Lotta Mardermädchen - Wolfgang Schreil - E-Book

Lotta Mardermädchen E-Book

Wolfgang Schreil

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Beschreibung

Frühjahr 2022. Mitten auf einem Gehweg liegt ein Marderbaby, der prallen Mittagssonne ausgesetzt, hungrig, verloren. Da hat es zum ersten Mal Glück: Jemand liest es auf. Und es hat zum zweiten Mal Glück: Der »Woid Woife« nimmt es in Pflege. Er hat schon unzähligen verwaisten und verletzten Waldbewohnern geholfen, zurück in ihr freies, wildes Leben zu finden. Damit sind es bald sechs Marderbabys, die der Woife in diesem Jahr aufzupäppeln hat, jedes einzelne nicht größer als eine Hand. Dieses hier aber, Lotta, ist von Anfang an anders. Anders als die übrigen fünf, anders als jedes Marderbaby, das der Woife bislang aufgezogen hat …

Es ist der Beginn einer außergewöhnlichen Freundschaft. Für den wildtiererfahrenen Woid Woife ist es die außergewöhnlichste und innigste Beziehung zu einem Tier des Waldes, die er je erlebt hat. Jeden Tag erfüllt sie ihn mit unbändigem Staunen und unendlicher Dankbarkeit.

Größer geworden, lässt Lotta ihn an ihrem Leben teilhaben, sie begleitet ihn auf Schritt und Tritt durch den Wald, geht in seinem Bauwagen ein und aus. Und doch bleibt sie zugleich ein wildes Tier, das sich selbst versorgt und sich seine natürliche Scheu vor anderen Menschen bewahrt hat.

Vermutlich zum ersten Mal überhaupt lässt ein wildes Tier einen Menschen so nah an sich heran und erlaubt ihm solche Einblicke in sein Leben. So kommt es, dass der Woid Woife Dinge über Marder erfährt, die in keinem Buch stehen und über die es bislang allenfalls Vermutungen gab.

Lotta und Woife schreiben ihre eigene, ganz persönliche Geschichte über unbändiges gegenseitiges Vertrauen und bedingungslose Liebe – und beweisen damit, dass Freundschaft keine Grenzen kennt.

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Seitenzahl: 223

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Frühjahr 2022. Mitten auf einem Gehweg liegt ein Marderbaby, der prallen Mittagssonne ausgesetzt, hungrig, verloren. Da hat es zum ersten Mal Glück: Jemand liest es auf. Und es hat zum zweiten Mal Glück: Der »Woid Woife« nimmt es in Pflege. Er hat schon unzähligen verwaisten und verletzten Waldbewohnern geholfen, zurück in ihr freies, wildes Leben zu finden. Damit sind es bald sechs Marderbabys, die der Woife in diesem Jahr aufzupäppeln hat, jedes einzelne nicht größer als eine Hand. Dieses hier aber, Lotta, ist von Anfang an anders. Anders als die übrigen fünf, anders als jedes Marderbaby, das der Woife bislang aufgezogen hat …

Es ist der Beginn einer außergewöhnlichen Freundschaft. Für den wildtiererfahrenen Woid Woife ist es die außergewöhnlichste und innigste Beziehung zu einem Tier des Waldes, die er je erlebt hat. Jeden Tag erfüllt sie ihn mit unbändigem Staunen und unendlicher Dankbarkeit.

Größer geworden, lässt Lotta ihn an ihrem Leben teilhaben, sie begleitet ihn auf Schritt und Tritt durch den Wald, geht in seinem Bauwagen ein und aus. Und doch bleibt sie zugleich ein wildes Tier, das sich selbst versorgt und sich seine natürliche Scheu vor anderen Menschen bewahrt hat.

Vermutlich zum ersten Mal überhaupt lässt ein wildes Tier einen Menschen so nah an sich heran und erlaubt ihm solche Einblicke in sein Leben. So kommt es, dass der Woid Woife Dinge über Marder erfährt, die in keinem Buch stehen und über die es bislang allenfalls Vermutungen gab.

Lotta und Woife schreiben ihre eigene, ganz persönliche Geschichte über unbändiges gegenseitiges Vertrauen und bedingungslose Liebe – und beweisen damit, dass Freundschaft keine Grenzen kennt.

