Lyophilia - Ann Cotten - E-Book

Lyophilia E-Book

Ann Cotten

0,0
20,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ann Cotten ist erwachsen geworden, was uns ein Stück weit in die Zukunft katapultiert. Sie behauptet, nur mehr konstruktiv am Funktionieren eines vernünftigen Lebens für möglichst alle interessiert zu sein. Ganz der menschenfreundliche Roboter, quasi. Aber ihre seltsam labyrinthische, allzu respektvolle Art, mit Problemen umzugehen, zeugt noch von den Erfahrungen, die sie als junge Lyrikerin sammeln konnte.

In Proteus wird der ewigjugendliche Protagonist zusammen mit seiner Geliebten, einer slowenischen Erfolgspolitikerin mit zwei Kindern, in ein Paralleluniversum exportiert, in dem jede Überlegung Realität wird.

Indessen halten sich die alternden Bewohnernnnie des kurz nach Eröffnung bankrott erklärten Siedlungsasteroiden Amore (KAFUN) an Klischees und Running Gags fest, um einen Halt gegen die Trauer zu finden, die eine größere Gefahr darstellt als Internetlosigkeit, kosmische Strahlung und humanitäre Instantnudeln zusammen. Eine antigoneische Mission rettet die Helden vor der Versumpfung im eigenen Überleben.

Eine Sammlung von Erzählungen wie ein Schuss ins Knie. Was Ann Cotten die letzten Jahre etwas hochstaplerisch als »Science Fiction auf Hegelbasis« angekündigt hat, ist jetzt gekommen. Lyophilia erinnert an Tarkowskijs Special Effects: eine Formulierung, vor eine Wirklichkeit gehalten, und plötzlich wird präzise, was sonst in der Form eines dumpfen Ahnens herumvegetiert. Und wo der mögliche Realismus aufhört, fließt heiß und pochend Emotion heraus.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 572

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ann Cotten

Lyophilia

Suhrkamp

Inhalt

ISHIBASHI

MIT DEM KLEIDERBÜGEL IM ABFLUSS DER WELT Mein WIKILEAKS-Tagebuch

20. März, 2017 – ich fange endlich an.

XIN

NEPOMUK

PROTEUS oder DIE HÄUSER DENEN, DIE DRIN WOHNEN

XIN

TULLNER CREEKS

PUTZTRUPPWEISHEITEN

Aus der Kladde von Claudia

Leidige Schlaufen

Die Aliens im Marmeladeglas

Der Staubsauger

Sprüche meines Mentors, des Vorarbeiters Fritz

Weitere Anmerkungen zum Sägen

Ökonomische Überlegungen

Lingua Franca

Wegen der Bücher

IN EINER KNEIPE IM ALL

DAS GEISTERSCHIFF

ANEKDOTEN VOM PLANETEN AMORE (KAFUN)

1

2

3

4 Vague Transit

5 Mouyou Master

6 Die Vorgeschichte der Projektgruppe Bioadapter

7 Eine Antwort auf diese Fragen von Matsushita

8 Silikon Shakti geht auf diese Antworten nicht direkt ein, sondern setzt ihre Geschichte fort

9 Elektra / Wet Mix

10 Matsushita Notiz

11

12 Also.

13 Horatio, getrieben von Räsonnements, wie von Wind über Wasser – woher kommen sie?

14

15 Immer noch tollen Emile

16 Matsushita Notiz

17

18 Matsushita Notiz

19

20 Matsushita Notiz

21

22

23 Horatios Räsonnements

24

25 Kalter Kaffee

26

27 Emiles Erzählung

28 Die Erzählung der Spionin

29 Die Geschichte von Claudia

30

31 eankke

32

33

34

EINE ZEITREISE

RIDING PUBLIC TRANSPORT

ISHIBASHI

Die Sprache der Außerirdischen Intelligenz, wie wir sie nennen würden, ist voll von Wortspielen, wie wir sie nennen würden. Die Auswirkungen sind, wie wir meinen würden, fatal, es scheint den Außerirdischen aber nichts auszumachen, ja, sie bestehen aus dieser Fatalität, die für sie gleichbedeutend mit Schicksal ist, oder homonym, was nicht dasselbe ist, aber mit demselben Zeichen bedeutet wird und daher andauernder Auseinandersetzung bedarf.

Als sie beschlossen, die Erde zu kolonialisieren, also sozusagen uns als Kommunikationsform zu benutzen (so wie wir, sagen wir, von der »Sprache der Blumen« sprechen? Nein, eher sind wir, ist das, was wir »Sinn« nennen, ihre Tinte, ihre Langue oder ihr Computer), begannen wir zu sprechen. Was auch immer wir vorher für Wahrnehmungen gehabt hatten, ihr Geflecht begann sich, im Spiegel des Seins der Außerirdischen, zu einem manifesten System auszuformen, in anderen Worten, sich zu üben wie eine Sprache, ALS eine Sprache.

Die Außerirdischen also, die uns gegenüber die Erscheinungsform 宇宙人 gewählt haben, erzählen sich verschiedene Anekdoten über die Frühzeit der Kolonisation. Eine davon geht so:

Wie soll man das erzählen?1

Als es hieß, dass wir in Form von »Ishi« auf die Welt kommen, haben es manche als »Stein« ausgelegt und drückten sich in Form von Gesteinsbildungen aus. Das waren eher die langfristigen Denkernnnie. Die anderen bevorzugten die Auslegung als »Wille« und haben sich seither in Milliarden von Scharmützeln und sonstigen Tätigkeiten insbesondere der humanen Gattung ausgetobt. Die Erde gleicht auf sie bezogen ein bisschen dem Garten des Onkels von Tristram Shandy. Und eine kleine Fraktion hat sich auf die Lesart »Easy« kapriziert und bietet Billigflüge und andere Dienstleistungen an, die bestimmte Netzwerke lubrizieren.

Dabei ist schon die Form der Anekdote oder Sage eine Art Selbstmimikry. Kringel, eine häufige Figur der notwendig im Sand verlaufenden, also schiefgehenden (fraktalen: also wachsend wie abbrechend so oder so sich verlierenden) Fortentwicklung dieses durch die Evolution als auf einem Fleck bleibend auf ständige Kollision mit sich selbst getunten Systems.

MIT DEM KLEIDERBÜGEL IM ABFLUSS DER WELTMein WIKILEAKS-Tagebuch

20. März, 2017 – ich fange endlich an.

A

Die Weltspionageakten

Es gibt ein Suchinterface. Ich weiß nicht, wonach ich suchen soll. Eines der in der Erklärung genannten Beispiele ist »Zahlung«. Gute Idee. Nach Relevanz ordnen? Klar.

Das erste von 28 ‌000 Resultaten hat nach jedem Wort ein Â. Es klingt wie ein sprechender US-Amerikaner oder Engländer, und ich frage mich, ob es wohl von der Verschlüsselung oder vom Diktat kommt.

Planet der Zahlung, Händleranmeldung

Äh August, äh, 12ter, äh 2011 Äh äh John äh Gibbonsäh Stratfor äh

221 äh Westäh 6ste äh Straße äh Steäh 400äh AustinähTexas, Äh 78 ‌701 äh

PER ÄH E-MAIL: Äh äh [email protected] äh Äh Lieber äh John, äh

Bitte äh lass äh Don äh die äh Anmeldung äh unterschreiben äh wo äh markiert äh ist. Äh äh äh

Sobald äh die äh Anmeldung äh unterschrieben äh istäh, bitteäh schickeäh sieäh miräh per äh Email äh oderäh Fax. Äh

zusammen äh mit äh den äh folgenden äh unterstützenden äh Dokumenten: ähäh

Kopie äh der ähDon’s äh Führerschein ähäh€¢

3Äh komplette, Äh laufenden, äh, Chronologie äh der äh Bankauszüge Äh äh

Wenn äh ich äh diese äh Dokumentation äh erhalte äh werde äh ich äh es äh an äh unsere äh Unterzeichnungsabteilung äh weiterleiten äh und äh dich äh auf äh dem äh Laufenden äh halten äh bezüglich äh der äh Änderung äh des äh Status. Äh äh öh äh Beste äh Grüße, äh äh Ray äh Rafaty ääh äh öh€¢

Kopie äh von äh aktuellen äh Geschäftsähfinanzen äh für äh alle äh rechtlichen äh Einheiten. Äh

äh

408 Silverside Road, Suite 108, Wi

Es folgen einige Auszüge aus Haftungsausschlusserklärungen (mit diesen Texten wird unsere Ära in Erinnerung bleiben) von »Planet Payment« vom September 2001 und dann eine freak mail? von 1970?! an die Adresse

»Investitionen in Bildung, Innovation und Infrastruktur sind eine essentielle Anzahlung auf unsere Zukunft«

Mike sagt:

Ich glaube, das ist möglich, wenn auch ein bisschen komplex. Ich werde mich heute Nachmittag reinknien.

–Mike

Ende Juni 2011 stellt Medwedew eine neue Gesetzgebung vor, die es internationalen Dienstleistungszentren erlaubt, russische elektronische Zahlungen zu verarbeiten.

Dann türmt sich eine lange Re:-Pyramide auf, mit John Gibbons von Stratfor Globale Intelligenz in Austin, Texas, der sich sehr unhöflich an Fernando Jaimes wendet, auch bei Stratfor, mit einer ohne Fragezeichen geschriebenen Bitte, also einem Kommando. Unangenehm. Der ganze Strang dreht sich um Sylvia Chritchley von Coal of Africa Limited in Perth, die für ihre Unterlagen eine Rechnung über 700 Dollar benötigt.

Was ist Stratfor? Eine private Spionagefirma. »Führend in geopolitischer Analyse«, behauptet ihre Webseite. Ich abonniere nicht. Sie versprechen, meine Mail auf einem sicheren und verschlüsselten Server aufzubewahren.

