Ludvigshöhe - Herman Bang - E-Book

Ludvigshöhe E-Book

Herman Bang

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Beschreibung

Ihr altes Leben haben sie hinter sich gelassen – nun stehen Ida und Karl ein wenig verloren und ratlos vor dem Neuanfang. Im Kopenhagen an der Wende zum 20. Jahrhundert entspinnt sich eine anrührende Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen, die in stürmischer Zeit beieinander Halt suchen.

Ludvigshöhe ist ein Sehnsuchtsort, ein idyllischer Gutshof in Jütland, wo alles seine Ordnung hat und jeder weiß, wohin er gehört: Die kleine Ida, die Tochter des Gutsverwalters, ebenso wie Karl, Sohn aus gutem Hause, der seine Sommerferien auf Ludvigshöhe verbringt. Als die beiden sich als Erwachsene in Kopenhagen wiederbegegnen, sind ihnen alte Gewissheiten abhandengekommen. Ida hat ihre Eltern und damit ihren Platz im Leben verloren, Karl sein Vermögen. Die Erinnerung an die unbeschwerte Kindheit ist den beiden geblieben, doch gibt es auch eine gemeinsame Zukunft?

Einfühlsam und mit leiser Melancholie erzählt der Roman von der Suche nach Heimat und Geborgenheit, von verzehrender Sehnsucht und Lebenshunger. Er zeichnet ein feines, bitter-ironisches Porträt der in Konventionen erstarrten Kopenhagener Gesellschaft, in der der Status einer ganzen Familie von der richtigen Wahl des Ehepartners abhängt. Diese Neuübersetzung zeigt Herman Bang (1857–1912) einmal mehr als Meister der subtilen Sprachkunst: Großes Glück und großer Kummer offenbaren sich bei ihm in einer scheinbar beiläufigen Geste, einem Erröten, einem Blick.

  • Neuübersetzung
  • Platz 3 der SWR-Bestenliste im Juli / August 2014

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Seitenzahl: 397

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HERMAN BANG

Ludvigshöhe

Roman

Aus dem Dänischen übersetzt

von Ingeborg und Aldo Keel

Nachwort von Aldo Keel

MANESSE VERLAG

ZÜRICH

Aber manchmal scheint mir,

als hätte ein anderer die Zahlen zusammengezählt.

I

Der Wärter war gekommen, um die drei Patienten abzuholen, die Kellerarbeit zu verrichten hatten, und er rief der Nummer zwei, dem Mann mit der Leibbinde, der an der Kachelofenwand auf und ab, auf und ab lief, rief ihm laut und geradewegs ins Gesicht: «Wir müssen los.»

«Ja.» Patient Nummer zwei blieb stehen und blickte den Wärter an. «Ja», wiederholte er und nickte, er drehte sich verwirrt um die eigene Achse, wie ein Hund, der seinen Platz sucht. Das tat er immer, bevor er auch nur das Geringste unternahm. Dann schlüpfte auch er, wie die anderen, in den Kittel, und die drei machten sich auf den Weg. Man hörte die Schlüssel des Wärters durch die Korridore rasseln, als er auf- und zuschloss – erst oben, dann unten.

Fräulein Brandt stapelte auf dem Küchentisch die gespülten Tassen, ging in den Saal und «horchte». Die beiden Alten schliefen und atmeten tief.

Und in der «A» war es ganz still…

Fräulein Brandt stieg im Vorraum auf den Stuhl, um zum Fenster zu gelangen. Sie rückte die Blumen etwas zur Seite und setzte sich auf das Fenstersims. «Die Brandt ist verrückt geworden», sagte Fräulein Brun von den Frauen, «sie flattert auf wie ein Huhn.»

Ida Brandt lehnte den Kopf an die Wand und blickte durch das große Fenster. Wie ruhig lagen «die Seen»1 da, ein einziges Flammenrot, jetzt im Sonnenuntergang.

Ida Brandt zog einen Brief hervor; sie saß aber lange einfach nur da, während das Rot der Seen verblasste und still entschwand – dann begann sie zu lesen:

Horsens2, der erste Oktober.

Mein liebes Mädchen.

Du erhältst diesen Brief fünf Posttage zu spät. Ich weiß das wohl. Aber Du hast auch nicht fünf schreckliche Blagen, von denen zwei letzte Woche ein Bein vom Schreibtisch abbrachen. Sie wollten damit nur «Schiff spielen», Du, während geputzt wurde. Das Bein ist inzwischen wieder angeleimt, und heute Morgen habe ich die letzten Wintergardinen aufgehängt, sodass jetzt Du die Glückwünsche bekommst: Gott segne Dich, mein Mädchen, Du weißt, das wünschen wir Dir alle hier in der «Villa».

Jetzt bist Du tatsächlich achtundzwanzig. Ja Du, wie doch die Zeit verrinnt, und jedes Mal, wenn ich am Spion3 in der Nørregade vorbeigehe, ist mir, als hätte ich Dich erst gestern brav hinter dem Fenster im Mahagonistuhl kauern sehen – alles an Dir war so brav, Ida, Augen, Haare, wie ordentlich gekämmt Du warst mit deinen Rattenschwänzen und überhaupt. Du starrtest auf uns herab, Fräulein Jørgensens herumtollende Zöglinge, wenn wir mit unseren Schultaschen durch die Straße rannten und in den Torwegen Fangen spielten, dass die Faltenröcke nur so flogen. Schließlich wagtest Du Dich auf die Treppe heraus, wo Du Dich am Geländer entlang tastetest, als hättest Du Angst, ins Wasser zu fallen – bis Deine Mutter Dich mit einem «I-da» ins Haus zurückrief. Und Du gingst hinein, mit steifen Rattenschwänzen (als Kind hattest Du einen altjüngferlichen Gang, Ida), und Deine Mutter schloss die Haustür.

Wir schlichen davon. Deine Mutter wirkte stets so einschüchternd.

Ich holte immer erst in unserem Torweg tief Luft. Ich wusste, dass Mutter am Spion saß. «Bist du da?» (Ich hatte mich durch die Tür hineingedrückt)… «Lass dich anschauen», und ich drehte mich im Kreis. «Olivia, die Finger aus dem Mund! So, ich hab’s dir gesagt, das ist dein letzter Mantel mit Pelzbesatz…» Ich maulte, das eine oder andere Teil löse sich immer und baumele dann herab; ich weiß nicht wieso, aber ich und Regine, wir waren nun einmal etwas wild.

«Ja, dann geh.»

Und prompt rannte ich mit der Tasche gegen den Türrahmen.

«Ob dieses Kind je lernen wird, seine Augen zu gebrauchen» – ich hatte schon geahnt, dass es von der Estrade her so tönen würde – «und nur einen Riemen an der Tasche… ja, geh jetzt…»

Und weg war ich.

«Wenn Karen so freundlich sein möchte, dich erst zu kämmen», tönte es von der Estrade. «Es ist eine Schande, wie du aussiehst.» Die Haare waren das Schlimmste. Es endete immer damit, dass Karen vor Mama mit den Bürsten erscheinen musste. Sie bürstete und bürstete. «Nein», seufzte Mama, «dein Haar ist nicht zu bändigen. Nein, das Haar der kleinen Ida Brandt, das hat Fasson.» Ich kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, und Karen bürstete. Du warst eben immer der Ausbund an Tugend…

Und weißt Du noch, wie Mama und ich Deine Mutter besuchten – zuvor hatten die beiden keinen Umgang –, sie plauderten in der Stube, und wir saßen im Schlafzimmer auf Deinen Stühlchen zwischen dem Bett Deiner Mutter und dem Fenster und beäugten einander und kauten an den Fingernägeln – – da plötzlich packte ich Deine beiden Schwänze und stieß Dich gegen die Bettkante, immer wieder und ohne ein Wort zu sagen. Du wehrtest Dich nicht und rührtest Dich nicht und weintest nur leise – ganz leise. Weißt Du, mein Mädchen: Ich glaube, von dem Augenblick an mochte ich Dich, weil Du so leise weintest…

Wie ich mich an all die Tage erinnere, als ich Dich um fünf Uhr abholte. Kaum war ich eingetreten, rief Deine Mutter von ihrem Fensterplatz zur Schlafkammer hinüber, wo Du über den Hausaufgaben saßest. Dann hast Du immer so ausgesehen, als wolltest Du auf die Kommode kriechen. «Ida… I-da! Olivia Frank ist da.» Während Deine Mutter mit langen Nadeln strickte, nickte sie mir zu und sagte: «Setz dich, mein Mädchen.»

