Lydia und Berenike - Eva Ebel - E-Book

Lydia und Berenike E-Book

Eva Ebel

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Beschreibung

In Philippi trifft Paulus die gottesfürchtige Purpurhändlerin Lydia. Die jüdische Königin Berenike wird Zeugin einer großen Rede des Apostels während seiner Gefangenschaft in Caesarea maritima. So unterschiedlich die Lebensgeschichte und die gesellschaftliche Stellung beider Frauen sind, so gegensätzlich ist ihre Reaktion auf die neue Lehre: Lydia lässt sich taufen, Berenike bleibt von den Worten des christlichen Missionars unbeeindruckt. Der Blick auf den lukanischen Bericht und außerbiblische literarische und epigraphische Quellen erhellt die unterschiedliche Lebenswelt beider Frauen und macht ihre unterschiedliche Haltung zur Botschaft des Evangeliums deutlich.

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Biblische Gestalten

Herausgegeben von

Christfried Böttrich und Rüdiger Lux

Band 20

Eva Ebel

Lydia und Berenike

Zwei selbständige Frauen bei Lukas

Eva Ebel, Prof. Dr. theol., Jahrgang 1971, ist Dozentin für die Didaktik des Faches »Religion und Kultur« am Institut Unterstrass an der Pädagogischen Hoch schule Zürich.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

3., korr. Auflage 2018

© 2009 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: behnelux gestaltung, Halle/Saale

Satz: Steffi Glauche, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-374-05765-8

www.eva-leipzig.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

A. Einleitung

B. Darstellung

I. Lydia – »eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyateira«

1. Der Name: Lydia

2. Der Beruf: Purpurhändlerin

3. Der Wohnort: Philippi

3.1 Die Geschichte Philippis

3.1.1 »Eine Stadt des ersten Bezirks von Makedonien« (Apg 16,12)

3.1.2 »Eine Kolonie« (Apg 16,12)

3.2 Die Bewohnerinnen und Bewohner Philippis

4. Lydias Glaube: Von der Gottesfürchtigen zur Christin

4.1 Gottesfürchtige als Adressatinnen und Adressaten der christlichen Mission

4.2 Gottesfürchtige Frauen an der Gebetsstätte außerhalb des Stadttores am Fluss

4.2.1 Die proseuche außerhalb des Stadttores am Fluss

4.2.2. Die alleinige Anwesenheit von Frauen

4.3 Lydias Bekehrung

4.3.1 Die Taufe des »Hauses«

4.3.2 »Und sie nötigte uns« (Apg 16,15)