»Stratfor liefert globale Aufmerksamkeit und Anleitung an Einzelpersonen, Regierungen und Firmen auf der ganzen Welt. Wir benutzen einen einzigartigen, intel-basierten Zugang, um zu analysieren, was auf der Welt passiert.«

Ich nehme jetzt an, »intel« bezeichnet, dass sie in einer niemals zu enthüllenden Weise mit der CIA in Verbindung stehen. Wenn ich annehmen würde, dass die führenden Spieler auf dem Schlachtfeld der Welt ihre Einsichten von hochqualitativen Agenturen für Insiderinformation wie dieser beziehen, dann ist die Entscheidung bei Stratfor, welche Informationen wem gegenüber veröffentlicht werden, extrem effektiv bei der Lenkung zum Beispiel der globalen Finanzökonomie. Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach ist. Es hat allerdings etwas Zirkuläres. Als ob, wenn man eine ordentliche Ladung Schrot in diesen Taifun schickte, alles endlich auf Restart gehen könnte.

XIN

Xin, alte Seele. Drückt sich zunächst in Verwirrung aus. Verstörter Teenager mit unerklärlichem (»magischem«) Bezug zu Mustern, bestimmten Dingen; schockierende Ignoranz und Wurschtigkeit in anderen.

Vererbte Fremdheit? Du wirst mit 35 im selben fucking Körper wiedergeboren, man nennt es die »leise« Wiedergeburt und – wie kleinlich ist das? Auf deinem Wecker steht:

»Die Zeit, die dir zum Schmollen zur Verfügung steht, ist aufgebraucht. Ab jetzt musst du eine gute Haltung zur Welt haben. Sonst kommst du auf eine langsame und qualvolle Weise um. Du wirst begreifen, dass deine bisherige Art zu leben nahtlos in diese übergeht. Du wirst begreifen, dass du es in der Hand hast, es zu ändern. Du wirst begreifen, dass dir niemand anderer aus dem Sumpf deines vermeintlichen Selbst helfen kann als du selbst und dass du es aus unerklärlichen Gründen scheinbar nicht vermagst. Die theoretische Idee, dass du nur an der Untersuchung dranbleiben musst und irgendwann draufkommen wirst, heizt deine Ungeduld an und macht dich zugleich dich schuldig und selbstmitleidig fühlen und bei allen Gefühlen denken, dass genau die Gefühle dich daran hindern, das zu tun, was deine Aufgabe ist und was du tun willst und aus irgendeinem Grund nicht kapierst und durch das Nichtkapieren nicht richtig machen kannst. Wobei nicht gesagt ist, dass du es, wenn du es kapieren könntest, dann auch können würdest. Im Gegenteil könnte es dann noch schlimmer werden, weil du quasi in höherer Auflösung wahrnehmen würdest, wie du nicht weißt, ob du eigentlich verstehst und trotzdem nicht meisterst oder ob deine Idee von Verständnis überhaupt eine unnütze Idee von Verständnis ist, die mit der Realität nichts zu tun hat, so etwa wie wenn die Sonne sich selbst in einem deiner Augenwinkel ein wenig spiegelt: eine Verschwendung von Sonnenstrahlen, die sonst direkt zur Fotosynthese gehen würden wie Rotkäppchen zur Großmutter und sich in einen konstruktiven, aber ungestressten Biosphärenmulch einspeisen würden, den man nur positiv sehen kann.«

So etwas wie Xin ist – wie man auch dem überlangen Text des Weckers entnehmen kann, der selber echt ratlos ist und nicht weiß, was er, wenn er mit der Beratung von Xin zu Ende ist, machen soll, Xin vernichten oder Xin aufbauen – ein Ärgernis im Kosmos. Ein Ärgernis ist normalerweise selbst dafür verantwortlich, sich in eine Pfingstrose für den Kosmos zu verwandeln, normalerweise durch Umdeutung des Kosmos. Wenn es das unterlässt, wie Xin, sich in seinen Adidas-Trainingsanzug verkriecht, Serien schaut und dem Kosmos den kleinen Finger rausstreckt, nur weil eine letztlich selber total kaputte Lokalpolitikerin sich nicht wieder blicken lässt und er die letzten Fetzen von Wissen, was er zu tun hat, verlor: – dann weiß der Kosmos eigentlich auch nicht, was er mit ihm anfangen soll, außer ein paar Londoner Thugs auf ihn zu hetzen und ihn möglichst, bevor er aus lauter Sinn für Poesie – die ständig Fährten, nie Lösungen anzeigt – andere Leute reinzieht,

kaltzustellen.

Kalt, das ist dem Kosmos Gewohnheit, Hauptmasse und Utopie.

NEPOMUK

An einem Abend im Oktober, als die rostenden Weinberge in einem wogenden Nebel standen, der die Horizontchen des Kahlenbergs wie Hochgebirge wirken ließ, ging ich denselben hinauf und an der Kimme entlang. An den Ausschänken, die ungefähr seit der Neugestaltung des Gipfels links und rechts des Eichelhofwegs sprießen, wurden die Tische schon nass im Niederschlag der wütenden Temperaturdifferenz am Abend. Schlichter: Tau fiel, das Licht war im Abgang.

Ich kam bald an die Stelle, wo hinter einem mit Warnschildern gespickten Tor (auch eine Pistole ist abgebildet) immer böse Hunde bellen, an die Schwelle zum dichten Laubwald der Gegend um den Gipfel. Den Hunden rief ich keck zu, »Hoitz zamm!«, ohne, natürlich, eine Wirkung abzuwarten und in falscher Einzahl – ich merkte, da stimmt etwas nicht, und hatte Zeit, dem nachzusinnen, bis ich draufkam. »Hoitzes zamm!«, hätte es heißen müssen. Den Worten folgte ein mulmiges Gefühl, als wäre ich vor der angedrohten Gewalt nicht so sicher, wie ich mich wähnte. Schließlich konnte man ja von innen, zumal in der Dämmerung, das Tor leicht aufmachen.

Ich ging zügig durch den schmalen Tunnel aus Laub, in den links zwischen den Ästen die Landschaft hereinblinkte; eine Brise riss Blätter und Tropfen von den Ästen über mir; ich sah schon die Stiege zur breiteren Gipfelzufahrt, da stand plötzlich ein Mann in Weiß vor mir: eben dort am Kopf der Stiege, wo sie auf die Asphaltstraße mündete. Ein heller Fleck in der Pixelierung der Stunde, der nicht deutlicher wurde, wenn man die Augen darauf scharfzustellen versuchte. Normal für diese Lichtverhältnisse. Waluliso fiel mir ein, ich dachte an den Mann, der jahrzehntelang in Römerkleidern mit einem Efeukranz auf dem Kopf durch die Wiener Innenstadt wandelte und für Frieden warb. Oder eine dieser lebenden Statuen für Touristen, verirrt? Auf jeden Fall stand ein Verrückter am Kopf der Treppe. Ich war kurz zusammengeschreckt und hatte den Schritt zurückgehalten, doch jetzt hatte ich Vorsicht walten lassen, wie ich konnte – lästig, verunsichernd und nutzlos die mangels anderer Kriterien geschmäcklerische Erwägung einer Ängstlichkeit –, und ging weiter, gemäß meinem Prinzip, in jeder Situation, komme, was wolle, zu schauen, was passiert.

Es war der heilige Nepomuk. Die Statue, die ich ja kannte, gegenüber der Wegmündung, war offenbar frisch angestrichen worden oder trat schlicht in der Dämmerung so hervor, dass der Mann lebendig erschien. Auf diesen Steinfiguren aus dem 18. Jahrhundert sind meist mehrschichtige Roben von einem katholischen, anmutig drehenden Wind oder der Drehung des Heiligen, die diesen Wind erzeugt, erfasst. Das erzeugt leicht den Eindruck von Belebtheit.

Ich meine, es wäre passend, die Ursache des Effekts Wind zu nennen, weil ich denselben Wind am Windgott im Tempel der 33 Zwischenräume in Kyoto gesehen habe und auch an anderen Dämonenstatuen. Außerdem habe ich gehört, dass die antiken Wörter für Seele oder Leben von Windhauch (ἄνεμος, animum) oder dem Blasen auf etwas, um es zu kühlen oder wärmen (psyche), stammen. Bei 息 (iki) ist es so ähnlich. Natürlich ging ich, ohne zu halten, in Gedanken weiter.

Oben am Gipfel des Kahlenbergs, den sie vor einigen Jahren neu gestaltet haben, weswegen ich kaum mehr ganz hinaufgehe, bemerkte ich, dass sich unterhalb der öffentlichen Aussichtsterrasse noch eine zweite befand. Sie gehörte zum Hotel oder Lokal, einer Ausbildungsstätte für angehende Gastronomen. Heute war alles goldgelb beleuchtet, der Balkon mit Stehtischen und Aschenbechern versehen, es schien ein größeres Fest stattzufinden. Von oben sah ich auf drei Menschen im Abendgewand beim Rauchen. Ein unauffälliger Businessmann mit Kurzhaarschnitt und ein mitteljunger Mann mit rotblondem Pferdeschwanz sprachen mit einer Frau, deren Brüste gegen ein rotes Cocktailkleid drückten und die sich sehr wohlzufühlen schien, während sie über Zigaretten scherzte, soweit ich die Fetzen verstand. Sie sprachen Ukrainisch, und das zog mich an, aber mein Schülereifer reichte wie meistens nur dazu, mich zurm Voyeurni zu machen. Schließlich hört jede fließende Konversation auf, sobald dier Schülerni zu nahe tritt. Manchmal fühle ich mich dann wie so eine Statue aus einem vergangenen Jahrhundert, wie ein noch nicht bemerkter steinerner Gast – was die Hemmung zu sprechen noch ein bisschen erhöht.