Und ich setzte mich neben die Tür – bei Euch setzte man sich mitten auf den Stuhl –, bis Du vollständig angekleidet warst – mit der Weste, dem kleinen Tuch, dem Mantel und dem großen Tuch. Danach knicksten wir vor Deiner Mutter. «Hat Ida ihr Taschentuch?», sagte sie – dann fasste ich immer an die eigene Tasche. Und war dann alles in Ordnung…

Und wir gingen am Fenster vorbei, jede auf ihrer Plattenreihe.

Wenn aber abends die Decke vom Tisch genommen war – ich sehe noch heute, wie Deine Mutter die Lampe von einem Tisch zum anderen trug, das machte sie immer selbst –, legten wir Patiencen. Und Deine Mutter spielte mit den Fräulein Whist (Herrgott, jetzt ist auch die Erbelin tot, bis zum Schluss trug sie ihr mächtiges Doppelkinn mit stolzem Trotz). Ich trat Dich unter dem Tisch gegen die Beine, wenn die alte Bonnitz vor Freude ob ihrer Stiche lachte – sie lachte, bis sie gluckste. Um halb neun, wenn ich nach Hause musste und Eure Sofie den Johannisbeerwein auftrug, bekamen wir die zwei Äpfel, und mein Mantel wurde in die Wärme gehängt…

Mama sagte: «Wenn sie bei Ida Brandt gewesen ist, benimmt sich Olivia einen ganzen Tag lang gesittet.»

Sonntags warst Du vom Morgen an bei uns. Weißt Du noch? Eure Sofie brachte Dich mit einem «Gruß der Gnädigen», sie zog Dich aus, Stück für Stück, als schnüre sie ein Bündel auf. Niemand konnte Mama einen solchen Schrecken einjagen wie Eure Sofie. «Ich weiß nicht», sagte sie, «aber ihre Augen scheinen noch das kleinste Staubkörnchen auf unseren Möbeln aufzuspüren.» Mutter pflegte vor fremden Dienstboten zu erröten. Im allerhöflichsten Ton sagte sie: «Möchte Sofie nicht eine Tasse Kaffee trinken?» Und Sofie trank den Kaffee, stocksteif auf dem Stuhl beim schwarzen Bücherschrank sitzend, und sprach kein Wort…

Und wupps, waren wir draußen. Wie großartig war doch der alte Hof (so einen Hof hab ich mir für meine Jungs oft gewünscht); Houmanns Scheune mit unseren «Nestern» im Heu und Dessaus Boden, wo Du durch das Korn waten musstest, Du in Deinen Wollstiefeln. Und was hab ich Dich herumkommandiert. Noch heute sehe ich, wie Du mit der Spitze des großen Zehs gehorsam am Trapez hingst, wenn wir in der Werkstatt Kunstreiter spielten, die Augen starr vor Schreck, die Zunge aus dem Mund gestreckt, als würde man Dich die Verben abhören.

Wenn wir mit den Jungs «Schiff» spielten, war es am tollsten. Erinnerst Du Dich an Müllers Zuckertonnen? Sie dienten als «Kajüten», aber auch als «Verliese», wenn wir «Räuber» spielten. Schlimmer waren die «Kajüten». Brach ein «Sturm» los, wurden wir hineinbeordert, und die Jungs rollten sie bei «hohem Seegang»…Du kauertest da, Du Ärmste, die Schürze über den Kopf geschlagen, wie bei einem Regenschauer…

Da geschah es, dass Dein blaues Musselinkleid an einem Nagel hängen blieb. Du sagtest kein Wort und versuchtest nur immer wieder, den Riss über Deinen Knien zu glätten. Ich stand vor Dir, sah Dir zu und fing dann auch an, mit beiden Daumen zu glätten, als könnten wir den Riss kleben – bis ich atemlos ausstieß: «Wir müssen es Mama sagen.» Und wir rannten zu Mutter hinauf, und schon in der Tür rief ich: «Ida hat ihr Kleid zerrissen.» Dann brach ich in Tränen aus, Du aber gabst keinen Mucks von dir.

«Wo?» Mama packte Dein Kleid am Saum und hielt es wie eine Fahne in die Höhe. «Ja, hab ich’s doch geahnt. Was soll Frau Brandt nur von diesem verrückten Haus halten?» Zitternd und ohne zu weinen standest Du da. Mama riss sich mit der Häkelnadel das Haar hinterm Ohr los. «Wir müssen nach Jungfer Finsen schicken», sagte sie, ebenso erschrocken wie wir. «Zieh das Kleid aus.» Karen lief los, um Jungfer Finsen zu holen, während Du in einem von Mutters Nachthemden dasaßest und Mama in einem fort von unserem Haus und meinem Kleid redete, welches ich ihretwegen gern hätte zerreißen können.

«Dort geht Frau Brandt», rief ich, als ich auf die Estrade geklettert war.

Mama ließ das Kleid los. «Sie geht in die Kirche», sagte sie dann erleichtert; und wir schauten beide dem steifen Rücken Deiner Mutter nach, der sich über den Platz schob. «Pastor Hansen predigt», sagte Mama.

«Nein», sagtest Du mit dünner, gepresster Stimme, «Pastor Schmidt.»

Mama schlug die Hände zusammen. «Dann sind sie nicht vor halb eins zu Hause», sagte sie überzeugt.

Jungfer Finsen erschien und erklärte, eine halbe Bahn könne herausgenommen, und dann müssten die hinteren Falten schmaler eingelegt werden. «Man wird nichts sehen», sagte sie, begutachtete den blauen Stoff und nahm Maß – Jungfer Finsen hatte ein Paar Augen, die Ärmste, als grüble sie unentwegt darüber nach, wie sie eine Bahn zuschneiden könne. «Nein, man wird nichts sehen.»

«Glauben Sie? Glauben Sie?», sagte Mama, die der Finsen stets mit einer Miene zuhörte, als rede sie Latein. «Ja, wenn man es nur nicht sieht…»

Man sah es nicht.

«Dreh dich, mein Mädchen», sagte Mama zu Dir, als Du das Kleid wieder angezogen hattest. «Noch einmal… Nein, man sieht nichts. Gott sei gepriesen, Finsen!» Mutter ließ die Hände in den Schoß sinken. «Jetzt ist es aber Zeit für Cremeschnitten.»

Cremeschnitten waren Mutters unvermeidliche Zugabe für Näherinnen. Etwas Butterteig blieb immer an Finsens Unterlippe hängen, in jener Rille, die vom ständigen Abbeißen des Fadens herrührte.

Als Sofie Dich am Abend holte, begleitete ich Dich. Du hieltest meine Hand fest umklammert, als wir auf die Straße traten. Am Kellerhals sagte ich: «Sie spielen»; auf Eurer weißen Gardine sah ich die Schatten der Fräulein.

«Ja», flüstertest Du mit vor Angst winziger Stimme.

Wir traten ein, Du zogst den Mantel aus, und wir knicksten reihum, erst ich, dann Du, und Deine Mutter sagte über die Karten hinweg: «War Ida artig?»