4.3.3 Das Wachstum der Gemeinde

5. Die weitere Entwicklung: Die Rolle der Lydia und anderer Frauen in der christlichen Gemeinde in Philippi

5.1 Das Zeugnis des Philipperbriefes

5.2 Das Zeugnis des Polykarp

5.3 Die Konkurrenz durch pagane Kulte

II. Berenike – »eine Kleopatra im Kleinen«

1. Die Quellen

2. Die Begegnung des Paulus mit Berenike im Rahmen der Apostelgeschichte

3. Berenikes Abstammung: Die herodianische Dynastie

3.1 Herodes der Große

3.2 Herodes Antipas und Herodias

3.3 Agrippa I.

3.4 Drusilla

3.5 Agrippa II.

4. Berenikes Biographie

4.1 Berenikes Kindheit

4.2 Berenikes Ehen

4.2.1 Die Ehe mit Marcus Iulius Alexander

4.2.2 Die Ehe mit Herodes von Chalkis

4.2.3 Berenike, Agrippa II. und die Ehe mit Polemo von Kilikien

4.3 Berenike und der Jüdisch-römische Krieg

4.4 Berenike und Titus

4.4.1 Die Anfänge in Judäa

4.4.2 Das Zusammenleben in Rom

4.4.3 Das Ende

5. Berenike im Spiegel der jüdischen und christlichen Literatur des 1. Jahrhunderts

5.1 Berenike bei Josephus

5.2 Berenike bei Lukas

5.2.1 Die Darstellung Berenikes in Apg 25,13–26,32

5.2.2 Die Historizität der Szene

III. Lydia und Berenike als Repräsentantinnen – die Attraktivität des Christentums für Frauen im 1. Jahrhundert

C. Wirkungsgeschichte

I. Lydia

II. Berenike

D. Verzeichnisse

1. Literaturverzeichnis

2. Abbildungsverzeichnis

VORWORT

In dem vorliegenden Band der Biblischen Gestalten sind erstmals zwei Frauen miteinander vereint. Nachdem mit Timotheus und Titus zunächst zwei Männer, die mit und für Paulus unterwegs waren, in einem gemeinsamen Band vorgestellt worden sind1, rücken in diesem Band zwei Frauen in den Blickpunkt, die laut der Apostelgeschichte Paulus auf Reisen und in Gefangenschaft begegnet sind. Auf diese Weise ist es möglich, zwei Frauen mit einem spannenden Lebensweg zu porträtieren, die im Neuen Testament lediglich am Rande in wenigen Versen erscheinen. Lydia und Berenike zeichnen sich durch einen Lebensentwurf aus, der von Selbständigkeit und Selbstbewusstsein geprägt ist. Was Familie, Beruf und Religion angeht, treffen sie dabei für ihr Leben ganz unterschiedliche Entscheidungen. Beiden Frauen gemeinsam ist, dass sie uns ausschließlich aus von Männern verfassten Quellen bekannt sind. Anliegen dieses Bandes ist es daher, zum einen die Lebenswelt von Lydia und Berenike zu erhellen und ihre richtungweisenden Entscheidungen verständlich zu machen. Zum anderen soll ein Augenmerk darauf gerichtet werden, wie diese Frauen von männlichen paganen, jüdischen und christlichen Geschichtsschreibern dargestellt werden.

Für sorgfältige Korrekturen, weiterführende Gespräche und immer wieder neue Ermutigung danke ich sehr meiner Kollegin Dr. Uta Poplutz, meinem ehemaligen Bürogenossen Andreas Mauz und Pfarrer Michael Carsten Schaar. Für einen erfrischenden Blickwinkel auf Lydia, Berenike & Co haben im Herbstsemester 2007 die Zürcher Studierenden meiner Übung zu Frauen im lukanischen Doppelwerk gesorgt, dafür sei ihnen herzlich gedankt.

Die Idee zu diesem Band der Biblischen Gestalten wurde im Dialog mit Professor Dr. Peter Pilhofer (Erlangen) und Professor Dr. Christfried Böttrich (Greifswald) bereits im Jahr 2003 entwickelt. Die tatsächliche Umsetzung zog sich bedingt durch mehrere berufliche Veränderungen und damit verbundene Umzüge weitaus länger hin als ursprünglich geplant. Die Wechsel zwischen Universität und Schule, zwischen Erlangen, Hildesheim, Hannover und Zürich brachten stets neue Perspektiven in die Beschäftigung mit Lydia und Berenike ein. Den Herausgebern der Biblischen Gestalten danke ich für ihre Geduld. Vor allem aber sei dieser Band Michael Carsten Schaar gewidmet, der diesen Weg gemeinsam mit mir gegangen ist.

Buch am Irchel / Zürich im Januar 2008Eva Ebel

A. EINLEITUNG

Den Manen ist (das Grabmal) geweiht.

Postumia Matronilla, eine unvergleichliche

Ehefrau, gute Mutter, liebste

Großmutter, keusch, fromm, arbeitsam,

fruchtbar, energisch, wachsam, besorgt,

Ehefrau eines einzigen Mannes, die mit einem einzigen Mann das

Lager geteilt hat,

eine Matrone von ganzer Tatkraft und Treue,

lebte 53 Jahre, 5 Monate, 3 Tage.2

So sollte sie sein, die Frau in der Antike. Lebte sie aber wirklich entsprechend diesem Ideal von dezenter Sittsamkeit, mütterlicher Fürsorge und ehelicher Treue, das eine Inschrift an einem Mausoleum aus der römischen Provinz Africa proconsularis im Gebiet des heutigen Tunesien propagiert?

Wer Genaues über das Leben von Frauen in der Antike erfahren will, stößt auf ein Ungleichgewicht in den schriftlichen Hinterlassenschaften der Antike: Die literarischen und inschriftlichen Quellen berichten nahezu ausschließlich über Männer und deren Leben. Männer wie Alexander der Große und Caesar, Platon und Cicero stehen im Licht der Öffentlichkeit, gelten als Lenker der Geschichte und große Denker. Dementsprechend werden ihre Aktivitäten, ihre Gedanken und ihr Charakter von ihnen selbst und von anderen ausführlich dargestellt und der Nachwelt überliefert. Aber auch die Lebenswelt weniger prominenter antiker Männer lässt sich erschließen: Das Leben der Soldaten wird von den Geschichtsschreibern geschildert, Lehrbücher dokumentieren die Tätigkeit von Rednern, Juristen und Architekten.

Ganz anders ist die Quellenlage bei antiken Frauen: Nur wenige erscheinen selbständig agierend auf politischer Ebene, zu nennen sind dabei an vorderster Stelle Kleopatra, die Königin Ägyptens, und Zenobia, die Herrscherin von Palmyra. Hinter den Kulissen wirken die Mütter und Ehefrauen römischer Kaiser. Es liegen jedoch keine Selbstzeugnisse dieser herausragenden Frauen vor. Heutige Menschen erfahren von ihnen nur aus Schriften von Männern, die dabei allzu oft auf Klischees zurückgreifen, um entweder eine Frau als Inbegriff der traditionellen Tugenden zu stilisieren oder aber sie als deren Gegenteil zu diffamieren. Als Beispiel für das letztgenannte Vorgehen sei die Charakterisierung der Sempronia im Werk des römischen Historikers Sallust über die Verschwörung des Catilina im Jahr 63 v. Chr. zitiert, die sich wie eine Umkehrung der oben angeführten Grabinschrift liest:

»Übrigens befand sich unter ihnen (sc. den Anhängern Catilinas) auch Sempronia, die schon viele Untaten geliefert hatte, welche oft männlichen Wagemut verlangten. Diese Dame war durch ihre Abkunft und Schönheit, ferner durch ihren Mann und ihre Kinder in einer recht glücklichen Lage; sie war wohlunterrichtet in griechischer und lateinischer Literatur, konnte kunstgerechter musizieren und tanzen, als es für eine anständige Frau nötig ist, und kannte vieles andere, was zu den Mitteln des Wohllebens gehört. Doch war ihr immer schon alles andere lieber als Ehrbarkeit und Keuschheit. Ob sie mit ihrem Geld oder ihrem guten Ruf weniger schonend umging, hätte man nicht leicht entscheiden können; ihre Sinnlichkeit war so entfacht, dass sie häufiger Männer begehrte, als sie selbst begehrt wurde. Oft schon hatte sie vordem ihr Wort gebrochen, ein Darlehen mit einem Meineid abgeleugnet, um eine Mordtat gewusst: infolge ihrer Genusssucht und der Knappheit ihrer Mittel war es mit ihr abwärts gegangen. Dabei war sie kein ungeschickter Kopf: sie verstand es Verse zu machen, Scherze zu treiben, ein Gespräch sittsam oder schnippisch oder auch anzüglich zu führen; kurz, sie besaß viel Charme und Witz.« 3

Schenkt man der Grabinschrift der Postumia und der Beschreibung der Sempronia Wort für Wort Glauben, sind ein Ehemann und Kinder nahezu die einzigen Gemeinsamkeiten der beiden Frauen. Insbesondere die Postumia zugeschriebene Zurückhaltung im Auftreten und im Sexualleben wird Sempronia gänzlich abgesprochen. Indem Sallust dieser Frau pointiert »männlichen Wagemut« (virilis audacia) attestiert, stellt er sogar ihre Weiblichkeit infrage. Sempronia ist zwar mutig, intelligent, charmant und humorvoll, aber diese Eigenschaften nutzt sie auf eine aktive und fordernde Weise, wie es zwar bei Männern, nicht aber bei Frauen erwünscht ist, und für Ziele, die mehr als fragwürdig sind – so jedenfalls will Sallust Sempronia und ihr Verhalten gedeutet wissen.

Ein eigenes literarisches Schaffen von Frauen, das diese klischeehaften »guten« und »bösen« Frauenbilder korrigieren könnte, hat sich nur selten erhalten: Vom Werk der griechischen Dichterin Sappho sind nur wenige Fragmente überliefert, im Bereich der lateinischen Literatur kann einzig auf die Verse der Sulpicia verwiesen werden. Einblicke in das Leben von Frauen aus unteren gesellschaftlichen Schichten sind fast nur über Inschriften, und zwar vor allem Grabinschriften, zu erhaschen, aber auch diese greifen wie das oben angeführte Beispiel auf feste Formulierungen zurück und zeichnen selten ein individuelles Porträt.

Das im 1. Jahrhundert n. Chr. neu entstehende Christentum ist eine Religion, die sowohl Männern als auch Frauen sämtlicher gesellschaftlichen Schichten zugänglich ist. Alles andere als abwegig ist daher die Vermutung, dass Frauen ebenso wie Männer zunächst im Kreis um Jesus und später bei der Entstehung der christlichen Gemeinden eine tragende Rolle innehaben. Angesichts des skizzierten Bildes der Frauen in der paganen antiken Literatur stellt sich jedoch unweigerlich die Frage, ob sich die Heterogenität der christlichen Gemeinden und die Wichtigkeit der Frauen für die Verbreitung der neuen Botschaft in der christlichen Literatur widerspiegeln oder die christlichen Schriftsteller ähnlich wie die paganen Historiographen Frauen nahezu unsichtbar machen und sich beinahe ausschließlich männlichen Führungspersonen zuwenden. Um die Bedeutung und Leistung der ersten Anhängerinnen Jesu in angemessener Weise zu würdigen, eventuelle Unterdrückungen und Abwertungen aufzudecken und zugleich für heutige Christinnen weibliche Identifikationsfiguren anzubieten, ist es unerlässlich, mögliche androzentrische Geschichtsbilder zu dekonstruieren und die verborgene Geschichte der ersten Christinnen aufzudecken. Insbesondere die für das christliche Selbstverständnis grundlegenden neutestamentlichen Schriften sind deshalb kritisch hinsichtlich ihrer Perspektive auf Frauen zu prüfen: Zeichnen die Evangelien ein individuelles Porträt einzelner Frauen um Jesus oder bleiben sie profillose Randfiguren? Wird auch die Lebens- und Arbeitswelt von Frauen gespiegelt oder bleiben die Texte in typisch männlichen Lebens- und Arbeitsbereichen? Lassen die Apostelgeschichte und die neutestamentlichen Briefe den Anteil von Frauen an der Ausbreitung des Evangeliums und an der Gründung christlicher Gemeinden erkennen oder wird ausschließlich der Beitrag männlicher Missionare gewürdigt? Wird erkennbar, warum speziell Frauen sich für oder gegen die Botschaft des Evangeliums entscheiden oder werden ausschließlich männlich orientierte Glaubens- und Lebenshaltungen dokumentiert?

