Lost Treasure - Sandra Pollmeier - E-Book
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Lost Treasure E-Book

Sandra Pollmeier

4,0

Beschreibung

Seychellen. Traumhafte Strände. Romantik pur für alle Liebenden. Auch für Ben und mich. Wir finden zueinander. Wir finden einen Schatz. Womit ich nicht rechne, ist, dass wir all das ebenso schnell wieder verlieren. HINWEIS: Teil 2 der "Treasure Hunt" Reihe. Für einen besseren Lesegenuss empfehlen wir, zuerst Teil 1 zu lesen!

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Lost Treasure

Verratene Liebe

Sandra Pollmeier

Impressum

Nachdruck, Vervielfältigung und Veröffentlichung - auch auszugsweise - nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages!

Im Buch vorkommende Personen und Handlung dieser Geschichte sind frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.

Copyright © 2020 dieser Ausgabe Obo e-Books Verlag,

alle Rechte vorbehalten.

OBO e-Books

M. Kluger

Fort Chambray 

Apartment 20c

Gozo, Mgarr

GSM 2290

Inhalt

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Mehr Lesestoff

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1

Wir liefen wortlos hintereinander her und ich spürte, wie ich mit jedem weiteren Schritt mein altbekanntes Leben – oder vielmehr das, was noch davon übriggeblieben war – hinter mir ließ.

Nach dem schrecklichen Brand in dem Retro-Nachtklub von Madame Monique gab es für Ben und mich kein Zurück mehr. Verfolgt von fremden Menschen, die es auf die Schatzkarte abgesehen hatten, die mein Vater bei einer Expedition auf den Seychellen gefunden hatte, mussten wir dringend untertauchen. In Hamburg waren wir nicht mehr sicher.

Von der Seitenstraße aus, in der wir unseren Wagen geparkt hatten, sah ich die Einsatzkräfte mit Atemmasken bekleidet hektisch hin und her laufen. Auf ihren Armen trugen sie leblose Körper. Der ganze Block war inzwischen in dichte Rauchwolken gehüllt, doch nur wenige Schaulustige hatten sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eingefunden, um das schreckliche Szenario aus nächster Nähe zu betrachten. Hier, im größtenteils stillgelegten Gewerbegebiet, gab es nicht viele Anwohner. Die Sonne tauchte langsam auf hinter den grauen Häusern der Stadt, als Ben hastig den Motor aufheulen ließ und ohne sich anzuschnallen in Richtung Innenstadt fuhr. Müde sackte ich auf dem Beifahrersitz zusammen. Ich hatte keine Ahnung, wohin wir fuhren, aber ich fühlte mich zu erschlagen, um meinen Bruder danach zu fragen. Es verging eine gefühlte Ewigkeit, bevor Ben endlich wieder ein Wort zu mir sagte. Ich zuckte zusammen, als ich plötzlich seine raue Stimme neben mir vernahm. „Tony und Nadja werden uns nicht erwähnen. Ich habe mit beiden gesprochen, wir können ihnen vertrauen.“ Dann verstummte er und ich hakte nicht weiter nach, ob Nadja und Tony nicht verwundert über unsere Flucht waren. Es interessierte mich nicht. Über zu viele Dinge hatte ich mir in den letzten Tagen den Kopf zerbrochen. Jetzt wollte ich an nichts mehr denken, mich ausnahmsweise nur treiben lassen.

Wir fuhren an diesem Morgen nicht nach Hause. Niemand durfte uns sehen, niemand sollte uns folgen können. Ich bezweifelte zwar, dass Bens Bekannte Dana sich noch im Haus aufhielt, nachdem ich sie mit einer Waffe bedroht und an einen Stuhl gefesselt hatte, doch sicher waren wir uns da nicht. Vielleicht hatten wir ja eine Chance, wenn Onkel Michaels „Hintermänner“ dachten, wir wären genauso wie er in der Feuersbrunst ums Leben gekommen. Natürlich zusammen mit dem ach so begehrten französischen Brief. Alles vernichtet, kein Grund mehr, diese Angelegenheit weiter zu verfolgen. Wir wären frei! Und doch glaubte ich nicht an diese Theorie. Irgendwann würden sie doch erfahren, dass wir noch lebten. Aber vielleicht hätten wir dann genügend Zeit gewonnen, um sie abzuschütteln.

Den ersten Zwischenstopp auf unserer Reise legten wir bei Bens Kumpel Oskar ein. Lange konnten wir dort nicht bleiben, wir mussten dringend Hamburg verlassen. Aber ohne Geld, Kleidung und Papiere war das ein schwieriges Unterfangen. Oskar war ein tätowierter und dutzendfach gepiercter Heavy Metal-Freak, der nicht begeistert über unser Erscheinen war. Er nahm es seinem Freund Ben immer noch übel, dass dieser Oskars geliebte Harley in der vergangenen Nacht auf dem Ohlsdorfer Friedhof hatte stehen lassen. Ben erzählte ihm eine haarsträubende Geschichte, deren Inhalt sich darum drehte, dass Ben angeblich von der Polizei gesucht würde, weil er illegal erworbene Autos nach Polen vertickt hatte. Das schien Oskar aus unerfindlichen Gründen zu verstehen, und so half er uns dabei, Bens alten Ford gegen einen klapprigen Polo einzutauschen. Er besorgte uns auch ein paar neue Klamotten und stieg sogar in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in unser Haus ein, um uns unsere Papiere, Kreditkarten und einige Wertsachen zu besorgen. Natürlich bekam er für diese Unterstützung ein sattes Honorar.