Der Balkon war wie eine halb aufgegangene Lade, aus ihr strahlte es wie vergessene Uranproben in die düstere, neblige Landschaft. Gern wäre ich dabeigestanden, wie sonst oft am Rand von Partys an hoch gelegenen Orten, wo die Wärme von der Buffetversorgung die Kälte von draußen anrührt. Doch jetzt wandte ich mich rasch und stolz um und machte mich auf den Rückweg, warum auch immer. War es, dass ich mir Geschäftigkeit anzugewöhnen versuchte und wusste, wer sich nach dekadenten Partys sehnt, wird nie auf sie gelangen, war es nur der Einfall einer Art zu sein, dem ich einen Augenblick folgte, als wäre er ein Blick in eine enge Gasse im Vorbeigehen. Beim Eingang zum Hotel hing eine Reihe blauer und gelber Luftballons.

Diese Euro-Ukrainer! Ein Moralist schimpfte in mir, während ich voll Gusto wieder in die feuchte, kühle Dunkelheit spazierte, gegen die Reichen, die diesen Sommer unter anderem auch mit einem Kreuzschiff an der Wiener Marina angekommen waren, wie ich beim Radfahren beobachtet hatte, auf dem ein Schweizer Name mit einem ukrainischen Namen übermalt worden war. Mein Moralist war der Meinung, es sei besonders dekadent, sich, während der Krieg im eigenen Land tobe, fern von diesem aufzuhalten und es sich gutgehen zu lassen. Mein Moralist vergisst, dass es, wenn jeder sich selbst definieren darf, keine Reichen gibt, weil kaum jemand der Meinung ist, reich zu sein. Alle diese Kreuzfahrer sind bloß am Überleben. Sobald man den Lebensstandard hat, gehört er zur Identität und zur Normalität. Außerdem fiel mir gar nicht ein, dass es, den Luftballons zufolge, vielleicht gar keine Ukrainer waren, sondern Neoliberale.

Hinter meine irrelevante Kritik an den Ukrainern setzte ich einen Schlusspunkt, indem ich im Vorbeigehen den heiligen Nepomuk bat – ich siezte ihn und verwendete ansonsten eine leise Alltagsstimme –, wenn er sich schon nicht zu schade gewesen sei, mir lebendig zu erscheinen, so möge er bei Gelegenheit dort oben am Balkon auftauchen und die Ukrainer daran erinnern, was sie aus ihrer jeweiligen Lage heraus tun könnten, um sich dem Vorwurf des Eskapismus zu entziehen. Ich wollte ihn wohl von mir ablenken, überzeugt, dass ich bereits verstört genug durch die Gegend ginge. Es fiel mir komischerweise nicht ein, ihn zu fragen, was für Handlungsmöglichkeiten denn, ganz im Allgemeinen, mir selbst zur Verfügung standen. Kann sein, das Handeln war etwas, was mir in Bezug auf mich selbst gar nicht in den Sinn kam. Ich bin doch Schriftstellerin. Ich mische mich ohnehin schon zu viel in Sachen ein, die mich nichts angehen.

Der heilige Nepomuk ist ja der Heilige der Politik, könnte man sagen (deswegen ja auch weiß). Er ist auch der Heilige der Verschwiegenheit und des geraden Rückgrats als Juristni. Quasi dier gute Politikerni. Als verbreiteter Staatsheiliger des barocken und spätbarocken Habsburgerreichs steht er zugleich als spanische Wand vor den Schweinereien eines kirchlich hinterbauten Weltreichs und als Galionsfigur für dessen Möglichkeiten bei der Einführung neuer, unbequemer bis grausamer Gerechtigkeiten. Er ist zugleich auf den populären Schlammwegen aller Provinzen der Heilige der Brücken, weil er in Prag von einer in die Moldau geschmissen wurde. Das ist eben das Unvergleichliche an den Heiligen, dass sie das Dumme und das Wahre, das Starke und das Spitzfindige zu einer skarabäischen Lehmsphäre zusammenkneten (lassen), gewissermaßen, mit der man gemäß der Ballistik verfahren kann, dort, wo Treffen und Verschleudern knapp nebeneinanderliegen.

Zwanzig Jahre später sitze ich an einem Tisch mit anderen älteren – also gleichaltrigen – Geschäftsleuten aus der Hotelbranche am Ende eines Empfangs der Brancheninnung in Czernowitz. Ich hatte damals die Literatur, die mir immer zäher aus der Feder tropfte, endlich aufgegeben und ein altes Kurhotel in den Karpaten gekauft. Ich habe mich, neben den japanischen Sprachseminaren, auf feinsinnige, extravagante Hochzeitsfeiern spezialisiert, weswegen ich auch viel ukrainische Kundschaft habe und eben gelegentlich zu solchen Empfängen eingeladen werde. Und da sitze ich, übrig geblieben, mit drei sympathischen Leuten, die so wenig wie ich bald ins Bett gehen, um morgen wieder neue Verbrechen mit ihrem Scharfsinn zu zieren, sondern zu sinnlosem, effektfreiem Hiersein bereit sind. Wir haben zwei Flaschen vom Buffet besorgt und uns auf dem Balkon um einen überquellenden Aschenbecher gruppiert, den die blondierte Kettenraucherin mit den Extrempumps soeben über das Geländer auf den Parkplatz gekippt hat. Aus Wien war ich? Ja, Wien, da haben sie einige Jahre verbracht, als hier Krieg war und kein Geschäft lief. Es war ein seltsamer Urlaub, Fortbildung, Sprachkurs, Geschäftsreise, wer weiß? Sie lachen. Die Österreicher. So ängstliche Leute, in ihrer Beflissenheit angenehm, aber – man müsse sich unaufhörlich vor Tücke und Betrug hüten, weil sie so ängstlich sind. Und eine irgendwie deutschnationale opportunistische Menschenverachtung, die mehr wie eine Art Blindheit ist, die sie aus der Tasche holen, wenn es darum geht, nicht mitzubekommen, wenn ein Ausländer gekränkt oder empört ist. Und sensibel sind sie ja auch, deswegen, sie merken genau, wann sie dein Vertrauen haben, und erst dann schlagen sie zu. Deswegen, leider, was soll man machen? Haben wir gelernt, dass man mit Österreichern nur innerhalb gewisser Grenzen Geschäfte machen kann. Kleinliche Geister … Keine großen Zockereien möglich, undenkbar die epischen Freundschaften, die Millionengewinne, die bei uns nach 91 – naja, es war unsere Teenagerzeit. In jeder Abschlussklasse unserer Generation, wenn wir uns wiedertreffen, finden sich mindestens ein Millionär und ein Obdachloser. Danach zwanzig Pleitiers, der Rest Hausfrauen, Lehrernnnie, Säufer.

Diese zwei Jahre in Wien, da waren wir um die vierzig, nicht. Intensive Beziehungen, Einladungen, gegenseitige, eine Art unausgesprochene Hoffnungsblase vor dem Hintergrund des nahenden Todes, wie ein bedrohliches Abendrot, wie eine Verliebtheit, ja, so wäre es am besten zu bezeichnen. Rosa Hemden! Parfüm, Rosen, Tiramisu! Und an einem Abend, passt auf, eine merkwürdige Geschichte. Da waren wir auf so einem Galaabend der österreichischen Hoteliers für die ukrainischen Geschäftspartner, der fand in der Gastronomieausbildungsschule statt, die auf einem Berg liegt, wie heißt euer Hausberg? Am leeren Berg, so ähnlich – also, einerseits kann man sagen billig, die Lehrlinge mit der Anwendung des Kaviarbrots beschäftigt ohne Bezahlung und so weiter, andererseits tolle Location, aber es war natürlich nichts los, dass man sich schon verflucht vorkam: eine Ansprache von einem pickligen Gastronomiemusterschüler im Stimmbruch, ein zweiter Vortrag von einem Klon von ihm – hier Gesprächspause, da sie aus nicht ganz ersichtlichen Gründen zu lachen begannen – am Cocktailstehtisch, also, ein beschwipster Fünfzehnjähriger, der versucht, Geschäftsbeziehungen zu knüpfen, vorwitzig, transluzent, Abscheu und Sympathie erweckend, die Fraktionen schieden sich, man hatte im Alkohol schon selbst bald vergessen, auf welche Seite man sich geschlagen hatte, ob man auf der Linie war, der Jugend mit Sadismus oder mit sentimentalem Wohlwollen zu begegnen? Man wusste es selber nicht; zum Glück konnte sich der Kleine auch nicht mehr erinnern, welcher der Männer und Frauen noch vor wenigen Sekunden ganz gegenteilig zu ihm gesprochen hatte. Aber schlussendlich gingen wir, in der noch zu drei Vierteln bestehenden Helligkeit schon komplett dicht, auf den Balkon, um zu rauchen, entspannten uns, Ukrainisch redend über Zigaretten und Nichtigkeiten, nach Gossip von zu Hause kratzend, aber nur nach dem harmlosen – da plötzlich schwebte eine Statue vor dem Balkon, oder sagen wir eine weiße Figur, nein, es war egal, wir machten noch Scherze, aber wie die Kühle der Nacht sich unters Gewand schlich, so wussten wir noch im Scherzen den Ernst, die Ehre, an die wir gemahnt wurden, sie fuhr uns in Mark und Bein. Wir wurden an unsere Körperlichkeit, unsere Gebrechlichkeit erinnert, nicht mehr – das genügte. Kälte waren wir gewohnt, es brauchte eben diesen übernatürlichen Zugriff. Ja, wir sind Rationalisten. So sind wir erzogen – Kommunismus – du weißt Bescheid, nicht? Minusgrade das geringste der Probleme …

Ein Wind wehte in den jetzigen Balkon, dass die Geranien nickten. Alle zogen wir an unseren Zigaretten. Jemand aschte in den Aschenbecher. Das Licht brannte auf die Geranien. Zeit ist Luxus.

