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Die Geschichte von Matorrhah Et Aurum trug sich zwischen den Jahren 55 und 87 nach Christus zu. Das keltische Mädchen wird von den Römern entführt und kommt in die damals blühende Stadt Pompeji. In bunten Bildern beschreibt sie ihr Leben, ihre Gefühle und die Alltagssituationen in Germanien und der neuen Stadt. Der Tag des Vulkanausbruchs ändert alles. Wieder muss Matorrhah eine neue Heimat finden. Doch diesmal ist sie nicht alleine. Sie hat einen Sohn, den es zu beschützen gilt. Ein spannendes Buch, das Einblicke in das Leben vor 2000 Jahren gibt.
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Seitenzahl: 423
Veröffentlichungsjahr: 2025
Aster Moos
M.E. 55 - 87 n. Chr.
Oberpfalz Pompeji Chiemgau
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
1Beginn
2Die Wanderung
3Mein Leben im Dorf
4Fremde Länder
5Collin
6Die neue Stadt - Pompeji
7Wann
8Festland
9Der Andachtsort
10Mein Alltag & mein Glaube
11Pius Jahim Severus
12Das starke Erdbeben
13Der letzte Sommer Pompejis
14Ich erinnere mich
15Die rauchende Nacht
16Ein Neuer Anfang
17Im Römerlager
18Lebewesen
19Flucht
20Mein Herbst & mein Winter
21Nachwort
22Danksagung
23Personen im Buch
Impressum neobooks
Manche Geschichten schlummern tief in einem und warten nur darauf erzählt zu werden.
Ich wurde geboren zu Tonnach am 8. Knoten im 12. Monat, in einem kleinen Dorf, als Tochter zufriedener Leute. Meine Eltern nannten mich Matorrhah. Meinen Beinamen Et Aurum bekam ich später von den Römern, aufgrund meiner blonden Haare, die in der Sonne wie Gold glänzen. Als man mir sagte, ich solle meine Geschichte aufschreiben, tat mir das wenig Laune. Denn fand ich nichts Besonderes an mir. Ich war nur eine weitere, blonde, hochgewachsene Nordfrau im römischen Reich, verheiratet mit einem Geschäftsmann, Mutter eines Sohnes. Um mein Leben erzählen zu können, bedarf es geschichtlicher Tatsachen, die erst im Laufe der Zeit Namen fanden. Diese sind in den Roman eingeflochten. Damit kann sich der Leser eine Vorstellung meiner Aufenthaltsorte und der Chronologie machen. So beginnt meine Geschichte nach moderner Zeitrechnung etwa um die Jahre 55 nach Christus, in einem Dorf an der Donau im Land der Wäldler, dem heutigen Deutschland. Wenn ich versuchen wollte, meine Geschichte aufzuschreiben, mit all den Erlebnissen, Begegnungen und Gefühlen, so ist das eine große Aufgabe. Nicht, weil ich mich nicht mehr daran erinnere, sondern weil sich meine Erinnerungen mit Eindrücken, Illusionen, Lärm, Schreie, Weinen, Lachen und bunten Bildern vermischen, so dass ich den wahren Verlauf der Geschichte nicht mehr recht nachvollziehen kann. Dies ist mein Leben, so wie ich es gelebt habe. Ich überlasse es den Geschichtenschreibern und Gelehrten die äußeren Umstände, wie Politik oder Geografie, zu deuten. Denn weiß ich nicht mal den Namen meines Dorfes, oder der nächsten größeren Siedlung, aus der ich stamme. War ich doch ein kleines Mädchen von 12 Jahren, als man mich von dort fortriss. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, höre ich das Rauschen des Waldes, das Plätschern des Flusses und die Worte meiner Mutter:
»Thu bist Matorrhah vom Gorm Bein, am Flow Tonnach.« Was da heißt: »Du bist Matorrhah vom Blauen Berg, am Fluss Tonnach.«
Mit dieser Ortsangabe fand ich nicht zurück. Auch weiß ich nicht, wie mein erster Bestimmungsort hieß, als ich über die Himmelsberge oder wie sie später hießen, die Alpen, in das mir neue Land Italien kam. Es ist auch nicht wichtig, welche Namen diese Gebiete tragen. Wichtig ist, wie ich sie erlebt habe und was sie mit mir machten.