«Ja.» Das war gewiss Deine erste Lüge, mein Mädchen.

«So, dann geh zu Bett. Du weißt, montags übst du früh um sieben. Gute Nacht.» Du bekamst deinen Kuss auf die Stirn, und fort warst Du.

«Leb wohl», brach es aus mir heraus. Und ich rannte heimzu Mama und war völlig außer Atem. «Sie haben nichts gemerkt.»

«Uh, Gott sei Dank», sagte Mama und ließ sich schwer aufs Sofa fallen. «Nun, auch Ida tut es gut, ein bisschen unartig zu sein.» Heimlich begann ich auf der Estrade mit den Hausaufgaben. «Darf ich fragen, Olivia», sagte Mama, «fängst du erst jetzt mit den Aufgaben an? …Glaubst Du, Ida Brandt stibitzt Kerzen, um im Bett zu lernen?»

Ja, das war in jener Zeit, und wer kann schon begreifen, wo sie geblieben ist. Ich sehe uns noch immer bei der Konfirmation in weißen Kapuzenmänteln mit glatt gekämmtem Haar und verweinten Augen in der Kirche stehen. Mit Pastor Bacher, dem Guten, geht es bergab, beim letzten Mal hatte er gerade noch siebenundzwanzig. Jetzt wollen alle zu Pastor Robert.

Gott allein weiß, wie oft Du mich die Choräle abgehört hast… Mama sagte immer: «Ida war die aparteste Konfirmandin. Wie sie den Kopf hält, ein wenig neigt… Das Mädchen hat so etwas, etwas Besonderes…» Und für den zweiten Konfirmationstag bekamst Du ein blaues Kleid mit kleinen weißen Tupfen…

Ach, die erste Jungmädchenzeit, als wir übten, in langen Kleidern zu gehen, und Mama «Rüschen» nähte, um meine roten Handgelenke zu verhüllen. Beim feierlichen Akt saßen wir aufgewühlt und verlegen mit allen anderen in unseren schwarzen Kleidern, die mit einer Halskrause verziert waren. Wie oft musste doch meins am Brustsaum ausgelassen werden.

Weihnachten war unser erster Ball. Ganze drei Wochen hatte ich nachts mit Handschuhen geschlafen. «Mit solchen Händen kann man nicht auf den Ball», hatte Mama gesagt. «Ida hilft im Haus und hat trotzdem schönere Hände als du.»

Wir fuhren in Jensens Wagen, Du und ich im Fond, die Röcke über die Köpfe geschlagen, sodass wir auf den Unterröcken saßen, während Mama sich auf den Vordersitz gezwängt hatte und Eure Sofie auf dem Bock thronte, mit Deinen in Papier eingeschlagenen Schuhen…

Der eklige alte Raum im Club mit den feuchten Mauern und dem grauen Wandschirm. Erinnerst Du Dich an den Wandschirm, hinter dem Frau Ferder mit einem feuchten Taschentuch ständig Inkas Hals abtupfte?

«Olivia», sagte Mama, «wenn du jetzt deinen Mund schließen könntest…»

Jede Mutter erteilte ihre Ermahnungen und zupfte dies und das zurecht. Wir standen mit roten Armen ängstlich lächelnd mitten im Raum. Und Frau Ferder hetzte herum. «Gott, Frau Frank, Ihre Mädchen sind bezaubernd», rief sie ein ums andere Mal; sie hatte sich ein offenes Stecknadelbriefchen an die Brust geheftet, um Inkas Toilette den letzten Schliff zu geben. Plötzlich polterte es an die Tür: «Macht auf, macht auf!» Es war Nina Stjernholm im Pelzmantel. «Guten Abend, Kinder, guten Abend, ich bin viel zu spät dran», kreischte sie, schüttelte den Kopf, dass die Locken nur so flogen, und rief Mama zu: «Beste Frau Frank, wo sind die ‹Fohlen›?» Sie schubste die dicke Frau Eriksen zur Seite und musterte uns. «Bezaubernd, bezaubernd», sprudelte es aus ihr heraus. «Süße Frau Frank, wie sitzt denn meins?»

«Aber Nina», sagte Mama, «es sitzt schief…»

«Tatsächlich?» Nina zupfte und zerrte an Mieder und Rock, und Mama half. «Aber warum sitzt bei Ihnen alles so locker, Nina?» Schier verzweifelnd, zog Mama das Litzenband am Hals enger. Nina lachte. «Meine Liebe», sagte sie zu Mama, «eine von uns muss doch den älteren Herren etwas bieten… Habt ihr einen für den ersten Tanz?», wandte sie sich an uns.

«Ida nicht…»

«Gut, halten Sie sich an mich, Fräulein Brandt. Ich gebiete über zarte Leutnants aus Frederits4… und ich nehme mir den Hofjägermeister.»

Der Tanzmeister klopfte an die Tür und fragte, ob die Damen bereit seien. Und die Musik setzte ein. «Na dann», sagte Nina und öffnete die Tür. Ich sah nur den Kronleuchter, und der tanzte bereits. Dann tanzte ich mit Adolf Black, der sich ebenso genierte wie ich, weil er in einem Frack steckte. Ich hörte Mama sagen: «Haltung, Olivia!» und sah Dich hinter mir mit einem Leutnant, der sich in den Schnurrbart biss…

Wie doch der Boden glänzte, und wie wir tanzten. Du standest einen Augenblick bei Mama und hieltest ihre Hände. «Oh, Frau Frank», sagtest Du und lächeltest still, «ich tanze so gern.»

Nina benahm sich fürchterlich. Sie hatte sich das Taschentuch in den Ausschnitt gestopft und sagte zum Kammerherrn: «Kammerherr, gucken Sie mich nicht an, Frau Frank sagt, ich sei zu stark dekolletiert.»

«Nina», rief Mama durch den Saal. Die Röcke flogen, und Inka Ferder tanzte, die blaue Schleppe um die Arme geschlungen, während sich Nina mitten im Saal vom Hofjägermeister die Schuhe schnüren ließ.

«Nina»,rief Mama.

«Mein Gott, Frau Frank, was soll ich denn machen? Wenn sich das Schuhband löst?» Und lachend setzte sie sich zwischen die alten Damen.

Wir aber tanzten, und ich hörte Kapitän Bergfeld zu Mama sagen: «Das stille Mädchen ist entzückend.»

Das «stille Mädchen» warst Du, mein Kind, und der Kapitän war ein Connaisseur.

Ach ja, die erste herrliche Zeit, als es Sommer wurde und der «Nähverein» ins Wäldchen zog und wir unter den Bäumen hinter dem Pavillon im Kreis saßen und eine von uns vorlas. Auf einmal hatte Nina es satt, schlug das Buch knallend zu und stimmte ein Lied an. Lachend fielen wir anderen ein und sangen aus vollem Hals, hinauf in die Linden…

Aber schon nahte jener Herbst, als deine Mutter erkrankte.

Du warst bei uns, weißt Du noch, als Sofie gelaufen kam und im Flur nach Dir fragte. Ohne ein Wort, ohne Abschied erhobst Du Dich vom Tisch und folgtest Sofie, die die Straße entlangeilte. Du begegnetest Fräulein Fischer, sprachst mit ihr und eiltest weiter, schneller, immer schneller.

Ich stand am Fenster und wollte Dir folgen, aber ich weiß nicht… Mir war bange, so bange… dass sie tot sein könnte, und ich sagte zu Mama: «Kommst du mit?» Wir schlüpften in die Mäntel, machten uns auf den Weg und betraten Eure Stube, wo die Möbel zur Seite gerückt waren, weil Deine Mutter hochgehoben und getragen werden musste.

Der Doktor erschien, und die Stube füllte sich mit Menschen, bis der Doktor sie anwies zu gehen.

