Louis van Gaal - Egon Boesten - E-Book

Louis van Gaal E-Book

Egon Boesten

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Beschreibung

Ein Vorwort zu schreiben ist sehr ehrenvoll, aber an dieser Stelle keine persönlichen Dinge; schließlich geht es um die Hauptfigur. Doch missbrauche ich kurz, ohne Louis zurück zu lassen, dieses Bühne: Die Jahre mit ihm schätze ich inhaltlich als die schönste Fußballzeit meines Lebens. Neben der besonderen, mit unglaublichen Erfolgen gezeichneten Dynamik dieser Zeit hat das vor allem mit ihm zu tun. Wir waren uns nicht immer einig, aber eine Meinungsverschiedenheit oder andere Bewertung hat nie dem gegenseitigen Respekt Abbruch getan. Ich sah Louis van Gaal im Licht und im Schatten und ich schätze ihn gerade wegen seines aufrechten Mensch-Seins. Louis ist kein Guru, keine Gottheit oder Prophet. Genauso wie er auch kein Buhmann, Besserwisser und schon gar nicht eine arrogante Person ist. Aber ich kann Ihnen als zukünftigen Leser dieses Buches versichern, dass er ein ganz besonderer Mensch ist, mit seinen Stärken und Schwächen, mit seinen Überzeugungen und Schwachstellen als Zeugen. Ich schätze ihn. David Endt, Sportjournalist, ehem. Ajax-Pressesprecher und 16 Jahre Technischer Direktor bei Ajax

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Inhalt

Louis – Mensch im Licht und Schatten (Ajax-Pressechef David Endt)

Prolog (Biograf Robert Heukels)

Wie alles begann

Ajax

Ajax, aufgeschrieben: LvG

Bryan Roy

Frank Rijkaard

Rob Jansen ft. John van ’t Schip

Ronald de Boer

Barcelona

Pep Guardiola

Oranje – Teil I

Zurück nach Barcelona

Keine poetische Zeit als Techn. Direktor von Ajax

Die Wende: AZ Alkmaar

AZ, aufgeschrieben: LvG

Toon Gerbrands

Traum-Verein FC Bayern: Kurz und heftig

FC Bayern, aufgeschrieben: LvG

Philipp Lahm

Uli Hoeneß

Thomas Müller

Eine nicht allzu sanfte Revolution bei Ajax

Die sanfte Revolution, aufgeschrieben: LvG

Steven ten Have

WM 2014: Meisterstück

Oranje, Teil II, aufgeschrieben: LvG

Arjen Robben

FA-Cupmit Manchester City: Das letzte Meistersütck

Manchester United, aufgeschrieben: LvG

Daley Blind

Robin van Persie

Wayne Rooney

Spezialisten & Entwicklung

Max Reckers

Piet Bon

Jos van Dijk

Ein ziemliches unruhiges Rentner-Dasein

Marc Overmars

Erik ten Hag

Begegnungen mit Louis van Gaal

Nachwort: Louis van Gaal oder Kollektive Wirksamkeit

Register: Von A wie Adriaanse bis Z wie Zyiech

Der Autor und der Übersetzer

Leibniz Blätter Verlag – aus dem Verlagsprogramm

Louis – Mensch im Licht und Schatten

Der Raum misst knappe drei mal sechs Meter und besteht aus zwei Abteilungen. Es hat den Namen „Büro“, und tatsächlich: dort stehen zwei Schreibtische. Sie stehen sich gegenüber mit einem über die volle Länge der Mauer gehenden abschließbaren Schrank. Das per Glastür abschließbare größere Abteil ist das kleine Reich von Louis. Meist steht die Tür offen, nur bei „wichtigen Gesprächen“ geht sie zu. Wir sitzen uns gegenüber: der Cheftrainer und sein Pressechef. Das ist sozusagen „der kurze Weg“. Egal wie früh ich morgens da hineinkomme, Louis sitzt schon da. Er ist ein Mann von Ordnung, Organisation und Struktur. Ich bin das, vorsichtig ausgedrückt, etwas weniger. Wir unterscheiden uns in einigen Dingen, aber wir kamen gut miteinander aus und erlebten besondere Zeiten. Wir kennen uns schon seit November 1971, aber bei unserem Einzug in das Zweisitzer-Büro im engen Ajax-Stadion De Meer im Winter von 1992 waren wir mehr oder weniger zur Zusammenarbeit verurteilt.

Fünf Jahre lang so ziemlich täglich dicht aufeinander zu sitzen, ein Büro teilen, reisen, Wochenenden als Höhepunkt der Woche gemeinsam erleben . . . da muss man wohl eine Kontaktstörung haben, wenn man sich dabei nicht kennen lernt. Jeden Tag die Freude darüber, sich wieder an die Arbeit zu machen, niemals gab es einen Moment der Langeweile. Die Emotionen von Glück und zurückhaltender Euphorie, die Momente des geteilten Verlustes, so leer wie die einer Niederlage, so tiefgehend und unakzeptabel wie der Tod seiner lieben Frau Fernanda . . .

Nachdem die ständig größer werdende an Louis persönlich gerichtete Post nach seiner Beurteilung durch mich als Pressechef und persönlichem Sekretär erledigt worden war (dazu die Post, die nichts mit Fußball zu tun hatte), kam es auch zu Gesprächen anderer Art. Daraus resultierte ein Einblick, wer dieser strukturierte, zielorientierte, ambitionierte und manchmal sehr beharrliche Mann war, viel von dem, was er tat, letztendlich gestützt auf einfache, aber menschliche Werte, mit der unumstößlichen Grundlage, die da heißt: Aufmerksamkeit und Liebe für Menschen.

Die Außenwelt und – ganz ehrlich, auch Partner und Kollegen aus der näheren Umgebung – sahen diesen Mann oft anders. Nicht selten geleitet durch unpassende Interessen oder Motive. Aber auch Personen, die verletzt worden waren oder sich verletzt gefühlt haben, stigmatisierten van Gaal als eine von sich eingenommene, eigenwillige, besserwisserische, unbeugsame und sogar arrogante Person. Bei dieser Art von Vorurteil ging es nicht um Inhalte, sondern um Vorlieben und Eigeninteresse. Louis wusste damit nicht richtig umzugehen: er machte keine Konzessionen, hielt an seiner Wahrheit und seinen Prinzipien fest. Dieser edle Standpunkt machte es nicht einfacher. Und Louis‘ unverkennbares Talent, Widerspruch zu provozieren, machte es auch nicht besser.

Im Besonderen die Medien verstanden es, mit einer einmal formulierten Charakterisierung die öffentliche Meinung zu lenken. Glücklicherweise akzeptierte nicht jeder dieses negative Etikett, genügend Menschen hatten dafür den richtigen Fühler. In den vergangenen Jahren ist dieses Etikett ersetzt worden durch ein klareres Bild. Ergebnisse, oftmals fantastische Ergebnisse haben dazu beigetragen, seine Fußballkunst unwidersprochen anzuerkennen. Jetzt, die eigene Laufbahn nicht länger als Hindernis, sondern als Referenz hinter ihm, ist der Augenblick erreicht sich umzusehen: die Biografie.

Ein Vorwort zu schreiben ist sehr ehrenvoll, aber an dieser Stelle keine persönlichen Dinge; schließlich geht es um die Hauptfigur. Doch missbrauche ich kurz, ohne Louis zurück zu lassen, diese Bühne: Die Jahre mit ihm schätze ich inhaltlich als die schönste Fußballzeit meines Lebens. Neben der besonderen, mit unglaublichen Erfolgen gezeichneten Dynamik dieser Zeit hat das vor allem mit ihm zu tun. Wir waren uns nicht immer einig, aber eine Meinungsverschiedenheit oder andere Bewertung hat nie dem gegenseitigen Respekt Abbruch getan. Ich sah Louis van Gaal im Licht und im Schatten und ich schätze ihn gerade wegen seines aufrechten Mensch-Seins. Louis ist kein Guru, keine Gottheit oder Prophet. Genauso wie er auch kein Buhmann, Besserwisser und schon gar nicht eine arrogante Person ist. Aber ich kann Ihnen als zukünftigen Leser dieses Buches versichern, dass er ein ganz besonderer Mensch ist, mit seinen Stärken und Schwächen, mit seinen Überzeugungen und Schwachstellen als Zeugen. Ich schätze ihn.

David Endt, Sportjournalist, ehem.

Ajax-Pressesprecher und 16 Jahre

Technischer Direktor bei Ajax

Prolog

„Verstehst du das?“

Ich hole Atem. Mein Schreiber fliegt über das Papier, aber ich bin immer Bruchteile von Sekunden zurück. Ganz kurz ist es still. Es dauert ihm doch zu lange.

„Verstehst du, was ich sage?“

Wir sitzen an „unserem“ Tisch im Restaurant von Fysiomed, das Reich von Leo Echteld, seit Jahr und Tag Physiotherapeut vieler Topsportler. Abermals hatte Louis van Gaal einen Curry-Wrap bestellt mit Hühnchen und Avocado, und wiederum hatte er einen Lobgesang ausgebracht über die fantastische Zubereitung. Er findet ihn ehrlich lecker, diesen Wrap, jedes Mal genießt er ihn, als ob es das erste Mal wäre. Sorgfältig beseitigt er die Reste aus seinem Mundwinkel und schaut mich durchdringend an. Stundenlang hat er erzählt, etwas lauter als es sich wahrscheinlich gehörte. Leute schauen in Richtung unseres Tisches. Man sieht sie denken: Da sitzt er. Der Mann, der seit 2014 für immer „unser Bondscoach“ ist.