Ich war lange eine Rastlose. Eine Getriebene, die stets versuchte, nach Hause zu kommen. Wo dieses zu Hause war, wusste ich nicht. An einem Fluss, mit einem Berg, den wir den Blauen Berg nannten. Meine Sehnsucht nach diesem Ort, den dort lebenden Menschen, nach der Kraft, den Geräuschen und Gerüchen war lange Zeit ungestillt und zermürbte mich. Ich drohte daran zu zerbrechen. Wenn ich jetzt im Alter darüber nachdenke, kann ich mit Recht behaupten, dass ich unendliches Glück hatte. Zumindest in manchen Dingen. Wohl kam es mir damals nicht als solches vor, sondern als Qual, Verschleppung, Ruhelosigkeit und innere Hektik. Ich erkannte damals nicht, dass ich selbst diejenige war, die sich diese Gefühle antat. Ich erkannte nicht, dass ich diejenige war, die die gleichen Dinge anders hätte erleben können. Egal was man erlebt, es ist die eigene Einstellung dazu, die dir sagt, wie du es erlebst. Das Was ist nicht interessant. Sondern das Wie. Ich hätte mir selbst eine andere Einstellung dazu erlauben sollen. Dann wäre mir viel Kummer erspart geblieben. Der größte Schmerz in meiner Brust, der auf immer blieb, war die Ungewissheit, was mit meinen Liebsten geschehen war. Und die Sorge, die ich ihnen nehmen wollte, denn sie wussten nicht, was aus mir wurde.
Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich Bilder, die ich als Worte hier auf Papyrus niederschreiben will. Ich beginne mit den Bildern, die mir als erstes im Kopf aufflammen. Die Wanderung.
Das passive Ich.Wir waren in den Bergen. Einer höher als der andere. Von Schnee bedeckt. Kalt, grau und einsam. Wie in einem Traum folgte ich den fünf Anderen. Wir liefen hintereinander. Ich war nicht freiwillig hier. Immer wieder sank ich in den kalten Schnee und hatte Mühe herauszukommen. Die harten Eisschilde schnitten mir ins Fleisch. Keiner der Anwesenden half mir. Jeder war sich selbst der Nächste. Langsam, Schritt für Schritt, wanderten wir auf unsichtbaren Pfaden. An der Spitze der Wanderer lief er. Er war derjenige, der mich in diese Gegend gebracht hatte. Er war der Grund meines Verschwindens, meiner kalten Füße, meiner aufgesprungenen Lippen, die nach Wasser dursteten. Er trug ein hemdartiges Kleidungsstück, das aus feinem Stoff bestand. An seinem Gürtel hatte er eine Wasserflasche befestigt, nebst einem Dolch. Ich hatte nie seinen Namen erfahren, obwohl er in meinem Leben eine derartige Rolle spielte. Um der Kälte zu trotzen hatte er sein Gesicht unter einem Tuch verborgen, darüber wippte bei jedem Schritt ein Wolfsfell, das so lang war, dass es ihm um die Waden spielte. Hinter ihm lief ein Junge, bei ihm zwei Esel, die schwer zu tragen hatten. Dann kam ein etwas älterer Mann, der ein ebenso schwer beladenes Maultier führte. Den Schluss bildeten zwei bewaffnete Handelsleute, eingehüllt in dicke Mäntel. Sie waren alle nicht sehr groß. Die Römer waren generell kleiner als wir. Und ich, mit meiner hochgewachsenen Figur, den langen, blonden Haaren, den hellblauen Augen, war das Auffälligste in dieser Karawane. Ich war nicht ihre Gefangene, aber ich war auch nicht freiwillig auf dieser Wanderschaft. Schwerfällig stapften wir über die hohen Berge, immer weiter, weiter und weiter. Wir gingen langsam, fast lautlos. Keiner sagte etwas. Hätte ich sie auch nicht verstanden. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal mit jemandem in meiner Sprache gesprochen hatte. Es war so lange her. Es gab keine Namen, keine Worte. Nichts, was ich hätte begreifen können. Der Wind blies kalt und ununterbrochen. Er vermischte alles mit seinem Atem. Ihm war es gleichgültig, ob man ein Stein war, ein Mensch, ein Tier oder eine Pflanze. Die Freiheit, die ich kannte, war von der Enge der Täler, der Einsamkeit der hohen Berge und der Beklommenheit meines Herzen, verdrängt. Der Wind war die Tage mein einziger Freund. Ihn kannte ich von zu Hause. Er war wie ein treuer Gefährte stets an meiner Seite. Die Sonne hatte die letzten Tage meine Haut verbrannt. Obwohl Schnee lag, war sie tagsüber gleisend und stechend. Das kannte ich nicht. Im Winter schien bei uns ebenfalls die Sonne, doch war sie in diesen Monaten schwächer und kaum wärmend. Der Wind zog neckisch an meinen Haaren und ließ mich spüren, dass ich am Leben war. Er