Und Fräulein Fischer kam mit einer Schale Eis gelaufen und wiederholte nur immer wieder weinend: «Sie wollte nicht hören, sie wollte keinen Rat annehmen.»

Ich blieb die Nacht über bei Dir, wir wachten in der Stube und hörten, wie die Uhren tickten und mit schnarrendem Glockenschlag die einförmigen Stunden ankündigten. Und wir hörten, wie die Nachtwache Eis brachte und mit Sofie flüsterte, und wir saßen und lauschten den Uhren…

Aber Du Arme, Du wachtest danach noch manche Nacht…

Leb wohl, mein Mädchen. Möge Dir das neue Jahr richtig viel Freude bereiten. Wir in der Villa, das weißt Du, wünschen Dir das alle.

Und schließlich noch ein Kuss aus gegebenem Anlass, obwohl Du weißt, wie ich diese Freundinnen-Küsserei verabscheue. Die Blagen schreien, ich soll Dich grüßen.

Deine Olivia

Ida Brandt faltete den Brief zusammen, und lächelnd lehnte sie den Kopf an den Fensterrahmen. Am gegenüberliegenden Ufer der Seen wurden die Laternen angezündet, eine nach der anderen. Ida hörte Josefine, die das Abendbrot brachte und wieder ging, und die Alten im «Saal», die sich in ihren Betten zu regen begannen.

Sie blieb sitzen – nur noch einen Augenblick.

Aber plötzlich rasselten Schlüssel in der Tür der Frauen, und mit einem Satz sprang sie vom Fenstersims, sodass der Stuhl umkippte. Vielleicht war es der Professor, er kam zu allen möglichen Zeiten, und noch brannte kein Licht.

Doch nein, es war Herr von Eichbaum aus dem Büro. Er fragte: «Darf ich hier durch, Fräulein?»

«Bitte sehr.» Sie machte Licht und war vor Schreck ganz außer Atem.

Herr von Eichbaum blieb stehen, während sie die Lampen anzündete. «Seltsam», sagte er mit seiner leicht näselnden Stimme, «wie oft ich an Ludvigshöhe denke, seit ich in diesem elenden Büro gelandet bin.»

«Dort war es aber auch schön», sagte Ida in einem Tonfall, als sähe sie die «Höhe» vor sich, «die Gegend um Brædstrup5 ist fantastisch.»

«Ja, es war herrlich», sagte er und schmatzte mit den Lippen, «das war einmal.» Er rührte sich nicht, als sie die Leiter holte, um die Gasflamme über der Tür zur «A» anzuzünden. «Nein», sagte er und schaute zu ihr hoch, «vom Schlage des alten Konferenzrates6 gibt es nicht mehr viele.»

Sie wechselten ein paar Worte, ehe sie von der Leiter hinabstieg und in der «A» verschwand. Der Herr, der dort im schwarzen Sessel saß, hob lediglich den Kopf und folgte ihr mit großen umschatteten Augen, während sie die Lichter auf dem Tisch anzündete.

«Wer ist das eigentlich?», fragte von Eichbaum, als sie zurückkam.

«Ich weiß es nicht», sagte sie, «ein Doktor…»; und fast lachend fügte sie hinzu: «Er ist der Einzige, vor dem mir bange ist.»

Auch Eichbaum lachte. «Er scheint aber äußerst friedfertig zu sein…»

«Ich weiß nicht… irgendwie ähnelt er einem Gespenst…»

«Einem Gespenst?»

«Ja», sagte Ida leicht verlegen, «dem Gespenst von einem Menschen.»

Herr von Eichbaum lachte, er wandte den Blick nicht von ihr. «Na dann, guten Abend, Fräulein.»

Herr von Eichbaum nickte und zog die Tür hinter sich zu. Aber Ida stieg auf die Leiter, um über der Saaltür die Flamme zu entzünden. Schrilles Gemurmel drang von den Frauen herüber. Das war Fräulein Benjamin, sie wurde gegen Abend immer unruhig.

Ida Brandt verteilte leise summend die Butter für das Abendbrot. Sie dachte an Olivias Brief.

Und an Ludvigshöhe.

Die Patienten, die im Keller gearbeitet hatten, waren wieder oben. Sie wanderten im Vorraum auf und ab, unruhig, ziellos und ohne sich gegenseitig wahrzunehmen – die Pantinen klapperten. Der lange Bertelsen, der «irgendwie aus dem Gleichgewicht geraten» war, ging immer wieder in die Küche zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen, rötliche, klamme Hände; alle zehn Minuten musste er sich die Hände waschen, als gelte es, sie von tausendfacher Sünde zu reinigen.

«So, Bertelsen, die sind nun sauber», sagte Fräulein Brandt.

«Ja», sagte er und hörte abrupt damit auf. Er trat an den Tisch, sah ihr ins Gesicht, soweit ihm das möglich war, denn seine Augen huschten rastlos hin und her. «Was soll ich hier?», stieß er hervor. «Können Sie mir sagen, was ich hier soll?» Seine Stimme wurde lauter.

«Sie sollen doch gesund werden, Bertelsen», sagte das Fräulein und fuhr fort, Brote zu streichen.

«Gesund!…» Er lachte schnarrend auf und entblößte seine dichte Zahnreihe; die Zähne schienen das Einzige in seinem Gesicht zu sein, das Farbe hatte, sie leuchteten. «Gesund – hier, wo man eingesperrt ist.»

«Und jetzt wird gegessen», sagte sie, «und dann ist wieder ein Tag vorbei, Bertelsen.»

«Ja, ja», rief sie in den «Saal» hinein. Die beiden Patienten warteten am Fußende der Betten auf das Essen und traktierten mit den Pantinen ungeduldig den Boden. «Ich komm ja schon…» Erst horchte sie aber an Fräulein Petersens Tür. Petersen schlief so fest, dass man ihre Atemzüge hören konnte. «Fräulein Petersen!», rief sie und klopfte. «Sie müssen aufstehen.» Die Atemzüge stockten, und endlich kam ein verschlafenes «Ja». Fräulein Petersen hatte Nachtwache. Ida trug das Essen in den Vorraum, wo der Mann mit der Leibbinde beharrlich seine Runden drehte.

«Essen Sie jetzt, Schrøder», sagte ihm Ida ins Gesicht, so als spräche sie zu einem Tauben.

«Hm.» Er sah sie nur an.

«Essen Sie, Schrøder», wiederholte sie.

«Hm.»

«Und zwar jetzt…» Sie sprach so deutlich, als sei der Mann schwerhörig. «Denn jetzt kommen die Ärzte.»Sie schob ihn zum Tisch.

Schon waren die Ärzte auf der Treppe zu hören, schon rasselten die Schlüssel. Der Oberarzt erschien mit zwei Assistenzärzten, gefolgt von Fräulein Helgesen, der Oberpflegerin mit dem Journal, das sie so trug, wie ein Gerichtsdiener ein Aktenstück trägt.

Die Patienten erhoben sich vom Tisch, die drei Alten in den Betten beobachteten die Ärzte mit seltsam erloschenen Augen.

«Hier hat sich wohl nichts getan?», fragte der Arzt.

«Nein, Herr Oberarzt.»

Der Arzt ging allein in die «A» und schloss die Tür.

Assistenzarzt Qvam schwang sich auf den Tisch des Vorraums und schlug die Beine übereinander: «Gott bewahre – was für eine Wache – elf eingewiesen – und einer ‹ausgepumpt›.»

«Opium?» Fräulein Helgesen sprach mit Assistenzärzten geschäftsmäßig wie mit Kollegen.

«Ja… ein Kunstschmied… aus Liebe, heißt es, und jetzt schleppen sie ihn seit fünf Stunden auf und ab – zwei Mann… Gott bewahre… dass die Menschenkinder alles so dramatisch nehmen… Was meinen Sie, Fräulein Brandt?»