Am Dienstag nach unserem „Tag X“ im Excelsior sprang mir schon am Frühstückstisch die riesige Schlagzeile auf dem Titelblatt der Hamburger Morgenpost ins Auge: „Brandkatastrophe in illegalem Tanzklub - 73 Tote“. Meine Finger zitterten, als ich die Zeitung zu mir heranzog, und das eben noch gekaute Brot blieb mir in der trockenen Kehle stecken. Hastig überflog ich die Zeilen und suchte nach einem Hinweis auf Ben und mich – doch anscheinend hatten Tony und Nadja tatsächlich Wort gehalten und nichts von unserem Aufenthalt dort erwähnt. Laut Text hatten – außer uns –nur zwei Menschen überlebt, die restlichen Besucher des Klubs waren erstickt oder verbrannt. Die Ursache des Feuers sei noch ungeklärt, man vermute allerdings Brandstiftung. Dann folgte ein langer Absatz über die Sicherheitsmängel im Excelsior und darüber, dass der illegale Klub anscheinend seit Jahren „im Dunkeln“ existiert hatte. Mit einem Seufzen legte ich die Zeitung aus der Hand. Die Medien würden sich um diese Geschichte schlagen, so viel war klar. Es wurde höchste Zeit, dass wir von hier verschwanden.

Als Ben mit düsterer Miene die schäbige Küche seines Kumpels Oskar betrat, brauchte ich nicht zu raten, was ihm schon am frühen Morgen die Laune verfinsterte. Wortlos warf er sich neben mich auf einen Stuhl, erkannte mit einem kurzen Blick, dass auch ich schon die Schlagzeilen gelesen hatte, und atmete tief durch. „Wir fahren heute Abend“, murmelte er ohne mich dabei anzusehen. Ich nickte nur, da auch ich nicht zu längeren Gesprächen aufgelegt war. Vielleicht hätte es mich interessieren sollen, wohin wir fahren würden, aber irgendwie war es mir egal. Mein Leben war zu einem schwarzen Loch mutiert, es spielte keine Rolle, ob oder wie es weiterging. Wichtig war nur, dass meine Freunde in Sicherheit waren. Und das waren sie hoffentlich, wenn Ben und ich von der Bildfläche verschwanden. Bevor ich mit Ben gegangen war, hatte Marvin mir heimlich sein Handy zugesteckt. Ich hatte meinem Bruder nichts davon erzählt, weil ich befürchtete, dass er von mir verlangen würde, es wegzuwerfen. Mein eigenes Handy hatte ich schon entsorgt. Aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen, den Kontakt zu Marvin und Stella völlig zu verlieren. Zumindest musste ich wissen, ob es Stella wieder gut ging.

Nachdem ich mein Brot hastig herunter geschlungen hatte, verließ ich die Küche, um mein provisorisches Schlaflager in Oskars Wohnzimmer aufzusuchen. Als ich das Handy aus der Tasche zog, sah ich sofort, dass es blinkte und eine neue Nachricht anzeigte. Natürlich war sie von Marvin. Er schrieb, dass Stella noch immer bewusstlos sei, aber definitiv nicht mehr in Lebensgefahr schwebe. Die Polizei ging mittlerweile nicht mehr von einem Selbstmordversuch, sondern einem Gewaltverbrechen aus, da man an Stellas Handgelenken Fesselspuren entdeckt hatte. „Bitte schreib mir, wohin ihr fahrt“, war Marvins letzte Bitte, „ich muss wissen, dass es dir gut geht, sonst werde ich noch verrückt.“

„Sofia?“ Erschrocken ließ ich das Handy in meine Tasche fallen und fuhr zur Tür herum. Einen Moment lang wirkte Ben irritiert, doch er fragte nicht, warum ich so zusammengezuckt war, sondern setzte sich auf einen Stuhl schräg gegenüber von meiner Luftmatratze. „Ich habe Bekannte in Amsterdam. Wir werden erst einmal dorthin fahren. Sie werden uns weiterhelfen. Alles andere weiß ich auch noch nicht.“ Ben ließ seine ineinander gefalteten Hände in den Schoß fallen und beugte sich vor, um mir noch eindringlicher in die Augen zu sehen. Sein Blick verriet eine merkwürdige Mischung aus Angst, Entschlossenheit und Bedauern, doch ich konnte diese eigenartige Kombination nicht deuten. Nur eines war mir irgendwie ohne weitere Erklärung klar: dass er seine sogenannten „Bekannten“ in Amsterdam nur widerwillig aufsuchen würde. „Wir werden das schaffen“, fügte mein Bruder nach einer kurzen Pause hinzu. Es klang eher, als wolle er sich selbst davon überzeugen als mich. „Wir werden uns nicht unterkriegen lassen. Von niemandem, O.K.?“ Ich lächelte schwach und nickte, doch ich spürte, dass der Kampfgeist in mir erloschen war. Wenn Ben wollte, dass ich ihm folgte – na gut, was sollte ich auch sonst tun? Aber an ein glückliches Ende der Geschichte konnte ich nicht mehr glauben. Nicht nach all dem, was wir gestern erlebt hatten.

Als wir mit Anbruch der Dämmerung Oskars Wohnung verließen, war ich froh darüber, Hamburg den Rücken zu kehren. Die Stadt, in der ich aufgewachsen war und die mir so lange Zeit vertraut gewesen war, kam mir plötzlich fremd und feindselig vor. Ich fühlte mich wie ein kleiner Fisch, der in seinem geschützten Riff in der lauschigen Lagune bisher nicht gemerkt hatte, dass direkt neben ihm ein Schwarm blutrünstiger Haie lauerte. Als wir die Lichter der Stadt hinter uns ließen, verlangsamte sich mein hämmernder Puls allmählich, Müdigkeit umfing mich mit wohlwollender Umarmung. Ben hatte seinen Blick starr auf die Straße gerichtet, seine in Falten gezogene Stirn ließ seine innere Anspannung erkennen. Meine Augenlider wurden schwer und das Dröhnen des alten Motors vermischte sich mit dem Prasseln des Regens auf unserer Windschutzscheibe. Irgendwo im Niemandsland zwischen Hamburg und Amsterdam gab mein Körper nach und ich fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

2

Als ich erwachte, war es stockfinster. Unser Wagen stand auf einem dunklen Parkplatz und an den Kennzeichen der anderen Autos erkannte ich, dass wir uns bereits in Holland befanden. Ben hatte mich zaghaft am Arm geschüttelt, doch er ließ mich abrupt los, als ich ihn schlaftrunken anblinzelte. „Wir sind da“, flüsterte er.