fegte die Stimmen der Männer hinweg, wenn sie nachts am Feuer über mich sprachen. Er ließ ihre Gliedmaßen frieren, so dass sie sich zum Schlafen in ihre Mäntel und Decken einrollten. Am nächsten Tag ging die Wanderung weiter. Immer weiter. Ich suchte vergebens einen Weg. Ergebnislos suchte ich eine Möglichkeit zu fliehen. Aber die fremden Berge, die unbekannte Landschaft, das eigenartige Wetter, ließen mich einen Fuß vor den anderen setzen, so wie es die anderen taten, auf dem unsichtbaren Weg. Das Laufen war das einzige Vertraute. Wir wanderten eine lange Zeit. Durst, Hunger und Erschöpfung zerrten an mir. Hätte jemand mit mir in meiner Sprache sprechen wollen, hätte ich ihm nicht antworten können, da meine Zunge vor Einsamkeit und Durst verhärtet war. Das, was mich jede Nacht in meinen Träumen verfolgte, war schon ein paar Wochen alt. Wenn die Nacht mit ihren hellen Gestirnen über mir stand, inmitten eines leeren Himmels, fühlte ich mich genauso einsam, genauso abseits, genauso unwirklich, wie die glitzernden Sterne, die auf mich herabsahen und leise flüsternd sagten: »Lauf weg! Folge den Gestirnen, die du kennst. Finde nach Hause.«
Mein Zuhause.Ich war ein Kind von Fröhlichkeit. Keine Sorgen plagten mich. Wir waren sieben Kinder im etwa gleichen Alter. Wohnten mit unseren Eltern in einem kleinen Dorf, neben einem Fluss, den wir Tonnach nannten. Vormittags hatten wir Lehrstunden bei den Erwachsenen, auch aus den umliegenden Dörfern, zu denen wir meist lange Fußmärsche durch dichten Wald auf uns nehmen mussten. Am Anfang des Jahres hatten wir für einige Mondumläufe die Fallensteller zu begleiten, danach die Bäcker, Bauer, Fischer, Schneider, Seilmacher, Viehzüchter, Schmiedekünstler, Köche, Gelehrte, Heilkünstler, Zähler und wenn die Zeit vorbei war und der Frühling Einzug erhielt, durften wir wählen, zu welcher Berufsgruppe wir uns hingezogen fühlten oder ob wir noch einmal diesen Lauf durchleben wollten. Ich interessierte mich für die Zähler. Die Zähler waren hochangesehene Leute, fast den Druiden gleich. Denn sie konnten etwas, das wie Zauberei wirkte und gleichzeitig für unseren Alltag maßgeblich war. Sie beobachteten den Himmel, die Erde, das Licht und die Dunkelheit. Sie zählten die Tage, die Mondumläufe, riefen die Saatzeit aus, erinnerten an die bevorstehenden Feiertage und man konnte sie zu jeder Tages- oder Nachtzeit fragen, welcher Tag heute war, und sie wussten es. Jeder Zähler hatte zwei Lehrlinge. Den Besseren wählte man aus, den anderen schickte man auf Reisen. Ich hätte in diesem, meinem schicksalhaften Jahr, in die Lehre gehen wollen. Unser Dorf bestand aus acht Häusern. Meine Vorfahren hatten diese in gebührendem Abstand zum Fluss errichtet. Obwohl wir den Fluss Tonnach nannten, hieß dieser ein Stück weiter Danube. Und die Römer nannten das fließende Wasser Danubius. Später kannte man diesen Fluss unter dem Namen Donaw und anschließend Donau. Das Haus meiner Eltern war am nächsten an diesem Fluss. Es bestand aus dicken, aufeinander geschichteten Baumstämmen. Die Fugen stopften wir von Zeit zu Zeit mit Moos aus. Kleine Öffnungen ließen nur wenig Licht hinein, dafür aber auch die Kälte draußen. »Holzbalken und kleine Fenster sind besser als die neumodische Bauweise mit den langen Baumscheiben«, höre ich meinen Vater sagen, »die Kälte kriecht im Winter hinein und im Sommer ist es heiß. Baumscheiben sind nur gut für den Fußboden, nicht für Wände.« Dicke Holzschindeln bildeten das Dach. Um sie zu beschweren, legten wir lange Balken und noch zusätzlich große Steine dazu. Vor dem Haus stand eine hübsch geschnitzte Bank, auf der ich viel Zeit verbrachte. Entweder flocht ich mit meiner Mutter zusammen Körbe, oder wir flickten Kleidung. Manchmal sahen wir einfach nur dem Regen zu, wie er in langen Tropfen von den Dachüberständen nieselte. Ich erinnere mich an den Geruch. Es roch nach Blättern und Erde. Vor der hölzernen Eingangstüre lag ein Trittstein. Gerade so hoch, dass ich als Kind drübersteigen konnte und hoch genug, um kleines Getier abzuhalten ins Haus zu huschen. Der Trittstein musste schon sehr alt sein, da er an der Stelle, auf die man trat, eine tiefe Furche hatte. »Abgenutzt ist er«, hatte mein Vater gesagt, »schon viele gingen darüber ein und aus. Wer weiß, wo der schon überall lag.