„Verstehst du das?“

Louis van Gaal beugt sich nach vorn. An der Seite seines Kopfes sind die Adern etwas deutlicher sichtbar. Seine Ideen sichtbar zu machen kostet Energie. Sobald der Lehrer in van Gaal erwacht, steht alles auf „Hab‘ acht!“ Die Stimmbänder sind angespannt, der Blick wird durchdringend und auch der Körper macht mit, die Hände, der Oberkörper, der Nacken. Mit großen Augen schaut er mich an – fast schon emotional. Ich nicke, hoffentlich nicht zu unterwürfig. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich ihn Anfang der 90er-Jahre mit einem 18-jährigen Nwankwo Kanu. Der Abstand ihrer beider Gesichter sehr klein, das Volumen der Stimme von Louis van Gaal sehr deutlich. Ich sehe Kanu so nicken, wie ich jetzt nicke.

Ich frage mich, was bewirkt das bei mir? Was mit Kanu? Wir könnten uns eingeschüchtert fühlen. Aber so ist es nicht. Die Antwort ist: Ich habe van Gaal nicht genau zugehört. Er hat mich überzeugt. Ich bin etwas klüger geworden. Was ich spüre, ist nicht die träge Müdigkeit nach einer mit viel zu viel Stoff vollgestopften Mathe-Stunde. Was ich fühle, ist Raum. Energie. Nach jeder dieser stundenlangen Sitzung mit Louis van Gaal fühle ich mich – ein Lieblingswort von van Gaal – fantastisch. Ich verstehe Sachen, die ich vorher nicht begriffen habe. Ich sehe Möglichkeiten, die ich vorher nicht gesehen habe. Ich sehe Puzzle-Stückchen, die passen – von denen ich dachte, dass sie nie passten. Abermals in seinen Worten: unglaublich.

Als wir auseinander gehen – er wie immer mit geradem Rücken und trägem, stattlichem Schritt – wird Louis van Gaal väterlich. Dann geht es plötzlich über den Sinn des Lebens. Den Tod. Unsere Lieben. Einmal packte er meine Schulter, als es über Menschen geht, die für uns weg sind. „Es passiert uns allen. Wir können jeden Augenblick tot umfallen, es kann jeden Moment zu Ende sein. So ist es einfach. Es kann mir passieren, aber dir auch.“

Er zieht die Augenbrauen hoch. Dann wieder strahlt er, wenn er jedem ein „Bis bald“ zuwinkt. Draußen zögern wir. So als ob wir lieber noch nicht unseren eigenen Weg gehen wollen, lieber noch weiter geredet hätten. Er zeigt auf den Fahrradständer. „Bist du wieder mit dem Fahrrad unterwegs? Das finde ich wirklich fantastisch.“

Ich öffne das Schloss und steige aufs Rad. Er ruft mir hinterher: „Wenn ich wieder hierhin gehe, schicke ich eine App an dich.“

Die Whats-App-Nachrichten sind kurz und klar und jedes Mal mit einer klaren Unterschrift: LvG.

Robert Heukels

1 Wie es begann

Man hatte gerade den Geburtstag von Ton gefeiert. Fünfzehn war er geworden, es war eine fröhliche Gruppe gewesen. Vater Ben führte das Wort, alle hatten Torte und andere Leckereien geschmaust. Mutter Truus genoss es sichtlich, sie mochte Typen. Und es war schon eine imponierende Familie. Es gab acht Kinder im Haus am Galilei-Park. Neben Ton waren das Ad (16), Ben (13, Truus (12), Gerdie (10), Riet (8), Jos (5) en Gérard (2). Zwei Tage nach dieser Geburtstagsfeier, am 8. August 1951, durfte das Ehepaar einen Nachmittag ins Schwimmbad und brachte Mutter auf den Punkt genau um halb sechs das letzte Kind zur Welt: Aloysius Paulus Maria, Louis van Gaal.

Die Nachkriegszeit war voller Überraschungen, alles war speziell. Ein Fernseher! Ein Badezimmer! Ein großes Auto, ein Klavier – alles saßen gemeinsam vor dem Fernseher, wenn die Show von Lou van Burg und Maud van Praag lief. Die Familie van Gaal genoss das Leben. Die Atmosphäre war warmherzig, die Familie spielte mit Feuereifer Karten. Und obwohl Vater lange Tage als erster Repräsentant der Steinkohle-Handelsvereinigung arbeitete – wenn er da war, war er der Antreiber, der Mann der Initiative. Aber es gab auch einen Rhythmus von Regeln und Aufgaben, bei aller Geselligkeit musste auch alles erledigt werden.

Als Louis sechs war, verbachte die Familie einen Tag am Meer – aber das schlechte Wetter kam so schnell auf, dass man sich sputen musste. Während des Spurts zum Auto wurde es Vater van Gaal schlecht: Herzinfarkt. Damit begann eine bedrückende Phase von fünf Jahren Krankenbett. Ab und zu hörte der kleine Louis, nachdem er Unfug angestellt hatte, das bekannte Klopfen in der Etage über ihm, musste nach oben zu seinem Vater, um sich eine Tracht Prügel von dem kranken Mann abzuholen. Aber alle van Gaals erinnerten ihren Vater als einen Mann, der diplomatisch die Zügel in der Hand hielt. Gestraft wurde nie ohne Grund. So wie sein jüngster Sohn später einem Spieler bis ins letzte Detail auseinanderlegen konnte, warum er nicht in der Startelf stand – genau so erklärte Vater es, wenn er eine schwierige Entscheidung treffen musste. Gerade und ehrlich war er, bis zu seinem viel zu frühen Tod.

Die Schwestern turnten, die Brüder spielten Fußball. RKSV De Meer war der Verein der Familie van Gaal. Ein Hingucker, jedes Mal wieder, wenn sie mit allen im Borgward Isabella 1500 CC angerollt kamen.

Niemand war so gut wie der kleine Louis. Trotz seiner langsamen Muskeln gewann er die Zweikämpfe, mit einer raffinierten Technik, mit einem irren Auge für den Raum, stark am Boden und in der Luft.

Mutter bekam wenig davon mit. Sonntag war ihr Tag, endlich Ruhe. Als sie dann mal zum Zugucken kam, spielten Ad und Ben gegeneinander, der erste bei RKAVIC, der andere bei De Meer. Mutter sah, wie Ad einen Zahn ausspuckte und Ben mit einer Gehirnerschütterung vom Platz schlich. Also, dann konnte sie doch besser den Haushalt zu Hause versorgen – da war sie der Dreh- und Angelpunkt.

Watergraafsmeer war ein Dorf. Nachbarsfrauen lauerten hinter Gardinen, klammheimlich wurden Zigaretten geraucht und auf der Straße trieb sich Louis mit einem Ball von sieben Gulden fünfzig herum. Louis war so fanatisch mit Fußball beschäftigt, dass er immer gleich den nächsten Schritt machen wollte, und mit diesem Ball, der sowohl auf dem Acker wie auf Rasen ideal war, ging das. Zudem hatte die ganze Umgebung Spaß daran, sein Freund Maarten Spanjer kam alle Nase lang zu Mutter van Gaal, um sie zu fragen, ob er sich mal eben diesen Ball von Louis ausleihen dürfe.

Sehr schnell hatte Louis eine ganze Reihe von Nebenjobs, schön für ihn war es, Zeitungen in seinem Viertel austeilen zu können und er zu seinem sechzehnten als Belohnung eine rot-schwarze Puch kaufen konnte. Auf dem Stück Land neben der Emma-Kirche legte er viele Jahre lang mit seinen Freunden die Jacken ab, das waren dann die Torpfosten und Fußball war angesagt. Oder sie spielten auf der Straße, dabei spielte er den Torwart so lange, bis seine Knie blutig gefallen waren. Eine Sache hatte Louis nie, Zehenkappen. Er spielte so viel Fußball, dass die – zum Ärger seiner Mutter – schnell kaputt gingen. Aber als Jüngster hatte er bei ihr ein Stein im Brett, und sie ließ es zu, dass er so lange draußen spielen konnte. Durch den frühen Tod seines Vaters war sie die wichtigste Person in seinem Leben und Louis war ihre große zuverlässige Stütze.

Henk Groot. Dabei bekam Louis Gänsehaut. Wenn man diese Spitze spielen sah, Tore schießen, köpfen, sein Timing, dafür ging Louis ins Stadion De Meer. Da skandierten sie „Henkie, Henkie“ und das war auch das, was die ganze Familie an Sinterklaas-Abenden tat, wenn Louis Gedichte über Henk Groot vorlesen musste. Der kleine Louis ahnte noch nicht, dass ausgerechnet dieser Henk Groot ihn für Ajax scouten sollte und dass Louis später als Assistent von Leo Beenhakker Scout Henk Groot abholen musste, um zusammen ein Spiel anzuschauen. „Eine ganz besondere Ehre“, hatte Louis gesagt. Aber das war erst viel später.