»Ja, aber, entschuldigt – hat Nepomuk etwas gesagt?«

»Nepomuk?«

(aber ich schon zwanzig Jahre älter als jetzt, weise:)

»So heißt das berühmte Gespenst vom Kahlenberg. Das war er ohne Zweifel. Was hat er euch denn gesagt?«

»Hat gesagt – hat gesagt, man muss etwas machen.«

Alle waren plötzlich aufgelöst in Gelächter. Jäh war die herzliche, konstruktive Stimmung einmütig geworden wie um ein gemeinsames Ziel, etwa als gälte es, einem Elefanten im Raum zu entfliehen.

»Das ist nicht Chernyshevskiy!«, lachte jemand mit literarischem Ehrgeiz im Hintergrund.

»Also hat er nichts gesagt. Ich kenne ihn ja. Nepomuk ist ein politischer Heiliger.«

»Aber nein! Mensch, wir sind daraufhin umgedreht. Wir merkten, es reicht jetzt mit dem Urlaub. Wir haben uns um unser Land gekümmert, um den Frieden, der ja auch die Bedingung für unsere Geschäfte –«

»Ich will davon nichts wissen! Behaltet eure Scheußlichkeiten für euch! Ich will nur wissen: Versteht ihr euch gut mit euren Ehegatten?«

»Du bist so asiatisch! Willst du mich heiraten? Ich lasse mich sofort scheiden. Ich liebe das Exotische, das Neue …«

Und so ging auch diese Nacht langsam, blubbernd unter, wie ein blutiges Schiff in einem Meer von Öl. Oder Ananas in Champagner, wenn man an das Schicksale scheffelnde Rad eines Paddeldampfers denkt.

PROTEUSoder DIE HÄUSER DENEN, DIE DRIN WOHNEN

Nun hocken wir da. Die Herzen, heftig klopfend zunächst, beruhigen sich, während ein paar Zentimeter über unseren Scheiteln Menschen aus aller Welt vorübertrampeln. Sie bleiben stehen, um einander vor einem großen Stalagmiten zu fotografieren, der von uns hier unten bis hoch unter die Höhlendecke wächst, und gehen in nervösem Tempo weiter, um den Anschluss an die Gruppe nicht zu verlieren. Ein Sachse erklärt mit hallender Stimme, dass man sich, wie rum es ist, mit Titten merken kann, die ja runterhängen. (»Isso.«) Irgendwie merkt man, dass er mit seiner Frau spricht, vielleicht daran, dass sie ihn ignoriert und er den Witz mehrmals umformuliert in der Hoffnung, doch noch den Nerv zu treffen.

Das blasse Leuchten von Ganjas Gesicht am Rand meines Blickfelds fällt mir in dem Moment auf, als sie sich herunterbeugt (näher zu mir, ihr Elektro-Fleece knistert an meinem Ohr), weil sie bemerkt hat, was ich jetzt auch bemerke, wir hocken in ein paar Zentimeter Wasser. Es hatte ja auch leise »platsch« gemacht, als wir landeten. Umgeschaut hatten wir uns, in der vergleichsweisen Stille zwischen zwei Touristenwellen, sahen uns an und sind unter dem Geländer durchgeschlüpft. So wie man eine Hand den Weg unters Gewand finden lässt, beim Tanzen etwa. Wann war es – zuletzt dachte ich daran, als es sich wie vorgestern anfühlte, sagt mein Körpergedächtnis, der Rost am Gedanken –, als ich endlich wagte, die Theorie zu überprüfen, dass es geht, dass Leute positiv reagieren, wenn eine Hand unter ihrem Gewand ihre nackte Haut kennt. Wenn man es richtig macht. Angst vor Missverständnissen ist natürlich immer angebracht. Dennoch bringt es nichts, es nicht zu tun, denn auch dadurch entstehen Missverständnisse.

Umstellt müssen solche Wagnisse sein von einem notwendigen und richtigen Aberglauben, denn mit so einer Handlung hängen unvorhersehbare Konsequenzen zusammen, weswegen man es nur mit jemandem wagt, dessen Konsequenzen man, soweit man das einschätzen kann, mögen könnte. Das ist die erste und wichtigste Regel, denn Abbruch ist brutal und nicht so sehr unmoralisch wie vor allem messy, zäh.

Jetzt, wo in der vielfältigeren Gesellschaft das automatensichere Gefühl für das Passende, Richtige, allgemein verlorengeht, muss man umso mehr aufpassen, was man tut. Nämlich. Ganja hebt den Rand ihres Rocks, der durchnässt ist, mit spitzen Fingern auf die Seite. Ein anderes Stück des Homeprint-Netzschaums fällt an dieselbe Stelle und saugt sich voll; ich spüre das Wasser in die Poren hochrasen wie so viele Expresslifte. Vielleicht legt es den Boden trocken, fummle ich mit einem Gedanken rum.

Scheinbar hat uns niemand bemerkt. Das Trampeln über uns fließt ruhig dahin, ohne dass der geringste Wirbel oder Strudel sich hörbar machen würde. Sie bleiben immer nur stehen, um sich vor diesem einen Stalaktiten … Wir schauen uns an. Fast kommt Hass auf, oder Wut, jeder auf den anderen, dass wir jetzt nicht die Gesichter näher bringen – gerade in dem Moment kommen wir schon näher, nähern uns fast zuckend – erstarren wieder: Zweifel wie ein Halt auf freier Zugstrecke. Verdacht auf spielende Kinder.

Ein Überdruss kommt in mir hoch. Es erscheint mir unendlich mühsam, zu küssen, Taillen zu umfangen, generell etwas zu wollen. Etwa, sich unter Beachtung absoluter Stille im Schlamm zu wälzen. Ich greife stattdessen langsam nach dem Rock und helfe, ihn auszuwringen. Ich habe Angst, dass er zerfällt, aber der Schaum ist mit Polyesterfäden verstärkt, also wird er schlimmstenfalls fadenscheinig. Trotzdem fühlt es sich ziemlich eklig an. Bröckel an den Fingern zwischen dem Schlammwasser. Ich beginne zu wittern, wie ein episch depperter Tag sich aus dem süßen Potential herausfällen könnte, und fluche. Ganja macht mir »shhh« und fällt fast um. Ich fange sie auf, und wir sind schon ein Drachen von etwas anderem.

Mit dem Rücken an die Basis des feucht glänzenden Stalagmiten gelehnt, vor dessen oberem Abschnitt die Menschen über uns posieren, braucht sich Ganja nur einen Millimeter bewegen, und ich würde umfallen. Es ist nicht genug Platz, um sich aufzurichten, und auch seitlich können wir uns kaum mehr bewegen als in einer Badewanne, ohne dass irgendein Körperteil unter dem Steg hervorschaute. Wir hocken starr, die Schmerzen der Körperhaltung zählen die Zeit, wir fühlen alle Schauer und Aufregungen beider Körper, unsere jeweilige Wärme, wie sie in die feuchte Kühle loszieht, um sich zu verlieren wie Radiowellen – genau das, als was wir in einem Infrarotsensor zu sehen wären. Wir riechen einander Atem, der, wie Duft, »Ja! Ja! Ja!« ruft. Alles ruft das. Nur unsere Geister sind immer noch zu krustig, zu faul für die weiteren Folgen. Sie legt ihren Kopf mit dem losen Zopf auf meine Schulter, fast hechelnd vor Begehren, im komischen Buchstaben, den wir bilden

und die Fläche meiner Hand geht an ihrer Oberfläche entlang an den Ort, wo Hintern in Bein übergeht, wo die Leggings sich in kleiner Entfernung über ihr Geschlecht spannen, heiß, mir ist, als jauchzte es mir entgegen, ich will fühlen, nehme die Hand aber weg und lege sie an ihre Taille. Darin liegt eine Art Resignation, die mir hässlich vorkommt. Meine Finger sagten zuerst Neugier, und dass ich die Hand schnell an die Taille korrigierte, war wie das Errichten eines Gartenzauns, um Besitz anzuzeigen, wo nur Gefallen war, Gefallen, wo nur Neugier war, Neugier als Neigung, und so weiter. All die automatischen Unterstellungen, die man unterstellen muss. Das ist es, was so müde macht.

Die Figur stürzt zusammen mit einem kleinen Rutschen im Schlamm, das sich erweitert. Wir kippen ganz. Ich bin erleichtert, wir kommen nun doch hinein, nachdem die Schlammscheu gebrochen wurde, durchaus auch eskapistisch, da es leichter erscheint, zu schmusen, als sich mit der Situation, dass wir irgendwann schlammgetränkt von unter dem Steg hervorkommen müssen, zu beschäftigen. Wir hauchen einander auf die Hälse, berühren uns mit den Lippen, zwischen denen »Odem« getauscht wird, und so weiter, Ursuppe und Oberäther und Haarknäuel der Schicksale oder eine Münze fürs Totenreich. Wie die Münzen, die die Leute in die scheuen Pfannen am Wegesrand werfen, verbotenerweise, von unbeirrbarem Aberglauben angetrieben, wie er auch in Märchen festgehalten ist: der Gegenstand, den du jetzt loslässt, wird dich später retten.

So ist es für Gesten schon fast zu spät, als ich ihr die Leggings hinunterziehe und ihre weißen rasierten Beine in den Schlamm lege, wo meine Knie schon sind. Das Wasser hat sich in meinen Shorts bis zur Hüfte hochgesogen. Ich führe mich mit der Zunge in ihren Spalt, kalt heiß, und die Nase, wie in Kichern, in ihre Locken. Meine Hände unter ihrem Hintern fühlen den großen Unterschied zwischen Po und Kieselschlamm, und über uns auf der Blechgalerie gehen weiterhin die Touristen, deren Sandalen und Sportschuhe vor meinem inneren Auge paradieren. Ganjas Hände auf meinen Schultern, wenn ich darauf achte, scheinen zu sprechen. Gib acht, ob niemand kommt, denke ich ihr zu, wissend, dass selbst die größte Meisterschaft nicht ausreicht, um einen Geist von der gespaltenen Situation, aufs eigene Kommen und das Kommen von Gefahren gleichermaßen zu achten, in eine einzige Richtung ohne Namen zu ziehen. Doch passiert es – zufällig. Meisterschaft ist ein ganz falscher Begriff, es geht eher um Reinheit einer bestimmten Art, um die Abwesenheit falscher Ideen – aber mich lassen die Visionen von Sportschuhen nicht los, egal, was ich mit meiner Zunge mache.