„Komische Wohngegend“, gähnte ich und ließ meinen Blick über die Reihen der fremden Autos gleiten. „Hier wohnt auch niemand.“ Ben seufzte und schien einen Moment darüber nachzugrübeln, was er mir erzählen sollte. „Wir gehen in einen Klub, eine Diskothek. Die gehört einem … ehemaligen Arbeitgeber von mir. Er erwartet uns schon.“ Eine Diskothek! Ich stöhnte und öffnete die Autotür. Kühle Sommernachts-Luft drang in unseren Wagen. Dank vorgestern Nacht wollte ich nie wieder einen Klub betreten. „Hast du eigentlich nur Bekannte, die in Bars und Klubs arbeiten?“, grummelte ich missmutig vor mich hin und streckte meine müden Beine vorsichtig nach draußen. Ein kurzes Schnaufen hinter mir war die einzige Antwort auf meine rhetorisch gemeinte Frage. Mein altes T-Shirt klebte an meinem Rücken und meine zerzausten Haare waren während der Fahrt zu einem unlösbaren Knoten mutiert. Prima, genau das richtige Outfit für einen Discobesuch. Aber egal. Mein Aussehen störte mich nicht. Ich befand mich auf der Flucht vor einer Bande von skrupellosen Gangstern.

Mit müden Schritten wankte ich drei Meter hinter Ben her, der zielstrebig auf einen riesigen, mit Neonschrift beleuchteten Glaspalast zusteuerte. „Metropolis“ prangte in großen Lettern über dem prunkvollen Eingangsbereich. Zwei muskelbepackte Türsteher mit schwarzen Sonnenbrillen (ein Irrsinn nachts um Viertel vor zwei!) kontrollierten mit ernster Miene die Tauglichkeit des Äußeren eines jeden Besuchers. Okay, dieser Laden wirkte schon ein wenig anders als das Excelsior. Allerdings hatte ich Bedenken, dass man mir hier Einlass gewähren würde. In dem Fall könnte ich draußen warten, während mein wie immer perfekt aussehender Bruder seine alten Freunde besuchte. Ehrlich gesagt wäre mir das sogar lieber.

„Benjamin!“, freute sich einer der glatzköpfigen Hünen, als wir gerade mal die erste Stufe der Treppe zum Eingang des „Metropolis“ erklommen hatten. Der Goliath setzte seine schwarze Sonnenbrille ab und lief uns ein paar Treppenstufen entgegen, um meinen Bruder kumpelhaft an seine gestählte Brust zu reißen. Ich erwartete, dass Ben verzweifelt nach Luft ringen würde, da er neben diesem Riesen wie ein Spargeltarzan aussah. Doch er grinste nur souverän und klopfte dem Rausschmeißer freundschaftlich auf die kleiderschrankbreiten Schultern.

„Ich glaub´s ja nicht, dass du dich hier noch mal blicken lässt, du kleiner Scheißer!“, lachte das farblose Hulk-Double mit tiefer Stimme und schüttelte dabei sein kahles Haupt. Irgendwie sah er ohne seine Sonnenbrille nur halb so gefährlich aus. Die gehörte also quasi zur Arbeitskleidung, fuhr es mir durch den Kopf, genauso wie der Kaugummi zwischen den mit Gold überkronten Eckzähnen. Der Kerl war ein Paradebeispiel dafür, dass die Realität manchmal jedes Klischee übertrumpfte. „Linus wird ausflippen, wenn er dich sieht! Wir hätten alle nicht gedacht, dass du nach dem, was passiert ist …“

„Linus weiß Bescheid“, unterbrach Ben den Muskelprotz mitten im Satz. Es sah ganz so aus, als wollte er vermeiden, dass dieser Typ zu viel von seiner Vergangenheit preisgab.

„Ach so“, murmelte der Türsteher überrascht, „er weiß Bescheid. Na gut, Leute, dann kommt mal mit.“

Obwohl ich mich unglaublich underdressed fühlte, kam ich mir irgendwie wichtig vor, weil wir einfach so an einer langen Schlange Wartender vorbei spazieren konnten. Alle Blicke schienen uns zu folgen und ich versuchte zu ignorieren, dass einige der hübschen Mädchen in der Warteschlange ihre Köpfe zusammensteckten und tuschelten, während sie mich mit bösen Blicken betrachteten.

In der gigantisch anmutenden Halle im Inneren des „Metropolis“ schmetterte uns Technobeat entgegen. Der Raum war bis auf den letzten Zentimeter ausgefüllt mit ekstatisch zuckenden Tänzern, die sich alle wie in Trance zum Rhythmus bewegten. Einen derart riesigen Klub hatte ich noch nie gesehen. Ben schrie mir irgendetwas zu, das ich aufgrund der Lautstärke nicht verstehen konnte. Ich schüttelte stirnrunzelnd den Kopf und deutete mit den Fingern auf meine Ohren. Entnervt rollte Ben seine Augen, schnappte grob nach meinem Oberarm und zog mich hinter sich her. Offenbar hatte er Angst, dass wir uns aus den Augen verlieren könnten. Der freundliche Hüne, der übrigens Theo hieß, wie er mir kurz vorm Eingang in die Hölle verraten hatte, schleuste uns sicher durch die Massen, bis wir zu einem Treppenabsatz kamen, vor dem ein weiterer Security-Typ stand. Dieser war weniger muskelbepackt als seine Kollegen im Eingangsbereich, trug allerdings den gleichen schwarzen Anzug mit Rollkragenpulli darunter (der Arme – in der schwülen Hitze, die hier herrschte!). Eine Sonnenbrille hatte der Mann tatsächlich nicht auf der Nase (wäre hier drinnen auch wirklich zu lächerlich gewesen), dafür klemmte über seinem rechten Ohr ein Headset, das ihm ebenfalls ein sehr wichtiges Aussehen verlieh. Theo wechselte ein paar Worte mit ihm. Sein Gegenüber nickte stumm und telefonierte mit einer dritten Person. Daraufhin löste er die Kette, die die Treppe vom unteren Tanzbereich trennte, und ließ uns passieren.