Achtzehn war Louis und im El Bacchus hatte Fernanda Obbes ihm während des Tanzens erzählt, dass sie bereits liiert war. Dadurch ließ Louis sich nicht abhalten: „Ich werde immer auf dich warten.“ Vier Wochen später stand Fernanda vor ihm.

Ein Jahr später saß seine Mutter bei Jaap van Praag im Büro, dem Vorsitzenden von Ajax. Aber auch Bruder Ad saß dabei und der passte sehr gut auf. Am Ende des Gesprächs war Louis Spieler der Ajax-B-Mannschaft mit einem ziemlich guten Vertrag und einem Fiat 127 als Extra. Er sollte 750 Gulden (ca. 370 Euro) pro Monat verdienen und 125 Gulden pro Punkt erhalten. Der Star von RKSV De Meer wurde Ajacied, Spieler von Ajax Amsterdam, aber obwohl er stark spielte in einer Mannschaft voller Top-Talente wie zum Beispiel Johnny Rep, Arnold Mühren und Gerrie Kleton, hatte er Pech: auf seiner Position stand bei der ersten Mannschaft von Ajax . . . Johan Cruyff.

Inzwischen wusste Louis schon lange, was er wollte: Rinus Michels werden. Als der Ajax auf den Spielfeldern bei De Meer führte, schaute der junge van Gaal atemlos zu. Seine spätere Studien-und Berufswahl, die Ausbildung an der Akademie für Körpererziehung ALO (Academie voor Lichamelijke opvoeding) war fast schon logisch und dort lernte er die Lektionen fürs Leben. Spiele-Dozent Max Koops kam eines Tages mit einem chaotischen Durcheinander und sagte seinen Studenten: „Du, du und du: unterrichten. Jetzt!“ Selbst bestieg er die Kletterwand. Als einer seiner Stundeten anfangen wollte, rief Koops: „Wie können Sie nur jetzt anfangen, es fehlt dir schon einer, denn ich sitze hier!“ Die Verwirrung bei den Studenten war fühlbar, bis einer von ihnen, der spätere Tanzlehrer Wladimir Donse, sich vor die Gruppe stellte und eine beeindruckende Geschichte zu erzählen begann. Plötzlich wurde das wirre Durcheinander ruhig, kam Koops von der Kletterwand – und van Gaal begriff, was Koops ihnen sagen wollte: jede Gruppe hat eine besondere Ansprache nötig. Koops ließ ihn sich vom Inhalt lösen, ließ ihn darüber stehen, auf allen Ebenen.

Er spielte Fußball, er lernte. Inzwischen verheiratet mit Fernanda und mit zwei Töchtern (Brenda und Renate) gesegnet, reiste er über Antwerpen (Antwerp FC) nach Velsen (Telstar), nächster Stopp Rotterdam (Sparta) und schließlich Alkmaar (AZ’67). Weil er zudem noch die Spieler innerhalb der niederländischen Profi-Fußballervereinigung (Vereniging voor Contractspelers) an der Don-Bosco-Schule in Amsterdam unterrichtete und den Lehrgang Profi-Fußball besuchte, fuhr er mit seinem Wagen dreimal gegen die Leitplanken wegen purer Müdigkeit. Van Gaal arbeitete wie ein Besessener und war überall Initiator und Führungsperson. Die beste Zeit als Fußballer hatte er bei Sparta erreicht, wo er zusammen mit Mitspielern wie Dick Advocaat, Danny Blind, Wout Holverda oder John de Wolf Erfolge im europäischen Fußball feierte.

Im Jahr 1986 lief für Louis van Gaal bei AZ’67 alles zusammen. Dort sollte er seine Laufbahn als Fußballer beenden und ebenfalls Assistent von Cheftrainer Hans Berger werden. Das ging nicht gut. Van Gaal spielte unterirdisch und Berger wurde entlassen. Hans Eijkenbroek übernahm, war aber schon nach einem Tag wegen einer Atemstörung nicht mehr dabei. Van Gaal übernahm alles: AZ 1, AZ 2, Mannschaftssprecher. Die Zeitschrift Voetbal International mit Autor Kees Jansma kritisierte, van Gaal habe am Stuhl von Eijkenbroek gesägt und sei hysterisch und autoritär vorgegangen. Das Gegenteil schien wahr zu sein. Van Gaals stellte sich schützend vor Eijkenbroek und führte AZ nach seinen eigenen Vorstellungen: junge Spieler aus der Zweiten in die erste Mannschaft holen, aus der Mannschaft, die er so gut schon kannte. Martin van Ophuizen, Fons van Haastrecht, Marc Castelijn und Maurice van Ham tricksten die Alten, wie zum Beispiel David Loggie und Arnold Oosterveer, locker aus. Funktionäre, die zu späten kamen, verpassten den Spielerbus, auch hier war van Gaal klar und deutlich. Das kam ihm im Oktober 1987 teuer zu stehen, nach der Geschichte von Kees Jansma in Voetbal International. Floor Mouthaan war das Vorstandsmitglied, das damals sagte: „Louis, nimm dir mal kurz Urlaub.“ Van Gaal: „Urlaub? Ich kündige.“

Es dauerte bis zum März 1988, als der Ajax-Vorsitzende Ton Hamsen sich in der Bewerbungskommission des Vereins zu Wort meldete: „Ihr solltet Louis van Gaal den Posten des Cheftrainers für die Jugendabteilung anbieten.“ Das hielt der, um den es ging, für gar keine gute Idee. „Wer war ich denn? Ein ehemaliger Fußballer, der als Trainer noch nichts vorweisen konnte. Ich war dazu noch lange nicht fähig.“ Und so wurde er erst mal Trainer der A1-Jugend und B-Jugend von Ajax. „ich hatte den Aad-de-Mos-Weg vor Augen, der war auch zuerst A1-Trainer und war erst danach Cheftrainer geworden.“

Van Gaal begann energisch, holte Edgar Davids und Michael Reiziger aus der A2-Jugend, aber schon nach zwei Monaten forderte der Verein ihn auf, Assistent bei Ajax-1 zu werden. Kurt Linder war gerade entlassen worden, Spitz Kohn ersetzte ihn zeitweise und Barry Hulshoff sollte ebenfalls Assistent werden. Linder hatte zwei Spieler noch zu van Gaal mit dem Hinweis geschickt, „die bringen es nicht“. Van Gaal setzte einen von ihnen, ein pfeilschneller Rechtsaußen, während eines Jugendturniers auf die Position 10, das machte der blonde Lockenkopf großartig. Wenig später gehörten Dennis Bergkamp und Richard Witschge zum Aufgebot von Ajax-1.

Das Trio Kohn-van Gaal-Hulshoff lieferte eine schöne Leistung ab. Aus dem Nichts heraus katapultierte sich Ajax nach vorn und wurde noch Zweiter in der Meisterschaft. Danach wurde Leo Beenhakker Cheftrainer und von Gaal konnte sich auf sein Trainer-Diplom konzentrieren. Als Praktikant ging er zum FC Barcelona von Johan Cruyff. „Ich hatte zwei Trainingstage mitgemacht, als ich zusammen mit den Gebrüdern Koeman, Ronald und Erwin, den Zweiten Weihnachtsfeiertag bei Johan zu Hause verbrachte. Wir kannten uns noch nicht so gut, ich hatte einmal ein sehr gutes Gespräch geführt, aber das ging vor allem mit seiner Frau Danny, Johan sagte nicht so viel. Zwischendurch klingelte das Telefon, es war für mich. Meine Schwester Riet war gestorben. Hals über Kopf bin ich nach Hause gefahren.“

2 Ajax

Arie van Os hatte ihn angerufen. Ob Louis van Gaal zum Haus des Schatzmeisters kommen wolle. September 1991. Im Winter zuvor war van Gaal noch lange mit dem Ajax-Vorsitzenden Michael van Praag über den Strand von Izmir spazieren gegangen. Der Trainer wollte weg, auf eigenen Füßen stehen, er hatte sich schon bei Roda in Kerkrade und NAC in Breda beworben. Van Praag hatte eindringlich auf ihn bestimmt eingeredet: „Nicht machen Louis, du bist der nächste Cheftrainer von Ajax-1.“ Jetzt war es soweit. Leo Beenhakker ging zurück nach Madrid.

Innerhalb einer Stunde war alles geregelt. Sein Gehalt verdreifachte sich auf 375.000 Gulden (heute: ca. 175.000 Euro), aber viel wichtiger: ein Vertrag über drei Jahre statt des ursprünglich vorgesehenen einen Jahres. Van Gaal wollte etwas aufbauen. Am Tag danach, als er nach Hause fuhr, überkam es ihn: Was für eine Verantwortung! Cheftrainer von Ajax-1. Sollte er so machen, wie er dachte, es tun zu müssen, oder sollte er es auf eine angepasste Art und Weise tun? Zu Hause sagte Fernanda: „Tu, was du tun musst, ansonsten bist du nicht mehr du selbst.“ Er wusste, dass sie Recht hatte.

Am Tag danach warf er den Hut in den Ring. Jan Wouters setzte er von Position 4 auf 8. Wim Jonk von Ajax-B auf die 4, Danny Blind von 2 nach 3, Dennis Bergkamp von 7 auf 10, Marciano Vink von 3 auf die Position 6. Wouters, bereits gefeierter Nationalspieler, spielte mit Widerwillen mit. Mit den Außenspielern Brian Roy und John van ´t Schip bekam van Gaal gleich Streit, Vink war auch nicht zufrieden. Das bekannte TV-Programm Barendt & Van Dorp lud jeden unzufriedenen Spieler ein, um sich dort zu beklagen, die Medien wie der Telegraaf riefen Mord und Totschlag und es dauerte nicht lange, bis das Stadion den Namen Johan Cruyff skandierte.

