Herman Bang: Die vier Teufel, Das graue Haus & Das weiße Haus - Herman Bang - E-Book

Herman Bang: Die vier Teufel, Das graue Haus & Das weiße Haus E-Book

Herman Bang

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Beschreibung

In Herman Bangs Buch 'Die vier Teufel, Das graue Haus & Das weiße Haus' tauchen die Leser in eine Welt von dunklen Geheimnissen und menschlichen Abgründen ein. Bangs literarischer Stil zeichnet sich durch eine präzise und scharfsinnige Beschreibung der Charaktere und ihre psychologischen Motivationen aus. Die drei erzählten Geschichten sind eng miteinander verflochten und enthüllen die düstere Seite der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Mit einem unheimlichen Gespür für Details und unvergleichlicher Prosa führt Bang den Leser durch die düsteren Gassen von Kopenhagen und bringt Licht in die verborgenen Winkel der menschlichen Natur. Herman Bang, ein bedeutender Vertreter des literarischen Naturalismus, hat durch seine Werke die dänische Literaturszene nachhaltig geprägt. Seine eigene Lebensgeschichte als homosexueller Mann in einer konservativen Gesellschaft reflektiert sich in seinen Werken, die immer wieder die gesellschaftlichen Normen und Tabus herausfordern. Mit 'Die vier Teufel, Das graue Haus & Das weiße Haus' bietet Herman Bang den Lesern einen faszinierenden Einblick in die dunkle Seite des menschlichen Seins und eine meisterhafte Darstellung der psychologischen Abgründe, die uns alle zu Teufeln machen könnten. Dieses Buch ist ein Muss für alle, die sich für die literarische Entdeckung der menschlichen Natur interessieren und sich von tiefgründigen und düsteren Geschichten fesseln lassen möchten.

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Herman Bang

Herman Bang: Die vier Teufel, Das graue Haus & Das weiße Haus

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-1308-5

Inhaltsverzeichnis

Die vier Teufel (1890)
Das graue Haus
Das weiße Haus (1910)

Die vier Teufel (1890)

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Die Glocke des Regisseurs ertönte. Allmählich nahm das Publikum seine Plätze ein, wobei das Getrampel auf der Galerie, das Geplauder im Parkett, das Rufen der Apfelsinenjungen die Musik übertönte – und endlich kamen auch die blasierten Leute in den Logen zur Ruhe und warteten.

Es kam die Nummer »Les quatre diables« an die Reihe. Man sah es an dem ausgespannten Netz.

Fritz und Adolf liefen aus der Garderobe hinaus in das Künstlerfoyer, sie eilten den Gang entlang, wobei die grauen Mäntel um ihre Beine schlugen, riefen und klopften an die Türe Aimees und Luisens.

Die beiden Schwestern warteten schon, ebenfalls in fieberhafter Erregung, in ihren langen weißen Gesellschaftsmänteln, die sie ganz einhüllten – während die Duenna mit ihrem schiefsitzenden Kapotthut unaufhörlich im Diskant Rufe ausstieß und verwirrt mit dem Puder, der Armschminke und dem zerdrückten Harz in den Händen hin und her lief.

»Kommt«, rief Adolf, »es ist Zeit!«

Aber sie liefen alle noch einen Augenblick durcheinander, ganz kopflos, von dem Fieber ergriffen, das alle Artisten packt, wenn sie das Trikot auf den Beinen fühlen.

Die Duenna schrie am lautesten.

Nur Aimee streckte ruhig ihre Arme aus den langen Ärmeln Fritz entgegen.

Und schnell, ohne sie anzusehen und ohne ein Wort zu reden, führte er mechanisch eine Puderquaste an den vorgestreckten Armen auf und nieder – wie es seine Gewohnheit war.

»Kommt!« rief Adolf wieder. Sie gingen alle hinaus, Hand in Hand, und warteten. Sie stellten sich am Eingang auf und hörten von drinnen die ersten Takte des Liebeswalzers, nach dem sie arbeiteten:

Amour, amour, oh, bel oiseau, chante, chante, chante toujours.

Fritz und Adolf warfen ihre Mäntel zu Boden und standen strahlend in rosa Anzügen da, ein so blasses Rosa, daß es fast weiß erschien. Ihre Körper wirkten wie nackt – jeder Muskel war zu sehen.

Die Musik hörte auf zu spielen.

Im Stall war es ganz leer und still. Nur ein paar Pferdeknechte waren, ohne sich stören zu lassen, damit beschäftigt, die Futterbüchsen zu untersuchen, und sie standen und hoben mißtrauisch die schweren Behälter empor.

Die Melodie begann von neuem: »Die vier Teufel« betraten die Manege.

Das Beifallsklatschen erschien ihnen wie ein undeutliches Brausen, und sie unterschieden keine Gesichter. Es war, als wenn alle Fibern ihrer Körper bereits vor Anstrengung zitterten.

Dann lösten Adolf und Fritz rasch die weiten Mäntel Luisens und Aimees, sie fielen auf den Sand hernieder, und die Schwestern standen unter dem Feuer von Hunderten von Gläsern gleichsam nackt in ihren schwarzen Trikots da – wie zwei Negerinnen mit weißen Gesichtern.

Sie schwangen sich alle ins Netz hinauf und begannen zu arbeiten. Nackt schienen sie zwischen den rasselnden Schaukeln hin und her zu fliegen, deren Messingstangen leuchteten. Sie umarmten einander, sie fingen einander auf, sie feuerten sich gegenseitig durch Zurufe an; es war, als wenn die weißen und schwarzen Körper sich liebesheiß umschlängen und dann sich wieder lösten, sich abermals umschlängen und sich wieder lösten in lockender Nacktheit.

Und der Liebeswalzer mit seinen schläfrig schmachtenden Rhythmen tönte weiter, und die Haare der Frauen umflatterten, wenn sie durch die Luft flogen, weit ausgebreitet die schwarze Blöße – wie ein Atlasmantel.

Sie hörten nicht auf. Nun arbeiteten sie übereinander, Adolf und Luise oben.

Der Beifall klang zu ihnen hinauf wie ein verwirrtes Gemurmel, während die Artisten in ihren Logen (wo auch die noch immer erregte Duenna, den rosengarnierten Kapotthut schief auf dem Kopfe, ganz voran stand und mit ihren bloßen schallenden Händen Beifall klatschte) die »Teufel« mit ihren Gläsern beobachteten und den »Kniff« bei ihren Anzügen herauszubekommen suchten, deren Gewagtheit in der Artistenwelt berühmt war:

»Oui, oui, ihre Hüften sind ganz nackt –«

»Der Kniff ist eben der, daß man die Lenden sieht«, riefen sie in der Artistenloge durcheinander.

Die dicke Vorreiterin in dem »Ritterspiel aus dem sechzehnten Jahrhundert«, Mlle. Rosa, legte ihr Glas schwer beiseite.