Aus zweierlei Gründen liegt es nahe, auf dieser Spurensuche innerhalb des Neuen Testaments das lukanische Doppelwerk in den Blick zu nehmen: Erstens findet sich im Lukasevangelium eine größere Zahl an Erzählungen über Frauen, die Jesus begegnen, und an Worten Jesu, in denen Frauen und ihre Lebenswelt erwähnt werden, als in den drei anderen kanonischen Evangelien. Zweitens verfasst Lukas als einziger der Evangelisten mit der Apostelgeschichte eine Fortsetzung seines Berichts über das Leben und Wirken Jesu, so dass er sowohl über Frauen um Jesus als auch über Frauen in den ersten christlichen Gemeinden schreibt.

Besondere Beachtung innerhalb des Evangeliums verdient das lukanische Sondergut, also die Abschnitte, die bei Markus, Matthäus und Johannes fehlen und ausschließlich von Lukas überliefert werden. Hier treten vielfach Frauen auf: Während Markus seine Darstellung erst mit der Taufe Jesu beginnt und bei Matthäus Josef die zentrale Figur der Kindheitsgeschichten ist (Mt 1,18–25; 2,23–15.19–23), stehen in den Geburtsgeschichten Johannes des Täufers und Jesu die Mütter Elisabeth und Maria im Mittelpunkt (Lk 1f.). Markus und Matthäus benennen erst im Rahmen der Kreuzigung Frauen im Gefolge Jesu namentlich und tragen dann gleichsam nach, dass diese auch schon in Galiläa mit Jesus unterwegs gewesen sind (Mk 15,40f.; Mt 27,55f.), Lukas hingegen bietet schon zuvor innerhalb des Galiläa-Abschnittes eine dementsprechende Notiz (Lk 8,2f.). Ausschließlich Lukas berichtet von der Einkehr Jesu bei Maria und Martha (Lk 10,38–42). Bei zwei allein im Lukasevangelium tradierten Wundern geht es gezielt um die Verbesserung der Lebenssituation von Frauen: Die Totenerweckung zu Nain wird von Jesus vollzogen, weil die Witwe nach dem Tod ihres einzigen Sohnes ohne Schutz und Versorgung ist (Lk 7,11–17); bei der Heilung der verkrümmten Frau am Sabbat ist es eine Frau, die direkte Hilfe Jesu erfährt (Lk 13,10–17). Zwei Gleichnisse aus dem lukanischen Sondergut präsentieren Frauen und ihre Lebenswelt: das Gleichnis von der verlorenen Drachme (Lk 15,8–10) und das Gleichnis von der hartnäckigen Witwe (Lk 18,1–8). Unter den Frauen, die in der Apostelgeschichte erscheinen, ragen die Christinnen Sapphira (Apg 5,1–11), Tabita (Apg 9,36–42), Lydia (Apg 16,13–15.40) und Priskilla (Apg 18,2f.18 f.26) heraus. Als hochrangige Jüdinnen treten Drusilla (Apg 24,24–26) und Berenike (Apg 25,13f.23; 26,30) auf.

Schon diese wenigen Beispiele belegen, dass im lukanischen Doppelwerk Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten und mit verschiedensten Lebensentwürfen vertreten sind: Drusilla und Berenike aus der Familie Herodes des Großen sind königlicher Abstammung, die Missionarin Priskilla ist als Handwerkerin tätig, die von Paulus getaufte Lydia ist eine Purpurhändlerin, die wahrsagende Frau in Philippi ist eine Sklavin (Apg 16,16–18). Die Schwestern Maria und Martha sind unverheiratet, Sapphira und Priskilla sind Ehefrauen. Hanna lebt als Witwe allein und ganz für ihren Glauben (Lk 2,36–38), die Witwen um Tabita verbringen ihr Leben in Gemeinschaft (Apg 9,36–42). Maria wird ausdrücklich als junge Frau charakterisiert (Lk 1,27), Elisabeth (Lk 1,5–7) und Hanna (Lk 2,36) hingegen als betagte Frauen. Maria und Martha bleiben an einem Ort, Maria Magdalena ist mit Jesus unterwegs (Lk 8,2 f.; 23,49; 24,10).