Co Adriaanse war der erste, der es sagte. Der Chef der Jugendfußballausbildung bei Ajax, der wegen seines kargen Büros bei Ajax Co-Container genannt wurde, sagte es, wie es war: „Louis van Gaal? Der hat die Gabe eines Sehers!“

Es erwies sich immer mehr, dass van Gaal Recht hatte. Das Sichten brachte ihn weit. Ronald de Boer kam zurück vom FC Twente, auf der Rechtsaußenposition wurde Bryan Roy zuerst durch Edgar Davids und dann durch Marc Overmars ersetzt, auf der halblinken Position spielte Michel Kreek bärenstark, aber dort schien der noch jüngere Davids für die richtige Balance innerhalb der Mannschaft zu sein. Nach dem Abgang des viel umjubelten Duos Bergkamp-Jonk zu Inter Mailand entschied van Gaal sich für John van den Brom auf 4 und Dan Petersson auf 10, aber schon sehr schnell musste der verletzungsanfällige Däne einem jungen Finnen den Vortritt lassen. Jari Litmanen, der beim Training statt auf der Position 6 sich immer besser auf 10 in Szene setzte. Ein ganz besonderer Clou gelang mit dem Zurückholen des verlorenen Sohnes Frank Rijkaard, der auf der 6 spielen sollte. Aber erst als Rijkaard neben Danny Blind als phänomenales zentrales Verteidiger-Duo quasi das Rückgrat der Mannschaft wurde, erreichte Ajax Champions-League-Niveau.

Inzwischen verjüngte van Gaal – mit seinem Pendant Gerard van der Lem als Assistent – die Mannschaft konsequent weiter. Clarence Seedorf debütierte an seinem 16. Geburtstag. Patrick Kluivert und Nwankwo Kanu kamen im Alter von 18 dazu. Ein weiterer junger Nigerianer, Finidi George, entpuppte sich als Offenbarung auf Rechtsaußen. Edwin van der Sar war noch ein Niemand und doch war er der ersehnte Torwart, der immer an der richtigen Stelle stand und ausgezeichnet mitspielte. Van Gaal war dabei ein Meisterwerk zu schmieden und nach dem Gewinn der nationalen Titel begann das junge Ajax respektlos Europas Elite zu jagen.

AC Milan, Gewinner der Champions League 1994, war die erste Mannschaft, die erstaunt nach den zweifachen 2:0-Ajax-Sieg sowohl in Amsterdam wie auch in Triest zurück blieb. Dann gab es diesen herrlichen Fußballsturm im alten Amsterdamer Olympia-Stadion im Halbfinale gegen Bayern: 5:2. Und sogar in Wien, am 24. Mai 1995, bewahrte Ajax kühlen Kopf. Ajax spielte nicht großartig, aber erzielte ein Tor, das im Training endlos eingeübt worden war. Herausfordern, umkreisen, den Ball zirkulieren lassen, gedanklich schnell, Tiefe suchen – alles kam in diesem 1:0 von Patrick Kluivert zusammen. Van Gaal, der an diesem Abend auch wegen seiner Karate-Einlage Berühmtheit erlangte, war nun definitiv Top-Coach in Europa.

Der wohl am meisten beladene Titelgewinn war die Landesmeisterschaft von 1994. Das war der Titel, den seine Spieler für Fernanda gewannen, seine viel zu früh verstorbene Frau.

Fernanda, über sie sagte van Gaal: „Sie war meine Geliebte, brachte meine Kinder zur Welt, ging mit mir, sorgte für mich.“

Im Sommer 1993 waren sie 20 Jahre verheiratet. Um dies zu feiern verbrachten sie 20 Tage auf einem Kreuzfahrtschiff, 19 davon war Fernanda krank. Jeden Tag dieser Geschmack, dann ein Rennie und zur Mittagszeit immer schlafen, das konnte nicht richtig sein. Aber Fernanda stand im Leben so wie ihr Mann: stark positiv, nicht jammern. Erst am 9. November 1993 rief Joan, die Frau, die mit Tante Sien die Spielerkantine betrieb, Louis während des Trainings an. Er wusste es gleich. Es lief verkehrt.

Am Tag danach kam die Diagnose. Leber- und Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die Bauchspeicheldrüse, keine Chance mehr. Trotz der Aussichtslosigkeit – das Los der BNers, Bekende Nederlanders, der bekannten Niederländer – gab es Hilfsangebote von allen Seiten, Ärzte wollten das Unmögliche schaffen. Es sollte nicht so sein. Fernanda starb am 17. Januar 1994 nach einer grausamen Zeit voller missglückter Rettungsaktionen und mit viel Schmerz.

Sein Glaube an Gott war weg. Eine junge Frau so schleichend sterben zu lassen – darauf konnte sich van Gaal keinen Reim machen. Die Spieler und alle, die bei Ajax arbeiteten, hatten das Drama mit großer Anteilnahme verfolgt. Die Fußballer sagten: wir werden Meister, für sie, für Fernanda. Zwei Ziele hatte die Frau von Louis noch gehabt: 40 werden und die Meisterschaft mitfeiern. Es war ihr nicht beschieden, aber Louis machte ein Versprechen wahr: er arbeitete weiter in ihrem Geist, mit dem Kampfgeist, der so typisch für sie war.

In der Zeit des Champions-League-Gewinns wurde Ajax schier unüberwindlich. Der Van-Gaal-Fußball war eine Augenweise und dominant, seine Art zu sichten und zu verjüngen bezahlte sich weiter aus. Nach dem Weggang der Routiniers Frank Rijkaard, Peter van Vossen und John van den Brom und der Youngster Clarence Seedorf und Tarik Oulida folgten andere. Keine Ankäufe, der Fortschritt entwickelte sich im Team; Frank de Boer wurde ein großartiger Innenverteidiger, der einen Freistoß nach dem anderen ins gegnerische Tor zirkelte, Winston Bogarde entwickelte sich von einem trostlosen Linksaußen zu einem imponierenden Linksback, Ronald de Boer und Edgar Davids entwickelten sich zu Weltklasse-Spielern im Mittelfeld und egal wer in der Spitze stand, Patrick Kluivert oder Nwankwo Kanu – es war einfach beispiellos. In der Champions League trumpfte der Titelverteidiger in den Auswärtsspielen bei Real Madrid und Borussia Dortmund auf. Speziell im Bernabeu-Stadion zelebrierte Ajax Traumfußball. Es gewann nur mit 2:0, hätte es den Video-Beweis schon gegeben, wäre am Ende ein 4:0 herausgekommen.

Das jahrelange Passen und Schießen, die Spielformen, die Fitness, das Antizipieren, die wahnsinnige Ballgeschwindigkeit, das raffinierte Positionsspiel – all das, was van Gaal gebetsmühlenartig gepredigt und hatte üben lassen, fand im Spiel statt. Aber ganz besonders seine Idee vom Totalen-Mensch-Prinzip feierte Urstände und das war auch nötig. Igenewari, der Bruder von Finidi, wurde in Nigeria versehentlich getötet, Patrick Kluivert verursachte einen tödlichen Unfall, die Spieler waren inzwischen so etwas wie Pop-Idole und wurden von den netten Mädchen der Stadt angehimmelt, die kapitalkräftigen Klubs aus Italien und Spanien zerrten förmlich an den Spielern, und durch das berühmte Bosman-Urteil von 1996 – wodurch Spieler am Ende einer Transferperiode ablösefrei den Verein verlassen konnten – geriet das Ajax-Traumschloss ins Wanken. Die größte Gefahr steckte in der enormen Unruhe über die Gehaltsstufen, die es bei Ajax gab, wodurch sich die jungen Spieler gegenüber den Routiniers zurückgesetzt fühlten.

Und als dann noch die Karte „Schwarz gegen Weiß“, dunkelhäutige Spieler gegen weiße Spieler, während der EM 1996 auf den Tisch kam, explodierte es. Nichtsdestotrotz entwickelten sich die Ajax-Spieler imposant weiter. Auch 1996 (Finale) und 1997 (Halbfinale) beeindruckte die Mannschaft. Beide Male konnte nur Juventus, ein des Dopings verdächtiges Team, die Amsterdamer stoppen.

Van Gaal wollte schon einige Zeit Ajax verlassen. Was gab es noch zu gewinnen nach dem Weltcup, den sich Ajax in Tokio holte? Aber seine Töchter hatten ihn nötig. Und deshalb dauerte es bis zum Sommer 1997, ehe er Ajax verließ. Viele Emotionen. Die letzte Saison war unglaublich schwer. In der Ehrendivision lief es nicht mehr, es gab Verletzungen, die vielen neuen Rasenflächen im Amsterdamer Stadion entwickelten sich zum Drama, der Wechsel vom vertrauten Stadion De Meer in die neue Umgebung war sowieso nicht leicht und als van Gaal bekannt gab, zu Barcelona zu wechseln, verletzte der Verein ihn tief, indem er ausgeschlossen wurde. Er war der Technische Direktor und leitete auch das Scouting verantwortlich. Man sagte: du gehst zu einem anderen Top-Klub, da wirst du ja demnächst uns Talente vor der Nase wegschnappen.