Während wir im Schlamm aufeinanderliegen und uns berühren und außer wenigen Zuckungen fast nicht rühren, nicht aus Furcht vor der Wirklichkeit, nicht aus Zittern vor der unbekannten Gottheit unserer Liebe, nur aus Angst, schmatzende Geräusche im Schlamm zu erzeugen, denke ich, dass die Schönheit der Situation, in der wir uns befinden, jedem, der uns ertappte, eigentlich einleuchten müsste. Man kann Liebenden doch nicht böse sein! Das denke ich als Musiker. Nur, was in der Musik klappt, klappt noch lange nicht woanders. Wenn man die Musik nicht hörte, was für seltsame Aktivitäten wären die Bewegungen der Tänzer oder gar die merkwürdig spezialisierten Bewegungen der Musiker. Balz ohne Gegenüber, ein speziell menschlicher Irrsinn. Wenn ich Angst habe, dann vor so etwas, dass plötzlich die Musik nicht mehr Sinn ergeben würde; dass die Harmonie verschwinden könnte oder, in der Harmonie, der ja vielleicht illusionäre Antrieb.

Ewigkeiten rastlos ratloser Zunge und open mouth. What to say. Die leere Welt. Die so reaktive Zunge.

Ihr Mund will zu Wort kommen, zuckt, wölbt sich mir entgegen, wie um mich abzuschütteln oder mich bald zurückzubeißen. Doch die Revanche, um die Schlammwälzerei vollständig zu machen, will ich nicht, diese stumpfsinnige Aug-um-Aug-, Zahn-um-Zahn-Rechnerei, die Erkundungen zwischen Abenteuer und Handwerk zu Diensten degradieren. Ich will ehrlich gesagt auch nicht eine neue Version derselben Unbequemheit plus mehr Freizeit, um es wahrzunehmen, will nicht die unbekannte Hand an meinem Schwanz, ich bin das Unbekannte. Verschwinde wieder in meiner Zunge an ihrem Unterleib. Es scheint mir egal, ob sie – beiße mich geradezu fest an ihr, necke, locke, nehme, sauge, drücke, stoße –

Ein längeres Zögern von mir, wie am Ende einer Pendelphase, fällt zusammen mit einer Stille über uns. Das Licht geht aus. Alles Licht.

Die Algen, denke ich. Sie müssen die Zeit der Bestrahlung strengstens minimieren, und der Algenbewuchs auf den fragilen Steinen ist trotzdem nicht zu verhindern. Dann ziehe ich Ganja ganz in den Schlamm hinunter, und sie greift nach meiner Gürtelschnalle, Sinn flutet herein.

Später sitzen wir mit allen anderen im Garten bei Tisch, und der erste Wein wird eingegossen. Mit lässiger Geste teilen zwei Kellner frisbeegroße Teller mit Vorspeisen aus. Vor uns liegt ein langes, kostenloses Abendessen im Freien, der zweite Abend eines Kunstfestivals, an das wir uns schon akklimatisiert haben. Ganja erzählt Schwänke von ihren Kindern, und jedes schiefe Zucken ihres Lächelns – an dem, wie wir wissen, Kinder hängen – lässt mein Herz in der Hose herumknallen wie einen Tintenfisch in einem Plastiksackerl, der von Zeit zu Zeit noch einen Ausbruchversuch lanciert, Tinte verbreitet und so weiter. Ich schwelle an vor reiner Freude über ihr Sein, das mich angeht. Wie ein Wind in der Hitze ist der Gedanke an ihr Bewusstsein. Ein Sinn strahlt aus ihrem Mundwinkel, wenn sie mich nur kurz anschaut, und beruhigt mich mit Ironie, Wissen, das sie hat, viel Blödsinn auch, hat alles bei ihr Platz. Ein bisschen davon hat sie mit mir geteilt. Mehr ist doch gar nicht, ich mache die Kopfbewegung eines Schmollenden, gemeint ist ein Pferd am kurzen Zügel. Sie sieht mich an, als hätte sie mir ein Eis gekauft. Das Abendessen zieht sich, bevölkert neben den Künstlernnnie auch von einigen Fischen, die gegessen werden und deren Gesichter sich zwischen die der Trinker mischen als zwei weitere Persönlichkeiten. Ihre Augen treffen meine, ich kann mich von ihnen nicht losreißen, als wären es Fenster in den restlichen Kosmos.

Zwischen dem lockeren Gedeck türmen sich Vorstellungen, Anekdoten, Stile, Gestikulationen. Keiner will aufhören, hier zu sitzen in der kühlen Nacht. Als schließlich aufgebrochen wird, hätte ich im Fluss des Abends fast alles vergessen, was mich beschäftigte, und als fast schmerzgleicher jäher Schub von Nervosität erfasst mich die Frage, ob wir uns für die Nacht wohl wiederfinden werden. Gerade als es mir einfällt, zu zweifeln, bemerke ich, wie sie einen ruhigen Gang führt, um hinter der Gruppe zurückzubleiben, wo ich, mit den Fäden meiner Trainingshose spielend, mit besoffener Verzögerung den Blister in the Sun durch das nächtliche Grillengezirpe gehe. Es fließt so einfach mit ihr. In zwei Wortwechseln machen wir klar, dass ich später auf Zimmer 118 kommen werde mit einer Flasche von irgendetwas, was ich behaupte, im Gepäck zu haben, und hoffe, an der Hotelrezeption organisieren zu können.

Es gibt einen elenden Moment, als ich mit der Nase am Plastikfurnier der Hoteltür stehe, die bronzene Zimmernummer auf Augenhöhe (solche Details speichern noch die uralte Verbindung von Bronze mit der Elendsabteilung des Jenseits), Wein und Gläser in der Hand, befürchtend, sie wird nicht aufmachen, nicht da sein, schon schlafen, unwillig aufmachen, es sich anders überlegt haben, kalt sein, verlegen – das und die sichere Ahnung, wie unnötig diese Befürchtungen sind, mit der man sich der Realität gegenüber die Krawatte richtet; wie gefährlich sie ihr aber werden können. Dazu das lästige Pflichtgefühl, das meine Handlungen manchmal leitet, in der elenden Fernheit von Haut. Die Vorstellungen hält man sich aus Bescheidenheit und Umsicht vor den Leib wie ein Gastgeschenk, das niemanden erfreut. Bescheidenheit ist nur die Kehrseite von allzu großen Hoffnungen.

Sie war in der Dusche, deren Donnergeräusch durch Quietschen und Poltern abgelöst wird, ehe ein nasses Weib, Handtuch um die Hüften, Brüste auf Halbmast, mir die Tür aufmacht. Ich stelle die Trinksachen auf ein Beistelltischchen und falle auf sie los. Tropfen lauwarmen Wassers sinken in meine Lippen, wir in kantige Hotelleintücher.

Mitten in der Nacht wache ich auf und sehe sie im blauen Licht des Laptops mit rundem Rücken am Schreibtisch sitzen. Es ist schockierend, sie nackt in der ungesunden Haltung zu sehen, in der sie wahrscheinlich einen Großteil ihres Lebens verbringt.

Als sie das Rascheln im Bett hört, kommt sie zu mir zurück, überraschend schmiegsam, bringt ihre Kühle in meine heiße Umgebung, und ich verliere mich wieder in ihr. Sie gibt mir den Mund und alles und so, aber ich frage mich immer wieder, wo ihr mind ist. »Bei den Papieren, schon ein bisschen«, antwortet sie, als ich sie frage. Sie knipst das Licht an. Schnell wieder aus. Nicht so schwer zu verstehen, in diesem Fall, während wir wohlig und wach in der Dunkelheit aneinandergeschmiegt liegen. Sie hatte überlegt, jetzt die Wachheit durchzusetzen, aus höheren Gründen, die ja manchmal auch wie Injektionen zu irreren Schönheiten führen, wenn man sich mitten in der Nacht aufweckt, um ein Gedicht an den Mond zu verfassen, obwohl es kalt und man müde ist. Es war ihr aber zu brutal vorgekommen. Wahrscheinlich wusste sie auch nicht genau, was sie vorhatte. Ich zog sie noch mehr um mich, zog sie so gerne, sie kam gerne, und das Schlafen, Einschlafen, gott, so ein herrlicher Überfluss, eine Negation aller Ökonomie, wenn ein fremder Mensch einen vertrauten Menschen darstellt! Es gibt nichts Köstlicheres, es ist wie ein Genre, Koi im Teich, Rock 'n' Roll, fett fremd, zart, elegant, freundlich. Weil das Leben zu hart ist, um deppert zueinander zu sein. Auch, um nicht so zu sein, wie man es für schön hält. Und es klappt! Die Wirklichkeit erlaubt mich! Bejubelt mich auch noch, so ist es nämlich. Ein weißer Arm um meinen müden Bauch.

Und mein Schwanz kann sich zurückziehen in seine mysteriöse Eumelwelt wie die Psyche eines Kindes.