»Nein, sie haben gar kein Korsett an«, sagte sie, ganz schweißig in ihrem eigenen dicken Panzer. Sie fuhren fort zu arbeiten. Das elektrische Licht wechselte zwischen Blau und Gelb, während sie durch die Luft fuhren.

Fritz schrie auf; an den Beinen hängend, fing er Aimee in seinen Armen auf.

Dann ruhten sie sich aus, indem sie auf dem Trapez nebeneinander saßen.

Über sich hörten sie das Rufen Luisens und Adolfs. Aimee sprach mit keuchender Brust von Luisens Arbeit:

»Voyez donc, voyez!« rief sie.

Luise wurde von Adolfs Beinen aufgefangen.

Aber Fritz antwortete ihr nicht. Er starrte nur, während er mechanisch fortfuhr, seine Hände an der kleinen aufgehängten Decke abzutrocknen, nach der Logenreihe hinab, die sich, hell und unruhig, unter ihnen wie die hellfarbige Umsäumung eines bunten Beetes hinstreckte.

Und plötzlich verstummte auch Aimee und starrte in derselben Richtung hinab wie er, bis Fritz sagte, als risse er sich von etwas los:

»Wir sind an der Reihe«, und sie erwachte mit einem Ruck.

Wieder trockneten sie ihre Hände an der Decke ab und warfen sich herab, so daß sie an den Armen hingen, als wenn sie die Kraft ihrer Muskeln versuchen wollten. Dann setzten sie sich wieder hinauf. Die Seele wohnte in ihren Augen, mit denen sie die Entfernung zwischen den Trapezen maßen.

Plötzlich schrien sie beide:

»Du courage!«

Und Fritz flog rücklings dahin nach dem entferntesten Trapez, während Luise und Adolf oben einen langen, anhaltenden Schrei ausstießen, als wollten sie ein Tier ermuntern.

Amour, amour, oh, bel oiseau, chante, chante, chante toujours.

Ihre große Nummer begann. Sie stießen sich rücklings ab, unter heiserem Rufen, flogen aneinander vorbei und erreichten ihr Ziel. Sie wiederholten es und schrien abermals. Und hoch oben, von der Rotunde, fiel plötzlich, während Luise und Adolf wie zwei sich unaufhörlich drehende Räder auf ihren Schaukeln herumkreisten, ein Regen von deutlich glitzerndem Gold wie eine goldene Staubwolke herab, die leuchtend langsam niedersank – durch den blanken weißen Strom der elektrischen Lampen.

Einen Augenblick sah es aus, als wenn die Teufel durch einen strahlenden Goldschwarm flögen, während der Staub, der langsam herabsank, ihre Nacktheit mit Tausenden strahlender Goldflittern übersäte.

Amour, amour, oh, bel oiseau, chante, chante, chante toujours.

Plötzlich schossen sie, einer nach dem andern, kopfüber durch den glänzenden Regen in das ausgespannte Netz hinab – und die Musik verstummte.

Sie mußten wieder und wieder vorkommen.

Verwirrt stützten sie einander, als würden sie plötzlich schwindlig. Sie gingen hinaus und kamen wieder herein. Dann ließ der Beifall nach.

Stöhnend liefen sie in die Garderoben, und Adolf und Fritz warfen sich auf eine Matratze am Boden platt nieder und hüllten sich in eine Decke ein. Da lagen sie eine Weile, sie waren kaum bei Besinnung.

Dann standen sie auf und kleideten sich um.

Adolf blickte von seinem Spiegel nach Fritz hin, der sich im Stallmeisterfrack präsentierte.

»Willst du Dienst tun?« fragte er.

Und Fritz sagte verdrießlich:

»Der Direktor hat mich darum gebeten.«

Er ging zu den andern hinein, die beim Eingang die Stallmeisterwacht hatten und abwechselnd, todmüde gleich ihm, heimlich für einen Augenblick die schlaffen Körper an den Wänden ruhten.

Nach der Vorstellung versammelte sich die Truppe im Restaurant.

Die »Teufel« saßen, stumm wie die andern, an einem Tisch für sich. An einigen Tischen begann man Karten zu spielen – immer ohne zu reden. Man hörte nur den Laut des Geldes, das über den Tisch hingeschoben wurde.

Die beiden Kellner standen wartend vor dem Büfett und starrten stumpfsinnig all die stillen Leute an. Dumm, die Beine gerade vor sich hingestreckt und mit schlaffhängenden Armen, als wäre ihnen alles gleich, blieben die Artisten längs der Wand sitzen.

Die Kellner begannen das Gas herabzuschrauben.

Adolf schob das Geld neben eines der Seidel hin und stand auf.

»Kommt«, sagte er. »Wir wollen gehen!«

Und die andern drei folgten.

Die Straßen waren schon ganz still. Sie vernahmen keinen andern Laut als ihre eigenen Tritte, während sie je zwei und zwei, wie sie arbeiteten, dahinschritten. Sie erreichten ihre Wohnung und trennten sich im ersten Stockwerk auf dem dunklen Flur mit einem leisen »Gute Nacht!«

Aimee blieb auf dem Treppenabsatz im Dunkeln stehen, bis Fritz und Adolf zum zweiten Stock hinaufgekommen waren und die Türe sich hinter ihnen geschlossen hatte.

Die beiden Schwestern gingen hinein und zogen sich aus, ohne ein Wort zu reden. Als Luise aber im Bett lag, begann sie von der Arbeit der andern zu plaudern, von denen, die in den Logen gewesen waren, von den Stammgästen: Sie kannte alle Gesichter.

Aimee saß noch immer auf dem Rande ihres Bettes, halb angekleidet, ohne sich zu rühren. Luisens Geplauder wurde immer abgebrochener. Schließlich schlief sie ein.

Aber ein Weilchen später erwachte sie wieder und setzte sich im Bett aufrecht hin. Aimee saß noch auf demselben Platz.

»Gehst du denn nicht ins Bett?« fragte Luise.

Aimee löschte schnell das Licht aus.

»Ja, nun,« sagte sie und stand auf.

Aber auch im Bett schlief sie nicht. Sie dachte nur an das eine: daß ihre Augen und die Fritzens sich niemals mehr trafen, wenn er ihre Arme puderte.

Auch Fritz und Adolf waren in ihrem Zimmer zur Ruhe gegangen. Aber Fritz warf sich nur wie gefoltert im Bette umher:

Galt das ihm? Und was wollte sie von ihm, sie, dieses Weib in der Loge? Wollte sie etwas? Aber warum sah sie ihn immer so an? Warum streifte sie sonst so nah an ihm vorbei? Galt das ihm?

Er hatte keinen andern Gedanken als dieses Weib. Vom Morgen bis in die Nacht hinein keinen andern. Nur sie. Er lief mit der einen Frage, wie ein Tier in seinem Käfig, umher: ob sie wirklich wollte – dieses Weib in der Loge?

Und ständig, überall merkte er den Duft ihrer Kleider, wenn sie hinunterkam und an ihm vorbeiging.

Immer dicht an ihm vorbei, wenn er als Stallmeister dastand.