„Ich hatte mich sieben, acht Jahre lang voll und ganz für Ajax eingesetzt, ich hatte alles gegeben. Ich kannte den Klub so gut. Wäre ich sie gewesenen, hätte ich das ausgenutzt. Wie konnte man nur so denken: Louis wird uns wohl in die Quere kommen . . . natürlich nicht!“

Dennoch: der Abschied war bewegend. Die F-Side hatte ihn mit einem glänzenden Feuerwerk verabschiedet, das Publikum jubelte ihm zu, seine Mutter saß in der Königsloge, van Gaal wurde zum Ritter geschlagen. René Froger und Karin Bloemen sangen, es war einer der schönsten Tage in seinem Leben. Aber das Schönste war, wie die Spieler sich verabschiedet haben: engagiert und intensiv. Die goldene Uhr, die ihm die Spieler damals schenkten, bedeuteten für ihn mehr als das, was der Vorstand ihm in der Villa Lokeend in Vinkeveen überreichte. „Kurz zuvor hatte der Vorstand über die Medien mitteilen lassen: Louis verdient immer alle Ehre, aber kein Spieler war gut genug für ihn, wir werden niemals mehr so viel Macht in die Hände eines Mannes legen.“

Ajax, aufgeschrieben: LvG

„Ajax, ich bin da aufgewachsen. Man geht dann so richtig niemals weg. Der Verein ist in meinem ganzen Denken tief verwurzelt. So wie Truus mit Feyenoord fühlt. Das ist wie früher. Ich bin im Amsterdamer Stadtteil Watergraafsmeer geboren, war ein glühender Anhänger des Fußballs, logisch, dass es für mich Ajax wurde.

Bei Ajax kommen nur ein paar Faktoren dazu. Die Amsterdamer Fußballkultur ist sehr kritisch. Es gibt viele Aspekte, Ex-Spieler haben großen Einfluss, denn Fußballer werden in den Niederlanden mehr geschätzt als Trainer. Als Coach von Ajax muss man gute Resultate holen und schönen Fußball sehen lassen. Wenn das eine, das Ergebnis, stimmt, jammert man über das andere, den fehlenden schönen Fußball, und umgekehrt. Dabei spielen die Medien in Sachen Ajax immer eine große Rolle, die gehen immer auf die Spieler zu. Und nun hat aber ein einziger Spieler – bis auf Johan Cruyff in der Vergangenheit – nicht so viel Einfluss; dazu bedarf es Unterstützung, also reden all die Freunde miteinander. Und mit dem Telegraaf, der größten Zeitung des Landes. Wenn diese Zeitung etwas nicht will, läuft es dann wie ein Perpetuum Mobile, dann untergraben sie dauernd. L’histoire se répète – die Geschichte wiederholt sich.

Leute wie Erik ten Hag und ich überleben so etwas. Wir sorgen sowohl für gute Ergebnisse wie auch für schönen Fußball. Aber einige Trainer arbeiten wirklich gut, überleben es aber nicht. Wie man mit Marcel Keizer (Vorgänger von Erik ten Hag) umgegangen ist, war unverhältnismäßig. Seine Mannschaft begann gerade, gut zu spielen – einfach lächerlich, dass man genau in dieser Situation den Mann entlässt. Das kommt einem politischen Mord gleich. Marcel wurde geopfert, um Dinge bei Ajax zu verändern. Es hatte etwas mit der Nouri-Tragödie zu tun, sie hatte sehr viel Einfluss auf das Geschehen. Marcel war eigentlich schon weg, bevor er richtig anfangen konnte. Nach dessen Rauswurf war die Vereinsführung abhängig von ten Hag. Er hat es gezeigt und bewiesen, dass so etwas funktioniert – und sie, die Vereinsführung, damit gerettet.“

„In meiner Zeit bei Ajax hatte ich immer Rückendeckung von Michael van Praag, Arie van Os, André Kraan und Uri Coronel. Aber auch sie hielten dem Druck der Medien und der früheren Spielergrößen nicht Stand. Ich war gezwungen, Resultate vorzuweisen, andernfalls würde ich es nicht überleben. Wenn wir bei Osuna auswärts nicht gewonnen hätten, wäre ich schlicht und einfach rausgeflogen. Ich hatte damals Aaron Winter auf die Position 10 gesetzt, Bergkamp doch wieder auf Außen postiert. Entgegengesetzt zum Ajax-Stil hatte ich ein paar mehr defensive Akzente gesetzt. Ich brauchte ein Bollwerk. Wir gewannen, aber es war kein sehr gutes Spiel, kein offensiver Fußball. Aber wenn wir nicht gewonnen hätten, hätte ich später nicht so viele Titel bei und für Ajax gewinnen können. Denn das ist wiederum die Kehrseite: als Coach von Ajax kann man etwas erreichen, wenn man etwas in der Hinterhand hat. Dort ist immer die Jugend, die sich ihren Weg erspielt und zur Spitze entwickelt.“

„Ich hatte sofort das Prinzip Der ganze Mensch in meinem Kopf. Ich veränderte es bereits, als ich 1991 Ajax trainierte, 1995 veränderte ich es noch viel besser und im Jahr 2013 bei Oranje noch einmal viel besser. Als ich als Trainer begann, hatte ich zwar eine Idee, wie man auf Spieler zugeht, auf dem Gebiet hatte ich einen Vorsprung. Dass ich Lehrer war, überzeugend wirkte, das Spielchen durchschaute – all das spielte eine Rolle, aber die ganz große Neuerung war, dass ich Spieler als Menschen betrachtete. Wie waren sie erzogen, wie tickten sie? Ich war ein Mann der Praxis, ich habe studiert, indem ich beobachtete, indem ich agierte und es dann bewertete und auf Grund dessen wiederum anpasste.

Deshalb holte ich Ronald de Boer zurück zu Ajax. Ich war überhaupt nicht damit einverstanden, dass Leo Beenhakker ihn ablehnte. Unglaublich. So ein kreativer Geist wie Ronald. Ein echter Ajax-Fußballer. Also holte ich ihn wieder zurück.

Leo ließ Ronald als rechte Sturmspitze agieren und ich dachte immer schon: da muss der nicht stehen. Ich sah ihn zuerst als Spitze, dann als Halbrechts. Auf der Sechs. Ronald war ein wichtiger Einkauf, passte wunderbar in die Vision und Kultur des Vereins. Als Mensch eine Art Tyrann, als Teamspieler die Personifizierung von dem, wie Fußballer sein sollten, wie ich glaube. Aber seine Entwicklung als Angreifer war vermasselt. Das Umschalten von Ballbesitz nach Ballverlust gelang ihm weniger gut. Neun von zehn Mal traf er beim Umschalten die richtige Entscheidung auf dem Spielfeld. Finidi und Litmanen machten es zehn Mal in zehn Situationen richtig. Sie versagten nie.“

„Frank Rijkaard kam dank Robby Haarms zu Ajax zurück. Ich musste zuerst noch wissen, ob er es bringt. Ältere Spieler agieren oft routinemäßig. Ich bin ein Anhänger davon, sich jedem Spiel anders zu nähern, damit unsere Stärken gegen den besonderen Gegner wirksam zum Einsatz kommen. Ich wusste nicht, ob Rijkaard da mitspielen würde. Haarms sagte: „Das wird er tun.“ Bob hatte ihn schon bei Cruyff und de Mos kennen gelernt. Dann fang ich an abzuwägen. Warum sagt Bobby das? Bobby hatte mich damals schon überzeugt. Aber auch dann entscheide ich. Und wenn jemand dafür verantwortlich gemacht wird, dann bin ich es: Louis van Gaal. Es kann auch schief gehen. Iván Gabrich? Mein Scout Ton Pronk meinte: „Der Mann, der nie versagt. Und Ton hatte Finidi, Kanu, Litmanen zu uns gebracht. Ein toller Scout. Aber er empfahl uns auch Gabrich und Rosales. Netter Kerl, Ton. Auch nicht immer richtig gewürdigt. Mit Gabrich funktionierte es nicht. Nur: es ist meine Entscheidung, ihn zu holen, es ist meine Entscheidung die Worte von Ton – der Mann, der nie versagt – zu nutzen.“

„Ich hatte einen guten Draht zu Spielern wie Kanu. Aber dann kam das Bosman-Urteil. Waren Finidi und Kanu gleich weg. Die ganze Mannschaft lief weg. Elendig angefressen war ich. Aber immerhin erreichten wir 1997 mit Spielern zwischen 19 und 20 Jahren noch das Halbfinale der Champions League, Spieler, die nachher nie mehr in der absoluten Spitze mitgespielt haben. Ich wurde kritisiert, als wir im Halbfinale ausgeschieden waren, heute bekommen sie Applaus wenn sie im Halbfinale ausscheiden.