« Unser Haus war recht geräumig. Durch die niedrige Holztüre trat man ins Innere. Dann mussten sich die Augen erst an das Dunkle gewöhnen. Der Boden war nur teilweise mit Baumscheiben belegt, ansonsten lugte die kahle, festgetretene Erde hervor. An den Wänden waren auf Sitzhöhe lange Baumscheiben eingezogen, auf denen wir oft saßen. Darüber hingen unsere Knotenseile und Knotenbilder. Im ganzen Haus stand »unnützes Zeug herum«, wie mein Vater sagte, »viel zu viel. Deine Mutter kann sich von nichts trennen oder meint es irgendwann noch mal gebrauchen zu können.« An einer Wand hingen meine kleinen Lederschuhe, es waren meine ersten Schuhe und meine Mutter hielt sie in Ehren. »Damit hast du deine ersten Schritte gemacht, das gibt man nur an besondere Menschen weiter. Bis jetzt kam keiner, dem ich es geben wollte.« Auch hatten wir noch mein Kinderkörbchen, in dem ich als Säugling lag. Es war ein aufwendig geflochtener Korb, der an einem Gestell hing und somit schwingen konnte. Am dicksten Zweig waren Kerben eingeritzt: »So viele Kinderchen haben in diesem Korb geschlafen, während die Mammath und der Pappath auf sie aufgepasst haben.« Wenn Feuer in der Mitte des Raumes brannte, war das Haus in ein schönes, warmes Licht getaucht. Im Winter ließen wir das Feuer nie ausgehen. Über der Glut hing ein Topf mit Wasser. Dieser war an einer Holzkonstruktion befestigt, die es erlaubte, den Topf vom Feuer zu schwingen, wenn der Inhalt überkochte, oder wenn man daraus schöpfen wollte. Die Holzkonstruktion knarrte beim Schwingen. An dieses Geräusch dachte ich noch lange, selbst in meinen alten Tagen. Denn es bedeutete zu Hause zu sein. Die Heimat definiert sich nicht nur über einen Ort, sondern auch über Geräusche, Gerüche und vor allem durch ein Gefühl. Das Gefühl der Geborgenheit. Die Gerüche werde ich nie vergessen. Es roch nach Heu, heißer Milch, getrockneten Kräutern und Feuer. Ich erinnere mich noch gut an den großen Holunder, der an unserem Haus wuchs. Es war ein gutes Zeichen einen dieser Kraftbäume direkt am Haus zu haben. Wenn der Holunder seinen Duft verströmte riefen die Leute: »Lasst uns unter den Baum sitzen und genießen.« Die Beeren pflückten wir mit einem Dankeslied auf den Lippen und gaben sie den Druiden. Sie erhitzten sie in ihren Töpfen und murmelten dabei Zaubersprüche. Erst dann durften wir sie als Suppe essen. Wenn jemand die Beeren heimlich aß, schickten die Druiden ihm Bauchbeschwerden. Am liebsten aß ich die eingelegten Beeren, die knackten, wenn man auf sie drauf biss. Im hinteren Teil des Hauses schliefen im Winter die Kühe. Drüber hatten wir aus langen Baumscheiben einen Zwischenboden eingezogen, auf dem wir mit vielen Fellen und Decken schliefen. Wenn man Kind war, schlief man mit seinen Eltern auf diesem Zwischenboden. Als Heranwachsender wich man in den Vorraum aus und schlief auf den Bänken, die man dafür extra verbreiterte. Wenn man mich fragte, ob ich noch im Zwischenboden schlief, log ich und antwortete mit falschem Stolz: »Dafür bin ich zu groß. Ich schlafe alleine auf dem Brett.« Gekocht wurde zusammen in der Dorfmitte am großen Feuer, über dem ein Dach gespannt war. Das einzige Haus, das auf Stelzen stand, diente als Vorratskammer. Dort lagerte, außerhalb der Reichweite von Mäusen und anderen Nagern, unsere Ernte, aus Gerste, Weizen, Hirse und Emmer. Darunter vergruben wir mit Steinen umringt und in Holzkisten gelagert Äpfel, Pflaumen und Birnen. Diese Vorratshöhle hatte dunkle Verzweigungen in alle Richtungen. Wir Kinder durften aber nicht weiter, als die von uns gefüllten Höhlenräume. Mutter sagte, die langen Höhlen dienten unseren Vorfahren, um die kalten Winter zu überleben. Heutzutage bräuchte man sie nicht mehr, da man sich der Kälte angepasst hat. Um Fäulnis fernzuhalten, schmierten wir hin und wieder die Wände mit Pferdedung ein. Im Stall, der lediglich aus geflochtenen Ästen bestand, dessen Fugen wir hin und wieder mit Schlamm ausfüllten, hielten wir in den warmen Nächten Schafe, zwei Kühe, Ziegen und einige Hühner. Die Hühner sperrten wir auch tagsüber in die Hütte, damit sie nicht wegflogen. Im Winter verteilten wir das Vieh auf die Wohnhäuser, um uns gegenseitig zu wärmen.