Wir stiegen auf in einen mit hohen Glasfronten abgetrennten VIP-Bereich, der auf einem Balkon etwa zehn Meter über den tanzenden Massen schwebte. Mir stockte der Atem, als wir den in gedämpftem Licht beleuchteten Raum betraten. Die Musik hier oben war sehr viel leiser und sanfter als im unteren Bereich des Tanzklubs. Breite, cremefarbene Sofas luden zum Ausruhen ein, und in den dazwischen aufgestellten überdimensionalen Säulen brodelte eine bläulich schimmernde Flüssigkeit. Auf der linken Seite befand sich ein in Marmor gefasster Pool, in dem zwei Bikini-Schönheiten Champagner schlürften. Am rechten Ende des ca. 100 Quadratmeter großen Raumes befand sich das beeindruckendste Highlight: eine Cocktailbar, die in ein riesiges, raumhohes Aquarium eingearbeitet war. Bunte tropische Fische schwammen durch die Theke, vor der einige Männer in teuren Anzügen mit wunderschönen Frauen in enganliegenden Luxuskleidern flirteten. Ohne es zu wollen, krallte ich mich noch fester an Bens Arm. Die Dekadenz hier jagte mir aus unerklärlichen Gründen Angst ein. Und irgendetwas in Bens angespanntem Gesichtsausdruck bestätigte mein ungutes Gefühl.

„Benjamin Stevens!“, hörten wir plötzlich eine dunkle Stimme aus dem hinteren Bereich des Raumes. Erschrocken drehte ich mich um. Auf einer Couch links vom Treppenabsatz saß ein Mann mit platinblond gefärbten Haaren in einem teuer wirkenden schwarzen Anzug mit gleichfarbigem, halb aufgeknöpftem Hemd und grinste zu uns herüber. Der Fremde, der auffällig viel Designerschmuck wie eine massive Silberkette mit viktorianischem Kreuz, ein Panzerarmband und diverse Ringe mit Totenköpfen trug, winkte uns lässig mit einer Hand zu sich herüber, ohne von dem Sofa aufzustehen. Die beiden Damen in weinroten Seidenkleidern, die neben ihm gesessen hatten, verzogen sich dezent an die Aquarium-Bar. „Dass ich noch einmal zu dieser Ehre komme …“, lachte der Mann mit unüberhörbarem Spott in der Stimme und ließ sich genüsslich in die breiten Sofakissen zurückfallen. Dann musterte er mich mit einem süffisanten Grinsen von oben bis unten und zog dabei abschätzend seine linke Augenbraue hoch. „Süß, deine kleine Schwester, Benjamin, wirklich süß.“ Ben schob sich zwischen mich und den Fremden und atmete tief durch. „Linus“, begrüßte er den Mann mit gepresster Stimme, „ich bin hier, weil ich dich an dein Versprechen erinnern will. Falls du dein Wort hältst, dann ist jetzt der Moment, in dem du mir helfen kannst.“ Ich glaubte ein leichtes Zittern in Bens Stimme zu erkennen und wunderte mich darüber. Es war nicht seine Art, vor irgendjemandem Respekt oder gar Angst zu haben. Im Gegenteil – Ben legte ansonsten eine überheblich anmutende Gelassenheit an den Tag, dass ich bisher den Eindruck gewonnen hatte, ihn würde so schnell nichts aus dem Konzept bringen. Aber dieser aalglatte Kerl auf dem Sofa ließ Ben fast wie einen hilflosen Jungen erscheinen. Was war das für ein Geheimnis, das die beiden verband?

„Aber Benni. Ich bin ein Ehrenmann. Wenn ich etwas verspreche, dann halte ich es!“ Der drollige holländische Akzent passte nicht zu dem ansonsten eher bedrohlich wirkenden Fremden. Auch ohne dass er Linus antwortete, war mir klar, dass mein Bruder an dessen Ehrbarkeit zweifelte. Gegenseitige Sympathie verband die beiden nicht, soviel war sicher. „Setzt euch doch, bitte!“ Unser Gegenüber lächelte übermäßig freundlich und ließ seinen Blick zu mir gleiten. Dann nickte er zur Bar. Sofort kam eine hübsche Blondine herbei, um uns zwei Champagnergläser zu reichen. Auch ohne diese Geste wusste ich, dass Linus der Chef dieses Ladens sein musste. Diese Tatsache erfüllte mich mit einer gewissen Ehrfurcht. Obwohl der blondierte Holländer wahrscheinlich kaum älter als dreißig war, musste er ein außerordentlich betuchter und einflussreicher Mann sein. Wir setzten uns zu Linus auf das geschwungene Sofa, wobei Ben darauf zu achten schien, dass er zwischen mir und seinem alten Bekannten saß. Hatte er Angst um mich?

„Also, mein Freund, wie kann ich euch beiden helfen?“ Linus stellte sein Champagnerglas auf den massiven Kristalltisch vor unserer Couch und zündete sich eine Zigarette an. Dann hielt er mir und Ben eine silberne Dose mit selbst gedrehten Glimmstängeln unter die Nase. Mein Bruder schüttelte den Kopf und warf mir einen bösen Blick zu, als ich einen Moment lang überlegte, mir auch eine Zigarette zu nehmen.

„Wir brauchen neue Reisepässe und etwas Geld. Wir wissen, dass wir gefälschte Pässe nicht zum Reisen gebrauchen können, aber für eine Hotelbuchung etc. werden sie ihren Zweck erfüllen. Und ein paar Infos wären auch nicht übel …“. Bei diesen Worten legte Ben die silberne schallgedämpfte Pistole auf den Glastisch, die wir auf dem Friedhof unserem Verfolger entwendet hatten. Linus stieß einen leisen Pfiff aus und nahm die Waffe in die Hand. Mit sicherem Griff ließ er das Magazin aus dem Handlauf gleiten, schob es wieder hinein und entschärfte die Waffe. „Ein hübsches Schätzchen hast du da gefunden, Benni. Das ist eine Beretta FS Inux. Ein Sondermodell, davon gibt es nur wenige. Und sagen wir mal so: Wer ein solches Schmuckstück besitzt, der will damit keine Tauben schießen.“

Ich konnte mein Erstaunen kaum verbergen. Warum zeigte Ben ihm die Pistole? Wollte er noch heute im Gefängnis landen? Er musste den Verstand verloren haben. „Ich will nicht wissen, was für ein Modell das ist. Ich will wissen, wem sie gehört hat“, antwortete Ben mit ruhigem Ton.