Mit dieser Vielfalt von Frauenfiguren präsentiert Lukas seiner Leserschaft zahlreiche weibliche Identifikationsfiguren. Einige der genannten Frauen werden wie Maria, die Mutter Jesu,4 und Hanna, die Witwe und Prophetin,5 unverkennbar als Idealfiguren herausgestellt, jedoch werden nicht alle auftretenden Frauen ausschließlich mit Lob bedacht. Die kritische Einstellung des Lukas zu ihnen und ihrem Verhalten ist dann leicht zu durchschauen, wenn wie im Falle Sapphiras unerwünschte Haltungen und Handlungen offen innerhalb der Erzählung beanstandet und bestraft werden. Daneben können aber Frauen auch unterschwellig kritisiert oder abgewertet werden, indem sie erzählerisch an den Rand gedrängt werden. Im Blick auf die Menschen um Jesus fällt beispielsweise auf, dass Lukas das Wort »Jünger« (mathetes) exklusiv für Männer reserviert hat. Bei Frauen, die mit Jesus und seinen männlichen Anhängern gemeinsam unterwegs sind, spricht der Evangelist ausdrücklich nicht von »Jüngerinnen«6, sondern von »Frauen, die Jesus nachfolgen« (Lk 23,49.55), und nimmt damit eine Abstufung vor.

Aus der Vielzahl der Erzählungen über Frauen in der Jesusbewegung und in den ersten christlichen Gemeinden folgt also nicht zwangsläufig, dass Lukas im Gegensatz zu vielen seiner schreibenden Zeitgenossen ein ausgewiesener »Freund der Frauen« ist, der durchgängig für deren Interessen Partei ergreift. Zu prüfen ist vielmehr die hinter den einzelnen Texten erkennbare Haltung: Werden Frauen und Männer in gleicher Weise gewürdigt, ihre Verdienste als gleichwertig angesehen und von allen Menschen unabhängig von ihrem jeweiligen Geschlecht identische Tätigkeiten für das Evangelium gefordert?

Das Frauenbild des Lukas7 ist keineswegs nur für eine angemessene Interpretation des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte relevant, sondern auch für heutige Christinnen eine wichtige Bezugsgröße. Die neutestamentlichen Berichte über Frauen in den ersten Jahren des Christentums sind für sie von besonderer Bedeutung, um über ihre persönliche Haltung zum Christentum und ihre Rolle in gegenwärtigen christlichen Gemeinden zu reflektieren. Daher werden im Folgenden für eine genaue Untersuchung einzelner Frauengestalten zwei prominente weibliche Figuren der Apostelgeschichte ausgewählt, die für zwei verschiedene Reaktionen antiker Frauen auf die Botschaft des Evangeliums stehen: die Purpurhändlerin Lydia, die sich nach der Begegnung mit dem christlichen Missionar Paulus für den neuen Glauben entscheidet und in ihrem Haus eine christliche Gemeinde beherbergt, und die Herodianerin Berenike, die sich von der Botschaft des Paulus nicht beeindrucken lässt.

B. DARSTELLUNG

Unter den Frauen, die im lukanischen Doppelwerk genannt werden, ragen Lydia und Berenike heraus – jedoch aus ganz unterschiedlichen Gründen: Keine andere Frau charakterisiert Lukas mit zwar knappen, aber ungemein aussagekräftigen Worten so präzise wie Lydia (Apg 16,11–15). Keine andere Frau des Neuen Testaments hat in solcher Weise die Gemüter ihrer Mitmenschen erregt und in die Geschichtsbücher Eingang gefunden wie Berenike (Apg 25,13.23; 26,30). Wie sich zeigen wird, weist das Leben der einen nur wenige Parallelen mit dem der anderen auf, zu groß sind die Differenzen bezüglich des sozialen Status, der Religiosität, des Familienstandes und des alltäglichen Lebens beider Frauen. Gerade die vielfältigen Unterschiede aber lassen es reizvoll erscheinen, Lydias und Berenikes Lebenssituation und ihre Reaktion auf die neue christliche Botschaft einander gegenüberzustellen, diese zwei Frauen also in einem Band der Biblischen Gestalten zu vereinen. Über die individuellen Porträts hinaus gibt diese Konstellation Anlass, grundsätzlich über die Attraktivität des Christentums für Frauen im 1. Jahrhundert nachzudenken.

Die völlige Verschiedenheit der Lebenswege beider Frauen und der ihnen dabei zuteil gewordenen öffentlichen Aufmerksamkeit schlägt sich auch in der folgenden Darstellung nieder: Für die weltgeschichtlich unbedeutende Lydia ist der Text der Apostelgeschichte die einzige direkte Quelle. Ein Bild dieser Frau lässt sich einzig gewinnen, indem die Angaben des Lukas einer genauen Untersuchung unterzogen und mit anderen literarischen, epigraphischen und archäologischen Quellen verknüpft werden, um so Lydias sozialen und religiösen Hintergrund zu beleuchten. Zu der aufsehenerregenden Berenike indessen finden sich in außerbiblischen Zeugnissen umfangreiche Aussagen, so dass in diesem Fall die kargen Angaben der Apostelgeschichte durch Heranziehung anderer antiker Quellen erhellt werden können.