Wenn man mit einem Verein die Champions League und den Weltpokal gewinnt, kann es nicht mehr besser werden. Nur: meine jüngste Tochter musste ihr Abitur noch machen. Ich konnte nicht einfach ins Ausland wechseln. Habe gewartet, bis sie es geschafft hatte. Dann habe ich gefragt: ‚Traust du dir das zu?´ Sie war noch so jung, ihre Mutter war gestorben. Sie hatte schon einen Freund. Sie sagte: ‚Papa, ich schaff‘ das.´ Ja, was soll man davon halten, für sie war es ein Paradies, dass ihr Vater wegging. Freiheit!. Verrückt, aber ich mache viele Sachen für andere, entscheide mich für sie. Als ich zu AZ Alkmaar wechselte, lag das auch daran, dass der Vater meiner Frau Truus im Sterben lag und meine Töchter mich nötig hatten.“

„Ich versuche Spieler im Laufe einer Saison zu beeinflussen und zu überzeugen, wie sie sich weiter entwickeln müssen. Ich führte für sie einen Entwicklungsplan ein. Ich sprach mit ihnen aus fachlicher Sicht: was wäre gut für dich und was nicht? Auch mit Bryan Roy führte ich das Gespräch. Er blieb dabei, im Spiel dauernd von Links nach innen zu wechseln. Wo er doch mit dem rechten Fuß weniger konnte. Bei Foggia tat er das auf diese Art und Weise. Aber bei Ajax hatten wir eine Philosophie. Die Außenspieler sollten sich außen vorbeidribbeln. Das war auch schon zu Zeiten von Piet Keizer und Sjaak Swart so. Dann flankten sie und Henk Groot konnte die Bälle reihenweise einköpfen. Später funktionierte das auch so mit Patrick Kluivert und Stefan Petersson, die orientierten sich auf den ersten Pfosten und hopp, Außenspieler über Außen, Flanke, Kopfball: Tor. Erst viel später veränderte sich der Fußball im Hinblick auf defensivere Taktiken, also veränderte sich meine Idee vom offensiven Fußball auch und so hätte Bryan meine rechte Spitze sein können. So wie Arjen Robben das bei Bayern war.

Bryan Roy war ein sehr lieber Junge. Nada war eine tolle Frau. Ich mochte sie gern. Aber wenn man das nicht macht, was die Mannschaft von einem verlangt . . . Roy füllte die Position des Linksaußen bei Ajax nicht so aus, wie es sich bei Ajax gehörte. Er zog bei seinen Aktionen auf unsere Position vier, Wim Jonk, und kam oft sogar bei Danny Blind aus, unsere Nummer drei. Das war sehr schade. Die einzige Lösung war ein Wechsel. Fußball spielen konnte er. Er hatte Qualitäten. Die passten aber nicht zu Ajax. Das habe ich ihm verdeutlicht. Es tat mir sehr weh, denn ich hatte eine besondere Beziehung zu ihm.“

Bryan Roy

Von Mythos zum Menschen

Was war da bloß los? Sein Telefon klingelte unaufhörlich. Eine WhatsApp nach der anderen, eine SMS folgte der nächsten. Schaute er zu? Sah er das? Es war Sonntagabend, 5. August 2018, und Bryan Roy schaute auf dem Flugplatz in Dänemark verwundert auf sein Handy.

Am Abend zuvor war Louis van Gaal Gesprächsthema in der Fernsehsendung Zomergasten (Sommergäste). Eine Viertelstunde sprach er über Bryan Roy. Van Gaal hatte einen TV-Ausschnitt ausgesucht der Sendereihe Brandpunt (Brennpunkt) aus dem Jahr 1992. Dieser Mitschnitt befasst sich mit dem Linksaußen von Ajax. Es war eine besondere Situation, in der der Fernsehsender KRO dies brachte, es war kurz, nachdem der Trainer seinem Schüler erzählt hatte, dass sie voneinander Abschied nehmen müssten. In der Sendung kamen viele Fußballliebhaber zu Wort, die fast schon prosaisch die Aktionen des Fußballspielers beschrieben, wie ein Mythos, Film- oder Pop-Star.

Die Moderatorin bei Zomergasten, Janine Abbring, konfrontierte Louis van Gaal mit dem Satz: „Aber Sie haben ihn doch rausgeschmissen“

Van Gaal: „Nein, das ist nicht wahr, das ist ein Prozess gewesen. Ich habe diesen Ausschnitt ausgesucht, um zu zeigen, wie schwierig es ist, dies als junger Spieler zu bewältigen. Er wird verherrlicht.“

„Vergöttert“, gab Abbring zu.

Und ja, Van Gaal war der Coach, der gesagt hatte: „Hier hört es auf, Bryan.“ Und nein, das hatte nichts mit nicht zuhören wollen oder Davonschweben des Spielers zu tun. Van Gaal: „In der Sendung gab es einen einzigen Kritikpunkt, und zwar in dem Augenblick als Hugo Camps als weiterer Gast in der Runde sagte, dass Bryan höchstens einmal im Monat zu erkennen gab, wie gut er eigentlich ist. Aber einen Coach beschäftigt ein anderes Ziel. Der will, dass ein Spieler, in jedem Spiel sein Niveau erreicht. Dabei begleitet ein Coach einen Spieler – dass er von einem bestimmten Punkt aus eine höhere Ebene erreicht. Auf seine Art und Weise. Das wäre das Beste, das ist das Prinzip Der ganze Mensch. Aber Bryan konnte die Funktionen und Aufgaben eines Linksaußen nicht so ausführen, wie ich es vor Augen hatte. Und Fußball ist kein individueller Sport, es ist ein Mannschaftssport. Man muss im Dienst der Mannschaft agieren. Außer wenn man so gut ist wie Mounir El Hamdoui später bei AZ Alkmaar, dann stellt man die Mannschaft darauf ein. Mounir erzielte 25 Tore, Bryan nicht.“

Die Moderatorin unterstellte noch einmal, dass Bryan Roy nicht zuhören wollte. Van Gaal schüttelte den Kopf: „Bryan wollte wirklich zuhören. Aber die Gegenspieler stellten sich darauf ein. Doppelte Manndeckung. Darauf liefen seine Aktionen nicht mehr vertikal, sondern diagonal oder sogar horizontal, nach rechts. Dabei vernachlässigte er seinen starken linken Fuß. Das hat etwas mit der Identität des Spielers zu tun. Er hat ein Adlerauge und einen starken linken Fuß; wenn er beides nicht benutzt, ist der Trainer gefordert. Ich versuchte, ihn mit seinen Stärken Fußball spielen zu lassen. Aber es geht dann auch um Effektivität und was dabei fürs Team heraus kommt, denn ein Mittelstürmer ist auch abhängig von seinen Mitspielern, auch vom Linksaußen. Und wenn dann jemand nicht so agiert, dass es ins System passt, muss ich mich nach Alternativen umsehen.“

Bryan war 21, noch ein Kind. Der Trainer sagte: Ab hier ist Schluss. Im Brandpunt sagten sie: er ist ein Gott. Van Gaal: Die Herren, die dies sagten, meinten seine Kleidung, seine Hände, sie benutzten sogar den Ausdruck ‚erotisch´. Das ist als Trainer doch nicht mein Thema? Es geht doch darum, ob ein Spieler sich in der Mannschaft mit seinen Mitspielern messen kann und im Dienste dieser Mannschaft spielen kann?“

Er hatte es noch mal gesehen, Bryan Roy. Und noch einmal. Immer wieder Gänsehaut und Tränen. „Weil es so liebevoll war, wie van Gaal es sagte. Wie viele Spieler kannte er aus seiner Karriere und dann redet er an so einem Abend eine Viertelstunde über mich. Nur um es noch einmal vernünftig zu erklären. Ich war gerührt.“

Roy ist zu Hause im hippen Brooks an der Beethovenstraße in Amsterdam. Er sieht gut aus. Das war in den letzten Jahren auch mal anders. Nur Ärger bei Ajax. Die Nachwehen der Cruyff-Revolution. Aber jetzt ist Bryan gesund und munter, mit ungebremster Energie und lautem Lachen erzählt er an einem Stück, geht ab und zu an die Bar, Tassen und Teller zu holen, um damit zu zeigen, mit was er beschäftigt ist: wie wird Fußball gespielt, wenn man im Ballbesitz ist.

Aber zuerst zurück ins Jahr 1992: „Soll ich mal etwas ziemlich Komisches sagen. Als ich van Gaal kennen lernte, empfand ich ihn wie Cruyff. Alle Hinweise, die er gab: wie Cruyff. Man musste immer erst ein wenig nachdenken und dann dachte man; eigentlich einfach, aber es stimmt!“

Roy sah den jungen Trainer van Gaal gern. „Unglaublich begeisternd, ein inspirierter Coach. Es gab Spitz Kohn, Barry Hulshoff und Louis; anfangs war er kaum sichtbar. Ein liebenswerter Mann, nett, ein Lehrer, dieses Verhalten. Er mochte mich. Oh, Mann. Dann kam er wieder, um mit mir zu quatschen. So begeistert, wenn ich etwas gut gemacht hatte. Dann schwebte ich förmlich. Später habe ich genau das als Trainer übernommen. Wenn man als Trainer jubelt, wenn ein junger Spieler etwas gut macht, das gibt einen Extra-Schub.“

Für Roy war es in sich logisch, dass van Gaal Cheftrainer wurde, nachdem Leo Beenhakker zu Real Madrid wechselte. „Das war die normalste Sache der Welt. Er leitete viele Trainingsstunden unter Beenhakker und seine Ideen und Visionen zum Fußball waren sehr klar und deutlich. Da gab es keine Unterschiede. Wir waren in der Jugend durch Cruyff ausgebildet im 1-4-3-3. Und van Gaal perfektionierte es; etwas weniger leichtfertig und locker, ein paar zusätzliche Aufgaben und Funktionen. Aber die Linie war klar.