Ich habe das Gefühl, dass sie mich nicht ernst nimmt, und kann mich da hineinschmiegen wie in ein Elternhaus. Das kommt mir bedenklich vor, aber ich kann dagegen gerade nichts tun. Es ist schön. Wir vertragen das. Und ich sehe sie ja auch an. Ich sehe ihre müde Haut, die mir voller Mut und Hoffnung erscheint, weil sie trotz und nach allem so voller natürlicher Radioaktivität ist. Sehe ihre und meine Haut, schwammiges Substrat vereinzelter Haare, schon einen Hauch aufgequollen, »wie« von Alkoholikern. Krähenfüße, die allzu viel Lachen und Lächeln anzeigen, wie von Leuten, die ihre Zeit unter anderen Menschen verbringen, denen sie gefallen wollen oder müssen. Auf den ersten Blick sympathisch, auf den zweiten weiß man, wir sind Nutten. Aber was solls? Obwohl die Frage, wer man wird, so wichtig erscheint, liegt auch das kaum in der eigenen Hand. Nur Zügel liegen da, fast unberührte Satinbände, man weiß nicht, wo genau der weiche, flaumige, schwere Tiermund der Seele zu finden wäre, mit dem man mit ihrer Hilfe kommunizieren soll.

Um fünf herum stehe ich im stillen Flur, den das erste Morgenlicht berührt. Diese graudämmrigen Minuten, bevor der Hotelbetrieb beginnt, teile ich mit dem Menschen, den ich auf einem Moped unten beim Kücheneingang ankommen höre. Ich sehe auf mein Handy und begreife, dass ich von einer ankommenden Nachricht meiner Mutter geweckt wurde. Es sind nur ein paar wahllose Stickers, die Uhrzeit ist die Aussage. In letzter Zeit ist es, als würde sie aufwachen aus einem mehrere Jahrzehnte andauernden Stupor oder einer Verpuppung, in der sie die zur Kinderaufzucht notwendigen Haltungen verkörpert hat, die sie jetzt nicht mehr braucht. Ein bisschen ratlos steht sie jetzt in der Welt, die nicht ihre ist, weder Slowenien noch Wien, Euphorien flackern auf, sie verfolgt Ideen eine Zeit lang obsessiv, die dann, wenn ich sie wieder besuche und danach frage, ganz vergessen sind. Obwohl sie mir immer Konstanz und Geduld gepredigt hat, ist sie selbst inkonsequent und mutlos. Wahrscheinlich daher die Ermahnungen.

Gräser wackeln im Wind gegenüber der Küchentür in diesem blauen Licht sowie die ganze Strecke der Autobahn entlang, wie ich mir vorstelle. Tau rinnt entlang dieser Zeitzone an den Rücken von Kühen hinunter und macht dunkle Schlieren. Die Kühe zucken, der Nebel weicht zu langsam. Ich fluche, aus Mitgefühl. Die Überlagerung von Schlieren und auf Karten visualisierten Zeitzonen wie Wolkenschatten in meinem Kopf erinnert mich an einen HD-Film, geile Auflösung. Ich eile aus dem Hotel und schmeiße mich auf eine rauhe Stelle im Asphalt, um die Wirklichkeit von jetzt und hier zu spüren, aber ich schmeiße mich nicht richtig, rolle ab wie ein dämlich selbstvergnügter Ringer, ohne die Wirklichkeit gespürt zu haben. Will die Stirn vor Glück auf dem Asphalt zertrümmern, aber lege sie nur vorsichtig hin und seufze dabei hilflos. Und hoffe, dass Ganja und auch der Koch nicht aus dem Fenster schauen. Oder will ich es heimlich doch? Nein! Es ist peinlich, und nur, weil ich immer noch betrunken bin, denke ich, diese Sachen drückten genau aus, was Ganja wissen soll und ich ihr daher mitteilen will. Sie drücken in Wirklichkeit nicht genau das aus, und es ist auch nicht ausgemacht, dass sie das alles wissen sollte.

Der ganze Reichtum der Welt spiegelt sich mir in dieser blutjungen Erinnerung an den ruhigen Atem der schlafenden Frau, in deren Rachen tief unterm halboffenen Mund ein samtiger Luftzug sacht die Stimmbänder streifte. Die ich mit der weißen Hotelbettwäsche, die niemandem gehört, zudeckte, als ich mich aus dem Zimmer hinaustastete. Was kann man mit solcher Schönheit und solcher Rührung machen, als sie zu verschwenden?

Sie sitzt mit zwei Kolleginnen in einer Ecke und schmiert Butter auf ein Brot, als ich in den Frühstücksraum komme. In ihrer Art, Stullen zu schmieren, verkörpern die drei zugleich das Mondäne von Exilanten und die versammelte Gelassenheit morgenmüder Arbeiterinnen. Als gäbe ihnen ihre Vergangenheit eine Ruhe, aus der heraus sie blühen. Sie trinken alle Tee. Ich setze mich mit der jovialen Geste, die zu meinen nach hinten gekämmten nassen Haaren passt, zu ihnen, ohne zu fragen. Unsere vier verschiedenen urbanen Parfums stoßen aneinander, die Duftblasen, die ich in meiner Vorstellung visualisiere, vermischen an den Rändern ihre Bestandteile, weil wir leben in derselben Welt, auf gemeinsame chemische Rechnung. Jeder von uns will so gut sein und ist so nervös, sagen mir ein paar Moleküle in ein paar Mikrosekunden in die Nase. Warum bin ich heute so voller Erbarmen?

Die drei wollen nach Lipica, um an einer berittenen Führung durch das Gestüt teilzunehmen. Ich biete an, sie hinzufahren, und wir verlassen schnell das Frühstück und steigen ein, die Zeit ist knapp, wir müssen um halb zwei zurück sein.

»Was, du fährst ohne Navi? Kennst du dich hier aus?«, fragt Konstantina.

»Navi-Vibes sind schwanzverkürzend«, erklärt Ganja.

Ich konzentriere mich auf die Straße. Warum erfüllt es mich mit Stolz, aufgezogen zu werden? Ich bin wohl ganz dumm. Für sie bin ich wahrscheinlich eine Art Trash, ein Spielzeug, wie man sagt. Es ist nicht schwer, den Schildern zu folgen, die noch aus der Zeit vor Navis stammen, die eigentlich nicht lange her ist. Nur wir sind so in einem Rausch von Kleinigkeiten, dass es wie aus einem Traum aufzuwachen ist, daran zu denken. Außerdem verschwindet der Unterschied. Die ganze Welt ist designt von und für Leute, die keine Anleitung haben. Intuitiv, für was für Leute? Ich denke, dass man die Fähigkeiten zur Orientierung in einer nicht-nutzerorientierten Landschaft abbaut, wenn man sie nicht gebraucht, weil man erwartet, dass die Umgebung einen errät und nicht man sie. Ich bevorzuge es halt, im Verborgenen zu bleiben, sehe lieber, als gesehen zu werden.

Mit einem Hauch von Gangsterschwenk lasse ich die reitwilligen Frauen mit ihren Velourslederhandtaschen, Quasten, Stiefeln und Pferdeschwänzen vor dem Personeneingang aussteigen. Schwanzunverkürzt, oida.

Ich finde einen schattigen Parkplatz – schlecht geparkt, macht nichts, Fenster offen, noch mal alles aufmachen, egal. Der Schlüssel wie eine Feige, besser: eine riesige Olive in meiner Handfläche, Olive von Zeit, etwa zwei Stunden. Ich gehe die weißen Zäune entlang, wo ein paar Krähen im Pferdemist picken, herumsausen, auf den Zäunen stehen. Streichle ein paar bösartig schauende Shetlandponys und bekomme sofort dick Rückendreck auf die Hände. Alles egal. Ich streichle den Zaunpfosten, bis der Dreck wieder unten ist. Schlendere weiter. Der Anblick der Natur begrüßt mich, als wäre ich länger fort gewesen, war ich auch. Karst, denke ich voller erwidernder Zuneigung. Karst Karst Karst, voller Löcher, Fließmöglichkeiten, wie Kichern, wie Löcher in Unterhosen (ihre war durch beide Schichten hindurch an unterschiedlichen Stellen durchlöchert), wie Lücken in der Security, die ich als ehemaliger Jobber im Securitybereich automatisch bemerke. Wie schön wäre es, wenn sie hier entlanggeritten kämen. Der slicke Orientierungsplan des Gestüts Lipica, den ich betrachte, besteht materiell, in meiner berauschten Wahrnehmung, aus reiner Spekulation. Sie flimmert in der Luft wie der Pappelflaum. Dieser Plan aber schaut aus wie die Kekse, die man Spekulatius nennt und die ich nur aus dem Supermarkt kenne, weil sie mich als Kind beeindruckt haben, wie der ganze Supermarkt, diese teuren Raumschiffe aus dem Westen, während sie wahrscheinlich in irgendeinem deutschen oder flämischen Städtchen das Kulturgut Nummer eins sind und eine dortige Kleinfirma plötzlich voll auf Export ging. ‌

Verschiedenes, das man aus verschiedenen Gründen braucht, in einen quadratischen Grundriss eingeritzt. Nicht nur die Bilder der Maya, auch ihre Zahlen und Zeichen sehen so aus. Und zwar aus genau denselben Gründen wie hier, Anpassung an das Innere eines Rechtecks. Der Ausdruck, nein, Abdruck der menschennotwendigen Anpassung an die Häuslichkeit, deren Notwendigkeit für die Verbesserung der Lebenslage man irgendwie einsieht, nicht aber die unbedingte Notwendigkeit der Verbesserung der Lebenslage. Aber man macht es halt, den Liebsten zuliebe.

Und was ist das für ein Style? Was bedeutet das Rechteck für uns, die es so mögenden Menschen? Warum nicht wie Wespen und Bienen Hexagone? Es gibt rechteckige und runde Hütten und Paläste, aber wo sind die dreieckigen?

Sie würden uns wahnsinnig machen. Überall, wo die eine Ecke nicht ist, sind die anderen beiden. Die Stärke des Vierecks ist dieses Spiel, dass immer eine Ecke nicht im Fokus ist. Eine Ordnung, die durch eine gewisse Großzügigkeit für die Realität geeignet erscheint. Ich lache mit den Krähen, die so wie ich auch irgendetwas mit den Füßen und Flügeln machen, was nicht so wichtig ist und nur kurz ihre Aufmerksamkeit spielend in die Hand nimmt.