I. LYDIA – »EINEPURPURHÄNDLERINAUSDERSTADTTHYATEIRA«

Nur wenige Verse in der Apostelgeschichte handeln von der »Frau mit Namen Lydia«, jedoch hat Lukas das, was er über sie geschrieben hat, geradezu liebevoll und mit so vielen Details gestaltet, dass schon diese wenigen Sätze ein Bild der Lydia vor den Augen der Leserinnen und Leser entstehen lassen.

Zur Begegnung des Paulus mit Lydia kommt es auf der sogenannten zweiten Missionsreise (Apg 15,36–18,22), auf der Paulus von Silas und später (ab Apg 16,3) auch von Timotheus begleitet wird: Ausgehend von Antiochia am Orontes (Apg 15,36–40) reisen die Missionare durch Syrien und Kilikien (Apg 15,41) zunächst nach Derbe und Lystra (Apg 16,1–3). Auf Umwegen und ohne zu missionieren, wie es der Geist mit Absicht bewirkt, gelangen sie dann durch die Landschaften Phrygien, Galatien (Apg 16,6) und Mysien (Apg 16,7f.) nach Alexandria Troas (Apg 16,8–11).

Dort gibt nach dem Bericht des Lukas eine nächtliche Erscheinung Paulus die weitere Richtung vor, wo nun das Evangelium zu predigen sei (Apg 16,9):

»Ein Mann aus Makedonien stand da und bat ihn: ›Komm herüber nach Makedonien und hilf uns!‹«

Die Missionare brechen umgehend auf und reisen auf dem Seeweg über die Ägäis. Während sie zuvor noch scheinbar orientierungslos und wenig ökonomisch im Blick auf Zeit und Wegstrecke unterwegs gewesen sind, geht es nun, da das Ziel klar ist, geschwind voran – nach antikem Verständnis ein weiteres Zeichen für den hinter diesen Aktivitäten stehenden Willen Gottes. Die Seereise dauert nur zwei Tage (vgl. dagegen Apg 20,6), dann erreichen Paulus und seine Begleiter Makedonien, wo sie in Philippi auf Lydia treffen (Apg 16,11–15):

Abb. 1: Der östliche Mittelmeerraum in neutestamentlicher Zeit

»Da fuhren wir8 von Troas ab und segelten geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis und von dort nach Philippi, das eine Stadt des ersten Bezirks von Makedonien ist, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. Am Sabbattag gingen wir hinaus aus dem Stadttor an den Fluss, wo wir dachten, dass eine Gebetsstätte sei, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen. Und eine Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyateira, eine Gottesfürchtige, hörte zu; deren Herz öffnete der Herr, so dass sie darauf Acht hatte, was von Paulus geredet wurde. Als sie aber getauft worden war und ihr Haus, bat sie uns und sprach: ›Wenn ihr überzeugt seid, dass ich an den Herrn glaube, kommt in mein Haus und bleibt da!‹ Und sie nötigte uns.«

An diesen Bericht über die Bekehrung der Lydia schließen sich eine Erzählung über eine Dämonenaustreibung9 durch Paulus und seinen Begleiter Silas 10 (Apg 16,16–22) sowie ein Bericht über die Haft der beiden christlichen Missionare in Philippi an.11 Diese Haft nimmt jedoch einen ungewöhnlichen Verlauf: Nach einem mitternächtlichen Befreiungswunder und der Bekehrung des Gefängniswärters endet sie bereits nach einer einzigen Nacht mit der Freilassung durch die reumütigen Behörden (Apg 16,23–39). Nur einen Anlaufpunkt gibt es für Paulus und Silas, bevor sie dann die Stadt wieder verlassen (Apg 16,40):

»Sie aber gingen aus dem Gefängnis und gingen zu Lydia, und als sie die Brüder gesehen hatten, trösteten sie sie und gingen fort.«

Der mit Informationen über die Stadt Philippi und die Person der Lydia gespickte Bericht des Lukas, der den Rahmen für die dortigen turbulenten Ereignisse bildet (Apg 16,11–15.40), bietet die Möglichkeit, ein anschauliches Bild von der Geschichte der Stadt und von dem Leben und Glauben der Frau zu entwerfen. Leitfragen sollen dabei sein: Welche Kenntnisse hat Lukas über die Geschichte der Stadt Philippi und das Leben ihrer Bewohnerinnen und Bewohner? Was verrät er über den Beruf, die Herkunft und den sozialen Stand der Lydia? Was erfahren die Leserinnen und Leser der Apostelgeschichte über den alten und den neuen Glauben der Lydia und ihre Stellung innerhalb der nun entstehenden christlichen Gemeinde?

1. DERNAME:LYDIA

Der Name Lydia ist ursprünglich eine Herkunftsangabe: »die Lydierin«. Lydien ist eine Landschaft in der heutigen Türkei, und zwar in dem westlichen Gebiet, das auch Kleinasien genannt wird.12 Im Norden grenzt Lydien an Mysien, im Osten an Phrygien und im Süden an Karien, im Westen stößt es an die Ägäis.