Linus schüttelte lachend den Kopf. „Du bist gut, Benni“, entfuhr es ihm, „da stellst du mir eine schwierige Aufgabe. Das Geld ist kein Thema. Aber wegen der Kanone kann ich nicht eben bei Amazon nach einer Kundenliste fragen. Das wird eine Weile dauern …“

„Eine Woche“, konterte Ben. „Eine Woche, dann müssen wir weiter. Und ich weiß, dass du das hinkriegst, Linus.“ Das Lächeln des Klubbesitzers wurde gepresster, doch er unterdrückte seinen Unmut gekonnt. „Na gut“, antwortete er, „wenn wir dann quitt sind.“

„Mehr verlange ich nicht.“

„Dann steht unser Deal.“ Linus hielt Ben seine rechte Hand entgegen, doch mein Bruder überging die Geste mit einem eisigen Lächeln. Was immer es war, weshalb Linus ihm einen Gefallen schuldete – es musste etwas außerordentlich Wichtiges gewesen sein, ansonsten hätte sich Ben ein solches Verhalten wohl kaum erlauben können. Doch noch während ich über dieses ominöse Geheimnis nachgrübelte, wurde ich jäh aus meinen Gedanken gerissen.

„Da seid ihr ja! Ich freue mich so sehr!“, erklang eine melodische Stimme hinter meinem Rücken und Bens Blick wurde mit einem Mal sanft, beinahe verletzlich. Erstaunt drehte ich mich um und blickte in das strahlende Gesicht einer wunderschönen jungen Frau mit kastanienrotem, wallendem Haar, welches sie locker an ihrem Hinterkopf hochgesteckt hatte. Die schöne Fremde trug ein schwarzes, tief dekolletiertes Cocktailkleid mit hohem Beinausschnitt und lange, funkelnde Ohrhänger mit einem dazu passenden Collier. Jede Frau im Umkreis von zehn Kilometern hätte bei ihrem Anblick in Ohnmacht fallen müssen, so beeindruckend wirkte ihr Auftritt. Ein helles, natürlich wirkendes Strahlen ging von ihr aus. Und so, wie Ben sie ansah, war er ihr verfallen. Die Schöne glitt an mir vorbei und umarmte Ben mit einem freudigen Lachen. Eine ganze Weile hielten sie sich fest, bis die junge Frau sich langsam von meinem Bruder löste und sich mir zuwandte. Anscheinend hatte ich sie angeschaut, als wäre sie ein Gespenst, denn nun wirkte die Fremde etwas verlegen und streckte mir vorsichtig die rechte Hand entgegen.

„Entschuldige bitte, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Julie, ich bin eine alte Freundin deines Bruders.“ Zögernd ergriff ich ihre Hand. Es widerstrebte mir sehr, freundlich zu dieser Frau zu sein. Eine alte Freundin von Ben! Na, ich konnte mir denken, was das bedeutete. Und so, wie er diese Julie ansah, war er immer noch ganz hin und weg von ihr. Auch wenn sie auf den ersten Blick freundlich wirkte – mit einem Mal spürte ich wieder, dass all meine Hoffnungen mit ihrem Erscheinen wie weggespült wurden. Ben und ich waren kein eingeschworenes Team. Die letzten zwei Tage hatten die Illusion in mir geweckt, dass uns etwas Besonderes verband, etwas, das uns zusammenschweißte, uns zu einer Einheit machte. Ben und ich gegen den Rest der Welt oder so was. Nun wurde mir klar, dass es immer andere Frauen geben würde – und diese hier war mit Sicherheit eine größere Bedrohung als Dana. Was uns verband, war einzig und allein die Suche nach diesem verfluchten Schatz. Und wenn dieses Abenteuer überstanden wäre, dann würde uns nichts mehr aneinander ketten. Und es würde immer eine Julie oder Dana da sein, die Ben mit offenen Armen empfinge.

„Ihr seid bestimmt müde“, sagte Julie. „Ihr könnt erst einmal bei mir übernachten.“

„Na klar, ich im Gästezimmer und Ben in deinem Bett“, dachte ich und antwortete nur mit einem falschen Lächeln. Hätte ich mir aber auch sparen können, denn mich beachtete sowieso niemand. Zumindest nicht Ben und seine Ex-Flamme. Dafür grinste mich dieser Linus mit abschätzendem Blick von der Seite an, was mir noch unbehaglicher war als Julies Anwesenheit. Er sah aus wie ein Mann, vor dem man sich in Acht nehmen musste. Mit Sicherheit hatte er Dreck am Stecken, wie sonst sollte er an die Informationen kommen, die wir brauchten? Seine Musterung verursachte mir eine Gänsehaut und so schaute ich schnell in eine andere Richtung. Unterdessen standen Ben und Julie auf und schlenderten plaudernd in Richtung Ausgang, ich erhob mich und trottete hinter ihnen her. Wie redselig mein Bruder doch sein konnte. So wie jetzt hatte ich ihn noch nie erlebt.

„Nicht traurig sein, kleine Schwester“, raunte plötzlich eine sanfte Stimme in mein Ohr, „auf Julie brauchst du nicht eifersüchtig zu sein. Die nimmt dir Ben nicht weg!“ Erschrocken fuhr ich herum und errötete, als ich dicht neben mir Linus erblickte.

„So´n Quatsch“, antwortete ich so schroff wie möglich und ging einen Schritt schneller, um Ben und Julie nicht in der Menge zu verlieren. Linus lachte nur wissend. Am Rande der Treppe hielt er mich plötzlich am Handgelenk fest. „Wenn du mal bei mir arbeiten willst – ich nehme dich gerne.“ Er grinste schief und steckte sich dabei lässig eine Zigarette in den Mund.