Es ist so schön, es gefällt mir so gut, es ist mir egal. Ich wünsche, die Frauen auf den Pferden zu sehen, und lasse den Wunsch auf dem Weg vor mir herumtollen wie ein Hündchen. Am wichtigsten ist mir, dass ich noch so wünschen kann, mit dem ganzen Körper. Ich finde das lustig. Ich bin mein eigenes Spielzeug, so.

Gehe also die weißen Zäune entlang, sehe die Herde der weißen Pferde stehen, während das Gras weht. Ein Grauer (das sind die Adoleszenten) klettert gerade die Böschung vom Karst-Wasserloch hoch, als wäre der Schlamm (O Schlamm! Ich habe frische Kenntnisse von Schlamm!) phylogenetisch hängengeblieben, etwa, um eine Sünde zu büßen? Ich lache fast laut, obwohl der Witz nicht fertig, der Einfall nicht wirklich lustig ist, nur die Gegenwart mit Mittelalterlogik verbindet. Dann lache ich, nachdem ich mich vergewissert habe, dass keiner in der Nähe ist, wirklich laut auf, beuge mich vornüber, et cetera.

Schlendere an einem knutschenden Paar auf einer Bank vorbei, die von weitem wie Teenager aussehen, nur dass man nicht gut erraten kann, wer welches Geschlecht hat (warum macht das immer doppelte Aufmerksamkeit?), aber von nahem sich dann als ungefähr Sechzigjährige herausstellen, mit gegerbten Gesichtern, gefärbten Haaren. Pferdige Leute.

Mittlerweile ist es mir vor lauter fröhlicher Natur schon fast egal, ob sie hier entlangkommen oder nicht. Ich sehe die Spuren von Hufeisen auf dem Asphalt, über den ich gehe, kleine weiße Würmer. Ekstase.

Bandprobe kommt nicht richtig in Fahrt, ich halte sie auf, bin irgendwie noch woanders. Während ich mit dem Feuerzeug den Kronkorken von einer Bierflasche löse, bei mehreren Versuchen abgleitend, als wollte ich gar nicht richtig trinken, stürze ich in Memes der Leutseligkeit, die ich irgendwo abgeschaut habe. »Ich muss euch was erzählen!«, »Kinder, muss ich euch was erzählen!« So stolz bin ich auf die Eskapade unter dem Touristenpfad. Aber ich finde keinen Anfang. Die anderen richten ihre Kabel her und kümmern sich nicht um mich. Ich irre still herum in dem, was an Bildern geblieben ist: ein paar Szenen nur, aus der ganzen langen Zeit, die wir uns die Geländer entlangtasteten, frisch jubelnden Geschlechts, wie die ersten Höhlenforscher oder wie Kinder im frühen Gedächtnis, mal schon ermüdend Hand in Hand schlurfend, mal scherzhaft – aber es funktioniert tatsächlich! – nach Art der Fledermäuse mit Klick-Geräuschen die Größe der Räume erratend. Und auf alles noch unsere Geilheit projizierend, aus lauter Überfluss an Lust auch noch objektsexuell. (Die Höhle von Postojna heiraten, dazu bräuchte man sicher viel Geld, sagten wir, in ihr stehend, aber man könnte sie dafür in sich selbst heiraten, bemerkten wir weiters, in einer ihrer dafür so geeigneten Hallen.) Das langsame Kommen des Lichts vom Ausgang, endlich, kaum geglaubt, wirklich, über fünf Ecken immer mehr kommend, dankbar wie eine Morgendämmerung. Das Zeitgefühl hatte ausgesetzt, wie in den alten Touristenführern angepriesen: Zwei Stunden werden Ihnen vorkommen wie eine! Unser Gewand war schon fast trocken. Der Schlamm, krustig, flockte ab, wo man sich berührte, trotz der Feuchtigkeit. Wir knutschten noch in einigen feuchten Ecken am Weg, knutschten und bröckelten einander Schlammscheibchen von den Unterarmen, knutschten und bröckelten. Die Hand auf der Klinke des gusseisernen Höhlentors, und eine Riesenerleichterung: Es ging auf.

Sonnenlicht und fast noch Hitze, abendliche Farben, Normalität. Die Standler packten ein. Wir schlenderten die Allee entlang, Blicke erntend, die dem Schlamm galten, gelegentlich den Rücken des anderen berührend, als müssten wir uns im Sündigen trösten und schützen – das war das Sentiment, das uns unsere Hände loslassen ließ wie heiße Sachen, wo der Schaden mit jeder Millisekunde anwächst. Und eine plötzliche Unsicherheit, ihren Namen betreffend, erfasste mich zusätzlich. Ob ich ihren Spitznamen überhaupt richtig verstanden hatte und wie sie wirklich hieß. Ich probierte ihr verschiedene Namen an. »Es spiegelt ja den Weltzustand wider, aber –« Gundula: »Wieso aber?« »Es ist nicht gut, sich im schlechten Verhalten zu solidarisieren.« Granola, leidenschaftlich: »Wieso schlecht? Wieso unmöglich?« Ich setzte an, widerwillig ihre Rolle aufsagend, sie lenkte ein: »Stimmt natürlich. Es geht nicht. Es geht nichts. Die Kinder. Die fucking Kinder. Der liebe Mann. Er wäre gekränkt. Er wäre wirklich gekränkt. Ja so ist es.« Sie fluchte noch ein bisschen und nestelte mit dem Blick in den Kastanien herum, als wartete sie darauf, dass ihr ein Aspekt einfiele, der es erlauben würde. Ich hoffte es auch. Sie wandte sich zu mir und nahm meine Hand zum Handshake in ihre beiden, immer noch zögernd: »Du verstehst.«

Und langsam musste ich der gemeinsamen Wahrnehmung beistimmen. »Klar. Sicher. Fucking eh klar.« Gegenseitige existentielle Aggression – warum bist du nicht noch mit den Schenkeln um mich, warum zwingst du mich nicht zu den notwendigen Dummheiten, warum bist du auf der Seite, wo wir nicht sein können – drückte sich in einer kameradschaftlichen Geste aus. Lahm wie ein Aal im Korb.

So cool nebeneinander gehend – Gerlinde, Sonnenbrille über roten Lippen, telefonierte jetzt mit ihren Kindern –, kamen wir zur Gruppe zurück, die bei Kremšniten und Kaffee auf uns gewartet hatte und nun hochblickte in Erwartung einer saftigen Geschichte. Wir erfanden in Wechselrede etwas von langwierigen Versuchen, in den Höhlen Silly Walks zu filmen, und einem Sturz, der uns aufgehalten habe, sodass wir den letzten Zug zurück zur Höhlenöffnung verpasst hätten. Nein, nichts sei aus den Filmen geworden. Es war zu dunkel. Unsere Mundwinkel zuckten.

Und während die anderen redeten, hockten meine Augen in den Bäumen und schwammen in Trauer und Verzückung zugleich, und ich versuchte, mir alles schönzureden. Kein Gedanke, nur eine vage heitere Melancholie, wie schnell aus einem Wagnis (einer Vagina) Realität, aus Realität Vergangenheit wird. Nicht festhalten. Das, was dir geschenkt wird, wird dich später retten, indem du es hinter dich fallen lässt. Du steigst auf, weil du es nicht festhältst. Eine Logik wie für eine Heißluftballonfahrt. Weisheiten von Nomaden, aufgeschrieben viel später, als man schon seit Generationen sesshaft war und die Geizhälse begannen, sich evolutionär durchzusetzen und die ehemals praktischen Weisheiten etwas Konterintuitives bekamen, wie mystische, provokative Rätsel. Sogar die Namen, die wir tragen, sind wie Gehege, unter denen wir durchschlüpfen müssen. »Wie heißen deine Kinder?«, fragte ich Ganja bei Tisch. Sie hörte die Frage nicht. Der alte slowenische Kollege tippte ihr auf die Schulter, und sie zuckte zusammen. Wie ertappt stieß sie fast ärgerlich die Namen aus: »Igor, Tomaš.« »Zwei Söhne also.« »Zwei Söhne.«

Die ganze Stammkneipe lacht auf, ich schrecke aus dem Schlaf hoch. Irgendwas habe ich nicht mitbekommen. Es läuft Radio, gelöstes Gelächter vereint den Raum in einem dieser goldenen Lokalstunden, die die Trinker und Trinkerinnen dazu bewegt, ihr Lokal so zu lieben, wie es nicht möglich wäre, eine Familie zu lieben. Als das Gelächter droht, langsam wieder in die Biere zu sinken, spielt die Wirtin mir die Nachricht, über die sie lachen, noch einmal vom Handy ab. Jetzt kann ich mitlachen. Israel ist in ein Paralleluniversum verschwunden. Es ist nicht der 1. April, es muss ein Übersetzungsfehler sein, der sich irgendwie durch die Pressemeldungsbüros gefressen hat. Die Sprecherin sagt aber: »Wir haben noch einmal nachgefragt, nein, Sie haben ganz richtig gehört, der Staat Israel wurde mithilfe einer Gruppe von Wissenschaftlernnnie mit sofortiger Wirkung in ein Paralleluniversum versetzt. Palästina steht jetzt vor der Aufgabe, die bestehende Infrastruktur mit Plantagen und Verkehr in Betrieb zu nehmen und die Verantwortlichkeiten zu verteilen. Wir berichten in den nächsten Tagen weiter von diesem Prozess.« Schaltung zurm Expertnie, eine geschlechtsneutrale Computerstimme mit maximaler Güte (Einstellung »comfortable professor«) erklärt: »Seit langem wird in der Quantenphysik die Idee des Paralleluniversums als möglicher Ausweg aus anders nicht zu lösenden Widersprüchen verfolgt. Unter Quantenforschern war es schon lange eine theoretische Frage. Jetzt wurde ein Versuch in der Wirklichkeit angesetzt. Nicht zuletzt aufgrund eskalierender Probleme in der Realität beschlossen die Wissenschaftlernnnie nach tiefgehender Beratung, dieses Wagnis einzugehen.