In der Antike sind es oftmals Sklavinnen und Sklaven, die nach einer Landschaft benannt werden.13 Ihr eigentlicher Name ist für ihre Besitzerin (domina) oder ihren Besitzer (dominus) nicht bindend. Jeder Sklave und jede Sklavin kann beim Erwerb von der Käuferin oder dem Käufer mit einem neuen Namen versehen werden, möglicherweise also sogar mehrmals im Leben. Der dann verliehene Name lehnt sich oft an die Herkunft der Sklavin oder des Sklaven, den Kaufort oder den Namen des Sklavenhändlers an.14 Diese Sitte zeigt, dass Sklavinnen und Sklaven nicht wie menschliche Individuen behandelt und angesehen werden, sondern als Ware gelten – völlig unabhängig davon, wie sie in den unfreien Stand gelangt sind. Ein antiker Mensch kann zum Sklaven werden, indem er in Kriegsgefangenschaft gerät, von Banden geraubt und anschließend verkauft wird, seine Schulden nicht mehr bezahlen kann oder als Kind einer Sklavin zur Welt kommt. Der Name Lydia könnte also ein Hinweis darauf sein, dass die Frau, der Paulus in Philippi begegnet, eine bestimmte Zeit ihres Lebens eine Sklavin gewesen ist. Die Einzelheiten der Biographie der Lydia und ihrer Familie, die damit in Zusammenhang stehen, bleiben im Dunkeln: Die Leserinnen und Leser der Apostelgeschichte erfahren also nicht, ob Lydia – wenn sie denn überhaupt eine ehemalige Sklavin ist – schon als Sklavin geboren oder erst später in ihrem Leben eine Sklavin geworden ist. Völlig offen bleibt, unter welchen Umständen entweder Lydias Vorfahren oder erst sie selbst zu Angehörigen des Sklavenstandes geworden sind.

Als Paulus in Philippi auf Lydia trifft, hat sie dort ein eigenes Haus, wie in Apg 16,15 gleich in zweifacher Weise zu lesen ist: Zunächst wird in der dritten Person von »ihrem Haus« berichtet, dann spricht Lydia selbst von »meinem Haus«. Das »Haus« hat hierbei zwei verschiedene Bedeutungen: Im ersten Fall meint es den »Haushalt«, im zweiten das Gebäude, in dem Lydia und die Ihren wohnen. Im Blick auf den Status der Lydia sind diese Angaben für den aktuellen Zeitpunkt aufschlussreich: Falls sie tatsächlich in der Vergangenheit eine Sklavin war, ist sie mittlerweile freigelassen worden oder hat sich selbst freigekauft. Eine Freilassung kann zum einen auf Initiative des Besitzers oder der Besitzerin wegen besonderer Verdienste oder aus wirtschaftlichen Erwägungen erfolgen, um die aus Altersgründen nur noch bedingt nützlichen Sklavinnen und Sklaven nicht versorgen zu müssen. Zum anderen können auch Sklavinnen und Sklaven persönlich für die eigene Freiheit sorgen, indem sie sich durch selbst erwirtschaftetes Geld die Entlassung aus dem Sklavenstand erkaufen. Da der lukanische Bericht keineswegs den Eindruck einer schon älteren und schwächeren Frau vermittelt, ist im Falle der Lydia die zweite Variante von weit größerer Wahrscheinlichkeit. Lydia ist bei ihrer Begegnung mit Paulus nicht (mehr) Eigentum eines anderen Menschen, der sie zu seinem Haus zählen könnte, sondern im Gegenteil: Sie selbst steht an der Spitze eines »Hauses«, zu dem andere Personen – möglicherweise Familienangehörige, mit Sicherheit Angestellte, vielleicht sogar Sklavinnen und Sklaven – gehören.

Die Angabe »ihr Haus« lässt noch weitere Schlüsse zu: Lydia ist zumindest zu diesem Zeitpunkt die alleinige Hausherrin. Einen Hausherrn gibt es aktuell nicht, denn dann würde es nach antikem Denken nicht »ihr Haus«, sondern »das Haus des N. N.« oder bestenfalls »das Haus des N. N. und der Lydia« sein. Lydia ist also eine unverheiratete oder möglicherweise eine verwitwete Frau, die einem eigenen Haushalt vorsteht.

Neben einem typischen Namen für eine (ehemalige) Sklavin sind auch andere Erklärungen für den Namen dieser Frau denkbar: Der griechische Name Lydia ist in der Antike ebenso wie heute als Vorname ohne direkten geographischen Bezug in der Literatur und in Inschriften belegt – allerdings nur in äußerst wenigen Fällen. Dass der geographische Aspekt in dem Fall dieser Lydia jedoch von Bedeutung ist, wird durch eine weitere Angabe im Text der Apostelgeschichte gestützt: Lukas gibt in seinem Bericht Thyateira als Herkunftsort der Lydia an (Apg 16,14) – und diese Stadt liegt in Lydien. In der Antike ist Thyateira15, das heutige Akhisar, bekannt für seine Händler und Handwerker, die sich insbesondere der Herstellung von Kleidung widmen. Die Inschriften der Stadt berichten nämlich nicht nur von Zusammenschlüssen der Bäcker, Töpfer und Kupferschmiede, sondern vor allem auch der Wollspinner, Leinenweber, Schneider, Färber und Gerber. Einer dieser Berufsvereinigungen hat vielleicht auch Lydia angehört, bevor sie ihre Heimat verlassen und sich in Philippi als Purpurhändlerin angesiedelt hat.16