Unser Dorf stand unter dem Schutz des Dion Halvar. Der Dion war eine Vereinbarung zum gegenseitigen Schutz, aber auch zur gegenseitiger Anteilnahme oder Beistand. Gab es einen Verlust, half man sich mit Nahrung, Arbeitsmittel oder sonstigem Beistand. Wurde ein Dorf angegriffen, kamen die anderen zu Hilfe. Diese Verbindung nannte man Dion. Begegnete man einem Unbekannten, fragte man ihn, zu welchem Dion er gehörte. Man traf sich nicht nur, wenn der ein oder andere etwas brauchte. Man kam auch zu Festen zusammen, oder besuchte sich gegenseitig, zum gemeinsamen Beisammensein. Ich erinnere mich an ein Gesellschaftsspiel, das wir gerne in den kalten Wintertagen spielten, wenn der Wind ums Haus blies. Es gab zwei Körbe in denen jeweils 41 markierte Steine lagen. Die Markierungen waren alle doppelt vorhanden. Die Steine im einen Korb wurden an die Spieler verteilt. Den anderen Korb behielt der Spielmann. Dann durften meistens wir Kinder aus dem Spielmannkorb Steine ziehen. Sieben an der Zahl. Derjenige, der die meisten Steine mit den gleichen Symbolen hatte, gewann das Spiel. Es wurde viel dabei gelacht und heimlich Steine getauscht, was eigentlich gegen die Regeln war. Aber in den rauen Wintertagen, hielt man es nicht so streng damit. Ich hatte die kalte Zeit gerne, denn es gab gebrannte Nüsse und wir stampften Milch, bis sie zur Butter wurde. Im Winter hielt sich die Butter besser als im Sommer, so hatten wir dieses leckere Streichfett fast nur in den kalten Monaten. Wir tunkten unser Brot in die Tassen mit Butterhonig und ließen es uns schmecken. In der kalten Zeit wird das flüssige Brot gebraut. Unsere Mütter steigen dazu in die Brauhöhlen, wo es dunkel und sehr kalt ist. Gegen die Kälte hüllen sie sich in lange Mäntel ein und setzen sich einen dicken, spitzen Filzhut auf, der ihren Kopf vor den harten und scharfen Felsen schützen soll. Erst ist das Bier Nahrung, danach Rauschmittel. Anfangs schmeckt es süß und erfrischend. Dann schmeckt es interessant und danach haben nur noch die Erwachsenen Durst auf Bier. Mein Vater sagte, dass Bier Fluch und Segen sei. Es kann Durst und Hunger stillen. Es kann den Schmerz im Hals vertreiben, der hin und wieder in die Kehle wandert, vor allem bei kaltem Wetter. Wenn man schlecht gegessen hat, sind ein paar Schluck Bier wohltuend. Aber Bier kann auch gefährlich werden. Beim großen Bierfest, das zur goldenen Zeit des Jahres gehalten wird, kommen sehr viele Besucher. Es beginnt auf einer Wiese und die Frauen bringen das gebraute Bier aus den Höhlen. Man muss weise wählen, zu welchem Zeitpunkt man auf das Fest geht, denn anfangs ist es noch fröhlich und freundschaftlich. Man gesellt sich zu Fremden, trinkt und lacht. Jeder ist mit jedem Freund und das flüssige Brot fördert die Gespräche. Nach ein paar Tagen wechselt die Stimmung in feucht fröhlich und dann gibt es Keilereien, die oft mit blutigen Nasen enden. Bier kann einen streitsüchtig machen, um danach als Versöhnungsgebräu die Raufbolde wieder an einen Tisch zu bringen.
Auch erinnere ich mich an eine Geschichte, die wir in Sprechchören vor uns hersagten. Es waren keine Reime, daher musste man sich beim Zitieren konzentrieren. Wenn der eine mit der ersten Strophe fertig war, begann ein anderer an einer bestimmten Stelle von vorne. So entstand ein Kanon. Machte man es richtig, dann traf man immer beim windigen Eschenbach aufeinander:
Es gibt ein Haus in Windischeschenbach, das steht da schon seit langem. Es hat schon viele kommen und gehen sehen. Drum lasst uns anfangen.
Es gibt ein Haus in Windischeschenbach. Das steht da genau seit Jetzt. Aus reinen Elementen steht es da. Der Boden ist ein See. So ist die Decke. Das Leben wohnt dort und freut sich gar sehr über diesen Ort.
Es gibt ein Haus in Windischeschenbach. Das steht da schon seit vorhin. Der Boden ist aus Stein. Die Decke ist ein Fels. Ein kleines Tier wohnt dort und freut sich gar sehr über diesen Ort.
Stellt Euch vor, es gibt ein Haus in Windischeschenbach. Das steht da schon seit gestern. Der Boden ist aus Erde. Die Decke ist ein Baum. Ein nackter Mann mit braunem Haar wohnt dort und freut sich gar sehr über diesen Ort.
Es gibt ein Haus in Windischeschenbach. Das steht da schon seit ein paar Tagen. Der Boden ist aus Gras. Die Decke ist aus Balken. Aus geformten Lehm sind seine Wände. Ein Mann mit braunem Haar wohnt dort und freut sich gar sehr über diesen Ort. Trägt eine Hose aus Fell, ist es ihm doch auch sehr kalt dort.
Es gibt ein Haus in Windischeschenbach. Das steht da schon seit ein paar Jahren. Der Boden ist aus Brettern. Aus Steinen sind seine Wände und bestände es nicht schon seit ein paar Jahren, wäre das Dach auch aus Schindeln, wie die Häuser drum herum. Ein Mann mit braunem Haar wohnt dort und freut sich gar sehr über diesen Ort. Trägt eine Hose aus feinem Stoff.
