihrem Orientierungssinn war meine Mutter geduldig, systematisch und sehr empfänglich für ihre Umgebung.

Ich habe diese Eigenschaften geerbt; meine Schwester, die heute am MIT Kognitionswissenschaft lehrt, nicht. In dieser Hinsicht haben wir vier, die wir uns sonst recht ähnlich sind, uns immer deutlich unterschieden. Auf dem Spektrum zwischen zwanghafter Ordnung und erhabener Gleichgültigkeit gegenüber der materiellen Alltagswelt befanden sich mein Vater und meine Schwester – eigentlich befanden sie sich nirgends; sie waren irgendwo in der Nähe der Grenze zwischen Ohio und Pennsylvania und suchten noch nach dem Spektrum selbst. Meine Mutter und ich waren derweil damit beschäftigt, alles nach Farbe und Größe zu ordnen. Ich erinnere mich lebhaft, meiner Mom dabei zuzusehen, wie sie versucht, einen minimal verrutschten Bilderrahmen wieder auszurichten – im Cleveland Museum of Art. Mein Vater dagegen hat mal einen ganzen Urlaub lang zwei verschiedene Schuhe getragen, weil er keine anderen eingepackt hatte und erst in der Sicherheitsschleuse am Flughafen merkte, dass die an seinen Füßen nicht zusammenpassten. Das beste Flugreisenerlebnis meiner Schwester bestand darin, ihren eigenen Laptop zu verlieren, sich den ihres Partners auszuleihen und ihn dann eine Woche nach dem 11. September 2001 versehentlich an einem Gate der United Airlines zurückzulassen, woraufhin fast der Flughafen von Oakland dichtgemacht worden wäre. Sie tut sich, wie mein Vater, auch in der unterschätzten Kunst hervor, Dinge wiederholt zu verlieren: ihr Handy jährlich, ihr Portemonnaie einmal im Quartal, ihre Schlüssel monatlich. Bei der einzigen Gelegenheit meines Erwachsenenlebens, bei der ich selbst mein Portemonnaie verloren habe, machte ich den Fehler, mich bei ihr darüber zu beklagen, und sie lachte mich aus. »Meld dich wieder«, sagte sie, »wenn sie dich bei der Meldestelle beim Vornamen nennen.«

Als diejenige, die die Fackel der mütterlichen Abstammung hochhält, habe ich zumindest in dieser Hinsicht schon immer die natürliche Neigung gehabt, eher unübliche Dinge zu tun, wie zum Beispiel die Speisekammer nach Lebensmittelgruppen zu ordnen oder jeden der vierundsechzig Buntstifte wieder an genau den Platz zu legen, der ihm vom Hersteller in der Box zugewiesen wurde. Diese Art Anspruch, um nicht zu sagen Zwanghaftigkeit, kann sich als nützlich erweisen, wenn man den Überblick über seinen Besitz behalten möchte; ein Grund dafür, dass ich nur selten Dinge verliere, ist, dass es mich stört, wenn ich sie nicht an ihren vorgesehenen Ort zurückgebracht habe. Dieser Hang zur Ordnung in Kombination mit zwei Familienmitgliedern, die mich im Vergleich gut aussehen ließen, führte dazu, dass ich noch als längst Erwachsene glaubte, ich würde einfach nicht zu den Menschen gehören, die Dinge verlieren.