Aber galt das denn ihm? Und was wollte sie?

Er fuhr fort, sich schmerzvoll hin und her zu werfen, und er sagte einmal nach dem andern ins Dunkel hinaus, als wenn das Wort ihn faszinierte:

»Femme du monde!«

Einmal ums andere, ganz leise, wie in Verzauberung:

"Femme du monde –-- «

Und er begann mit all seinen Fragen wieder von neuem: ob das ihm galt, ob das ihm galt?

Aimee war wieder aufgestanden. Ganz leise schlich sie durch das Zimmer hin. Im Dunkeln tasteten ihre Finger nach dem Rosenkranz in der Schublade, und sie fand ihn. –

Im Hause war es ganz still.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Die »Teufel« hatten »gearbeitet«.

Adolf schimpfte in der Garderobe, weil Fritz, wie er sagte, ihren ganzen Kontrakt zuschanden machte durch seine ewigen Stallmeisterdienste, obschon die »Teufel« davon befreit waren.

Aber Fritz gab ihm gar keine Antwort.

Jeden Abend zog er seine Stallmeisteruniform an und stellte sich neben dem Logenaufgang auf und wartete, bis »die Dame aus der Loge« am Arm ihres Mannes die Treppe hinunterkam und an ihm vorbeiging – sie hielt sich jetzt oft im Stalle auf während der letzten Abteilung –, dann folgte er ihnen.

Sie sprach mit den Stallknechten, sie klopfte die Pferde, sie las laut die Namen, die an den Ständen angeschlagen waren. Fritz folgte ihr.

Zu ihm sagte sie nichts.

Aber sie tat alles für ihn – das wußte er –; und durch tausend kleine Bewegungen, durch ein Emporrichten ihres Rückens, dadurch, daß sie ihren Arm ausstreckte, durch einen Blitz ihres Auges stellten sie beide sich gleichsam im geheimen füreinander aus, und der eine belastete den andern, obwohl sie beständig einander fern blieben – immer dieselbe Entfernung, die sie voneinander trennte und trotz der sie doch verbunden waren, als wenn der gemeinsame Trieb sie in einer besonderen Doppelschlinge gefangen hätte, die sie beide festhielt. Sie wechselte ihren Platz, las die Aufschrift eines neuen Standes und einen neuen Namen.

Fritz folgte.

Sie lachte, sie ging weiter; und sie ging zurück, um die Hunde zu liebkosen.

Fritz folgte nur.

Sie führte, und er folgte.

Er schien sie nicht anzusehen. Aber seine Augen verweilten auf dem Saume ihres Kleides, auf ihrer ausgestreckten Hand mit dem Blick wilder Tiere, die gezähmt werden, einem lauernden haßerfüllten Blick, der doch gleichzeitig sich seiner Ohnmacht bewußt ist.

Eines Abends kam sie auf ihn zu. Ihr Mann hatte sich ein Stück entfernt. Er schlug die Augen auf, und sie sagte leise:

»Fürchten Sie mich?«

Er schwieg einen Augenblick.

»Ich weiß nicht«, sagte er dann, heiser und hart.

Und sie wußte nichts mehr zu sagen – verwirrt oder fast ängstlich (eine Angst, die sie plötzlich nüchtern machte) infolge des begehrenden Blickes, den sie auf ihren Füßen brennen fühlte.

Sie wandte sich um und ging mit einem kurzen Lachen, das ihr eigenes Ohr verletzte, fort.

Am nächsten Abend war Fritz nicht Stallmeister. Er hatte sich selbst gesagt, er wollte ihr aus dem Wege gehen, er hatte fest beschlossen, er wollte sie nicht mehr sehen. Er besaß alle jene überkommene Furcht, die den Artisten vor den Frauen als ihrem Verderben eigen zu sein pflegt. Er betrachtete sie als mystische Feinde, die auf der Lauer lägen und nur geboren wären, seiner Kraft nachzustellen. Und wenn er sich einmal hingab – plötzlich, von unwiderstehlichem Drange ergriffen –, geschah es mit einer Art verzweifelter Selbstaufgabe, mit einem rachsüchtigen Haß gegen das Weib, das ihn nahm und ihm ein Stück seines Körpers, einen Teil seiner Kraft raubte – das, was sein teures Werkzeug war, sein einziges Existenzmittel.

Aber vor dieser Dame in der Loge fürchtete er sich doppelt, denn sie war eine Fremde und keine von den Seinen. Was wollte sie von ihm? Selbst der Gedanke an sie peinigte sein Hirn, das nicht ans Denken gewöhnt war. Er wachte mit mißtrauischer Angst über jede Bewegung dieser Fremden aus einer andern Rasse, als wollte sie ihm etwas geheimnisvolles Böses antun, er wußte, er vermochte ihr nicht zu entfliehen.

Er wollte sie nicht mehr sehen – nein, er wollte sie nicht sehen.

Es wurde ihm leicht, das Gelübde zu halten; denn sie kam gar nicht mehr. Zwei Tage nicht, drei Tage nicht – Am vierten Abend stand Fritz wieder als Stallmeister da. Aber sie kam nicht. Auch diesen Abend nicht. Auch am nächsten kam sie nicht.

So lang der Tag auch war, mit Angst dachte er: »Wenn sie kommt«, und am Abend empfand er einen dumpfen Zorn, eine brutale, aber stumme Wut, weil sie nicht kam.

So hatte sie ihn also zum Narren gehalten. So hatte sie ihn also verspottet. So – ein Frauenzimmer! Aber er wollte sich rächen, er würde sie schon finden –

Und er sah, wie er sie mit Schlägen überhäufte, sie mit Füßen trat, sie mißhandelte, so daß sie sich krümmte und halbtot liegen blieb: sie – das Frauenzimmer.

Stundenlang lag er nachts in stummer Wut da. Und sein Begehren wuchs sich in diesen ersten schlaflosen Nächten so verzweifelt gierig fest, denn er hatte noch niemals schlaflos gelegen.

Dann endlich – am neunten Tage kam sie.

Vom Trapez aus erblickte er ihr Gesicht – als wenn er mit den Augen eines andern zu sehen vermochte – und mit einem plötzlichen Rucke, wie in knabenhaftem Jubel, schleuderte er seinen schönen und schlanken Körper, an den gestreckten Armen hängend, hinaus in die Luft.

Sein ganzes Gesicht strahlte in schimmerndem Lächeln, und er schwang sich wieder empor.

Amour, amour, oh, bel oiseau, chante, chante, chante toujours.

Leicht wiegte er das Haupt im Walzertakt; und er ergriff Aimees Hand, fest und froh, wie seit sieben Tagen nicht, und er sprach zu ihr:

»Enfin – du courage«, rief er laut.

Es klang wie ein Siegesschrei. Und als er dann in seiner Stallmeisteruniform in den Stall hinauskam und sie sah, stand er wieder stumm und feindlich und betrachtete sie gehässig mit demselben Blick, der ihr nicht recht in die Augen zu sehen wagte.