WOLFGANG SCHREIL

»Woid Woife«

Mit Leo G. Linder

Lotta Mardermädchen

Die unglaubliche Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft

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Originalausgabe 04/2024

Copyright © 2024 by Ludwig Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Evelyn Boos-Körner

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München,

unter Verwendung der Fotos von Wolfgang Schreil

Fotografien im Bildteil: Privatarchiv Wolfgang Schreil

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31426-2V001

www.Ludwig-Verlag.de

Inhalt

März

April

Mai

Die Bauwagen-Story

Juni

Juli

August

September

Oktober

November

Dezember

Januar

Februar

März

April

Mai

Nachtrag

März

Vormittags sieht dieser 29. März nach einem ereignislosen Tag aus. Ich muss nirgendwo hin, ich habe nichts Besonderes vor, ich plane nicht mal, aus dem Haus zu gehen. Ungewöhnlich ist allerdings, dass es um die Mittagszeit dreiundzwanzig Grad hat. Im März. Im Bayerischen Wald. In Bodenmais.

Ein ruhiger Tag ist es trotzdem nicht. Die ersten Eichhörnchenbabys sind bei mir abgegeben worden. Der normale Frühjahrswahnsinn: Irgendwer hat eines von der Straße aufgelesen oder unter einem Baum gefunden und gemeint, dieses hilflose, offenbar von der Mutter verlassene Wesen sei bei mir am besten aufgehoben. Dieses Jahr sind die Eichhörnchen früher dran als sonst, vier sind bei mir schon zusammengekommen. Deswegen laufe ich Ende März bereits zwischen Küche und Arbeitszimmer hin und her, rühre Milchpulver an und verabreiche Fläschchen. So wird es heute den ganzen Tag über gehen, mit kurzen Erholungspausen, auf der Terrasse vermutlich. Das Wetter ist schön.

Am frühen Nachmittag klingelt mein Handy. Es meldet sich die Mitarbeiterin eines Tierarztes, der seine Praxis in Viechtach hat, fünfundzwanzig Kilometer von hier. Dort kennt man mich, wir arbeiten seit Jahren zusammen. Worum geht es diesmal? Um einen Steinmarder, ein ganz junges Tier, wahrscheinlich nicht mal eine Woche alt. Ob ich bereit sei, dieses Marderbaby in meine Obhut zu nehmen?

»Ja … mal schauen. Ist das Tierchen bei euch?«

»Das nicht. Aber die Frau, die es gefunden hat, würde es vorbeibringen.«

»Soll ich noch warten?«

»Sie richtet sich nach dir. Sie ist aus Viechtach.«

»In einer halben Stunde bin ich da.«

Ich setze mich ins Auto. Solche Aktionen fallen für mich unter Routineeinsatz. Das Viechtacher Marderbaby ist das erste in diesem Jahr, aber es wird nicht das letzte sein, davon darf man ausgehen. Wie viele verwaiste Steinmarderjunge sind im Lauf der Zeit bei mir gelandet? Es dürften vierzig sein, vielleicht fünfzig. Als ich die Tierarztpraxis betrete, werde ich von der Finderin schon erwartet. Aus ihrer Hand schaut ein winziges Marderbaby hervor, kaum größer als ihr Daumen, die Augen noch geschlossen, vier oder fünf Tage alt, wer weiß. In diesem Alter haben sie einen hellgrauen Flaum aus dünnen Härchen; würde man reinblasen, würden sie nach allen Seiten auseinanderfliegen. Welches Geschlecht? Wir schauen nach. Marder machen es einem leicht, der kleine Unterschied springt ins Auge, und dies hier ist ein Mädchen – oder, um den Fachbegriff zu verwenden, eine Fähe.

So wie dieser sehen Steinmarder wenige Tage nach der Geburt alle aus, aber etwas lässt mich an diesem Winzling stutzen. Er liegt da, in die Hand geschmiegt, reglos und blind, aber er strampelt mit den Pfötchen, sobald die Frau ihm übers dünne Fell streichelt. So klein dieses Mardermädchen ist, reagiert es schon und zeigt sich von einer Liebkosung angetan, fast sollte man meinen beglückt. Auf der Stelle überkommt mich Sympathie für dieses Marderbaby – kein ganz gewöhnlicher Charakter, wie’s aussieht. Na ja, sage ich mir. Wart’s ab. Bald wird es wie alle anderen sein …

Seine Retterin ist eine freundliche Person, und wir kommen ins Gespräch. Wo hat sie diesen Marder gefunden? Gleich vor ihrem Haus. Mitten auf dem Weg, in der prallen Mittagssonne.