Qvam sprang vom Tisch, denn der Oberarzt kam zurück. «Lassen Sie den Patienten ruhig an die frische Luft», sagte er und war schon an der Tür zu den Frauen. Qvam folgte ihm als Letzter; auf der Schwelle schüttelte er die Beine, die in weißen Sporthosen steckten, als wolle er den Staub von den Füßen schütteln.

Ida fütterte die drei Alten, sie hatte ihre eigene, behutsame Art, die Patienten im Bett aufzurichten.

Fräulein Petersen kam schnell und atemlos aus ihrem Zimmer geschossen. «Wie spät ist es, Jungfer?», rief sie zu Ida hinein. (Bei jedem Schritt wackelte das Fräulein zehnmal geziert mit dem Unterleib.) «Meine Uhr ist stehen geblieben.»

«Es ist schon spät», sagte Ida. Es war immer spät, wenn Fräulein Petersen abends aufstand.

«Ach – ja, Sie sind so lieb und warten… Ich trinke noch rasch Tee.»

Ida nickte nur, sie war es gewohnt, nach der Wache eine halbe Stunde auf die anderen warten zu müssen. Sie setzte sich unter die Gasflamme im «Saal» und begann zu nähen. Wie gut sie sich an Karl von Eichbaum erinnerte, jetzt, da sie an zu Hause dachte, an Ludvigshöhe – an ihn und seine Mutter, die immer zuoberst am Tisch saß und den Konferenzrat zum Tischherrn hatte. Sie ging pünktlich auf den Glockenschlag spazieren und ruhte sich auf den zwei Steinbänken am Verwalterweg aus. Und immer sagte sie: «Aha – da haben wir ja das kleine Fräulein Brandt», als sähe sie Ida zum ersten Mal…

Die drei Patienten saßen an den Fußenden der Betten und spielten Karten, die Wollhosen hochgezogen. Aber Schrøder wollte ins Bett. Er hockte in Hemdsärmeln auf der Bettkante, die Beine hingen schlaff herab, so als säßen seine Knochen lose.

«Jetzt müssen Sie aber ins Bett, Schrøder», sagte Ida.

«Ja», antwortete er und blieb mit gesenktem Kopf sitzen.

Ida musste erst aufstehen, ehe Schrøder mühsam seine Beine anhob, als wäre dazu konzentriertes Nachdenken vonnöten. «So», sagte sie und schlug mit beiden Händen auf die Decke, «es ist doch viel besser, wenn Sie liegen… nicht wahr?» Danach strich sie die Decke glatt, während sie gleichzeitig Bertelsen beruhigte. Er ereiferte sich Mal für Mal beim Kartenspiel. Endlich hörte sie Fräulein Petersens Schlüssel und packte das Nähzeug zusammen. Sie wollte nur noch einmal einen Blick in die «A» werfen.

Der Herr in der «A» saß am Tisch und hob die Augen, um sogleich wieder seine großen Blätter zu beschreiben. Bedächtig malte er Zahl um Zahl, wie gedruckt.

«Dann öffne ich den Laden», sagte Ida und stieß das hohe Fenster auf.

Fräulein Petersen stand am Spion, als Ida heraustrat. Der Herr drinnen erhob sich langsam, und still setzte er sich auf das Fenstersims. Regungslos sah er in die Nacht hinaus, hinauf zu den Sternen.

«Was der nur immer zu rechnen hat», sagte Fräulein Petersen.

«Dr. Qvam sagt», erwiderte Ida, «er wolle die Gesetzmäßigkeit ergründen…»

«Der Arme», sagte Fräulein Petersen, die nichts begriff, und schüttelte den Kopf, ehe sie sich vom Spion abwandte.

Ida öffnete die Tür zum «unruhigen Gang» und trat hinein. Zwei Wärter schleppten einen leblosen Körper, dessen Arme über ihren Schultern hingen.

Josefine, die auf der Fensterbank saß und zwei apathische Männer dazu bringen wollte, zu essen, sagte mit einer Kopfbewegung zu den Wärtern hin: «Welch eine Strapaze, jetzt geht das schon fünf Stunden so.»

Die Wärter machten an der Tür zum «guten Gang» kehrt, als Ida wieder hineinwollte, und der eine sagte, indem er den baumelnden Kopf betrachtete: «Das ist übrigens ein anständiger Kerl.»

«Ja», sagte Ida und blickte ihm ins Gesicht. Seine Lippen waren geöffnet wie bei einer Maske – die Wärter drehten sich um und schleppten den Körper zurück.

Im «guten Gang» standen die Zellentüren offen, und die Patienten dösten still in ihren Betten. Im Speisesaal saß Fräulein Friis, Opernglas und Handschuhe vor sich auf dem Tisch. Sie hatte ihren freien Abend und wollte ins Theater. «Oh», sagte sie, «da haben wir ‹die Jungfer›…Helfen Sie mir bitte?» Sie streckte Ida, die ständig «helfen» musste, eine Hand entgegen. «Ich komme viel zu spät.»

Ida knöpfte den Handschuh zu, und Fräulein Helgesen, die Oberpflegerin, die in ihrer Lieblingsstellung mit verschränkten Armen hinter der Teemaschine saß, sagte mit ihrer sehr lauten Stimme: «Was hat diese Bluse gekostet?»

«Danke, Jungfer.» Fräulein Friis warf einen letzten Blick in den kleinen Eckspiegel; sie hegte und pflegte ihr Äußeres, das sie seit zehn Jahren hartnäckig auf dem Stand einer Zweiundzwanzigjährigen hielt, und das Haar musste eine ganz bestimmte Schläfenwelle haben. «Die hat mir ein Vetter aus Aalborg geschenkt», sagte sie, «diese Bluse.»

Fräulein Krohn und Fräulein Berg, die am anderen Tischende ihren Tee tranken, sagten: «Brr, ja, jetzt muss man wohl an die Winterkleider denken.» Und sie schwatzten über Hüte.

«Ich fertige meine selbst», sagte Fräulein Helgesen hinter der Maschine.

Dann zeigte sich eine große Frauensperson in der Tür. «Hier stinkt es fein», sagte sie, führte eine weiße Hand an eine breite Nase und musterte Fräulein Friis. Das war Fräulein Koch, die Oberpflegerin der Frauen.

«Ja», sagte Fräulein Friis, die endlich fertig war und nach dem Opernglas griff. «Ich mag es nicht, wenn ich außerhalb der Anstalt nach Karbol rieche.»

«Gute Nacht.»

Fräulein Koch betrat den Raum und setzte sich in eine Ecke, die Hände wie ein Kerl auf die Knie gestützt. «Darf ich einen Augenblick bleiben?», fragte sie.

Und Fräulein Helgesen nickte ihr hinter der Maschine zu und sagte: «Fräulein Friis liebt Kleider.»

Fräulein Berg und Fräulein Krohn plauderten nach wie vor über Hüte, und Fräulein Koch sagte, wobei sie sich in ihren grauen, im Nacken wie ein Tauende geknoteten Haaren kratzte: «Kauft Pelzmützen, Kinder, die hat man ewig.»

Die beiden lachten und fuhren fort, Hüte zu diskutieren: Sie müssten zur Frisur passen; und sie fingen an, über Frisuren zu reden, während sich die zwei Oberpflegerinnen über die frisch Eingewiesenen austauschten.

«Heute waren es elf», sagte Fräulein Helgesen.

«Ja, und eine große Hetze», sagte Fräulein Koch.

Fräulein Berg konnte sich nicht vorstellen, keinen Pony zu tragen. «Ja», sagte sie, «wenn man das Haar der Brandt hätte… Mein Gott, Brandt, dass Sie es nicht ‹kräuseln›…»

«Ich hab es immer so getragen», sagte Ida.