Es gibt ein Haus in Windischeschenbach. Das steht da schon seit vielen Jahren. Der Boden glänzt. Die Wände sind glatt und weich. Ein Mann mit braunem Haar wohnt dort und freut sich gar sehr über diesen Ort.
Es gibt ein Haus in Windischeschenbach. Das steht da schon seit langem. Der Boden ist aus purem Gold. Die Wände aus glitzernden Edelsteinen. Die Decke ist ein Teil des Himmels. Ein Mann mit braunem Haar wohnt dort und freut sich gar sehr über diesen Ort.
Es gibt ein Haus in Windischeschenbach. Das steht da schon seit sehr langem. Der Boden ist aus Aufrichtigkeit. Aus guten Eigenschaften sind seine Wände. Das Dach ist so weit im Himmel droben, dass nur die Sonne hineinsehen kann. Ein Mann mit braunem Haar wohnt dort und freut sich gar sehr über diesen Ort.
Wir hatten viele dieser Sprechchöre. Auch sangen wir Lieder, die der Wind weit ins Land hinaustrug. Manchmal hörten wir, wie andere sie sangen und erfreuten uns. Es gab uns ein Gefühl der Dazugehörigkeit. Ich erinnere mich an die Geschichten der Kreaturen. Man erzählte den Kindern von Wölfen, mit langen Zungen, die auf zwei Beinen gingen und in ihren Vordertatzen Speere hielten. Ihr Atem war giftig und stank nach verfaulten Eiern. Sie spuckten Feuerbälle und die pure Gier nach Blut trieb sie an. Fingen sie ein Kind, das im Dunkeln nicht zu Hause war, packten sie es an der Kehle und tranken das Blut. Das schlimmste war aber, dass sich das Kind nicht ins Totenreich begeben konnte, sondern fortwährend als Untoter die Gestalt des aufrecht laufenden Wolfes annahm und mit hängender Zunge nach weiteren Kindern Ausschau hielt. Weil ihre Seelen verdammt waren, scheuten sie das Tageslicht. Es half sogar der Schein des Feuers, um sie zu vertreiben. Manchmal machten sich die Erwachsenen einen Spaß daraus, die Kinder zu erschrecken und bliesen in Hörner, die mit ihrem langen Hals und ungewöhnlichem Aussehen einen gruseligen Ton erzeugten. Am oberen Ende, das man weit in den Himmel streckte, saß der metallene Kopf eines Schweins oder Fischs. Man sah die Zunge vibrieren, wenn jemand am unteren Ende des Horns hineinblies. Man sagte, der Ton sei so gruslig, dass es sogar die aufrecht laufenden Wölfe vertrieb. Wenn man aber besondere Hilfe bräuchte, dann konnte man auf die Gunst der Holzmanndeln hoffen. Die Holzmanndeln sind Geschöpfe aus der Welt zwischen Tag und Dunkel. Nur in der Dämmerung kann man sie sehen, wenn man sie überhaupt zu Gesicht bekommt. Sie sehen aus wie Bäume. Hochgewachsen, zwei lange Beine aus Holz, einen starken Rumpf, der wie ein Stamm aussieht. Als Kopf tragen sie verästeltes Gezweig und das Gesicht erkennt man nur an den zwei Vertiefungen, die einen anstarren können. Sie bewegen sich sehr anmutig und haben magische Kräfte. Sie besitzen einen unermesslichen Reichtum, der größer ist, als sich ein Mensch vorstellen kann. Ich selbst meine ein Holzmanndel gesehen zu haben. Ich war noch ein Kind und es war früh morgens. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber die Nacht trat schon ihren Rückzug an. Es wurde auf einmal kalt und als ich zum Wald blickte, sah ich eine Bewegung. Es kam mir seltsam vor, denn die Bewegung musste von jemandem kommen, der genau so groß war, wie die Bäume des Waldes. Dann sah ich es. Es lief nicht weit von mir, auf zwei langen hölzernen Beinen und sah zu mir herüber. Das Laub an seinen Beinen raschelte. Es sah mich eindeutig an und ich sah das Bewusstsein hinter seinen Augen. Mir schlug das Herz bis zum Hals, aber war ich auch zutiefst erfreut, denn manche Menschen bekommen nie diese magischen Wesen zu sehen. Es heißt, man kann sie rufen, wenn man einen Wunsch hat. Aber nur selten kommen sie und noch seltener helfen sie. Sie meiden den Menschen, denn sie können ihn nicht leiden. So waren wir von ihnen fasziniert und gleichzeitig hegten wir Angst. Aus diesen Gründen legte man in unserem Dorf einen magischen Steinring um die Häuser. Um jedes Haus waren kleine oder große Steine fein säuberlich aneinander gereiht. Zum einen, um den Regen davon abzuhalten, ins Holz zu spritzen und zum anderen um das Haus und seine Bewohner zu beschützen. Meine Eltern hatten einen magischen Steinring aus guten Eigenschaften um unser Haus gezogen. »Ein Steinkreis ist ein kräftiges Symbol, je nachdem welche Zaubersprüche du dabei sagst, so wird er pulsieren und er erinnert sich an alles und jeden«, wusste meine Mutter. Um das Dorf herum wuchs dorniges Gestrüpp. Wo das Buschwerk lichter wurde, lagen große Felssteine. Ein Holztor war der einzige Eingang zu unserem Dorf und bildete ein Innen und ein Außen. Zwei dicke Baumstämme hielten die Flügeltüren. Darüber war ein Querbalken, an dem der Schädel und Knochen eines Wolfes befestigt waren. Dieses Tor hielten wir stets verschlossen. Nur an den Handelstagen, wenn die Händler kamen, stand es offen. Aus irgendwelchen Gründen lagen immer wieder tote Vögel in unseren Häusern, warum weiß ich bis heute nicht. Sie lagen plötzlich da, keiner hatte sie hineinfliegen sehen. Wenn dies passierte, beteten wir zu den Gottvätern und begruben die kleinen Vögel mit reichlich geflochtenem Gras, damit sie es schön weich hatten.