Aber nach der Vorstellung, im Restaurant, wurde er plötzlich wieder ausgelassen – fast wild. Er lachte und machte allerhand Kunststücke. Er spielte mit Tassen und mit Seideln und ließ seinen Zylinderhut balancieren – mit der Seite – auf der Spitze seines Stockes.

Die andern Artisten wurden von seiner lustigen Stimmung mitgerissen.

Der Clown Tom holte seine Harmonika und spielte, indem er mit seinen langen Beinen über die Stühle hinschritt.

Es entstand ein ungeheures Hallo. Alle machten Kunststücke. Mr. Fillis ließ eine mächtige Tüte auf seiner Nase balancieren, und zwei, drei Clowns kakelten, als wäre man mitten in einem Hühnerhof.

Aber Fritz schrie am lautesten, nachdem er auf einen Tisch gestiegen war; er spielte Ball mit zwei Glaskuppeln, die er von einem Gaskronleuchter abgeschraubt hatte, und schrie, über sein ganzes Gesicht strahlend, in den Spektakel hinein:

»Adolf, tiens! «

Adolf fing die Kuppel; er stand auf dem nächsten Tisch.

Die Artisten waren bald oben, bald unten, einige auf Tischen, andere auf Stühlen. Die Clowns kakelten, die Harmonika stieß Klagetöne aus.

»Fritz, tiens!«

Die Kuppeln flogen wieder hin und zurück – über die Köpfe der Clowns hinweg. Fritz fing sie und wandte sich plötzlich um:

»Aimee, tiens!«

Er warf sie gerade auf sie zu, und Aimee sprang auf. Aber sie kam nicht mehr zur Zeit, und die Kuppel fiel zu Boden und zerbrach.

Fritz lachte und betrachtete das zersplitterte Glas von seinem Tisch herab.

»Das bringt Glück«, sagte er und lachte; plötzlich stand er still und blickte in das Licht der Gaskrone hinauf. Aimee hatte sich abgewandt. Bleich setzte sie sich wieder an der Wand nieder.

Der Spektakel dauerte an. Die Uhr war nahezu zwölf. Die Kellner schraubten das Gas herab. Aber die Artisten hörten nicht auf, sie verdoppelten nur den Lärm in dem Halbdunkel. Ringsum aus allen Ecken hörte man ein ohrenzerreißendes Kakeln und Schreien, auf dem Tisch unter dem Kronleuchter ging Fritz auf den Händen.

Er war der letzte, der hinauskam – er war so aufgeregt, als wäre er betrunken.

In kleinen Häuflein schritten sie alle dahin. Nach und nach trennten sie sich, gruppenweise. Zum Abschied ertönten viele seltsame Laute in die Dunkelheit als letzte Grüße hinaus.

»Night«, rief Mr. Fillis, der durch die Nase sprach.

»Abend, Abend –«

Dann wurde es endlich still, und die vier Teufel schritten stumm, wie gewöhnlich, nebeneinander dahin.

Sie sprachen nicht mehr. Aber Fritz konnte sich noch nicht beruhigen. Er ließ wieder seinen guten Hut in der Luft auf der Spitze seines Stockes herumkreiseln.

Sie erreichten ihre Wohnung und sagten sich gute Nacht.

In ihrem Zimmer machte Fritz beide Fenster weit auf und begann laut zu pfeifen, weit hinaus in die Gasse.

»Du bist verrückt!« sagte Adolf. »Was Teufel fehlt dir eigentlich?«

Fritz lachte nur:

»Il fait si beau temps«, sagte er nur und fuhr fort zu pfeifen.

Unten hatte auch Aimee ein Fenster geöffnet. Luise, die im Begriff war, sich auszuziehen, rief ihr zu, sie sollte es zumachen, aber Aimee blieb stehen und starrte in die enge Gasse hinaus.

Bisher hatte sie nicht begriffen – warum seine Augen leer geblieben waren, wenn er sie ansah, warum seine Stimme gleichsam müde geworden war, wenn er mit ihr sprach, auch nicht, daß seine Ohren halb geschlossen waren, wenn sie redete –

Und es war, als wären sie nicht mehr dieselben, wenn sie einander noch so nahe saßen –

Und nun puderte er auch nicht mehr ihre Arme!

Das war seit gestern.

Er kam so eilig und ungeduldig hinein, wie es nun seine Gewohnheit war. Und sie streckte ihm ihre Arme entgegen, und er starrte sie nur gedankenlos an, ohne sich auf etwas zu besinnen:

»So pudre dich doch«, sagte er dann heftig und lief davon.

Und ohne zu begreifen, puderte sie langsam den linken Arm und dann den rechten –

Ach nein, ach nein – niemals hatte sie gewußt, daß man so leiden könnte.

Aimee lehnte den Kopf an den Fensterrahmen, und die Tränen begannen ihr über die Wangen herabzufließen.

Nun wußte sie alles. Nun verstand sie –

Plötzlich hob sie den Kopf wieder empor, sie hörte, daß Fritz auf einmal begonnen hatte, laut vor sich hinzusummen.

Das war der »Liebeswalzer.«

Lauter und lauter summte er –- nun sang er.

Wie froh er sang, wie glücklich! jeder Ton schmerzte sie, und doch blieb sie stehen: es war, als wenn dieser Gesang ihr alles, ihr ganzes Leben ihr ins Gedächtnis zurückrief.

Wie gut sie sich darauf besann – vom ersten Tage an –

Luise rief sie wieder, und mechanisch schloß sie das Fenster. Aber sie ging nicht zu Bett, still setzte sie sich nur in die dunkle Ecke.

Wie gut sie sich auf alles besann.

Drittes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Wie deutlich Aimee den Fritz und Adolf noch sah, als sie das erste Mal zu ihnen kamen – als sie bei »Vater« Cecchi »angenommen« werden sollten.

Es war am Morgen, und Aimee und Luise lagen noch im Bett.

Und die Jungen hatten in der Ecke gestanden, mit geneigten Köpfen – sie trugen Leinenhosen, mitten im Winter, und Fritz hatte einen Strohhut. Und sie wurden ausgezogen, und Vater Cecchi befühlte sie und drückte ihre Beine und beklopfte ihren Brustkasten, bis sie weinten, während die alte Frau, die sie hingebracht hatte, nur ganz still, zusammengeschrumpelt, mit mummelndem Munde dastand – nur die schwarzen Blumen auf ihrem Hut zitterten ein wenig.

Sie fragte nichts. Sie sah nur die Jungen an und folgte ihnen mit den Augen – wie sie nackt unter Cecchis Händen exerzieren mußten –

Auch Aimee und Luise sahen vom Bett aus zu.

Vater Cecchi fuhr fort zu befühlen und zu beklopfen; das Leben der Jungen saß gleichsam in ihren angstvollen Augen.

Dann wurden sie »angenommen«.