Aber Fräulein Berg machte einen Versuch, es zu kräuseln, und toupierte Idas Pony mit einem Taschenkamm. «Sie sind nicht wiederzuerkennen», sagte sie. «Sie sehen sonst so geleckt aus…»

Fräulein Krohn, die, beide Arme auf den Tisch gestützt, zuschaute, sagte: «Na, haben Sie den Neuen vom Büro gesehen? Bei dem blitzt der Scheitel…»

Sie unterhielten sich über Herrn von Eichbaum, und Fräulein Helgesen sagte von ihrem Platz aus: «Ich finde, Herr von Eichbaum ist ein äußerst adretter Mensch…»

Fräulein Koch drückte die Brille fester auf die Nase, als ob sie besser sehen wollte. «Na ja», sagte sie, «er ist ein Schürzenjäger.»

«Ich kenne ihn», sagte Ida, die mit ihrem toupierten Haar ganz ruhig dasaß, «von zu Hause, von Ludvigshöhe.» Sie sprach «Ludvigshöhe» immer etwas leiser aus als alle anderen Wörter.

Fräulein Krohn jedoch sagte, und sie ließ ihre Finger über den Tisch laufen, als spielten sie eine Polka: «Dieser Mann trägt Strumpfbänder.»

Fräulein Koch erging sich über Ludvigshöhe, das in ihrer Gegend lag, und über den alten Konferenzrat und die Konferenzrätin. «Aber sie war wohl schon damals unter der Erde?»

«Ja», antwortete Ida, «die Konferenzrätin war schon tot.»

«Sie war eine prächtige Frau», sagte Fräulein Koch, «mit achtzig jätete sie ihre Beete selbst… mit Männerstrümpfen über dem Schuhwerk…» Fräulein Koch lachte beim Gedanken an die selige Konferenzrätin und deren Wollsocken. «Aber das ist schon bald dreißig Jahre her…na.» Fräulein Koch schüttelte ihre Schürze aus, wie es ihre Gewohnheit war, wenn sie sich erhob, «diesen Weg müssen wir ja alle… Gehen Sie auf Ihr Zimmer, Brandt?»

«Ja.»

«Ich begleite Sie», sagte Fräulein Koch. Sie verließen den Raum, erreichten die Treppe zum «guten Gang» und blieben vor Fräulein Kochs Tür stehen. «Ja», sagte Fräulein Koch in einem ganz anderen Ton und hielt in der Tür kurz inne. «Ein herrlicher Ort.» Sie dachte an Ludvigshöhe. «Gute Nacht, Brandt.»

«Gute Nacht.»

Ida stieg die Treppe hoch, ging über den Dachboden und durch mehrere Türen und betrat ihre Kammer. Sie zündete die Lampe an, die mit einem Schmetterling verziert war (rundum waren im Zimmer Kleinigkeiten verteilt, die sie und Fräulein Roed während der Nachtwachen angefertigt hatten), und sie betrachtete das Bild von Ludvigshöhe, das über der Kommode hing, das große weiße Haus, den Rasen, die neue Fahnenstange und die vielen jungen Leute, die auf den Treppenstufen saßen. Da saß ja auch Herr von Eichbaum… ja, das war er… lange hatte sie ihn nicht mehr beachtet. Aber sie erinnerte sich gut, das Bild stammte aus dem Jahr, als er von irgendeiner Schule in der Schweiz nach Hause kam und sich in seiner ganzen Länge auf den Rasen zu legen pflegte… Und da, bei der Fahnenstange, da stand der Konferenzrat…

Sie ging zum Sekretär, ließ die Klappe herunter und kramte weitere Bilder hervor. Da war das Bild vom Meer. Sie hielt es lächelnd in der Hand. Hm, bei Ebbe, wenn es trocken war, wateten die Herren und Agnes Linde barfuß hinaus und planschten zwischen den Fischen herum. Was hatten die für einen Spaß. Aber einmal biss ein Hecht Agnes Linde in die Wade, sodass Dr. Didrichsen geholt werden musste.

Und da war Frau von Eichbaum, sie saß unter dem weißen Sonnenschirm.

Ida schloss die Schubladen, die noch immer voll von Mutters Dingen waren.

Sie verriegelte die Tür, ehe sie sich zu Bett legte. Sie dachte an Olivia und die Kinder, an Nina mit ihren vier hoch aufgeschossenen Jungen, die sie letztes Jahr gesehen hatte, und an ihren Vater und ihr Zuhause – an Ludvigshöhe. Sie sah den langen weißen Verwalterflügel des Gutshofs, die «blitzblanken», stillen Zimmer und die Blumen, in jedem Fenster vier und vier in den bemalten Töpfen. Vaters Muschelhörner, die sie nicht berühren durfte, funkelten in allen Winkeln. Und sie sah das Büro, und wie sie unten an die Tür klopfte, als sie klein war, eintrat und sagte, das Essen sei bereit. Vater saß in seiner langen Leinenjoppe und mit dem alten Strohhut auf dem Kopf am Tisch – denn im Büro legte er «die Haare» ab –, und sie kletterte auf den hohen Lehnstuhl und wartete. Ringsum saßen «Vaters Vögel» in großen Kästen unter Glas.

Bis die Mutter die Tür öffnete: «Brandt, ich warte mit dem Essen.»

«Ja, meine Liebe… ist das Kind hier? Na dann…» Selbstvergessen umschloss er Ida mit seinen liebevollen Händen. «Ja meine Liebe, ja meine Liebe.»

«Der Hut, Brandt», sagte die Mutter.

Sie gingen ins Esszimmer. Ida trippelte neben dem Vater her, der sie so fest an sein Knie drückte, dass sie über seine Stiefel stolperte.

«Brandt», sagte die Mutter, «wie gehst denn du mit dem Kind.»

Nach Tisch setzte sich der Vater mit einem Taschentuch über dem Gesicht auf das Sofa, die Mutter saß in ihrem Stuhl am Fenster. Kurz darauf schliefen beide ein. Ida schlich auf Zehenspitzen durch die Stuben und schloss die Türen bis auf einen Spalt. Dann setzte sie sich auf einen Schemel, solange die Eltern schliefen.

Später gingen die Mutter und Ida zu Madsens in die Schule zum Kaffee. Die Schule lag am Kongevej, wo alle Wagen vorbeikamen. Dort fuhr die Frau des Apothekers aus Brædstrup.

Sie hatte sich doch in Kopenhagen eine Nähmaschine7 gekauft.

Ja, Madam Madsen hatte sie besucht und die Maschine in Augenschein genommen. Sie war aber überzeugt, dass von Hand Genähtes solider sei.

Die Mutter nickte. «Sie wissen ja, die von der Apotheke müssen alles ausprobieren», sagte sie. Ida saß auf einem Stühlchen, lernte stricken und hatte ihre eigene kleine Tasse.

Als die Mutter und Ida nach Hause gingen, nahmen sie den Weg, der «am Hof» vorbeiführte. Lediglich bei Fräulein Schrøder und drüben beim Verwalter brannten zwei einsame Lichter.

«Guten Abend.» Der Großknecht Lars Jensen erhob sich von einer Bank.

«Guten Abend», antwortete die Mutter. Sie bogen in die dunkle Gutsverwalterallee ein.

Zu Hause hörten sie bereits im Flur Gelächter. Forstmeisters waren zum Tee gekommen. Die Mutter verschwand in der Küche, um alles vorzubereiten, und Ida knickste vor der Forstmeisterin, einer zierlichen Dame, die elf Knaben das Leben geschenkt hatte und deren Augen bei jeder Geburt größer geworden waren – und dann vor dem Forstmeister.