»Seid ihr dabei umzubauen?«

»Nein«, sagt sie und besinnt sich dann. Ihr fällt der Nachbar ein. »Der lässt gerade das Dach runterreißen. Bei ihm kommt ein neues drauf.«

Da haben wir’s. »Ich kann Ihnen sagen, was passiert ist. Die Mama der Kleinen hat da oben beim Nachbarn mit ihren Jungen gewohnt. Voller Panik, weil plötzlich das Dach abgedeckt wird, versucht sie, ihren Nachwuchs in Sicherheit zu bringen. Sie weiß aber nicht, wo. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite vielleicht, weil’s da Bäume gibt? Jedenfalls ist Eile geboten. Sie nimmt das erste Junge, rennt los und überquert gerade die Straße, da hupt ein Auto, da bellt ein Hund, da lässt irgendein lautes Geräusch sie zusammenfahren, das Junge fällt ihr aus dem Maul, und sie ergreift die Flucht. Und dort, auf der Straße, finden Sie es. Gerade noch rechtzeitig, bevor es die Katze entdeckt.«

Hat sie also richtig gehandelt? Marder sind intelligent – nicht ausgeschlossen, dass die Mutter zurückkommt und sich ihr Junges doch noch schnappt und mitnimmt. Genauso besteht allerdings die Möglichkeit, dass sie keinen Rettungsversuch unternimmt, weil sie in dem Chaos, das mit den Bauarbeiten über sie hereingebrochen ist, nicht mehr dazukommt. Die Gefahr, dass ein Mensch dieses winzige Etwas zertritt, ein Hund sich dafür interessiert, eine Katze den kleinen Marder als Zwischenmahlzeit betrachtet, ist groß. Aus meiner Sicht hat die Frau richtig gehandelt, und jetzt ist es sowieso zu spät – ich kann ihr nicht sagen: Bringen Sie das Tierchen zurück … Nun ist es da.

Und ich übernehme es. In meiner Hand wirkt es noch kleiner. Ob sie mich anrufen und sich nach seinem Befinden erkundigen dürfe? Ich habe nichts dagegen. Das fragen fast alle, aber die wenigsten tun es; in den meisten Fällen ist so ein Findeltier nach zwei Tagen vergessen. Davon abgesehen habe ich in manchen Jahren so viele Jungtiere zu betreuen, dass mich jeder dieser Anrufe in Verlegenheit bringen würde. Auf die Frage »Hat mein Eichhörnchen überlebt?«, müsste ich antworten: »Welches der neun (oder fünfzehn) meinen Sie?« Nun denn. Ich verabschiede mich und überführe mein Mardermädchen nach Bodenmais. So beginnt an diesem 29. März das schönste Jahr meines Lebens.

Sie wird nie wie alle anderen sein. Sie ist etwas Besonderes. Es ist eine seltsame Ahnung, nur ein Gefühl, aber schon auf der Rückfahrt weiß ich, dass sie einen Namen bekommen wird. Dass sie einen Namen bekommen muss. Die meisten Tiere, die ich großziehe, bleiben namenlos, aber jetzt rattert es in meinem Kopf: Wie soll sie heißen? Pippi, wie Pippi Langstrumpf? Warum nicht. Die macht, was sie will, die setzt ihren Kopf durch, die ist in ihrer Verrücktheit unwiderstehlich liebenswert, das passt. Jedenfalls kommt es mir vor, als ob dieser Name passen könnte, obwohl … Pippi? Das wäre missverständlich, um es vorsichtig auszudrücken. Pippilotta wäre unverfänglicher; auch Pippi Langstrumpf heißt offiziell Pippilotta Langstrumpf. Nur – Pippilotta ist zu lang. Meine kleine Marderdame braucht einen kurzen, einprägsamen Namen. Also einfach Lotta?

Als ich zu Hause angekommen bin, einigen sich meine Frau Sabine und ich auf Lotta. So wird sie von nun an heißen, wenn ich von ihr rede. Wenn ich aber in späterer Zeit mit ihr reden werde, wenn ich sie ansprechen oder nach ihr rufen werde, wird sie Keke heißen. Keke ist ein Wort aus der Mardersprache. Lotta versteht es natürlich. Sie wird wissen, wer damit gemeint ist, und reagieren.

Ich kenne mich ja mit Mardern aus, ich weiß, wie man sie großzieht. Es ist viel Arbeit, aber das ist nicht der Punkt. Was mich beschäftigt: Sollte es dieses Jahr bei diesem einen Marderbaby bleiben, könnte es schwer werden, eine Fehlprägung zu verhindern. Ich wäre dann monatelang seine einzige Bezugsperson, und es könnte sich so sehr an mich gewöhnen, dass es ein Leben in freier Wildbahn nicht mehr für sonderlich erstrebenswert hält, wenn’s im Sommer ans Auswildern geht. Ein oder zwei weitere Artgenossen würden Lotta guttun.