Die alte Frau sprach kein Wort. Sie rührte die Jungen nicht an und sagte ihnen nicht Lebewohl. Es war, als wenn sie die ganze Zeit, während ihre Hutblumen zitterten, nur etwas suchte – irgend etwas, das sie nicht fand. Und so ging sie auch zur Türe hinaus, langsam, unentschlossen, und machte sie hinter sich zu.

Fritz schrie einmal auf, ein langer Kinderschrei, als würde er gestochen. –

Aber dann gingen sie beide, er und Adolf, in ihre Ecke zurück und setzten sich, das Kinn auf ihre Knie niedergebeugt und die geballten Hände fest gegen den Boden gestemmt, alle beide stumm nieder.

Vater Cecchi jagte sie in die Küche hinaus, Kartoffeln zu schälen. Aimee und Luise wurden ihnen nachgeschickt. Alle vier saßen sie stumm um die Schüssel herum.

Luise fragte:

»Woher kommt ihr?«

Aber die Jungen antworteten nicht. Sie kniffen nur die Lippen zusammen und blickten zu Boden.

Es verging einige Zeit, bis Aimee flüsterte:

»War das eure Mutter?«

Aber sie antworteten noch immer nicht – sondern saßen nur mit schluchzender Brust, als wenn sie innerlich weinten. Und man hörte nur den Laut der Kartoffeln, die in das Wasser hineinplumpsten, nachdem sie geschält waren.

»Ist sie tot?« flüsterte dann Luise.

Aber die Jungen antworteten noch nicht, und die beiden Mädchen sahen nur still von dem einen zum andern, während Aimee plötzlich ganz leise zu weinen begann und dann auch Luise – alle beide saßen sie und weinten.

Am nächsten Tage begannen die Jungen zu »arbeiten«.

Sie lernten den »chinesischen Tanz« und den »Bauerntanz«. Nach Verlauf von drei Wochen traten sie alle vier auf.

Wenn sie tanzen sollten, standen sie paarweise in den Kulissen, Aimee mit Fritz, Luise mit Adolf, mit starren Augen, und benetzten ihre Lippen mit der Zunge vor Angst, indem sie auf die Orchestermusik lauschten.

»Zieh die Jacke herunter«, sagte Aimee, die selbst vor Fieber kaum ruhig stehen konnte, und zog Fritzens Jacke herab, die schief saß.

»Commencez!« rief Cecchi aus der ersten Kulisse. Der Vorhang war aufgegangen, sie sollten hinaus.

Sie sahen nicht die Lampenreihe, und sie sahen nicht die Leute.

Mit erschrecktem Lächeln machten sie ihre einexerzierten Schritte, indem sie den Takt zählten und die Lippen bewegten, die Augen hielten sie starr auf Cecchi gerichtet, der in der ersten Kulisse mit den Füßen den Takt trampelte.

»Nach links!« flüsterte Aimee Fritz zu, der es niemals zu behalten vermochte; sie schwitzte vor Angst für sie beide und mußte für sie beide Gedächtnis haben.

Sie glichen alle zusammen Wachsfiguren, die sich auf einem Leierkasten herumdrehen.

Das Publikum klatschte und rief sie vor. Apfelsinen fielen auf die Bühne herab. Sie hoben sie auf und lächelten zum Dank dafür, obgleich sie sie Cecchi abliefern mußten, der sie nachts zu seinem Kognak mit Wasser aß, wenn er mit dem Agenten Watson Karten spielte.

Vater Cecchi spielte nämlich die ganzen Nächte durch mit dem Agenten daheim in ihrem Logis.

Die Kinder erwachten, wenn sie sich zankten, und sahen mit aufgerissenen Augen von ihren Betten aus zu, bis sie todmüde wieder in Schlaf fielen.

So verging die Zeit.

Die Cecchi-Truppe kam zu einem Zirkus, und alle vier machten das ganze Handwerk durch.

Sie begannen ihre Proben um halb neun. Zähneklappernd kleideten sie sich um und begannen in dem halbdunklen Zirkus zu arbeiten. Luise und Aimee gingen auf der Leine, indem sie mit zwei Fahnen balancierten, während Vater Cecchi, der rittlings auf der Barriere saß, kommandierte.

Dann wurde das Pferd vorgeführt, und Fritz sollte den Jockeysprung ausführen.

Vater Cecchi kommandierte, mit einer langen Peitsche bewaffnet. Fritz sprang und sprang. Es gelang ihm nicht. Er fiel auf die Barriere herab. Er stützte sich auf das Pferd. Die Peitsche sauste herab und traf sein Bein, so daß er lange Striemen erhielt.

Vater Cecchi fuhr fort zu kommandieren. Mit dem Weinen kämpfend, sprang der Junge und sprang.

Er kam wieder nicht hinauf und fiel.

Die alten Wunden an seinem Körper brachen auf und bluteten, so daß das alte Trikot Blutflecke bekam.

Vater Cecchi rief nur immer wieder: Encore – encore!

Atemlos, schluchzend zwischen den tiefen Atemzügen, sprang Fritz mit schmerzverzogenem Gesicht.

Die Peitsche traf ihn, und verzweifelt sagte er:

»Ich kann nicht!« Aber er mußte von neuem hinauf.

Das Pferd bekam doppelte Schläge und flog schnell mit dem schluchzenden Knaben dahin, dessen Glieder vor Schmerz zitterten: »Ich kann nicht!« rief er qualvoll.

Die Artisten sahen stumm vom Parkett und den Logen aus zu.

»Encore!« rief Cecchi. Fritz sprang wieder ab.

Bleich, mit weißen Lippen, in der Ecke einer Loge verborgen, sah Aimee voll Angst und Erbitterung zu.

Aber Vater Cecchi hörte nicht auf. Eine Stunde dauerte es, fünf Viertelstunden. Fritzens Körper war nur eine einzige Wunde. Er fiel wieder und wieder, stampfte vor Schmerz mit den Füßen in den Sand und fiel abermals.

Nein, nun gelang es nicht mehr. Und er wurde mit einem Fluch fortgeschickt.

Aimee lief aus der Loge heraus; stöhnend vor Schmerz, verbarg sich Fritz wie ein Tier hinter einem Haufen Tonnenreifen. Atemlos, mit geballten Händen, stieß er in wilder Wut abgerissene Flüche aus, eine Menge Gassenworte, Schimpfworte des Stalles.

Aimee saß ganz still. Nur ihre weißen Lippen bebten.

Lange saßen sie so hinter dem Haufen Reifen verborgen. Fritzens Kopf sank hinten gegen die Wand, und er schlief in schmerzvoller Ermattung ein, während Aimee mit ihrem weißen Gesicht unbeweglich sitzen blieb, als wachte sie über seinen Schlaf.

Jahre vergingen. Sie waren bereits erwachsen.

Vater Cecchi war tot. Er wurde von dem Huf eines Pferdes totgeschlagen.

Aber sie blieben beisammen. Es ging mit ihnen auf und nieder. Sie waren bei großen Gesellschaften, und sie kamen auch zu ganz kleinen.