Aber Stolz kommt vor einer vierzigminütigen Suche nach dem Blatt Papier, das man gerade noch in der Hand hatte, und Tatsache ist, wir gehören alle zu den Menschen, die Dinge verlieren. So wie jeder Mensch sterblich ist, ist auch jeder Mensch ein bisschen schusselig, das ist Teil der conditio humana: Wir verlieren schon so lange regelmäßig Dinge, dass die im Buch Levitikus niedergelegten Gesetze das Verbot enthalten zu lügen, wenn man das verlorene Eigentum von jemand anderem findet. Die Moderne hat dieses Problem nur verschärft. Heute leben in den Industrieländern sogar Menschen mit bescheidenen Mitteln in historisch betrachtet unvorstellbarem Überfluss, und jeder zusätzliche Gegenstand, den wir besitzen, ist ein zusätzlicher Gegenstand, den wir verlieren können. Auch die Technologie hat die Situation verschlimmert, da sie uns chronisch ablenkt und uns zugleich mit einer riesigen Anzahl zusätzlicher Dinge versorgt, die wir verlieren können. Das gilt nun schon seit einiger Zeit – die Fernbedienung gehört nach wie vor zu den am häufigsten verlegten Gegenständen in amerikanischen Haushalten –, aber während unsere Geräte immer kleiner werden, wächst die Wahrscheinlichkeit, sie zu verlieren, immer mehr. Einen Desktop-Computer zu verlieren ist schwierig, einen Laptop schon leichter, ein Handy kein Problem, und ein USB-Stick ist praktisch unmöglich nicht zu verlieren. Und dann ist da noch die Sache mit den Passwörtern, die zu Computern im selben Verhältnis stehen wie Socken zu Waschmaschinen.

Ladegeräte, Regenschirme, Ohrringe, Schals, Passwörter, Kopfhörer, Musikinstrumente, Weihnachtsschmuck, der Streifen Papier, auf dem man unterschrieben hat, dass die Tochter am Ausflug teilnehmen darf, die Dose mit Farbe, die man vor drei Jahren extra beiseitegestellt hat für spätere Ausbesserungsarbeiten, die irgendwann nötig sein würden: Die Bandbreite und Anzahl der Dinge, die wir verlieren, ist erstaunlich. Jemand wie mein Vater verliert vielleicht zehnmal so viel wie jemand wie meine Mutter, aber im Durchschnitt verlegt Untersuchungen und Versicherungsunternehmen zufolge jede*r von uns rund neun Gegenstände pro Tag – was bedeutet, dass wir, wenn wir sechzig werden, fast zweihunderttausend Dinge verloren haben. Natürlich sind nicht all diese Verluste unwiederbringlich, aber eins ist es: die Zeit, die man damit verschwendet hat, den ganzen Rest zu suchen. Im Laufe seines Lebens verbringt man rund sechs volle Monate damit, nach verlorengegangenen Gegenständen zu suchen. In den Vereinigten Staaten bedeutet das aufs Ganze gesehen über vierundfünfzig Millionen Stunden pro Tag, die mit Suchen verbracht werden. Hinzu kommt der damit verbundene Geldverlust: Pro Jahr werden etwa dreißig Milliarden Dollar allein für verlorene Handys ausgegeben.

Es gibt zwei vorherrschende Erklärungen dafür, dass wir dieses ganze Zeug verlieren – eine wissenschaftliche und eine psychoanalytische, beide sind unbefriedigend. Nach wissenschaftlicher Auffassung ist das Verlieren von Dingen ein Versagen, manchmal des Gedächtnisses und manchmal der Aufmerksamkeit: Entweder können wir uns nicht daran erinnern, wo wir die fehlende Sache hingelegt haben, oder wir haben es uns gar nicht erst gemerkt. Nach psychoanalytischer Auffassung stimmt das Gegenteil: Dinge zu verlieren steht für einen Erfolg, eine kluge Sabotage unserer Ratio durch unsere unbewussten Wünsche. In Zur Psychopathologie des Alltagslebens beschreibt Sigmund Freud »die unbewußte Geschicklichkeit, mit der ein Gegenstand infolge von geheimen aber starken Motiven verlegt wird«, darunter die geringe »Schätzung des verlorenen Gegenstandes oder« eine geheime »Abneigung gegen denselben oder gegen die Person, von der er herstammt«. Einer seiner Kollegen brachte es so auf den Punkt: »Wir verlieren nicht, was wir sehr schätzen.«