Später setzte er Leute auf andere Positionen. Da gab es den ersten Streit. Für mich war inzwischen etwas Dramatisches passiert: Richard Witschge war nach Barcelona verkauft worden. Ries war der Halblinks, an dessen Seite ich mich so wohl fühlte. Den habe ich so vermisst.“

Trotzdem: tolle Zeiten. „Wir gewannen den UEFA-Cup und wurden nur knapp Zweiter in der Meisterschaft hinter PSV, weil doch PSV Weltklasse war mit Romàrio, Vanenburg, Koeman und Top-Trainer Guus Hiddink. Das war unser Pech. Aber ich bin immer noch stolz darauf, dass wir damals unsere Fans so unterhalten haben. Wir spielten den schönsten Fußball. Der Fußball von Pep Guardiola heute – den spielten wir in den späten 80er-Jahren, Anfang der 90er-Jahre. Zuerst unter Johan, dann unter Louis. Ganz Europa drehte sich um. Guardiola sagte mir: ‚Ich habe euch damals bewundert´. Kannst du dich noch daran erinnern, dass wir ein Freundschaftsspiel gegen Real Madrid spielten? September 1992. Wir gewannen 3:1 und waren wirklich fantastisch. Wir haben sie k-o-m–p-l-e-t-t auseinander gespielt. Standing Ovations. Bergkamp machte damals noch zwei Tore: wunderschön.“

Van Gaal hatte seinen Fußball aufs Spielfeld gebracht. „Er war ein Meister darin uns beizubringen, wie wir von hinten heraus den freien Mann finden konnten. Schieben, sich zurück fallen lassen, den Gegner, der uns festzusetzen versuchte, dann der lange Ball auf Dennis, es war alles sehr feinsinnig gesponnen. Das muss man wissen: wir spielten mit der DNA von Johan und Louis. Kein einziger Coach traut sich das heute noch. Guardiola und Ten Hag kommen dem nahe. Aber so extrem, wie wir damals spielten, so offensiv? Habe ich nie mehr gesehen.“

Das Spiel gegen Real Madrid war eins seiner letzten Highlights bei Ajax, der Sommer von 1992 hatte ihn geschafft. „Ich höre Michels noch rufen: ,Hé, Garfunkel.‘ Wir hatten eine schwere Saison hinter uns. UEFA-Cup gewonnen, dann gleich die EM in Schweden. Ich saß geschlaucht von einem Training vor dem Spiel gegen Deutschland. Ich ging auf dem Zahnfleisch. Nach der EM hatten wir zwei Wochen Pause und hopp ging es wieder los, musste ich wieder anfangen. Ich war erschöpft, konnte nicht mal mehr piep sagen. Wie aus heiterem Himmel sagte Louis: ,Bryan, ich möchte mit dir sprechen.‘

Es war auf dem Trainingsplatz von De Meer. Er sagte: ,Ich werde Abschied von dir nehmen, ich habe nicht mehr so viel Vertrauen in dich. Du kannst bei der Zweiten mittrainieren und am Ende der Saison den Verein verlassen.‘ Ich musste heulen, war total fertig. Er hielt mich kurz fest, drückte mich an seine Brust.

Am Abend wiederholte Louis im Fernsehen genau das, was er mir gesagt hatte. Das traf mich hart. Er hätte sagen können: ,Bryan ist zurzeit müde, er muss sich ausruhen, aber er kann sich zurückkämpfen.‘

„Jetzt hatte ich kein Privatleben mehr. Fernsehkameras vor der Haustür meiner Eltern und von Nada. Ich war jung, wohnte noch zu Hause. Es war ein Irrenhaus.“

Einen knappen Monat spielte er in der Zweiten von Ajax. „Ich erholte mich und fand zu alter Form. Der Körper war wieder da. Wir sollten gegen Feyenoord spielen, als mein Berater Rob Jansen sagt: „Bryan, Luis möchte dich wieder auf der Bank haben.“ Aber Mino Raiola, der für Rob einige Dinge erledigte, sagte: ‚Es gibt Interesse von Foggia. Das sagt dir wahrscheinlich nichts, aber die haben einen sehr guten Trainer, Zdenek Zemak.´ Dann habe ich mich aus dem Bauch heraus entschieden. Ich war sauer. Die schlechteste Entscheidung, die man sportlich treffen konnte, habe ich getroffen. Und es kam so, wie es kommen musste. Das war das triste Ende von mir bei Ajax. Was besonders wehtat: Im Sommer wollte Florenz 13 Millionen Gulden für mich ausgeben, aber damals durfte ich nicht weg von Louis. Florenz, oh, Mann! Hätte ich schön gefunden. Es war das berühmte Fiorentina mit Batistuta.“

Der Einfluss all dieser Dinge auf den jungen Bryan Roy: riesig. „Es hat mich sehr lange belastet. Aber es war mein Los, mein Lebensweg, meine Art und Weise wach zu werden. Ich war Louis dankbar dafür, ich habe mich in Foggia gut weiter entwickeln können und hatte zwei fantastische Jahren unter Zema, mit Kolyvanov, Stroppe und mich selbst als Spitzen. Gegenwärtig sind Spieler in ihrem 22. Lebensjahr schon so erwachsen! Wenn ich meinen Sohn Quentin ansehe, der ist sozial schon viel weiter als ich in diesem Lebensalter war. Bei Foggia wurde der Prozess vom Jugendlichen zum Mann beschleunigt; dort konnte ich mich sozial – emotional weiter entwickeln. Nada und ich waren ins kalte Wasser geworfen worden. Anfangs war sie noch nicht einmal da, saß ich dort allein mit Mino, mein persönlicher Assistent, mein Bruder, mein Übersetzer. Zu zweit waren wir damit beschäftigt, das Haus anzustreichen. Jetzt ist Apulien eine Booming-Gegend, aber damals war da nichts, und Foggia war zudem noch das hässlichste Städtchen in diesem Landstrich. Es war eine Tortur.“

Das hatte Bryan lange belastet. „Ja, weil ich so von Louis fallen gelassen wurde. Aber mein Zorn hatte Gründe: Enttäuschung, weil ich dachte, wir hätten etwas gemeinsam, und mein schlechtes Gefühl zu dem, wie es gelaufen ist. Ich war nicht der schlechteste Spieler und ich durfte gehen. Das empfand ich als ziemlich schmerzlich. Was Louis bei Zomergasten erzählte, begriff ich. Aber es gab doch etwas, was ungesagt blieb: ich war todmüde. Ich begann in dieser Saison nicht gut, war auch so ein Springinsfeld. Vielleicht war Louis am Anfang seiner Trainerlaufbahn auch zu ungeduldig und konnte das alles nicht sehen.“

Nach der Sendung rief Roy van Gaal an. „Ich wollte mich für seine Worte bedanken. Ich habe mich dann mit ihm im Hotel Huis ter Duin verabredet.“ Dort sagte er: ,Ich hätte dich ganz auf Rechts setzen müssen. Aber ich war noch jung und kam da erst später drauf.‘ Ich antwortete: ,Das macht mir heute nichts mehr aus, ich habe mich dadurch so entwickeln können, dass ich heute immer noch Bryan bin.‘

So fühlt sich das wirklich an. Ich hatte mich von der Marke entfernen können, zu der ich mich selbst gemacht hatte. Wenn man ein Abziehbild ist, ist es schwierig glücklich zu sein, denn was ist man dann in Wirklichkeit. Nun weiß ich es schon. Damals nicht. Es war genau das, was Louis bei den Zomergasten deutlich machte: die Beweihräucherung auf der einen Seite und den Schockeffekt, den Louis bei mir verursacht hat.“

„Also, damals erkannte ich das nicht. Saß ich dann kurz nachdem Louis ich in die Zweite verbannt hatte, bei Barendt & Van Dorp in der Talkshow. Dieses Interview hat ziemlich viel Wirbel verursacht. Ich war so sauer und traurig und Frits (Bahrendt) und Henk (van Dorp) bespielten diese Stimmung. Nicht besonders gescheit von mir. Damit setzte ich meine Beziehung zu Louis aufs Spiel. Was habe ich da bloß gemacht, denke ich heute noch. Mein Mütchen kühlen.“

Und jetzt? „Jetzt kann ich daran denken, ohne Groll.“

Jetzt gelingt es ihm ohne Mühe van Gaal und seinen großen Lehrmeister Cruyff in einem Atemzug zu nennen. „Johan, Louis und Rinus Michels waren die allerbesten, ich durfte bei allen dabei sein. Da bin ich verdammt stolz drauf.“

Roy beschäftigt sich immer noch mit dem Fußball seiner Lehrmeister und begeistert doziert er: „Bei Louis kamen die Innenverteidiger oft an den Ball, dann ließ sich der Halbrechts zurück fallen. Logisch, denn das war Ronald de Boer, der Architekt. Der musste ganz schnell in Ballbesitz kommen. Nicht Litmanen, das war der steil gehende Spieler. Bei Barcelona waren es Xavi und Iniesta, die sich fallen ließen und den Ball haben mussten. Niemals der zentrale Mittelfeldspieler. Also: die Position vier und zehn füttern, die zwei Mittelfeldspieler an den Seiten dirigieren. Darüber spreche ich mit Louis heute.“

Brian Roy brachte alle Tassen und Teller brav wieder zurück. Genug Lärm und Aufregung. Die Leute im Brooks sehen mit einem Lächeln im Gesicht zu, sie kennen ihn alle noch, den Jungen von damals, den Mann von heute. Er beendet die Geschichte: „Obwohl dies damals so passierte, bin ich Louis dankbar. Mein Leben ist so gelaufen, wie es war. So musste es sein.“

Frank Rijkaard

Nicht immer diplomatisch, aber ehrlich

Pünktlich betritt er mit leicht federndem Schritt die Rosa-Welt von MaMa Kelly, das Restaurant das zwischen allen Hühnchen und Hummer Aussicht bietet auf das Heilige Feld: Olympia-Stadion Amsterdam. Als Frank Rijkaard auf den grünen Rasen starrt, schaut er in die Vergangenheit. Hier wurde AC Mailand bezwungen, hier wurde Bayern München nach Hause geschickt.