Aber ich kann keine herbeizaubern. Und ich werde mich in den kommenden Monaten auch nicht mit Lotta abends vor den Fernseher setzen, um gemeinsam Katastrophenfilme oder Talkshows anzusehen. Bis jetzt haben sich alle meine Marder früher oder später ins Abenteuer der Freiheit gestürzt, sobald sie das Alter dafür erreicht hatten. Noch mache ich mir deswegen also keine Gedanken. Es kann immer noch einer dazukommen, es ist noch früh im Jahr, und noch ist Lotta blind, noch bekommt sie wenig von der Welt mit. Wer erinnert sich schon daran, was er als Säugling erlebt hat?

Wohin mit Lotta? Vorläufig bleibt sie bei mir in der Wohnung. Der Bauwagen, den ich draußen im Wald habe, bietet sich in der Anfangszeit noch nicht als Kinderstube an.

Ich kann ein so winziges Tier ja kaum aus den Augen lassen. Zwei Monate lang wird es mich Tag und Nacht in Atem halten, ich müsste also in den Bauwagen umziehen, ein sehr provisorisches Einsiedlerleben führen und jeden Morgen den Ofen heizen, um Wasser fürs Milchpulver aufzuwärmen … Nicht die praktischste Lösung. Ich lebe im Ort und habe in meiner Wohnung alles, was ich brauche: ganze Kartons voller Medikamente, Antibiotika, Schmerzmittel, Kochsalzlösung für völlig entkräftete Pflegefälle, also ein halbes Krankenhaus für Tiere und außerdem Spritzen, die sich durch winzige Schnuller in Fläschchen verwandeln, Leintücher, Babywindeln, Wärmeunterlagen und jede Menge Milchpulvertüten. Das hat sich im Lauf der Zeit so ergeben, jetzt füllt dieses nützliche Sammelsurium einen Schrank in unserem Büro, also wandern alle Neuzugänge erst einmal ins Arbeitszimmer der Familie Schreil. Auch Lotta.

Mensch und Tier hocken in diesem Büro ziemlich dicht aufeinander. Es ist eng hier; mit dem Schreibtisch, dem Aquarium und den Schränken ist dieses Zimmer eigentlich voll, obendrein steht aber noch ein Bett drin, dazu kommt die Dachschräge. Viel Bewegungsfreiheit ist nicht vorhanden, aber es gibt ausreichend Stellflächen für die Käfige, zur Not auf dem Schreibtisch, und durch das kleine Fenster fällt nur gedämpftes Licht herein, was meinen verschlafenen Mitbewohnern entgegenkommt. Natürlich könnte ich einen Wickeltisch brauchen – dafür ist aber wirklich kein Platz, und das Bett tut’s auch.

Wie zu erwarten, riecht das Büro nach Tier. Empfindliche Nasen werden daran Anstoß nehmen – jede Tierart besitzt ihre eigene Duftnote –, aber ich selbst atme meine Büroluft mit Vergnügen. Was zum Beispiel Marder angeht … Sabine hasst ihre Ausdünstungen. Sie reagiert allergisch darauf, sie sagt: »Marder stinken.« Aber ich kann nicht genug davon bekommen, mich erinnert der Geruch eines Marders an das Aroma von würzigem Gebirgshonig. Wahrscheinlich, weil ich damit nur Erfreuliches verbinde. Wir interpretieren Düfte eben nach unseren Erfahrungen, weshalb derselbe Geruch beim einen Widerwillen und beim anderen Glücksgefühle auslöst. Ich habe seinen Geruch gern in der Nase, und schon deshalb bin ich über den ersten Marder dieses Jahres froh.

Lotta bekommt einen eigenen Meerschweinchenkäfig. Eigentlich ist er viel zu groß für sie. In diesem Käfig wäre Platz für einen ganzen Wurf, weil sich Tierbabys in ihrem Alter noch keine Bewegung verschaffen müssen; sie schlafen fast ununterbrochen. Ich könnte mehrere von Lottas Größe in einen kleinen Korb legen, unbequemer als in ihrem alten Zuhause hätten sie’s dort auch nicht. Die Unterbringung ist in der Anfangszeit also ziemlich wurscht, diese Winzlinge wollen nur ihre Ruhe haben. Aber weich soll die neue Wohnhöhle dann doch sein. Und warm. Und sauber. Damit komme ich ins Spiel.