„Sicher nicht!“ antwortete ich und entriss ihm meine Hand. Wie unverschämt! Und dennoch schmeichelte mir seine Dreistigkeit ein wenig. Wenn er mir anbot bei ihm zu arbeiten, dann stellte er mich quasi auf eine Stufe mit Julie und den anderen Schönheiten dort oben – und denen konnte ich nicht im Entferntesten das Wasser reichen. Ich bemerkte, wie Ben, der inzwischen in der Menge der Technofans untergetaucht war, sich zu mir umdrehte und verärgert die Stirn runzelte, als er sah, dass Linus mich angesprochen hatte. Sofort blieb er stehen und wartete, bis ich mich zu ihm durchgekämpft hatte.

„Halt dich von Linus fern, hast du gehört!“ Er brüllte mich beinahe an, was allerdings auch daran lag, dass der Technobeat gerade dabei war, die Dezibel-Grenze eines Düsenjets zu überschreiten. Ich hatte kein Interesse daran nähere Bekanntschaft mit diesem aalglatten Egomanen zu machen, aber Bens Befehlston ging mir gegen den Strich. „Ach, warum denn?“, rutschte es mir etwas patziger als beabsichtigt heraus.

Bens Augen funkelten wütend, als er mich näher zu sich heranzog. „Weil er ein falscher, hinterhältiger und gefährlicher Dreckssack ist, verstanden?“ fauchte er.

„Na dafür, dass er so ein Dreckssack ist, hilft er uns ganz schön aus der Patsche!“ Ich blitzte Ben herausfordernd an. Einen Moment lang sagte mein Bruder nichts, atmete nur tief durch und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. Doch dann schüttelte er den Kopf und wandte sich von mir ab. „Na ja, wir werden sehen“, sagte er mehr zu sich selbst als zu mir.

3

Wo war ich? Um mich herum waberte undurchdringlicher Nebel. Alles war grau und dumpf und kalt. Warum trug ich keine Schuhe? Es fröstelte mich und der Boden unter meinen Füßen fühlte sich feucht an. „Hallo?“ Kein Echo. Keine Antwort. Mein Ruf wurde vom Dunst verschluckt. Unsicher tastete ich mich vorwärts. Aus weiter Ferne hörte ich ein Kreischen, wie von aufgescheuchten Vögeln. „Ist hier jemand?“ Nichts. Nur Stille. Ängstlich streckte ich meine Hände aus. Was, wenn ich plötzlich ins Leere trat? Vielleicht lauerte ja schon kurz vor mir ein gähnender Abgrund. Doch da war nichts. Kein Stein, kein Strauch, kein Ast, der mich streifte, kein Laut - bis auf das Vogelkreischen, das gespenstisch aus allen Richtungen kam. Mein Puls raste, kalter Schweiß trat auf meine Stirn. Wie war ich an diesen unheimlichen Ort gekommen? Gerade war ich doch noch … Voller Schrecken wurde mir bewusst, dass ich vergessen hatte, wo ich mich noch vor einem Augenblick befunden hatte. Meine Erinnerung war wie ausgelöscht. Ich befand mich an einem Ort außerhalb von Raum und Zeit. Außerhalb der vertrauten Realität. War das ein Traum? Aber warum fühlte ich dann die feuchte Erde unter meinen Füßen? Warum konnte ich den modrigen Geruch des Nebels einatmen? Warum war mir so kalt? Ich fasste in meine Haare und spürte die feinen Wassertropfen, die sich in den losen Strähnen abgesetzt hatten. Alles war viel zu real für einen Traum. Ich biss mir auf die Unterlippe und sie schmerzte. Ja, ich schmeckte sogar das Blut, das meine Lippe benetzte.

Und dann hörte ich es. Ein leises Scharren. Ein schleppendes, langsames Schlurfen. Wie von einem verletzten Tier, das sich mühevoll den Weg zu mir bahnte. Ich erschauderte vor Angst. Sollte ich weglaufen? Aber wohin? Sollte ich stehen bleiben und abwarten, dass es an mir vorbeizog? Sollte ich rufen und auf etwas Positives hoffen oder mich so leise wie möglich verhalten? Ich entschied mich für die letzte Alternative, das schleppende Geräusch kam immer näher. Bald war ich mir sicher, dass mein zitternder Atem mich verraten würde. Ich musste hier weg! Orientierungslos stolperte ich vorwärts, doch die Schritte, die sich nun eher menschlich anhörten, folgten mir. Ja, es hatte sogar den Anschein, dass sie schneller und sicherer wurden, je schneller ich lief. Und mittlerweile rannte ich. Die Vögel, die vor wenigen Minuten noch aus weiter Ferne gekreischt hatten, waren plötzlich ganz nah. Ich spürte das Flattern ihrer Flügel, obwohl ich sie nicht sehen konnte. Aber sie waren da. Und es waren viele. Ich strauchelte. Etwas hatte mich berührt. Es hatte sich kalt und feucht angefühlt. Waren das Federn? Ich fiel auf die Hände in den Matsch, versuchte mich keuchend wieder aufzurappeln – und erstarrte. Direkt vor mir stand ein Paar schwerer schwarzer Lederstiefel. Sekundenlang wagte ich nicht, nach oben zu schauen. Stattdessen schloss ich die Augen und erwartete den Todesstoß, der mich aus diesem Albtraum erlösen würde. Ein Wassertropfen rann über meine Stirn und blieb an meiner Nasenspitze hängen. Einen Moment lang hatte ich diesen irrwitzigen Gedanken in meinem Kopf, dass dieser dumme Tropfen an meiner Nase das Letzte in meinem Leben wäre, das ich spürte. Und dann passierte – nichts. Die Stiefel bewegten sich nur einen kleinen Schritt rückwärts. Der Boden unter ihnen gab ein schmatzendes Geräusch von sich. Dann herrschte Stille. Nicht einmal die Vögel waren mehr zu hören. Langsam erhob ich mich aus dem Matsch. Noch immer konnte ich kaum die Hand vor Augen erkennen. Und doch sah ich den Schatten, der kaum einen Meter von mir entfernt auf mich wartete. Zitternd wischte ich mir die Hände an meiner Kleidung ab.