Die wissenschaftliche Erklärung ist zwar überzeugend, aber uninteressant. Sie macht deutlich, warum wir eher dazu neigen, Dinge zu verlegen, wenn wir erschöpft oder abgelenkt sind, macht aber nicht verständlicher, wie es sich tatsächlich anfühlt, etwas zu verlieren, und sie liefert nur die abstrakteste und unpraktischste Vorstellung davon, wie es sich vermeiden ließe. (Konzentration! Und wenn Sie schon dabei sind, passen Sie Ihre Gene oder Ihre Lebensumstände so an, dass Sie Ihr Gedächtnis verbessern.) Die psychoanalytische Erklärung hingegen ist faszinierend, unterhaltsam und theoretisch nützlich (Freud wies darauf hin, wie schnell bestimmte Leute aus seinem Bekanntenkreis etwas wiederfanden, »wenn das Motiv des Verlegens erloschen ist«), aber in den meisten Fällen nicht überzeugend. Das Wohlwollendste, was man darüber sagen kann, ist, dass es unsere Spezies maßlos überschätzt: Ohne unbewusste Motive würden wir anscheinend überhaupt nichts verlieren.

Das ist offenkundig falsch – aber wie viele psychologische Behauptungen unmöglich zu widerlegen. Vielleicht verlor mein Vater sein Baseballticket, weil er von Clevelands anhaltend lausiger Performance enttäuscht war. Vielleicht verliert meine Schwester ihr Portemonnaie so oft, weil ihr der Kapitalismus tiefes Unbehagen bereitet. Freud würde solche Thesen unterstützen, und zweifellos haben manche Verluste mit unbewussten Gefühlen zu tun oder lassen sich auf diese Weise jedenfalls nachträglich plausibel erklären. Aber die Erfahrung lehrt uns, dass solche Fälle die Ausnahme sind. Die bessere Erklärung ist in den meisten Fällen, dass das Leben kompliziert ist und der Verstand begrenzt. Wir verlieren Dinge, weil wir fehlbar sind, weil wir Menschen sind, weil wir Sachen zum Verlieren haben.

 

Die Fähigkeit meines Vaters, Dinge zu verlieren, stand in umgekehrtem Verhältnis dazu, wie sehr ihn diese Verluste beunruhigten. Er verlegte permanent Zeug, reagierte aber gemeinhin gelassen auf jeden neuen Verlust, als wären seine Besitztümer nur geliehen und ihr rechtmäßiger Besitzer hätte beschlossen, sie zurückzufordern. Ich vermute, ein anderer Mensch mit seinem Talent, Dinge zu verlieren, hätte zur Kompensation die Fähigkeit entwickelt, sie wiederzufinden. Aber mein Vater hatte hingegen die Fähigkeit entwickelt, sich mit dem Verschwinden fröhlich abzufinden.

Das ist eine bewundernswerte Haltung – vermutlich nah an dem, was die Dichterin Elizabeth Bishop mit der »Kunst des Verlierens« meinte. Die Zeile stammt aus »One Art«, einem Gedicht, das ich immer geliebt habe, und eine der berühmtesten Abrechnungen mit Verlust in der gesamten Dichtung. Darin legt Bishop nahe, dass kleine Verluste wie Schlüssel und Uhren uns helfen können, uns auf ernsthaftere vorzubereiten – in ihrem Fall zwei Städte, ein Kontinent und den Geliebten, an den sich das Gedicht wendet. Die Behauptung wirkt erst mal grotesk. Einen Ehering zu verlieren ist das eine, etwas völlig anderes ist es, die Ehefrau zu verlieren, und wir zögern zu Recht, das gleichzusetzen. Bishop weiß das natürlich, und in der letzten Zeile des Gedichts, in dem sie über den Verlust ihres Geliebten nachdenkt, wird die Kunst des Verlierens plötzlich von etwas, das »nicht schwer zu meistern« ist, zu etwas, das »nicht allzu schwer zu meistern« ist. Die Kursivierung stammt von mir, die Konzession jedoch von ihr, und sie unterläuft ihre übergreifende Beteuerung derart, dass sich das Gedicht leicht ironisch lesen lässt – am Ende gesteht es ein, dass der Verlust eines geliebten Menschen mit keinem anderen vergleichbar ist.