Das größte Haus, das ich kannte, war das Gehöft im Nachbardorf. Es befand sich einige Zeit weiter, die Tonnach entlang, flussaufwärts. Dort wurden Pferde gezüchtet. Der Besitzer war dadurch steinreich. Sein Hofhaus bestand hauptsächlich aus Steinen, hatte viele Zimmer, die mit einem Flur verbunden waren. Wir nannten den Eigentümer Ahre Friedländer. Er war ein Ehrenmann und zu uns Kindern immer recht freundlich. Wir durften in den Zimmern und Fluren spielen, was uns große Freude bereitete. Wenn wir aber die Pferde neckten, packte ihn der Zorn. Die Pferde waren sein Speis und Trank, wie er sagte. Ich hatte mir damals als Kind vorgestellt, wie er die Pferde aufaß, aber er meinte, dass er durch ihren Verkauf viel verdiente und mit dem Geld Speis und Trank kaufen konnte. Sein Haus war am meisten verziert. Besonders die Eingangstüre war mit Knotenformen aufwendig gezimmert. Meine Mutter sagte dazu: »Man sollte nichts darauf geben, wie reichlich verziert jemandes Haus ist. Denn kann dir auch ein Gauner eine Prunktüre öffnen. Werte die Menschen nach ihrem Handeln, nicht nach ihrem Haben.« Ahre Friedländer war oft zu Besuch bei uns im Dorf. Er interessierte sich für unsere Hunde. Wir hatten sechs große Dorfhunde, die uns Besucher mit lautstarkem Bellen ankündigten. Unter den gern gesehenen Besuchern waren Händler, Weissager, Historiker, Musiker, Heiler oder Wandersleute. Hin und wieder kamen auch ein paar Römer. Ich kannte diese fremdartig aussehenden Männer als strenge, willensstarke Forderer. Ihr größtes Interesse galt den Waren aus unseren Vorratskammern. Wie wir sie haltbar machten, wieviel wir davon für die Aussaat hernahmen, wann diese begann und wann die Ernte einzusetzen hatte. Sie interessierten sich für unsere Alltagsgegenstände und besonders oft kauften sie Tierfelle. Je wärmer, desto besser. In früheren Jahren hatten meine Vorfahren gegen sie gekämpft, bis man einen Pakt schloss, der jedem erlaubte, sein Leben in Koexistenz weiterzuführen. Jedoch gab es auf beiden Seiten Streitigkeiten, bis hin zum Kampf. Unsere Ältesten rieten jedem, sie mit Respekt und Freundlichkeit zu behandeln. Es kamen immer wieder Fremde hier her. Handel war für alle Beteiligten besser als der Tod. Jedenfalls gilt dies für meine Zeit. Ich muss dazu sagen, dass es unterschiedliche Römer gab. Wir hatten viele Namen für sie. Ich erinnere mich, wie mein Vater sie nannte: »Dour. Sie heißen Dour. Und uns nennt man die Tannen oder Tänner.« Manchmal nannten wir die Fremden Coigen oder Strain. Es gab unter ihnen, genau wie bei uns Händler, Altertumsforscher, Wanderer und Soldaten, vor denen wir uns in Acht nahmen und hin und wieder beobachteten wir aus dem Unterholz eine große Schlange an marschierenden, schwerbewaffneten Nichtsgucker. Sie schauten weder nach links noch nach rechts und eilten in schnellem Tempo zu ihrem Ziel. Sie begleiteten mehrere ernst dreinblickende Männer, deren lange Roben im Wind wehten und oft an den Ästen und Zweigen hängen blieben, was sie erzürnte. Diese Leute sprachen nie mit unseren Eltern. Es waren nur die Händler oder Altertumsforscher, und manchmal ein paar Soldaten, die wissen wollten, wie voll unsere Vorratsspeicher waren. Und dann gab es noch die sogenannten Wantes. Sie waren ebenfalls Römer, die sich in unseren Wäldern bewegten, lebten und arbeiteten. Sie traten stets in kleineren Gruppen auf, waren nie alleine unterwegs und von uns geliebt wie gefürchtet. Sie waren wohl die Späher der Römer. Kundschafteten die Gegend aus, wollten wissen, wie viele Männer in unserem Dorf wohnten, was wer von Beruf war, wo es die Flüsse zu überqueren galt. Sie wollten immer irgendetwas wissen. Deswegen nannten wir sie Wantes. Sie