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass das hier nicht meine Kleider waren. Ich trug ein bodenlanges, spitzenbesetztes weites Kleid mit schulterfreiem Dekolleté und engem Mieder, das merkwürdig altertümlich aussah. Vor Verwunderung merkte ich erst verspätet, dass der dunkle Schatten sich langsam zu mir herunterbeugte. Als der schwarze Lederhandschuh meine mit Schlamm verschmierte Wange streifte, zuckte ich zusammen. Dann erst sah ich sein Gesicht und es verschlug mir die Sprache. Vor mir stand Ben.

Nein. Vor mir stand ein Fremder, der genauso aussah wie Ben. Dieselben dunkelblauen Augen, die wilden braunen Haare, die unwiderstehlichen Grübchen, das schiefe, fast spöttische Lächeln. Aber dieser Mann hier war nicht Ben. Er trug einen langen, schwarzen Gehrock über einem weiten Rüschenhemd und engen Kniebundhosen. Seine Haare waren länger als die von Ben und im Nacken zu einem Zopf geflochten. Auf dem Kopf trug er einen Dreispitz und im Gesicht einen feinen, kurz geschnittenen Kinnbart. Was mich endgültig davon überzeugte, dass dies nicht mein Bruder sein konnte, war die tiefe Narbe, die sich quer über seine linke Wange bis zum Hals hinzog. Der Fremde lächelte, doch er sprach kein Wort. Bewegungslos stand ich da und starrte ihn an – unfähig etwas zu sagen oder mich zu bewegen. Der Fremde zog langsam seinen Hut vom Kopf, im selben Moment lichtete sich der Nebel. Erst jetzt erkannte ich den dichten, grünen Urwald um uns herum. Merkwürdig. Noch vor wenigen Sekunden hatte ich geglaubt, dass wir uns auf einer Ebene befanden. Aus den Wipfeln der riesigen Bäume tropfte Regen auf uns herunter, statt der Kälte breitete sich mit einem Mal eine stickige Schwüle aus. „Was … warum…?“, stotterte ich ungläubig, doch der Fremde, der gerade eben dem frühen achtzehnten Jahrhundert entstiegen zu sein schien, schüttelte den Kopf und legte mir den rechten Zeigefinger auf die Lippen, bevor ich weiterreden konnte. „Du musst dich in Acht nehmen!“, flüsterte er mit warnendem Unterton und stark französischem Akzent. Dann lächelte er wieder und ging langsam um mich herum, als wolle er mein Erscheinungsbild begutachten. Jetzt war er nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt und ich konnte seinen warmen Atem in meinem Nacken spüren.

„Wovor?“, fragte ich leise und schloss die Augen, weil mich diese seine Nähe zutiefst verwirrte. Einen Moment lang bekam ich keine Antwort. Stattdessen spürte ich die kühlen Lederhandschuhe, die mir eine lose Haarsträhne aus dem Nacken strichen. Ich wollte mich dagegen wehren, doch ich konnte mich nicht rühren.

„Vor den Vögeln“, flüsterte er mir ins Ohr.

„Was ist mit den Vögeln?“, fragte ich verwirrt und drehte mich in seine Richtung.

Seine tiefblauen, dunklen Augen sahen mich abschätzend an. „Du wirst es verstehen, wenn du so weit bist“, antwortete er kryptisch und zeichnete mit seinem Finger die Konturen meines Gesichts nach. Dann strichen die kühlen Handschuhe sanft über mein Haar. Und wieder konnte ich mich nicht wehren gegen dieses ohnmächtige Gefühl, dass ich Ben mit Haut und Haaren verfallen war. Meinem Bruder! Aber das hier war nicht Ben … oder etwa doch? Jetzt neigte er sein Gesicht zu mir herunter, ganz langsam. Gleich würde er mich küssen – und ich würde ihn nicht davon abhalten. Voller Anspannung erwartete ich den Moment, in dem das passierte, was im normalen Leben nicht passieren durfte … Aber das hier war nicht die Realität. Weiter konnte ich nicht denken, denn plötzlich wurde ich mit einem gewaltigen Ruck nach hinten gerissen. Ich verlor den Halt unter den Füßen und fiel. Mit weit aufgerissenen Augen stürzte ich eine schier endlose Klippe hinunter. Oben stand Bens Doppelgänger und sah mit ausdruckslosem Gesicht auf mich herunter. Hatte er mich gestoßen? Aber er hatte mir doch helfen wollen! Gleich würde ich auf den scharfen Felsen aufschlagen, nur noch wenige Meter und …

Orientierungslos blickte ich in das helle Licht über meinem Kopf. War ich tot? Vorsichtig bewegte ich meine Zehen. Hm, ich konnte mich noch bewegen. Und das Pochen in meinem Kopf fühlte sich auch nicht so an, als wäre ich zu einem Geistwesen mutiert. Nein, ich schwebte definitiv nicht auf einer Wolke im fernen Nirvana. Ich lag in einem fremden Bett mit hellblauem Blümchenbezug. Das Licht, in das ich schaute, kam von einem üppig geschmückten antiken Kristallleuchter. Langsam rappelte ich mich hoch. Dieses Zimmer hier wirkte auf mich genauso fremd wie der Urwald, durch den ich gerade noch gestolpert war. Auf der schnörkeligen Kommode neben dem Fenster standen ca. ein Dutzend Bilderrahmen unterschiedlichster Form und Größe. Vorsichtig erhob ich mich und tapste barfuß über das Parkett zu den bunten Fotos. Auf vielen von ihnen sah ich das Gesicht eines hübschen rothaarigen Mädchens. Zum Teil waren es Kinderfotos – die Kleine in gelben Gummistiefeln mitten im Watt an der Nordsee oder mit einem Hundewelpen auf dem Schoß. Manche Bilder zeigten sie als schöne junge Frau im Kreise ihrer Freundinnen, im Abendkleid und in Umarmung eines jungen Mannes, der mir sehr bekannt vorkam. Vorsichtig hob ich das Foto von der Kommode, um es eingehender zu betrachten. Ben wirkte jünger und fröhlicher als ich ihn kannte. Sein Lachen war ehrlich und das Mädchen in seinen Armen drückte ihr Gesicht an seine Schulter. Ja, jetzt wusste ich wieder, wo ich war. Plötzlich hörte ich, wie hinter mir eine Türklinke heruntergedrückt wurde. Hastig stellte ich das Foto wieder an seinen Platz und drehte mich herum. Etwas zu ruckartig vielleicht, denn jetzt spürte ich, dass ich die Kontrolle über meinen Gleichgewichtssinn noch nicht vollständig zurückerlangt hatte. Die Wände um mich herum drehten sich wie ein Karussell und ich sackte in die Knie und warf dabei das soeben betrachtete Foto um, das klirrend auf dem Boden landete.