Und doch klingt in diesen letzten Zeilen noch etwas anderes an: das zögernde Eingeständnis, dass wir alle irgendwie lernen müssen, selbst mit den verheerendsten Verlusten leben zu können. In dieser Lesart ist Bishops Gedicht vollkommen ernstgemeint. Es empfiehlt, bei alltäglichen Verlusten Ausgeglichenheit zu kultivieren, um eines Tages in der Lage zu sein, eine ähnliche Gelassenheit aufzubringen, wenn wir etwas Wichtigeres verlieren. Diese Behauptung ist gar nicht so abwegig. Ganze spirituelle Traditionen beruhen auf der Idee, sich an nichts zu binden, aus der Überzeugung heraus, dass wir lernen können, selbst unseren schwersten Verlusten mit Akzeptanz, Ausgeglichenheit und Anstand zu begegnen.

Wie viele religiöse Ideale bleibt aber auch dieses für die Mehrheit der Menschen eine Wunschvorstellung. In der Praxis empfinden die meisten von uns selbst unbedeutende Verluste als ärgerlich. Das liegt nicht nur daran, dass sie uns immer Zeit und manchmal auch Geld kosten. Wir zahlen auch einen psychologischen Preis für sie: Jeder noch so geringe Verlust kann eine kleine Krise in unserer Beziehung zu uns selbst, zu anderen Menschen oder zur Welt mit sich bringen. Und diese Krisen werden nicht ausgelöst durch das Problem des Standorts – wo finden wir den vermissten Gegenstand? Sie werden ausgelöst durch das Problem der Ursache: durch die Frage, wer oder was das Verschwinden verursacht hat.

Die Antwort ist meistens: wir selbst. Im Mikrodrama des Verlusts sind wir beinah immer Täter und Opfer zugleich. Das ist ungünstig für unsere Egos und diverse andere Teile unseres Selbst. Wenn man weiß, dass man die Letzte war, die den geliebten orangenen Kuschel-Orang-Utan des Kindes hatte, aber keine Ahnung, was man damit gemacht hat, gibt man völlig zu Recht dem eigenen Gedächtnis die Schuld und zweifelt manchmal nicht nur wegen dieses Ausfalls, sondern generell an seiner Zuverlässigkeit. Es ist jedoch kaum tröstlicher, genau zu wissen, wie man etwas verlor – beispielsweise, wenn man seine Kreditkarte vermisst und sich dann erinnert, dass man sie am Wochenende im Restaurant liegen lassen hat. Im bestmöglichen Fall fühlen wir uns bei solchen Verlusten unverantwortlich. Im schlimmsten Fall, wenn wir etwas Wertvolles verloren haben, bereiten sie uns aufrichtige Qualen. Für Stunden oder Tage oder manchmal sogar Jahre lenken sie unsere Aufmerksamkeit genau dorthin, worauf wir sie eben nicht gerichtet hatten: auf den Moment, der zu einem der unverzeihlichsten des ganzen Lebens wird, in dem es noch möglich war, zu verhindern, was dann geschah.

Kurzgesagt, Dinge zu verlieren sorgt dafür, dass wir uns schrecklich fühlen. Daraus folgt häufig, dass wir uns weigern, Verantwortung dafür zu übernehmen und stattdessen jemanden suchen, dem wir die Schuld geben können. So wird aus einem Problem mit einer Sache ein Problem mit einem Menschen: Man schwört, die Rechnung auf dem Tisch liegen lassen zu haben, damit der Ehemann sie verschicken kann; der Ehemann schwört genauso vehement, dass sie dort nie lag; und es dauert nicht lange und beide verlieren auch noch die Fassung. Wenn sich sonst keine Verdächtigen anbieten, beschuldigen Sie den vermissten Gegenstand vielleicht sogar, sein Verschwinden selbst eingefädelt zu haben, sei es allein oder im Bund mit okkulten Mächten. Das klingt absurd, aber wir haben fast alle schon mal solche Anschuldigungen erhoben, weil wir fast alle schon mal Verluste erlebt haben, die ans Unmögliche zu grenzen schienen: der Pullover, den wir eben gerade anhatten und der nun irgendwie in einem fünfundfünfzig Quadratmeter großen Apartment verlorengegangen ist; der Brief, den wir uns genau erinnern, aus dem Briefkasten geholt zu haben, der sich aber entmaterialisiert hat, während wir in der Küche nach ihm suchen. Wenn wir nach solchen verlorenen Dingen lange genug gesucht haben, werden noch die am wenigsten Abergläubischen unter uns diverse höchst unwahrscheinliche Schuldige finden: Kobolde, Außerirdische, Wurmlöcher, den Äther.