«Na, wie geht’s unsrem Mädelchen», sagte er und hob sie schwungvoll in die Höhe. Lund war ein Mann von beachtlichen Ausmaßen. Wenn er lachte, lief er bis unter die Haarwurzeln rot an.

«Lund, Lund, du bist so ungestüm», sagte seine Frau, «du bist nur an Jungen gewöhnt.»

«Pah!», sagte Lund und wirbelte Ida herum, «das tut ihr gut, das bringt das Blut in Wallung.»

Dann setzten sie sich zum Imbiss. «Oh», sagte Frau Lund (denn nirgends schmückten so viele schöne Dinge den Tisch wie bei Gutsverwalters), «herrlich, wenn man es so haben kann wie Sie, Frau Brandt.» In der Forstmeisterei ging es bisweilen drunter und drüber; elf Sprösslinge gaben zu tun. Sie tauschten Neuigkeiten aus der Gegend und diskutierten die Nähmaschine. Um sie in Betrieb zu sehen, war der Forstmeister in der Apotheke gewesen. «Man muss das Kunstwerk in Augenschein nehmen», sagte er.

«Sie wird doch von Hand betrieben?», sagte Frau Brandt.

«Ja, der Teufel weiß, ob das hält.»

«Doch, Lund», sagte seine Frau und blickte ins Leere. «So oder so wäre eine Maschine famos in einem Haus, wo so viel genäht werden muss.»

Lund lachte nur. «Na, die geborene Silferhjelm» – die Apothekersfrau hatte auf ihren Karten ihren Mädchennamen unter den Namen Mogensen setzen lassen – «könnte ihre paar Röcke gewiss noch von Hand bewältigen.»

«Gewisse Leute müssen eben immer alles sofort haben», sagte Frau Brandt und reichte eine Platte herum.

«Und wenn man», sagte Frau Lund, «an nichts anderes zu denken hat, liegt das nahe.» Frau Lund, die in einem Ton sprach, als gelte es, das Gegenüber zu beschwichtigen, begann jetzt, über den Butterpreis zu reden. «Levy zahlt schon wieder vier Schillinge weniger.»

Frau Brandt verstand das nicht, denn sie hatte den Preis die ganze Zeit gehalten.

«Ja», sagte Frau Lund und schüttelte den Kopf; vier Löckchen waren im Nacken mit einem Samtband zusammengebunden. «Aber das kommt wohl davon, dass sie uns nicht immer gleich gut gelingt… Gott weiß, woran es liegt.»

«Jetzt genehmigen wir uns einen Schnaps, Forstmeister», sagte Brandt, der meist nur dasaß und von einem zum anderen schaute. «Hat das Kind zu essen?»

Ida schmierte ihr Brot mit einem stumpfen Messer selbst. «Man muss die Kinder daran gewöhnen»,sagte die Mutter, «das bekommt ihnen gut.»

«Zum Wohl, Verwalter», sagte der Forstmeister. Sie überlegten, wann der Konferenzrat zu gewärtigen sei. Vermutlich frühestens in einigen Monaten, Ende Juni. «Wenn der Wald seinen Zauber verloren hat», sagte der Forstmeister.

Nach Tisch musste Ida ins Bett. Als sie Gute Nacht sagte, setzte sie der Vater auf sein Knie und ließ sie reiten.

«Du stößt, bei Gott, Pfeffer mit dem Kind», lachte der Forstmeister, und Ida wünschte einem nach dem anderen Gute Nacht.

Forstmeisters verabschiedeten sich um zehn Uhr. «Nimm meinen Arm», sagte Lund, denn es war dunkel. «Madam ist etwas empfindlich», sagte er, «sie kann wohl nicht vergessen, dass man sie schon als Hausjungfer gekannt hat… und alle diese Dinge.»

«Aber hilfsbereit sind sie, Lund», sagte sie.

Der Forstmeister erwiderte nichts. «Sie nimmt das ganze Tischende ein», sagte er nur.

«Und wie proper alles ist», sagte seine Frau. Darüber staunte sie jedes Mal, wenn sie zu Besuch war.

Lunds gingen heimwärts.

Aber Frau Brandt räumte auf und schloss ihr Silberzeug weg.

Ida hatte Kindergesellschaft, die jetzt, noch ehe der Konferenzrat eintraf, stattfinden sollte. Auf dem Hügel, der an den herrschaftlichen Garten grenzte, tranken die Kinder Schokolade. Steif saßen die Mädchen in Reih und Glied – die zwei vom Wirtshaus am Tischende in schottisch karierten Winterröcken und mit Ohrringen. Und alle tranken und aßen.

Frau Brandt, die, in einen weißen Schal gehüllt, die Runde machte und einschenkte, sagte: «Ingeborg hat gar nichts mehr?» Ingeborg war des Amtmanns Einzige und trug durchbrochene Handschuhe mit Schleifchen.

Kein Mucks war zu hören.

Ida, von allen die Kleinste, zeigte jenen, die fertig gegessen hatten, ihre Puppen, während Edvard und Karl Johan, des Forstmeisters Jüngste, aufgeschürfte Hände hatten («Gott weiß, wie das zugeht,» sagte Frau Lund, «den Jungs fällt aller Unrat in die Hände») und sich von den Kuchenplatten so hastig bedienten, als stibitzten sie.

«Sofie», sagte Frau Brandt und warf einen Blick auf den stillen Tisch, «unten haben sie nichts mehr»; als gälte es, die Kinder zu mästen.

«Nein danke», sagte Ingeborg, der Frau Brandt ein weiteres Mal Kuchen anbot, «wir essen so spät Mittag.» Die zwei vom Wirtshaus hatten ihre Tassen umgedreht.

Brandt tauchte am Fuß des Hügels auf, er trat beim Gehen auf seine Hosenbeine. «Aha, hier ist also die Gesellschaft», sagte er und stieg hinauf. «Haben auch alle genug bekommen? So, so.» Er ging reihum, kniff sie in die Wangen und nannte sie verlegen bei ihren Namen, denn etwas anderes wusste er nicht zu sagen, während die kleinen Mädchen einander schubsten und auf ihre Röcke hinabblickten. «Jetzt müsst ihr aber spielen», sagte er. «Jetzt müssen sie spielen», wiederholte er, an seine Frau gewandt.

«Vielleicht wollen einige der Kinder noch etwas essen», gab Frau Brandt zu bedenken.

«Nein», sagte die Ältere vom Wirtshaus kurz und bündig hinter ihrer Tasse und entschied für alle anderen.

«Dann müsst ihr spielen», wiederholte der Vater, wusste aber nicht, was sie spielen sollten.

«Wir könnten Taschentücher werfen», sagte Amtmanns Ingeborg. Aber die kleinen Mädchen blieben mit roten Köpfen stumm sitzen.

«Ja, ja, Kinder müssen aber Lärm machen», sagte Brandt, «Kinder müssen Lärm machen und sich bewegen.» Und auf einmal sagte er gequält: «Ich hol die Schrøder», und fort war er.

Die zwei des Forstmeisters murmelten, das Spiel mit den Taschentüchern sei ihnen nicht bekannt, und sie stellten sich an einen Baum und maulten.

«Ja, willst du anfangen», sagte Ida, die neben Ingeborg auf der Kante einer Bank hing, und reichte ihr ein Taschentuch, das viel zu klein war, um geworfen zu werden.

Brandt eilte durch den Garten und verschwand im Herrenhaus. Die Türen standen sperrangelweit offen, und es roch nach gestärkten Gardinen und Sauberkeit. Fräulein Schrøder stand mitten im Saal auf einer Leiter – in bloßen Strümpfen, ihrer Schuhe entledigte sie sich gern mit einem Ruck. «Um Himmels willen, Herr Gutsverwalter, kommen Sie mich holen»,rief sie und ließ die Arme sinken.