Die Kombination von Name und Herkunftsort in Apg 16,14 spricht somit dafür, dass in diesem Fall der Name Lydia auf die Herkunft seiner Trägerin anspielt. Ganz unabhängig von einer möglichen Vergangenheit als Sklavin kann diese Frau in ihrer neuen Heimat als »die Lydierin« bekannt sein. Vielleicht hat sie einen unverkennbar lydischen Einschlag in ihrer Sprache oder vielleicht sie ist besonders stolz auf ihre Heimat, möglicherweise speziell auf deren Handwerk, so dass die Purpurhändlerin in ihrem neuen Wohn- und Arbeitsort als »die Lydierin« gilt und von einigen Menschen in ihrem beruflichen oder privaten Umfeld auch so gerufen wird. Die ursprüngliche Herkunftsbezeichnung verdrängt möglicherweise sogar ihren eigentlichen Namen, so dass viele Bewohnerinnen und Bewohner Philippis diese Frau ausschließlich als »Lydia« kennen.17

2. DERBERUF:PURPURHÄNDLERIN

Purpur ist heute und war auch schon in der Antike die Farbe der Würde und des Reichtums. Wer denkt nicht bei dem Stichwort Purpur sogleich an den dunkelroten Mantel oder Umhang eines Königs oder einer Königin? Diese Bedeutung des Purpurs als Statussymbol ist auch im Neuen Testament belegt: Neben dem reichen Mann in Lk 16,19, der sich in Purpur und kostbares Leinen kleidet, ist diesbezüglich die Verspottung Jesu hervorzuheben. Die Soldaten legen Jesus nach Mk 15,17.20 eine Dornenkrone und einen Purpurmantel an, um ihn als König der Juden zu verspotten. Da die Soldaten jedoch kaum einen edlen Purpurmantel zur Hand haben werden, korrigiert Mt 27,28 an dieser Stelle den Text zu »purpurfarbenen Mantel« und nimmt damit eine Differenzierung der Farbqualität vor, die auf den verschiedenen Weisen der Farbstoffgewinnung und Färbung beruht.

Die beiden umfangreichsten antiken Darstellungen zur Purpurgewinnung und Purpurfärbung finden sich in griechischer Sprache bei Aristoteles und in lateinischer Sprache bei Plinius dem Älteren. Im fünften Buch seiner »Geschichte der Tiere« schreibt Aristoteles im 4. Jahrhundert v. Chr. über das Vorkommen, die Lebensweise und den Fang der Purpurschnecken sowie über die Purpurherstellung (Historia animalium 5,546b–547b). Diese Darlegungen werden von Plinius dem Älteren im 1. Jahrhundert n. Chr. zum Teil aufgenommen und ergänzt, als er im 9. Buch seiner »Naturgeschichte« den Fang der Purpurschnecken, die Purpurherstellung, die Purpurarten und die Verwendung der Purpurstoffe in Rom erörtert (Naturalis historia 9,124–138).

Der Farbstoff Purpur (griechisch porphyra, lateinisch purpura)18 wird in der Antike aus verschiedenen im Mittelmeer lebenden Schneckenarten gewonnen: Die Schnecken werden je nach Art entweder auf dem hohen Meer mit Reusen gefangen, wobei einfache Muscheln als Köder dienen, oder unter beträchtlicher Gefahr für die Taucher an Felsen und Klippen gesammelt. Die beste Fangzeit ist zwischen Frühjahr und Herbst. Die kleineren Tiere werden dann lebend mit der Schale zerquetscht, den größeren Tieren wird, während sie noch leben, die Drüse, die den Farbstoff enthält, herausgeschnitten. Diese Masse wird drei Tage in Salz eingelegt, dann eingeweicht und zehn Tage lang erhitzt. Während des Köchelns werden die fleischlichen Bestandteile abgeschöpft, bis schließlich der reine, zum Färben geeignete Absud übrig bleibt. Der hohe Preis des Farbstoffes erklärt sich aus dem aufwendigen Herstellungsverfahren und vor allem aus der enormen Zahl der benötigten Tiere. Purpurgefärbte Produkte sind folglich nur für wohlhabende Menschen erschwinglich und werden deshalb zu einem der wichtigsten Statussymbole. Purpurfarbe minderer Qualität kann aus Pflanzen (Kermesbeere, Hyazinthe) und Mineralien (Salpeter) gewonnen werden, die Färbung der Stoffe auf diesem Wege ist jedoch nicht dauerhaft.

Das griechische Wort porphyropolis