Dass wir böse oder mysteriöse Mächte anführen, wenn etwas verlorengeht, ergibt Sinn, denn in solchen Momenten kann es scheinen, als gehorche die Welt nicht mehr ihren vertrauten Regeln. Egal, wie oft es vorkommt, wir erleben einen Verlust als etwas Überraschendes und Verwirrendes – als Bruch im vorgesehenen Ablauf der Dinge. Dass man den Pullover oder den Brief nicht mehr findet, bleibt unbegreiflich, genauso wie es unbegreiflich bleibt, dass die Frau, mit der man zwanzig Jahre lang verheiratet war, eines Tages von der Arbeit nach Hause kam und die Scheidung verlangte oder dass der gesunde junge Onkel letzte Nacht im Schlaf starb. Unsere typische Reaktion angesichts großer wie kleiner Verluste ist ein starkes Gefühl der Ungläubigkeit.

Dieses Gefühl ist äußerst verführerisch, aber auch äußerst irreführend. Nehmen wir zum Beispiel einen besonders tragischen Verlust der letzten Jahre: den des Malaysia-Airlines-Fluges 370, der im März 2014 mit zweihundertneununddreißig Menschen an Bord mit verstörender Gründlichkeit verschwand – kein Notruf, kein Feuer, keine Explosion, niemand, der die Verantwortung übernimmt, keine glaubwürdigen Zeugen und über ein Jahr lang kein einziges Trümmerteil. Zunächst glaubte man, das Flugzeug sei auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking irgendwo im Südchinesischen Meer abgestürzt. Erst viele Monate später, nach vielen wilden Spekulationen – unter anderem darüber, dass es von der chinesischen Regierung abgeschossen oder von Russen entführt und zu einem Kosmodrom in Kasachstan umgeleitet worden war –, kamen die Ermittler zu dem Schluss, dass es höchstwahrscheinlich nach Süden geflogen war, bis ihm der Treibstoff ausging und es irgendwo in den entlegenen Gebieten des Indischen Ozeans abstürzte.

Wie viele Menschen, die diese Geschichte verwirrte und erschreckte, fragte auch ich mich bei allen Spekulationen immer wieder, wie es in unserer ultravernetzten, GPS-überwachten Welt möglich war, etwas zu verlieren, das so groß war und so engmaschig verfolgt wurde wie ein Verkehrsflugzeug. Diese Ungläubigkeit war im engeren Sinne durchaus berechtigt. Betrachtet man nur die Luftfahrt, ist das, was mit Malaysia-Airlines-Flug 370 geschah, sehr ungewöhnlich: In fünfzig Jahren gab es unter fast einer Milliarde Flüge nur ein einziges anderes, viel kleineres Verkehrsflugzeug, das einfach verschwand. Weitet man den Fokus und betrachtet den Vorfall in einem größeren Zusammenhang, ist das, was mit dem Flugzeug geschah, überhaupt nicht ungewöhnlich. Die Erfahrung und die Geschichte lehren uns, dass es nichts auf der Welt gibt, das nicht verlorengehen könnte – unabhängig von seinem Wert, seiner Größe und unabhängig davon, wie sorgfältig wir versuchen, es nicht aus den Augen zu lassen. Ein nüchterner Blick auf die Welt bestätigt das. Wir können uns nur schwer vorstellen, ein Flugzeug zu verlieren, weil es uns riesig erscheint, wenn es kurz vor der Landung auf der Autobahn dicht über uns vorbeifliegt. Aber das ist der falsche Maßstab, um das Problem zu betrachten. Eine Boeing 777 mag im Vergleich zu uns groß erscheinen, aber auf dem Grund des Indischen Ozeans ließen sich bequem einhundertachtzig Milliarden von ihnen unterbringen.