«Ja, liebste Schrøder, Sie müssen… das Fest kommt nicht in Schwung», sagte Brandt und drückte sich die Brille auf die Nase. «Man weiß eben nicht, wie diese Kinder sich vergnügen.» Er zog an seinen Hosenbeinen. «Ich glaub, es sind fünfzig», sagte er.

«Jesses nein», die Schrøder griff sich ins Haar, «ich stecke mitten in der Arbeit.» Sie schaute sich um, auf allen Stühlen lagen Gardinen. «Und morgen kommen sie!» Sie stieg von der Leiter und fuhr mit einem Klack in die Schuhe. «Grausam, die Hitze in den Beinen», sagte sie. Sie hatte es immer und überall mit der Hitze; vom ersten Junitag an war sie im Garten ständig mit einem Laken unterwegs; und sie badete im Teich. «Nichts auf der Welt kommt dem Wasser gleich», sagte sie. «Also in Gottes Namen», sie musterte die Gardinen, «dann hängen wir die eben heute Nacht auf.»

Auf dem Hügel hatten sie damit begonnen, Deckel trudeln zu lassen. «Gott bewahre», sagte die Schrøder, «was ist das für ein Kirchgang? Hier muss Bewegung rein.» Sie stellte die Kinder in Reihen auf, und sie marschierten los. Sie nahm Ida bei der Hand, und als sie ein Stück weit gekommen waren, ergriff Amtmanns Ingeborg ihre andere Hand. «Guck mal», sagte das Kind zur Schrøder, «ich hab bronzene Schuhe.» Die Jungen des Forstmeisters, die zuletzt kamen, schubsten die Mädchen vom Wirtshaus. Etwas später spielten sie unten am Teich «Witwe».8 Als sie losrennen wollten, war Brandt, der den Kindern gefolgt war, im Weg. «Jetzt hört man sie wenigstens», sagte er.

«Ja», sagte die Schrøder und krempelte die Ärmel hoch. «Aber ich hab noch in zwölf Fenstern Gardinen aufzuhängen.» Frau Brandt und Sofie bewegten sich gleichermaßen steif mit Platten voller belegter Brote durch den Garten zum Hügel, um dort den Tisch zu decken.

Ida war überglücklich. Zweimal lief sie zur Schrøder und küsste ihr stumm die Hand…

Die Herrschaft machte sich auf in den Wald, sie schwenkte in zwei Wagen aus der Einfahrt, wobei der Konferenzrat wie ein Bischof mitten im Jungmädchenwagen saß. Frau Brandt brachte die Lokalzeitung ins Herrenhaus hinüber.

Die Schrøder stand in der Vorratskammer, wo sie die Picknickkörbe gepackt hatte. «Pah, ich hab nichts drunter», sagte sie und schlug sich auf die Brust. «Und jetzt müssen die Gästezimmer aufgeräumt werden.» Sie eilte durch die Küche, wo drei Häuslerfrauen im Kopftuch das Abendbrot für das Gesinde zubereiteten, und über den Korridor in die Gästezimmer. «Na», sagte die Schrøder, «was für ein Tohuwabohu.»

Alle Türen zwischen den Zimmern standen offen, und niemand hatte die Koffer geschlossen, Kleider und Röcke lagen hier und hingen dort. Schwatzend hängte die Schrøder die Sachen auf und machte Ordnung.

Frau Brandt sagte kein Wort, ging nur umher, hob die Unterröcke auf und begutachtete die Stoffe. «Ja, die vermögen’s»,sagte sie.

«Na ja», sagte die Schrøder und wandte sich um: «Mit der Unterwäsche ist es nicht immer so weit her bei den Kopenhagenern… So oft wie die gewaschen werden muss.»

Frau Brandt antwortete nicht und redete nicht (Fragen zu stellen, war nicht Frau Brandts Art, sie gebrauchte nur ihre grauen Augen). Gestikulierend lief ihr die Schrøder voraus. «Ja, der Himmel mag wissen, ob es mit Fräulein With und Falkenberg etwas wird… sie passen zusammen, sehen Sie, ein großer Kerl und eine kleine Dame – das passt immer… sie ist ein bildhübsches Mädchen.» Die Schrøder schlug einen Koffer zu und machte einen Gedankensprung. «Fräulein Adlerberg», sagte sie, «hat eine Bluse, wissen Sie, ein solches Stück für spezielle Anlässe zu haben, das wäre famos. Man könnte Jungfer Jensen mal über Mittag kommen lassen…» Jungfer Jensen war Näherin in Brædstrup und holte sich in den Sommerwochen gelegentlich in den Gästezimmern Ideen. «Hier ist eine ‹Garibaldi›9», ließ die Schrøder verlauten, als sie das hinterste Zimmer betrat, wo zwei mächtige, verschlossene Koffer standen und an den Kleiderhaken in Tüll gehüllte Roben hingen. «Das ist Frau von Eichbaums Zimmer», sagte sie.

«Fräulein, Fräulein», rief Ida draußen vor dem Fenster.

«Das Kind», sagte die Schrøder, beugte sich hinaus und hob den «Dreikäsehoch» herein, ehe sie dem Tüll eine lange, schwarze Moiréschleppe10 entnahm. «Ihr Abendkleid – was? Es ist gefüttert.»

Ida starrte in die Seidenfülle, lachend legte ihr die Schrøder den Rock wie einen Mantel um die Schultern; Frau Brandt befühlte das Futter. «Das Futter ist alt», sagte sie.

«Ja», sagte die Schrøder, «großartig, wie die alles verwerten.» Sie staunte immer wieder über die Kopenhagener. «Gehen wir», sagte sie. Als sie zum letzten Fenster kamen, setzte sie Ida mit einem Schwung auf den Kiesweg zurück. «Sonst wächst du nicht», fügte sie schmunzelnd hinzu. «Und jetzt zählen wir die Wäschestücke.»

«Ja, dabei kann ich mich wohl nicht nützlich machen», sagte Frau Brandt, die bereits in der Tür stand.

«Ach nein», sagte die Schrøder, «da muss ich selber ran.» Sie wartete kurz auf der Treppenstufe und schaute Frau Brandts Rücken nach, als die Gnädige über den Platz schritt. «Ich glaube, ein Gewitter naht», sagte sie dann und schnappte nach Luft. «Gott gebe es.»

Stumm waren die drei Häuslerfrauen in der Küche zugange. Trotz des Steinbodens trugen sie nur schwarze Wollsocken.

Bei Brandts drüben war Madam Madsen von der Schule zu Besuch. Ansonsten verkehrten sie nicht viel in den Sommerwochen. «Das kennt man ja», pflegte sie zu Madam Ludvigsen zu sagen, «dass man nur im Winter für den ‹Hof› gut genug ist.»

Der Gutsverwalter ging unruhig ein und aus. Nahende Gewitter spürte er in den Knien. Und über Brædstrup zogen dunkle Wolken auf.

Madam Madsen hatte, wie sie sagte, Dickmilch angesetzt,11 denn Madsen ahnte das Gewitter schon frühmorgens, wenn er aufstand. Seine Narbe zwickte. Madsen hatte im Ersten Schleswigschen Krieg12 einen Säbelhieb abbekommen und war Vorsitzender des Waffenbrüdervereins.

Am Abend hielt die Schrøder am Weg unten Ausschau nach den Wagen; hinter Brædstrup blitzte es bereits, Frau von Eichbaum hatte auf Fahrten immer große Angst, erst recht jetzt, da ein Unwetter heraufzog…

Johlend holten des Gutsverwalters Mägde die Laken von der Bleiche, und der Verwalter befahl, im Wirtschaftshof die Luken zu schließen – als die beiden Wagen in rasender Fahrt eintrafen. Der Konferenzrat saß mit Frau von Eichbaum in der Kalesche.