Bislang nimmt Lotta ausschließlich dadurch am Leben teil, dass sie sich in ihrem Fell wohlfühlt, und besser könnte sie es in Anbetracht der Umstände kaum haben, würde ich sagen. Solange sie im Käfig ist, liegt sie auf einer elektrisch beheizbaren Matte, die für moderate Nestwärme sorgt. Würde sie draufpieseln, bekäme sie trotzdem keinen Schlag, denn diese Wärmedecke ist genau für den Zweck, den sie gerade erfüllt, erdacht worden und deshalb imprägniert. Mehrere Marder könnten sich natürlich gegenseitig wärmen, aber Lotta hat keine Schicksalsgenossen zum Kuscheln. Deshalb sorge ich am zweiten Tag für Ersatz und entwende unseren Katzen vorübergehend eine Stoffmaus, ungefähr in ihrer Größe. Jetzt hat sie etwas, das sich wenigstens nach Tier anfühlt, und tatsächlich wird sie später große Freude dran haben. Aber vorerst ignoriert sie die Maus. Vorerst geht ihr Schlafen über alles.

Außer Trinken. Damit beginnt eine Prozedur, die sich in vierundzwanzig Stunden siebenmal wiederholt, vielleicht auch achtmal. Ich begebe mich in die Küche und setze einen Topf Wasser auf. Ich schütte Milchpulver rein. Ich verrühre das Pulver im heißen Wasser. Lotta bekommt natürlich Milch, aber Kuhmilch kommt nicht infrage – kein Wildtier verträgt frische Kuhmilch. Mit Ziegenmilch könnte man vermutlich die meisten Tiere durchbringen, aber das Beste für Marder ist Katzenaufzuchtmilch in Pulverform, in Wasser aufgelöst. Damit befülle ich dann eine handelsübliche Spritze und setze einen winzigen Schnuller auf, einen Spezialaufsatz für sehr kleine Tiere, gehe anschließend rüber ins Büro, breite ein Leinentuch auf dem Bett aus, lege Klopapier bereit, nehme Lotta aus ihrem Käfig und setze sie auf meinem improvisierten Marderwickeltisch ab, denn vor der Milch kommt die Massage.

Als Nächstes massiere ich nämlich Lottas Bäuchlein, um ihre Verdauung anzuregen. Ohne diese Massage könnte sie weder pieseln noch Kot ausscheiden, der Verdauungstrakt von Mardern arbeitet in diesem Alter noch nicht selbstständig, es ist eine lebenserhaltende Maßnahme. Ihre leibliche Mutter würde genauso verfahren und dafür die Zunge benutzen, ich mache es mit dem Finger. Übrigens müssen Jungtiere anderer Arten auf dieselbe Weise stimuliert werden. Bei meinen kleinen Eichhörnchen gehe ich genauso vor, und eine Katzen- oder Hundemutter leckt ihrem Nachwuchs in den ersten Wochen auch die Bäuche. Habe ich erfolgreich massiert, geht der ganze Segen ins Klopapier, und der kleine Körper wird abgeputzt. Es kommt vor, dass sie sich unabsichtlich selbst stimulieren, indem sie über den Käfigboden rutschen; in diesen Fällen muss ich hinterhergehen und aufwischen. Ein sauberer Käfig ist wichtig, auch eine Tiermutter sorgt für ein sauberes Nest. Und jetzt gibt’s das Fläschchen.

Einem so kleinen Wesen die Flasche zu geben, ist eine Kunst – es soll ja schlucken, aber es darf sich um Himmels willen nicht verschlucken. Mittlerweile habe ich allerdings Erfahrung darin, die Milch so langsam wie nötig aus der Spritze zu drücken. Außerdem weiß ich, dass man die Spritze etwas bewegen muss, um den Schluckreflex zu stimulieren. Halte ich still, kann es passieren, dass Lotta die Milch seitlich aus den Lefzen herausläuft. Bewege ich die Spritze aber leicht hin und her, fühlt sie sich animiert, diese Gelegenheit zum Trinken tatkräftig zu nutzen – eine Mardermutter hält auch nicht immer still, die hat nicht ewig Zeit, das Junge muss sich also ranhalten, wenn es satt werden will. Wer weiß, wann sich die nächste Chance bietet.