Frank Rijkaard erzählt es mit Gefühl, funkelnden Augen, die ganze Zeit über ein breites Lächeln, das ihn undurchdringlich macht. Bestimmende, aber freundliche Stimme. Er warnt: „Erinnerungen sind selektiv. Man vergisst etwas, man behält etwas.“

Die erste Szene, die ihm in den Sinn kommt. Sommer 1993: „Ich kam zurück zu Ajax. Das erste Mal, dass ich mich melden musste, war im Trainingscamp. Sie hatten schon angefangen, ich kam zu spät. Da kam ich dann, der verlorene Sohn. Sie standen da: viele Journalisten. Mir schien es unpassend zu sein, einfach an ihnen vorbei zu laufen, also blieb ich kurz stehen, wechselte mit dem einen oder anderen ein paar Worte. Man sieht es schon kommen, ich kam zu spät in den Essenssaal. Nicht wissend, dass Louis van Gaal immer wartete, bis jeder da war. Niemand durfte beginnen, bis wir vollständig am Tisch saßen. Dann gab der Chef das Zeichen – und wir griffen zu.“

Er nahm einen Bissen vom Caesar-Salat, stand auf und machte es durch Stimmveränderung wie damals van Gaal: „Rij – kaard!“ Die Leute im Restaurant sahen auf. Rijkaard setzte sich wieder. Gelassen: „Darauf hatte Louis schon gewartet. Er schnellte hoch und rief beinahe triumphal: ,Rijkaard! Du bist zu spät! Du bist … zu spät!‘ Und er zeigte mit dem Finger auf mich: ,Und du weißt, was das bedeutet.‘ Ich schaltete schnell: „Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht, denn es ist das erste Mal, dass ich hier bin.‘ Man sah gleich, dass er nachdachte, um dann noch einmal mit erhobenem Finger zu sagen: ,Da hast du recht. Aber beim nächsten Mal gibt es ein Strafgeld.‘

Schließlich kam es nach zwei intensiven Fußballjahren zum 22. Mai 1995, zwei Tage vor dem Finale in Wien. Louis van Gaal hielt in einem übervollen Saal im De-Meer-Komplex eine Presse-Konferenz, bei der er sehr emotional den Traum vom Gewinn der Champions League in den Mittelpunkt stellte. Es ging ihm immer ums Team. Aber jetzt stellte er eine Person besonders heraus. „Ich hoffe, dass wir die Champions League gewinnen, das hoffe ich vor allem für Frank.“ Schon vorher hatte er liebevoll vom Rückgrat des berühmten Teams voller Talente, die Stützen gesprochen – das waren Danny Blind und Frank Rijkaard, die Pfeiler, die Männer, die das Team mit ihrer Erfahrung und ihrem Überblick lenkten. Wer in dieser Zeit das Ajax von van Gaal im Blick hatte, hätte ein Buch schreiben können über die Lobeshymnen, die van Gaal über seine Routiniers ausschüttete.

Das Bild: so viel Vertrauen zwischen van Gaal und Rijkaard. Der Letztgenannte nickt, aber: „Am Anfang war nicht zu spüren, dass es zwischen uns klickte. Im Gegenteil.“

Die Vorgeschichte: „Als ich damals beschlossen hatte, bei Milan aufzuhören, fragte ich mich: Wie weiter? Ich wollte noch ein paar Jahre irgendwo spielen. Sonne, Meer, ein schönes Leben boten sich an. Nizza, Cannes, Vereine aus Italien, das lockte natürlich. Und ich wurde älter, gefestigter, also warum nicht? Aber ich wusste schon sehr schnell: am liebsten wollte ich zu Ajax. Das Gefühl wurde immer stärker: es MUSS Ajax werden. Mein Abgang dort war nicht so schön gewesen und ich wollte damit die letzten Jahre dort gut abschließen, alles geben für Klub und Team. Ajax würde mich davor bewahren, es zu locker anzugehen, wenn ich dort zweimal hintereinander schlecht spielte, würde man anfangen zu meckern. Ich kannte mich gut genug: Sonne und Meer? Dann würde meine Laufbahn wie eine Kerze ausgehen, ich bin dafür einfach zu bequem. Ich habe David Endt, damals Pressechef von Ajax und ein guter Freund, gebeten, einen Kontakt herbeizuführen. David sagte daraufhin: ‚Okay, ich werde mich darum kümmern´. Aber es dauerte ziemlich lange, bevor ich von David eine Antwort erhielt. Hinterher erzählten Bobby Haarms und Gerard van der Lem mir, dass Louis mich am liebsten nicht in der Mannschaft hätte, darum dauerte es so lange. Bobby sagte: ‚Frankie, es dauerte so lange, dass ich auf Louis zugegangen bin und ihn auf die Seite genommen hatte: Wenn du Frankie nicht zurückholst, gibt es von mir Prügel. Und dann sagte Louis: wenn du das sagst, Mister Ajax, dann mache ich es!´

„Wenn man das hört, erahnt man es, dass wir anfangs kein gutes Verhältnis hatten. Aber ich verstand es. Louis war ein junger Trainer, der wollte gern junge, formbare Spieler haben. Womöglich hätte ich als Älterer Starallüren und so den Betrieb gestört. Ajax war ein Team von Jungspunden – und sie waren schon so gut. Aber ich bin nie ein unbequemer Typ gewesen und allmählich wurde unser Verhältnis besser. Er begann einzusehen, was er an mir hatte und er litt nicht unter mir.“

Nicht dass man sich einig war über die Rolle, die Rijkaard erhielt. „Ich war ein Routinier und konnte nicht mehr so viel laufen wie ein junger Spieler. Ich wollte zentral stehen, aber der Zufall wollte es, dass vor dem niederländischen Supercup-Finale gegen Feyenoord viele Mittelfeldspieler verletzt waren. Trotz meines Trainingsrückstandes fragte Louis: ‚Frank, willst du nicht doch Halbrechts im Mittelfeld spielen.‘ Ich sagte: ‚Gut‘, und wir spielten sehr stark, gewannen mit 4:0. Daraufhin beließ es Louis logischerweise so, aber ich meinte zu Louis schon, dass er meine Rolle benutzen sollte und mich optimal zum Einsatz bringen wollte, ich zentral dahinter stehen müsste. Mir gelang das Umschalten und Aufrücken ins Mittelfeld nicht mehr gut genug.“

Trotzdem spielte Ajax meist sehr überlegen. Bis dass es in einer etwas schwächeren Phase im UEFA-Cup durch Parma mit Zola und Asprilla auf den Boden der Tatsachen gedrückt wurde. „Dort wurden wir an die Wand gespielt. In der Nachbesprechung gab es von Louis viel Kritik gegen mich. Damals bin ich heftig geworden: „Hör mir zu, wenn du möchtest, dass meine Effizienz top ist, musst du mich dort nicht aufstellen.“ In den Niederlanden fiel das nicht so auf. John van den Brom machte es auf der Position 4 ganz ordentlich und ich hielt in der niederländischen Ehrendivision ganz gut mit. Aber wenn man wirklich das absolute Top-Niveau erreichen will, ging das nicht mehr so weiter. Wir schieden nahezu aussichtlos durch Parma im UEFA-Cup aus, das kann man nichts anders sagen. Aber na gut, Louis war der Coach und er stellte mich nachher dann doch auf die Vier. Das musste ich ihm schon zubilligen, in seinem Kopf gab es dann wohl die Überlegung: okay, so ist die Situation, was fange ich damit an?“

Van Gaal entschied sich für das, was sich hinterher als erfolgreich und das Beste herausstellte. Clarence Seedorf und Ronald de Boer bekleideten im Gegenzug die Position rechts in der Mitte, Frank Rijkaard wurde eine der Stützen in der Abwehr. Das Tandem mit Danny Blind schien unüberwindlich. „Ich hatte etwas mehr den Drang, hinten zu bleiben, mit dem Fokus aufs Coachen. Ich stand da wirklich meinem Mann. Danny machte mehr die Meter nach vorn. Dann sah ich ihn wieder und wieder an mir vorbei nach vorn stürmen. Mit dem Bayern-Spiel als Höhepunkt. So irre spektakulär.“

Die Entstehung des Ajax der 1990er-Jahre, die Handschrift – alles van Gaal, unterstreicht Rijkaard. „Die Handschrift des Trainers wurde innerhalb eines