„Tut … mir leid …“, stammelte ich benommen, als ich die Scherben auf dem Parkett entdeckte.

„Sofia!“, mit besorgter, aber irgendwie auch erleichterter Miene griff Ben mir unter die Arme und zog mich vom Boden hoch. Taumelnd hielt ich mich an ihm fest und ließ mich widerstandslos zum Bett zurückführen. „Seit wann bist du wach?“, fragte er.

Ich runzelte die Stirn. Was für eine dumme Frage. Glaubte er tatsächlich, dass ich stundenlang auf dem Bett gesessen und Däumchen gedreht hatte? Und vor allem – hatte er mich hier so lange alleine gelassen? „Na seit gerade eben“, antwortete ich matt, während er mir eines der dicken Paradekissen in den Rücken stopfte. Ich konnte mir nicht helfen, aber irgendwie kam ich mir doof vor, mich so von meinem Bruder „bemuttern“ zu lassen. Doch während ich noch leise vor mich hin grummelte, schenkte Ben mir ein sanftes Lächeln.

„Wir haben uns Sorgen um dich gemacht“, sagte er mit einem tiefen Seufzer.

„Warum denn?“

„Du stellst Fragen! Kaum dass wir bei Julie angekommen waren, bist du umgekippt und warst nicht mehr ansprechbar. Du hattest über 40 Grad Fieber und hast wirres Zeug geredet. Als wir dich ins Bett brachten, hab´ ich gesehen, dass du eine tiefe Wunde am linken Oberarm hast, die sich entzündet hatte. Um ein Haar wärst du an einer Blutvergiftung krepiert, du dummes Ding!“

Blutvergiftung? Langsam dämmerte es mir. Der alte Schuppen in Dr. Potters Garten. Ich hatte mich an einer Harke oder etwas ähnlichem verletzt. Nach all dem, was danach passiert war, hatte ich diesen kleinen Unfall vergessen. Was war ein kleiner Kratzer schon im Vergleich dazu, dass ich fast erschossen worden oder im Excelsior verbrannt wäre? Ben holte neben dem Bett eine Flasche hervor und goss mir etwas Wasser in das leere Glas auf meinem Nachttisch. Tatsächlich hatte ich wahnsinnigen Durst. Als er mir das Glas reichte, trank ich es in einem Zug leer und musste gleich darauf husten, weil ich mich verschluckt hatte. „Nicht so schnell!“ Mein Bruder schüttelte den Kopf, so als würde er an mir verzweifeln.

„Wie lange hatte ich denn Fieber?“, hustete ich, während er mir vorsichtig auf den Rücken klopfte.

„Zwei Tage und zwei Nächte“, antwortete er ernst. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich anscheinend wirklich mit dem Tode gerungen hatte. „Zum Glück hat sich Linus´ `Leibarzt´“, er sprach das Wort mit einer gewissen Verachtung aus, „um dich gekümmert. Ohne Papiere hier in Amsterdam wäre es sonst schwierig gewesen, unentdeckt zu bleiben.“

Natürlich. Ben hatte Recht. Ich hatte uns und unser Vorhaben in Gefahr gebracht. Aber dieser Linus hatte anscheinend für jedes Problem eine Lösung parat. Wieder hörte ich die Tür quietschen; diesmal war es Julie, die vorsichtig ins Zimmer lugte.

„Du bist aufgewacht!“, bemerkte sie mit einem strahlenden Lächeln und schwebte zu Ben ans Fußende meines Bettes. Ich kam mir reichlich dumm vor.

„Mir geht´s schon wieder gut“, wiegelte ich das übertriebene Interesse an meiner Person ab und versuchte mich aufzurappeln, doch Ben schob mich mit strenger Miene wieder zurück auf mein Kissen.

„Du bleibst erst mal schön liegen!“, sagte er und zog warnend seine linke Augenbraue in die Höhe.

„Jawohl, Sir!“ Ich verschränkte beide Arme vor der Brust. „Na, wenn du dich schon wieder zanken kannst, dann bist du auf dem Weg der Besserung!“ Julie lachte und zwinkerte mir zu. Warum nur war sie so freundlich zu mir? War das jetzt eine neue Masche? Sei nett zur Schwester deines Lovers, dann mag er dich auch lieber? Aber ich würde mich nicht von ihr um den Finger wickeln lassen.

„Na, ich koche dir erstmal einen Tee und lass euch allein.“ Julie drehte sich um und ging zur Tür, „Gibt es etwas Bestimmtes, das du gerne essen würdest, Sofia?“

Nicht um den Finger wickeln lassen … „Hast du Erdbeeren da?“ Okay, ich bin schwach, ich gebe es zu.

Jetzt strahlte Julie noch mehr. „Mit Sahne?“ Wer konnte da widerstehen? Ich nickte freudig und ohrfeigte mich innerlich für meine Blödheit. Na sei´s drum. Irgendwie war ich zu müde für diese Eifersüchteleien. Als Julie den Raum wieder verlassen hatte, schwiegen Ben und ich uns an. Keiner von uns beiden wusste, was er sagen sollte, und mein Herz schlug mir bis in die Kehle. Ich dachte an den Traum und daran, wie sehr ich mich darin nach ihm gesehnt hatte. Oh Gott, wie sollte ich ihm nur je wieder in die Augen sehen, ohne vor Scham im Boden zu versinken?

„Ich bin echt froh, dass du … wieder da bist“, rang mein Bruder schließlich nach den richtigen Worten und grinste mich dabei an. Nein! Ich würde ihm nicht in die Augen schauen!

„Ach was, hättest doch weniger Ballast mit dir rumzuschleppen, wenn´s mich dahingerafft hätte“, versuchte ich zu spaßen, doch Ben schüttelte den Kopf.