Natürlich verabreiche ich jetzt zu Beginn nur winzige Portionen Milch, einen, höchstens zwei Fingerhüte voll. Mit der Zeit wird’s mehr werden. Und Lotta ist nicht die einzige. Bis Anfang April sind weitere Eichhörnchenbabys dazugekommen, auch junge Vögel, Blaumeisenküken, Amselküken, und inzwischen bin ich einen Großteil des Tages mit Rühren, Massieren, Füttern und Flaschegeben beschäftigt. Wenn ich mit meinem letzten Pflegekind fertig bin, könnte ich mit dem ersten wieder anfangen. Verreisen ist in diesen Wochen natürlich unmöglich. Ich kann mich nicht mal eben für drei Tage verabschieden, um im Fernsehen aufzutreten oder irgendwo in Deutschland einen Vortrag zu halten. Will ich abends für ein paar Stunden in den Wald, füttert meine Frau, nur – tagsüber arbeitet sie außerhalb, und nachts schläft sie. Ich mach’s aber gern. Besonders, wenn ich zu einem gewissen Meerschweinchenkäfig komme, in dem eine gewisse kleine Marderdame schläft.

April

Keine zwei Wochen später hat Lotta Gesellschaft. Ihren Meerschweinchenkäfig teilt sie jetzt mit zwei Artgenossen, ebenfalls Mädchen, im gleichen Alter wie sie und mit derselben kurzen, aber dramatischen Lebensgeschichte: von ihren Müttern aus irgendeinem Grund verlassen und vergessen, von gutherzigen Menschen in der Nähe ihrer Wohnungen entdeckt und geborgen und zu mir gebracht. Als ich die beiden Neulinge in den Käfig lege, zeigt Lotta keine Reaktion, sie schläft einfach weiter. Für sie bleibt zunächst alles beim Alten, und so seltsam es klingt: für mich auch.

Wann immer ich einen Blick in diesen Käfig werfe, sehe ich eine Lotta und zwei anonyme Marderbabys. Dabei unterscheiden sich die drei fürs Auge überhaupt nicht: das graue Fell, das ganz allmählich dunkler wird, der typische weiße Kehlfleck, bisher nur ein heller Tupfen unterm Kinn, das rundliche Köpfchen, die kurzen Pfötchen, der schmale, längliche Rumpf – ein Fremder würde keinen Unterschied erkennen. Wie die meisten Tierbabys sind alle drei einfach süß. Die beiden Neuen kommen auch durchaus nicht zu kurz. Ich sorge für sie genauso, wie ich für Lotta sorge. Aber sie bekommen keine Namen. Mir wollen keine Namen für sie einfallen, ich denke aber auch keine Sekunde lang drüber nach, schließlich kriegen die wenigsten Tiere bei mir einen Namen. Nein, Tatsache ist: Ich finde sie alle bezaubernd, weil ich Marder überhaupt von vorn bis hinten großartig finde, aber die beiden Neuen gehen mir nicht zu Herzen. Sie sind völlig unauffällig; beide nehmen meine Sorge um ihr Gedeihen nach Marderart ohne nennenswerte Freudenbekundungen hin, und es gibt wenig über sie zu erzählen. Nur Lotta liefert mir ständig Stoff für Geschichten.

Ich habe jetzt den Vergleich und finde bestätigt, was mir schon in den ersten Minuten unserer Bekanntschaft aufgefallen ist: Lotta verhält sich anders. Sie hat ihren eigenen Stil. Noch immer ist sie viel zu klein, um sich aus eigener Kraft von der Stelle zu bewegen. Sie kann weder laufen noch krabbeln, sie liegt mehr oder weniger reglos auf ihrer Decke im Käfig, Seite an Seite mit ihren beiden neuen Mitbewohnerinnen, die genauso vor sich hindösen, und trotzdem verhält sie sich anders.

Nichts kann sie erschüttern. Allem, was in ihrem mardermutterlosen Leben vorfällt, gewinnt sie die schönsten Seiten ab. Schon wenn ich sie aufnehme, um ihr Milch zu geben, gerät sie regelrecht in Fahrt und saugt nach Leibeskräften und säuft, was das Fläschchen hergibt – ich muss höllisch aufpassen, dass sie sich nicht verschluckt. Vom ersten Tag an hat sie geräuschvoll und mit offensichtlicher Wonne getrunken, während die anderen beiden den Schnuller bisher nur zaghaft annehmen. Man könnte sagen: Die zwei Nachzügler fremdeln, Lotta hingegen scheint bei mir in ihrem Element zu sein und willens, alle Vorteile ihrer Situation auszukosten.