Man kennt es von der Beobachtung sogenannter Quark-Partikel und ihrem Eintreffen auf einem Bildschirm, aber auch von einer Klasse Schulkinder: Sobald man sich umdreht, sind sie still.

Die Frage, wie etwas zugleich da sein und nicht da sein kann, beschäftigt seit Urgedenken die Menschheit und ihre Religionen. Man kennt etwa Schrödingers Katze, das leere Grab eines bis heute populären Predigers oder die ungewisse Einfühlung in eine Fledermaus. Wenn man nun fragt, wie kann das sein, lautet die Antwort: durch Paralleluniversen.

Sie lachen vielleicht und wollen den Spruch im Alltag verwenden, wenn Sie wieder einmal zu spät nach Hause kommen. Aber auch die Probleme der avanciertesten Teilchenphysik kreisen um die nicht totzukriegende Differenz zwischen Theorie und Praxis.

Machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie das nicht verstehen. Die heutige Physik nähert sich der Philosophie an, unter anderem dadurch, dass sich beide dieselbe Frage stellen: Was ist Verstehen? Verstehen Sie, etwa, Ihren Computer? Wenn Sie vor 1980 geboren sind und …«

Josip fuchtelt verzweifelt mit den Händen, und die Wirtin macht das Handy aus. Im übriggebliebenen freien Radio spielen sie Zappas Bobby Brown. Unser Humor wird abgestanden, kommt uns vor, in einer dieser unerwarteten hellen Momente. Unsere Scherze, von der Realität eingeholt, zeigen nicht viel mehr als ein bisschen Geschmacklosigkeit.

Und noch eine Szene schiebt sich auf die unsichtbare Projektionsfläche zwischen mir und den Bandkollegen, rutscht herum wie die Partikel im Auge an einem Sommerspätnachmittag. Zu unserem Gig, der großen Projektion am Marktplatz zur Einjahresfeier der jungen Grottenolme, kommen wir pünktlich. Die Kastanienblätter wehen, die Visualistin hat schon alles fertig, war auch seit vorgestern am Werk, und sitzt jetzt in der Ecke des Platzes mit einem Dosenbier und langweilt sich. Sie ruft uns müßige Kommentare zu. Wir ignorieren sie, mit dem eigenen Zeug beschäftigt, und sie rollt sich eine Zigarette. Ich verkable alles und befestige die Kabel mit Kabelbinder. Ich hasse lose Kabel, bilde mir aber nichts mehr darauf ein. Spiele mich unten am Fluss auf der Trompete ein, Ganja ändert (scheint mir) noch ein letztes Mal ihren Text und legt sich zwei Schallplattenstapel zurecht. Sie kommt ja aus Postojna. Auf diesen Straßen, die damals noch nicht asphaltiert waren, an diesen Hauszäunen und Hecken hat sie ihre Teenagerzeit verbracht, bevor sie nach Ljubljana abhaute. Sie wird den Soundtrack ihrer Jugend jetzt verscratchen. Das sind Schallplatten, die zum Teil auf dem Markt mehrere Hundert Euro einbringen würden, zum Teil völlig wertlos sind. Der Filter einer Kindheit im Ostblock, oder einer Kindheit überhaupt, unschuldig der Spekulation auf künftige Wertschöpfung, rein inhaltsbezogene Begeisterung. Ich bin gerührt. Ganja gewiss auch, aber was fangen wir mit dieser Rührung an? Außer sie als Mehrwert auf dem Kunstmarkt zu verrauchen?

Der Platz füllt sich mit dem Gesäusel einer großen Menge unter freiem Himmel, akustische stille Flamme wie von einem Osterfeuer, und dann ist es schon dunkel geworden. Die Bürgermeisterin spricht ihr Grußwort, die Projektion wird beklatscht. Wir fangen mit einer langen Orgelnote an. Billy am Bass geht mit seinem unnachahmlichen Gang hinein. Ich beginne sanft, aber jauchze ziemlich bald und viel zu früh drauflos. Die Versuchung voreiliger Euphorie kriegt mich immer. Ich habe eh Angst, dass es zur Manier wird. So etwas darf man nicht jedes Mal machen.

Deswegen brauche ich, was keiner wissen darf, den Job im Salsa-Orchester, wo ich nach Noten Querflöte spiele, einzelne liegende Töne, die über dem pulsierenden Zirkus liegen wie Wolken oder Flugzeugbanner. Eine stumpfsinnige Arbeit, langweiliger als die der Angestellten, die den Tanzsaal am nächsten Morgen reinigen. Ich starre auf die Schenkel und rotierenden Hinterbacken der romantisierten Pärchen und verpasse regelmäßig die Einsätze. Aber mein Ohr ist gut genug, dass meine Reparaturen die Nummern sogar fast verbessern, jedenfalls interessanter machen. Ich sehe manchmal, wie ich die Tanzenden mit den falschen Tönen auf Abwege locke. Meine Soli klingen einfach nach Abwegen. Die Paare finden sich plötzlich mit ineinander verquirlten Armen auf dem Gang zum Klo wieder, blicken sich etwas verwirrt in die Augen und beeilen sich, wieder ins Gewühl auf der Tanzfläche zurückzukehren.

In Postojna fliehen jetzt projizierte Architekturen über die Fassaden, gespickt mit kokettem Stocken, pfauenhaft naturmimetischem Wegfließen, während Ganja eine Rockabilly-Nummer in Extrem–Schnellvorlauf abspielt. Passt überhaupt nicht zusammen. Wir hören Johnny Cash als Kinderstimmchen. Darauf bringt sie die Titelmelodie von Miami Vice. Die Architektur bleibt stehen und beginnt sich zu drehen, andere Richtung, bleibt wieder stehen. Dann endlich geht es mit der Musik in die Ljubljaner Punkszene, ihre Heimat. Es fühlt sich an wie ein Heimkommen in einen echten Anfang, das ist ein Raum, wo man sein kann.

Glitches öffnen aus dem Platz von Postojna heraus kleine liquide Schlupflöcher in den Kosmos. Die Toröffnungen werden an alle Küsse erinnert, die in ihnen getauscht wurden, an das Dunkel der unrenovierten Häuser, an die Gehänge gebündelter, zusammengestohlener Kabel, die einem in die mit Schuhwichse aufgestellten Haare fahren, während man unter einen selbstgeschneiderten Minirock greift. Die Visualistin hat alte Lithografien und Postkarten von den Höhlen in der Projektion verarbeitet. Die charakteristischen Linien einer stark vergrößerten Radierung im Negativ streifen die alten Häuserfassaden und sind so geschickt angelegt, dass aus den Gründerzeitornamenten Tiefen und Räume zu entstehen scheinen, sodass das bürgerliche Dörfchen zu einer wilden Tropfsteinhöhle wird.

Jedes Mal, wenn Ganjas Kanal in meinen schneidet, bekomme ich intravenöse Schüsse von Freude, als würde ihr Kanal alles wie ein Kurzschluss zerflammen und umdeuten, mit ihren Mustern kämmen, umlegen. Herzklopfen jagt durch ihre Musik, Herzklopfen, das ich auffange und durch die Trompete schleuse, die Hand zitternd am Rate-Knopf. Kräherei, Erektionsprunk. Wenn wir uns nicht verweigern, werden wir noch oft zusammen spielen, immer immer immer werden wir werden wir, das ist so geil. Endlich einmal ist eine Kooperation wirklich gut, wie seltsam. Ich hasse diese Kunstscheiße und auch sie. – Wie?

Auch sie hasst sie. Oder nicht?

Gibt es einen Aspekt, den ich am Nichthassen von Kunst nie verstanden habe? Pegelt sich der jetzt gerade in mir hoch?

Oder verdient sie einfach nur Geld für ihre Kinder und ist darin gut, professionell?

Wie lange macht sie das schon?

Warum ist sie nicht so lächerlich wie ich? Bin doch gar nicht lächerlich. Aber wohin mit dieser sich überlegen fühlenden Ebene in mir, die immer alles lächerlich findet, eben sich selbst auch? Die am Busen des Kosmos zu liegen scheint und dessen Herzschlag wie eine Tempelglocke alles in Resonanz und Friede taucht – solange ich nichts mache?

Bin ich eifersüchtig auf ihre Professionalität? Sehe ich sie als eine Blindheit an, die ich nie haben kann?

Ich schlittere auf diesem Gedanken wie auf dem Rad in nassem Schnee in die Bandprobe zurück. Man muss arbeiten. Man muss sich konzentrieren. Das ist Demut. Die braucht die Musik, wie Menschen Kuchen brauchen.

Ich kriege also mein Bier endlich auf und starre mit der Flasche in der Hand auf das dreckige Fenster, während sie die Harmoniefolgen durchbesprechen. Nur nicht den Text abnutzen. Ich schreibe einen neuen, drechsle Strophen, wie ein kunsthandwerklicher Schnitzer von Proteussen für Touristen Proteusse schnitzt. Manche gelingen besser als andere, alle werden verkauft. Gelegentlich kichere ich in mich rein.

Der Grottenolm, wer ist das schon,

ein Wesen ganz aus Chromosomen,

am Leben schon seit hundert Jahren,

braucht nichts mehr tun: Er IST die Form.

Der Grottenolm, der Grottenolm,

geboren, um in mind to roam,

his grandmother was styrofoam,

er ist immer noch oarm.

Der Proteus, der Proteus

ist alles, was man je gewusst.

Blickt man ihm einmal ins Gesicht,

ob ja, ob nein, er weiß es nicht.

Er ist das Gegenteil von Orakel,

ein fast unsichtbares Spektakel,

ohne Drohung, ohne Sinn,

man weiß nur fix: Er ist da drin.

Er war ja drin, erzähl ich stolz,

doch hab ichs selber nicht gesehn.