Am Ende sind bestimmte Verluste vielleicht gerade deshalb so schockierend: nicht, weil sie der Realität trotzen, sondern weil sie sie offenbaren. Ein Verlust korrigiert unseren Maßstab und zeigt uns die Welt, wie sie wirklich ist – so gewaltig, komplex und geheimnisvoll, dass nichts zu groß ist, um verlorenzugehen; und umgekehrt kein Ort so klein, als dass dort nichts verlorengehen könnte. Ein fehlender Ehering kann die bescheidene Geographie eines Stadtparks in die Rocky Mountains verwandeln. Bei einer Wanderung sein Kind aus den Augen zu verlieren, kann eine friedliche Wald-Fluss-Landschaft in eine furchtbare Wildnis verwandeln. Ein Verlust hat wie Ehrfurcht und Trauer, mit denen er eng verwandt ist, die Macht, uns augenblicklich in ein neues Verhältnis zu unserer Umwelt zu setzen – wir sind nie kleiner und die Welt ist nie größer, als in dem Moment, wenn etwas Wichtiges verlorengeht.

Sogar triviale Verluste sind deshalb so schwer zu akzeptieren, weil sie so ein grobes Korrektiv unseres Gefühls sind, den Überblick zu haben, kompetent und mächtig zu sein. Etwas zu verlieren ist etwas zutiefst Demütigendes. Es zwingt uns dazu, unsere geistigen Grenzen anzuerkennen: die Tatsache, dass wir unser Portemonnaie im Restaurant vergessen haben; die Tatsache, dass wir uns nicht mal erinnern können, wo wir das Portemonnaie vergessen haben. Es zwingt uns, die Grenzen unseres Willens anzuerkennen: die Tatsache, dass es nicht in unserer Macht liegt, geliebte Dinge vor Zeit und Wandel und Zufall zu schützen. Und vor allem zwingt es uns, uns den Grenzen der Existenz zu stellen: der Tatsache, dass es in der Natur von fast allem liegt, früher oder später zu verschwinden oder zu sterben. Immer und immer wieder werden wir durch einen Verlust dazu aufgefordert, mit dieser universellen Vergänglichkeit zu rechnen – mit der rätselhaften, unerträglichen, herzzerreißenden Tatsache, dass etwas, das gerade noch da war, plötzlich einfach weg sein kann.

 

Manchmal scheint es mir, als wäre die lebenslange Angewohnheit meines Vaters, Dinge zu verlegen, eine Operetten-Version der tragischen Reihe von Verlusten, die seine Kindheit prägten. Man merkte es seiner überschwänglichen Persönlichkeit nicht an und seine späten Jahre waren eine Zeit des Überflusses, aber hineingeboren wurde mein Vater in eine Familie, eine Kultur und einen Moment der Geschichte, die in außerordentlich hohem Maße von Verlust geprägt waren: Verlust von Wissen und Identität, Verlust von Geld, Ressourcen und Möglichkeiten, Verlust von Heim, Heimat und Menschen.

In groben Umrissen ist seine Geschichte bekannt, weil sie zu den umfassendsten und schrecklichsten Verlustgeschichten der modernen Zeit gehört. Die Mutter meines Vaters, das jüngste von elf Kindern, wuchs in einem Shtetl außerhalb von Lodz auf, mitten in Polen – Ende der 1930er Jahre einer der gefährlichsten Orte für Juden auf einem Kontinent, der für sie immer gefährlicher wurde. Weil ihre Familie zu groß und zu arm war, als dass alle zusammen dem herannahenden Krieg hätten entkommen können, machten ihre Eltern eine mir unvorstellbare persönliche Rechnung auf, um ihr jüngstes Kind in Sicherheit zu bringen. So fand sich meine Großmutter väterlicherseits als Teenager über zweitausendfünfhundert Meilen entfernt von der einzigen Welt, die sie je kannte, in Tel Aviv wieder, das zu diesem Zeitpunkt noch zu Palästina gehörte. Zudem war sie mit einem polnischen Juden verheiratet, der deutlich älter war als sie.