Und dann das Stimulieren des Verdauungstrakts. Das funktioniert zwar auch bei den anderen – die Urintröpfchen kommen, der Kot auch, aber die Prozedur gefällt ihnen nicht sonderlich, sie protestieren, ihre dezenten Knurrlaute klingen jedenfalls verärgert. Unverkennbar wollen sie in Ruhe gelassen werden, Lotta hingegen … Ich nehme sie aus dem Käfig, lege sie auf den Rücken, und Lotta streckt sich genüsslich aus, wirft die Pfoten zur Seite und rekelt sich. Sobald ich sie dann mit dem Finger am Bauch berühre, reagiert sie wie auf einen Elektroschock, strampelt mit den Hinterbeinen, greift mit den Vorderpfoten nach meiner Hand oder streicht sich selbst mit beiden Pfoten über Hinterkopf, Ohren und Gesicht, als gäbe es für sie nichts Schöneres.

Immer versucht sie, etwas von mir zu fassen zu kriegen und festzuhalten, mal mit ihren Pfoten, mal mit ihrem Mäulchen. Sie sucht den Kontakt, sie ist verrückt nach Berührung, sie zeigt das Behagen, das meine Hand ihr bereitet, sie kommuniziert. Und sie genießt. Ihrer Mutter gegenüber würde sie sich zweifellos genauso verschmust verhalten, und dass ich kein Marder bin, ist ihr egal. Kurzum: Mit allem, was ihr widerfährt, ist Lotta mehr als einverstanden – und geht aufs Ganze. Ist Trinken angesagt, ist sie mit Lust und geradezu gierig bei der Sache. Ist Massieren angesagt, kann sie vom Spielen und Schmusen nicht genug bekommen. Ist Ruhe angesagt, schläft sie tief und entspannt und beinahe selig. Ich habe das Gefühl, als wäre dieses ausgefallene Exemplar einer kleinen Marderdame für Wohltaten nicht nur empfänglich, sondern regelrecht dankbar. Noch nie habe ich etwas wie sie erlebt.

Oft schläft Lotta jetzt bei den anderen. Sie hat den Neuzuwachs sozusagen kommentarlos akzeptiert und genießt die Nähe ihrer Artgenossen – genauso hätte sie sich mit ihren Geschwistern zusammengekuschelt –, aber diese Nähe passt ihr nicht immer. Manchmal sucht sich Lotta ihren eigenen Schlafplatz im Käfig und erfindet sogar eine eigene Schlafstellung. Eines Tages bekommen wir Besuch, darunter eine Freundin meiner Frau. Im Büro geht sie am Marderkäfig vorbei, und im nächsten Moment schreit sie auf: »Sabine! Schnell! Hier stimmt was nicht!«

»Warum?«

»Der eine Marder ist doch tot!«

Wir kommen dazu, werfen einen kurzen Blick in den Käfig und sehen: Die zwei anderen liegen zusammengerollt auf der Seite und schlafen, aber Lotta liegt in Lottamanier da, nämlich für sich allein und auf dem Rücken, die Pfoten lässig ausgestreckt, die Hinterbeine nach unten und die Vorderbeine nach oben – es könnte ja jemand auftauchen, der sie streicheln will … »Ach was«, sagt Sabine. »Das ist Lotta. Die schläft. Schau mal genau hin …« – und jetzt bemerkt auch die Freundin, wie sich Lottas kleiner Brustkorb unter ihren Atemzügen kaum merklich hebt und senkt. »Ja, ist die nicht krank?« Sabine muss lachen. »Von wegen. Die ist entspannt. Lotta ist der entspannteste Steinmarder der Welt.«

Macht es eigentlich einen Unterschied, ob ich Fähen oder Rüden großziehe, also männliche oder weibliche Marderbabys? Für mich nicht, aber in einigen Punkten unterscheiden sie sich doch. Da ist einmal der Geruch. Im Augenblick verströmen meine drei kleinen Fähen ihr Aroma noch einigermaßen dezent. In zwei Monaten wird es deutlich kräftiger sein, aber Rüden riechen in jedem Alter um einiges strenger. Und später, wenn sie die ersten Wochen der Freiheit im Umkreis des Bauwagens erleben, markieren sie früher, das heißt: Rüden haben es eiliger als Fähen, ihr Territorium durch Urinspritzer zu kennzeichnen. Außerdem sind Rüden in aller Regel die Ersten, die sich davonmachen, um ein Leben in freier Wildbahn zu führen – im Oktober sehe ich keinen mehr am Bauwagen, und manche verabschieden sich bereits im September, während Fähen wesentlich länger bleiben; deren Freiheitsdrang entwickelt sich erst allmählich. Anhänglichkeit habe ich bei Rüden jedenfalls nie erlebt, bei Fähen schon. Ich muss mir eingestehen, dass mich dieser Gedanke auf ein längeres Zusammensein mit Lotta hoffen lässt.