Wie deutlich Aimee noch das weißgekalkte und kahle Provinzpantheon sah, in dem sie in jenem Winter arbeiteten. Wie eiskalt es dort war. Sie trugen vor der Vorstellung drei Kohlenbecken hinein, und der ganze Zirkus füllte sich mit dem Rauch, so daß man kaum zu atmen vermochte.

Draußen im Stall standen die Artisten, blaugefroren, und hielten ihre nackten Arme über ein Kohlenbecken hin, und die Clowns sprangen in ihren Schirtingschuhen auf dem bloßen Boden herum, nur um die Füße warm zu erhalten.

Die Cecchitruppe arbeitete in allen Fächern. Sie tanzten, Fritz war Aimees Partner. Aimee war Parforcereiterin, Fritz schnallte als Stallmeister ihren Sattelgurt fester.

Die Truppe plagte sich; sie füllte fast das halbe Programm aus.

Aber es ging nicht. Jede Woche verschwand ein Pferd aus den Ständen, das verkauft wurde, um für die andern Futter zu schaffen. – Die Artisten, die Geld hatten, reisten fort, die zu bleiben gezwungen waren, hungerten – bis endlich alles zu Ende war und sie schließen mußten.

Pferde, Kostüme, alles wurde ihnen fortgenommen. Das Gericht war gekommen und hatte reinen Tisch gemacht.

Es war an dem Abend des Tages, da dies geschehen war.

Die wenigen Artisten, die noch übrig waren, saßen stumm und betrübt in dem dunklen Raum. Sie konnten nicht fort. Sie wußten auch nicht, wohin sie gehen sollten.

Im Stall auf einem Futterkasten saß der Direktor vor den leeren Ständen – und weinte, indem er fortwährend immer wieder dieselben Flüche in allen Sprachen murmelte.

Sonst war es ganz still, ganz tot.

Nur die Hunde – die hatte das Gericht vergessen – lagen traurig mit wachsamen Augen auf einem Haufen Stroh.

Die Cecchitruppe ging in das Restaurant hinein. Alles war verlassen. Der Wirt hatte sein Büfett geschlossen und die Gläser herabgenommen. Stühle und Tische standen staubig durcheinander.

Die vier saßen stumm in einer Ecke. Sie kamen von der Post. Das war ihr täglicher Gang. Sie holten Briefe von den Agenten – Absage auf Absage.

Fritz öffnete sie und las sie. Die andern drei saßen neben ihm und wagten nicht zu fragen.

Er öffnete Brief auf Brief und las langsam, gleichsam mißtrauisch – und legte jeden Brief beiseite.

Die andern sahen ihn nur an – stumm und verzagt.

Da sagte er:

»Nichts.«

Und sie saßen wieder vor den traurigen Briefen, die ihnen nichts gebracht hatten.

Dann sagte Fritz:

»So geht es nicht weiter. Wir müssen eine Spezialität suchen.«

Adolf zuckte die Achseln. »Es gibt auf allen Gebieten genug«, sagte er höhnisch. »Erfinde etwas Neues!«

»Luftarbeit macht sich bezahlt«, meinte er gedämpft.

Die anderen schwiegen, und Fritz sagte, wie vorher:

»Wir könnten in den Kuppeln arbeiten.«

Wieder trat Schweigen ein, bis Adolf fast zornig rief: »Du bist deiner Glieder wohl sicher?«

Fritz antwortete nicht. Es war eine Welle ganz dunkel und still.

»Wir könnten uns auch trennen«, sagte Adolf heiser und ganz leise.

Sie alle hatten denselben Gedanken gehabt, und alle fürchteten sich davor. Nun war er ausgesprochen, und Adolf fügte hinzu, indem er in die Dunkelheit und in den verlassenen Raum vor sich hinstarrte:

»Man kann doch nicht immer weiter an derselben Schüssel hungern!«

Er sprach in unterdrücktem, erregtem Ton, wie Leute, die sich um des Teufels Bart streiten; aber Fritz schwieg noch immer, ohne sich zu rühren, und starrte zu Boden.

Sie erhoben sich und gingen stumm hinaus. In allen Gängen war es kalt und dunkel.

Leise sagte Aimee, während sie dicht nebeneinander hinschritten, mit einer Stimme, die Fritz kaum zu vernehmen vermochte:

»Fritz, ich arbeite mit dir in der Luft!«

Fritz blieb stehen:

»Ich wußte es«, sagte er leise und ergriff ihre Hand. Luise und Adolf sagten nichts.

Sie beschlossen in der Stadt zu bleiben. Fritz versetzte ihre letzten Ringe. Adolf blieb nur, um an die Agenten zu schreiben. Aber Fritz und Aimee arbeiteten.

Sie hatten ihr Trapez im Pantheon aufgehängt und begannen, jeden Tag zu arbeiten. Sie übertrugen einige der Parterreübungen auf das Trapez und quälten, in Schweiß gebadet, stundenlang ihre Körper.

Viertelstunde um Viertelstunde ertönten Fritzens Kommandoworte. Dann ruhten sie sich nebeneinander auf demselben Trapez aus, mit müdem und mattem Lächeln.

Sie begannen sich an die Arbeit zu gewöhnen, und sie fingen mit den Hanloo-Voltaschen Übungen an. Sie versuchten die Sprünge zwischen den Schaukeln, kopfüber fielen sie in das aufgespannte Netz hinab.

Aber sie setzten die Übungen fort, indem sie sich durch Geschrei anspornten:

»En avant!«

»Ça va!«

»Encore!«

Fritz kam hinüber, Aimee fiel.

Sie setzten die Arbeit fort.

Die Seele lag in ihren Augen, wie Federn spannten sich ihre Muskeln; wie unterdrücktes Kampfgeschrei klangen ihre Stimmen: sie kamen hinüber.

Der eine folgte dem andern mit dem Blicke, wie gebannt, fieberhaft:

»En avant – du courage!«

Aimee war hinübergekommen: ihre Muskeln bebten, während sie an dem entferntesten Trapez hing. Sie versuchte noch einmal, und es glückte wieder. Eine Freude überkam sie. Es war, als wenn sie sich an der Kraft ihrer Körper berauschten. Sie flogen aneinander vorbei, und sie ruhten wieder, schweißtriefend, lächelnd – Hand in Hand.

Von Freude ergriffen, rühmten sie gegenseitig ihre Leiber, streichelten die Muskeln, die sie trugen, und blickten einander mit strahlenden Augen an:

»Ça va, ça va«, riefen sie und lachten.

Sie begannen, schwierigere Übungen vorzunehmen. Sie erdachten sich neue Kombinationen. Sie versuchten, und sie berechneten. Sie vertieften sich in die Übungen mit dem Eifer des Erfinders, verhandelten darüber und sannen auf Abwechslung. Fritz schlief fast nicht mehr: der Gedanke an die Arbeit hielt ihn während der Nächte wach.

Morgens, bevor die Sonne aufging, klopfte er an Aimees Türe und weckte sie.