Ich erhalte einen Anruf von Annemarie und ahne, dass es um Tierbabys gehen wird. Mit Annemarie verbindet mich eine langjährige Freundschaft. Sie ist eine Tierfreundin und Tierschützerin aus der Gegend von Regensburg und erfahren darin, Rehkitze großzuziehen. Wir helfen uns gegenseitig – habe ich mal ein Rehkitz, bringe ich es zu Annemarie, weil es da in den besten Händen ist, hat sie mal Eichhörnchen oder Ähnliches, ruft sie mich an, weil ich die größere Erfahrung mit kleinen Viechern besitze

»Du, Woife«, sagt Annemarie, »ich hab Marder. Drei Steinmarder.«

Au weia. Aus drei mach sechs … Aber Freundschaft verpflichtet. »Soll ich sie jetzt gleich abholen?«

»Nein, mach dir keine Gedanken. Ich zieh sie mit der Flasche groß. Aber sobald sie entwöhnt sind, würde ich dich bitten, vorbeizukommen und die drei mitzunehmen, weil du die Möglichkeit hast, sie auszuwildern.«

Das stimmt. Wer sonst hat schon einen Platz, wo sich Tiere langsam an die Natur gewöhnen können, ohne dass sich ein Nachbar beschwert, ein Hühnerstall in Gefahr gerät oder Autos das Leben der Jungtiere bedrohen? Mein Bauwagen im Wald ist ein Glücksfall. Folglich bin ich einverstanden – »Wenn’s so weit ist, hole ich sie bei dir ab.«

Also keine Marderinvasion, kein Getümmel im Meerschweinchenkäfig. Ich bin nicht undankbar dafür, und die Voliere am Bauwagen ist geräumig, da treten sie sich auch dann nicht gegenseitig auf die Füße, wenn sie zu sechst sind.

Die Nächte verbringe ich bei meinen Tieren im Büro. Ich könnte sie nachts genauso gut sich selbst überlassen, aber ich würde womöglich meine Frau wecken, wenn ich für die letzte Fütterung des Tages das Bett verlasse; das will ich nicht. Deshalb auch der Fernseher im Büro. Manchmal tut es mir gut, abends noch eine Weile fernzusehen, weil ich nicht schlafen kann oder Ablenkung brauche, denn aufreibend ist diese Anfangszeit schon, und wenigstens einmal am Tag will ich auf andere Gedanken kommen.

Und Fernsehen ist unter den gegebenen Umständen besser als Lesen. Zum Lesen brauche ich Licht, dann ist aber das ganze Zimmer erleuchtet, während der Bildschirm nur gedämpftes Licht abgibt, und in diesem Fall reicht es, eine Decke über den Käfig meiner drei Marder zu werfen. Der Ton stört sie derzeit noch nicht. Es stimmt zwar, dass sie sich tunlichst nicht an andere menschliche Stimmen gewöhnen sollen, aber unsere Unterhaltungen tagsüber bekommen sie ja auch mit, und ab Ende des Monats werde ich mir vorsichtshalber einen Kopfhörer aufsetzen. Denn mit der Stimme des Tagesschausprechers oder des Sportmoderators im Ohr sollen sie nicht aufwachsen – sobald meine Marder ihre Umgebung wahrnehmen können, darf ihnen nur eine Stimme bekannt vorkommen, nämlich meine. Nicht, dass sie Vertrauen zu Menschen fassen, weil sie den Klang ihrer Stimmen von klein auf kennen und deshalb unbedenklich finden.

Bis halb eins oder eins in der Nacht bleibe ich wach, behalte meine Marder im Auge, unterziehe sie noch einmal der bekannten Prozedur und verabreiche ihnen die letzte Mahlzeit; anschließend schlafen wir alle problemlos für die nächsten sechs Stunden durch.

Ab wann ich das Massieren nicht mehr fortzusetzen brauche, weiß ich im Voraus nie. Die Tiere zeigen es mir. Irgendwann nämlich schaue ich in den Käfig und sehe Kot. Oder ich sehe eine Pfütze. Oder ich habe sie kaum angefasst, und schon pieseln sie los. Dann weiß ich: Demnächst kannst du aufhören. Um ganz sicher zu sein, dass Darm und Blase leer sind, stimuliere ich noch ein paar Tage länger, aber demnächst ist endgültig Schluss. Sechs Wochen, nachdem sie zur Welt gekommen sind, arbeitet alles in diesen immer noch sehr kleinen Körpern von selbst.