Und draußen entwickelte er bereits, noch während sie sich anzog, seine Pläne, erklärte ihr, mit lauter Stimme rufend, und sie antwortete, eifrig wie er, so daß sie das Haus mit ihren frohen Stimmen erfüllten.

Luise rieb sich die Augen und setzte sich im Bett aufrecht hin.

Sie hatte begonnen, die Übungen zu besuchen. Sie wurde von dem Fortgang der Arbeit mitgerissen; sie rief ihnen zu, und sie applaudierte. Sie antworteten von oben; der Raum hallte wider, immer erfüllt von ihren frohen Stimmen.

Nur Adolf saß stumm in einer Ecke beim Stall.

Eines Tages war auch er hineingekommen und hatte sich dort hingesetzt und sah zu. Niemand sprach zu ihm.

Die Übung war vorüber; ihre Kräfte waren zu Ende: schwer fielen sie in das ausgespannte Netz herab.

Fritz sprang auf den Boden hinunter und hob vorsichtig Aimee aus dem Netz heraus: Froh hielt er sie einen Augenblick in den emporgestreckten Armen fest – wie ein Kind.

Sie zogen sich um; und sie gingen in eine kleine Kneipe hinüber, um zu essen.

Sie begannen, von der Zukunft zu reden, davon, wo sie Engagement suchen könnten, von der Gage, die sie zu erlangen vermochten, von dem Namen, den sie annehmen wollten – von dem Erfolg, der ihrer wartete.

Die beiden sonst so Stummen wurden beredt, sie lachten, sie bauten ihre Zukunft auf. Fritz ersann neue Übungen – immer neue:

»Wenn wir es wagten«, sagte Fritz, ganz heiß vor Eifer –, »wenn wir es wagten.«

Und Aimee antwortete, die Augen auf ihn gerichtet:

»Warum nicht? Wenn du willst!«

Etwas in ihrem Ton rührte Fritz:

»Du bist tapfer«, sagte er plötzlich und sah sie an: Ihre Augen leuchteten ihm entgegen.

Und beide saßen, die Köpfe gegen die Wand gelehnt, starrten lange Zeit vor sich in die Luft hinaus und träumten.

Eines Tages versuchten sie zum ersten Mal den letzten Sprung, den, von dem sie sich einig waren, daß er die große Spezialität bilden würde: er glückte – rücklings erreichten sie die Trapeze.

Von unten ließ sich ein Ruf vernehmen. Es war Adolf. Mit emporgewandtem Gesicht, mit strahlenden Augen schrie er Bravo – Bravo, so daß es in dem leeren Raum widerhallte: »Bravo, bravo!« schrie er wieder, von Bewunderung ergriffen.

Und sie begannen, miteinander zu reden, alle vier, auch Luise, von oben und unten, erklärend und fragend.

An diesem Tage aßen sie zusammen, und auch am nächsten. Sie sprachen alle von den Übungen, es war, als wenn sie alle mit dabei wären. Fritz sagte:

»Ja, Kinder – wenn wir zu vieren arbeiteten. Ihr, Adolf, oben – nur mit festen Barren und Mühlen, und wir, wir beide, Aimee, unter euch – mit dem Todessprung – ja, wenn wir das täten –«

Er fing an, ihnen seinen neuen Plan zu erklären, indem er alle Evolutionen ausmalte; aber Adolf blieb stumm, und Luise wagte nicht zu antworten.

Aber am nächsten Tage sagte Adolf – er stand gesenkten Blickes vor ihm und setzte die Füße vor und zurück:

»Probt ihr heute nachmittag?«

Nein, nachmittags probten sie nicht.

»Denn« – sagte Adolf – »man verliert seine Zeit, und die Glieder werden einem steif –«

Am Nachmittag begannen Adolf und Luise zu proben. Die beiden andern kamen und sahen zu. Sie ermunterten sie und belehrten sie.

Fritz saß heiter da und spielte mit Aimees Hand.

»Ça va, ça va!« riefen sie beide von unten.

Oben flogen Luise und Adolf dreist zwischen den Schaukeln auf und ab:

»Ça va, ça va!«

Sie wußten, nun blieben sie beisammen.

Die Proben waren zu Ende. Die »Nummer« war fertig.

Sie arbeiteten, wie Fritz es gewollt hatte. Sie nannten sich »Die vier Teufel« und ließen sich in Berlin Kostüme zeichnen und anfertigen.

Sie debütierten in Breslau. Dann zogen sie von Stadt zu Stadt. Der Erfolg blieb überall derselbe.

Aimee hatte sich ausgezogen und war zu Bett gegangen.

Schlaflos lag sie da und starrte in die Finsternis hinauf. Ja – wie deutlich sie das alles sah vom ersten Tage an.

Das ganze Leben hatten sie zusammen verbracht – das ganze Leben, Seite an Seite.

Und nun war sie gekommen, sie, diese Fremde – und bei dem Gedanken biß das Akrobatenmädchen in ohnmächtiger, verzweifelter, rein physischer Wut die Zähne zusammen –, um ihn zu verderben.

Was wollte sie von ihm, sie mit ihren Katzenaugen? Was wollte sie von ihm, mit ihrem Dirnenlächeln? Was wollte sie von ihm, und warum bot sie sich ihm wie eine Metze an? Ihn vernichten, ihn ihr rauben, seine Kraft zerstören – ihn zugrunde richten?

Aimee biß in ihr Bettuch, ballte ihre Kissen zusammen und fand keine Ruhe für ihre fieberheißen Hände.

Ihre Gedanken wußten nicht genug ohnmächtige Scheltworte, zornige Vorwürfe und rohe Beschuldigungen – bis sie wieder weinte; und wieder fühlte sie all den lähmenden Schmerz, der sie Tag und Nacht, Tag und Nacht verfolgte.

Viertes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Fritz lag mit geschlossenen Augen, sein Kopf ruhte in dem Schoß der Geliebten.

Langsam und langsamer glitt die Spitze ihrer Nägel über sein blondes Haar.

Fritz blieb mit geschlossenen Augen liegen, sein Kopf ruhte leicht in ihrem Schoß: also wirklich – er, Fritz Schmidt aus der Frankfurter Gasse, er, der vaterlose Junge, dessen Mutter eines Tages, als sie betrunken war, in den Fluß sprang und dessen Großmutter ihn verkauft hatte – ihn und den Bruder – für zwanzig Mark. –

Also wirklich, er, Fritz Schmidt, genannt Cecchi von den »vier Teufeln«, war ihr Liebhaber geworden, der Liebhaber der »Dame aus der Loge«. Das war sein Nacken, der auf ihren Knien lag. Das war sein Arm, der ihren Leib umfassen durfte. Das war sein Hals, auf dem nun ihre Lippen ruhten.

Er, Fritz Cecchi von den »vier Teufeln«!

Und er öffnete halb die Augen, und er sah mit derselben nicht begreifenden, berauschten Verwunderung ihre feine Hand, die so weich war, die keine Arbeit verunstaltet hatte, ihre hellroten gewölbten Nägel, ihre mattweiße Haut, die er so gern weich und lange küßte. –

Ja – die Hand glitt über seine Stirn hin.

Er war es, der im Atmen den Duft ihres Körpers empfand, der ihm nahe war, ihrer Kleider, deren Stoffe Wolken ähnelten – o wie seine Hände so gern über sie hinstrichen. –

Auf ihn wartete sie nachts an dem hohen Gitter, und sie fror während des Wartens, wie vor Kälte. Ihn führte sie durch den kleinen Garten des Palais und hängte sich in jedem Gebüsch an ihn. –

Seine Lippen nannten sie ihre »Blume«, seine Arme nannte sie ihr »Verderben«.

Ja – solch sonderbare Worte sprach sie, sie sagte: seine Lippen seien eine Blume, seine Arme ein Verderben.

Fritz Cecchi lächelte, und er schloß wieder seine Augen. –

Sie sah sein Lächeln, und sie bog den Kopf über ihn herab und führte ihre Lippen weich über sein Gesicht hin.

Fritz fuhr fort zu lächeln – gebannt von derselben Verwunderung:

»Aber das ist sonderbar«, sagte er leise und fuhr immer in demselben Tone fort: »Aber das ist sonderbar«, und er drehte seinen Kopf ein wenig hin und her.

»Was denn?« fragte sie.

»Dies!« erwiderte er nur und lag wieder still unter ihren Küssen, als fürchtete er, aus einem Traum zu erwachen.

Er lächelte noch immer: In Gedanken wiederholte er ständig ihren Namen, immer wieder über ihren Namen erstaunt – einen von den großen Namen, die von europäischem Klang sind und der selbst bis zu ihm, wie eine Sage, herabgelangt war.

Und langsam schlug er wieder die Augen auf und sah sie an und faßte mit beiden Händen nach ihren Ohren und lachte wie ein Junge, während er sie kniff – fester und fester: auch das durfte er – auch das.

Er richtete sich halb empor und schob seinen Kopf zu ihrer Schulter hinauf. Immer mit demselben Lächeln sah er sich in der Stube um:

All das war ihm untertänig, alles, was ihr gehörte: diese tausend zerbrechlichen Nippesgegenstände, die die seltsamen dünnbeinigen Möbel bedeckten: Beinahe wagte er auch sie nicht zu berühren, er, der Jongleur, faßte sie so behutsam an, als würden sie zwischen seinen Fingern zerbrechen; bald konnte er voll Übermut – denn er war hier Herr, er, Fritz Schmidt – mit einem Luxustisch Ball spielen oder eine ganze Etagere balancieren, während sie lachte, immerfort lachte.

Die Gemälde waren ihm fremd, Bilder von Ahnen in der Tracht der »Restaurationszeit« mit Galadegen und behandschuhten Händen.

Es gab Augenblicke, da er plötzlich den Bildern laut, ausgelassen ins Gesicht lachte, wie ein Straßenjunge – unaufhörlich lachte, daß er, Fritz Schmidt, hier bei ihr saß, dem Sprößling dieser Ahnen, und daß sie nun die Seine war.

Und er fuhr fort zu lachen und zu lachen – ohne daß sie begriff, warum. Und zuletzt sagte sie:

»Aber warum lachst du denn?«

»Ja, ja«, erwiderte er und hörte plötzlich auf zu lachen: »denn dies ist sonderbar, dies ist so sonderbar –«

Er empfand ein eigentümliches, halb glückliches, halb scheues Erstaunen – daß er hier war.

Daß er hier Herr war!

Denn er fühlte sich als Herr: sie war ja sein. Er besaß sie. In seinem unzivilisierten Hirn ruhten noch alle Gedanken von dem unbegrenzten Besitz des Mannes – dem Besitz der »Frauenzimmer« –, er, der Handelnde, der selbst im verzehrenden Genuß noch der Überlegene war und sie unter sich zerdrücken konnte.

Aber all diese männlichen Urvorstellungen bei Fritz – dem es eine Wollust bereitete, sie zu bändigen und zu zähmen und zügellos zu gebrauchen – schwanden wieder macht- und hilflos vor seiner stummen, erneuten Verwunderung über sie: ihr unbedeutendstes Wort war von anderem Klang und hatte anderen Tonfall; ihre geringste Bewegung war von anderer Art; ihr Körper, jeder Teil desselben, war von anderer, fremder Schönheit, unentwickelt und zart. –

Und er wurde gefügig und furchtsam, und er schlug plötzlich die geschlossenen Augen auf, um zu sehen, es war kein Traum, und langsam liebkoste er ihre feinen, schlanken Finger: ja, es war die Wahrheit!

Ihre Hände glitten immer zögernder und zögernder durch sein Haar, und sein Atem wurde schneller, während er dalag, als wenn er schliefe.

Plötzlich schlug er die Augen auf:

»Aber was wollen Sie denn von mir?« sagte er.

»Du dummer Mann«, flüsterte sie und hielt ihren Mund dicht über seiner Wange: »Du dummer Mann!«

Sie fuhr fort, nahe seinem Ohr zu flüstern – der Ton ihrer Stimme erregte ihn noch mehr als ihre Liebkosungen –:

»Du dummer Mann, du dummer Mann –«

Und als wenn sie den schönen und apathischen Körper in einen Rausch einlullen wollte, flüsterte sie:

»Du dummer Mann, du dummer Mann!«

Aber er erhob sich nur und sagte mit seinem ständigen Lächeln, während er neben ihr saß, ihren Kopf an seine Brust drückte und sie unsäglich zärtlich ansah:

»Könntest du hier schlafen?« und er wiegte sie in seinem Arm wie ein Kind, bis sie beide lachten, Aug in Auge.

»Du dummer Mann!«

Da flammten seine Augen auf, und er ergriff sie; schnell, ohne ein Wort, trug er sie vor sich her in erhobenen Armen, durch das Zimmer hin – dort hinein.

Nur die hellblaue Ampel sah still zu, wie ein schläfriges Auge.

Der Tag graute, als sie schieden. Aber in allen Ecken auf den Stufen der Treppe, im Garten mitten vor dem stillen Hause – das so vornehm und ehrbar mit verhüllten Scheiben dalag – verlängerten sie noch die geistlosen Stunden ihres Stelldicheins, während sie noch immer dieselben drei Worte flüsterte, die gleichsam der Refrain ihrer Liebesworte wurden – einer Liebe, deren einzige Seele der Instinkt war –:

»Du dummer Mann!«

Dann riß Fritz sich los, und die Gittertüre fiel hinter ihm zu. –

Aber sie blieb stehen, und noch einmal kehrte er zurück. Er nahm sie noch einmal in seine Arme, und plötzlich lachte er – während er vor dem großen Palais neben ihr stand.

Und als wenn ihre Gedanken sich begegneten, lachte auch sie – zum Hause ihrer Väter empor.