saßen mit unseren Dorfältesten unter den großen, hochgewachsenen Eichenbäumen, die mit ihren breiten Stämmen unserem Dorf Schatten und Kraft spendeten. Die Bäume waren unsere lebendigen Kalender. Sie erzählten, wann wir die Ernte auszusäen hatten, wann es Zeit war, sich für den Winter vorzubereiten, wann der Frühling vor der Tür stand und wann Ärger in der Luft war. Uns Kindern brachte man bei, dass die Ahnen durch Bäume kommunizieren. Wenn man jemanden Verstorbenen vermisst, solle man sich zur Eibe begeben, denn sie verbindet das Oben und das Unten. In ihren Blättern hört man das Raunen der Vorfahren. Auch als Heilbringer wurden uns Bäume nahegelegt. Hat man starre Knochen, oder Bauchschmerzen, müsse man sich mit der Birke verbinden, ihren Saft im Frühling trinken und sich ganz und gar in ihrem Licht sonnen. Sie löst und lässt fließen. Manche Leute, die wirr im Kopf sind, verbinden sich mit der Linde. Man muss die Linde riechen, schmecken und fühlen, dann entwirrt sich der Knoten im Geist und man empfängt die Klarheit, die man braucht. Waffen trugen unsere Erwachsenen nicht bei sich. Nur ein Alltagsmesser zierte die Gürtel oder Stiefel von Mann und Frau. Die großen Waffen, wie Schwert, Schild, Speer, Schleuder, Axt, Beil oder Keule hingen an den Wänden in den Häusern. Hoch oben, so dass die Kinder sie nicht fassen konnten. Es gab ein besonderes Schwert in unserem Dorf. Das gehörte einem der Älteren. Es hieß, es wurde in der Hitze einer sterbenden Sonne geschmiedet und wäre besonders hart und gleichzeitig geschmeidig im Umgang. Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, sehe ich meine Mutter im blauen Gewandt, meinen Vater mit einem breiten Gürtel um den Bauch und viel Freude, Lachen und Wohlstand. Unser Dorf hatte immer mehr als genug zu essen, so dass wir mit den anderen Handel treiben konnten und in Frieden lebten.
Unter den einheimischen Händlern war einer, der unser Dorf zusammen mit seinem Sohn, in regelmäßigen Abständen besuchte. Sie kamen meist am Ende des Mondumlaufes. Sein Sohn war größer als ich, was mir gefiel, denn war ich schon in jungen Jahren höher gewachsen als die meisten. Er hieß Sheyenn, hatte braunes Haar, das er an der Seite kurz trug. Nur auf seinem Schopf ließ er seine Haare etwa eine Handbreit wachsen. Dieser Haarschopf schwang mit seinen Bewegungen, was ihm einen attraktiven und behänden Ausdruck verlieh. Seine Haut war, wie die meine, golden. Er sagte nicht viel und doch verstanden wir uns recht gut. Während die Erwachsenen Handel trieben, zeigte ich ihm im Wald besondere Bäume und wir kletterten auf ihnen herum, neckten und feixten miteinander. Es schien unser Schicksal, eines Tages als Mann und Frau ein Haus zu bewohnen. Ich spürte eine Veränderung in meinem Körper, das ein ungewohntes Verlangen nach ihm aufbrachte. Wenn er nicht bei mir war, verfloss ich regelrecht vor Sehnsucht und wenn er bei mir war, genoss ich jede seiner Worte, Bewegungen und Blicke. Im Sommer streiften wir durch die Wälder, wild und abenteuerlustig. Wir pflückten Beeren und Wildkräuter. Warfen Steine über den Fluss und wer am weitesten Werfen konnte, hatte gewonnen. Im Winter verweilten wir in unseren Hütten und begegneten dem eisigen Wind und Schnee nur, wenn es unbedingt sein musste. Wenn der Frühling kam, öffneten sich unsere Türen und wir flogen wie die Vögel hinaus ins freie Feld. Mein Vater brachte meiner Mutter die ersten duftenden Blumen und Kräuter. Er sprach oft davon, er wolle den Duft in ein Gefäß fangen und ihn das ganze Jahr über meiner Mutter schenken. Doch meine Mutter lachte dann immer und sagte: »Düfte lassen sich nicht einsperren. Sie sind frei wie die Vögel und erfreuen uns nur, wenn sie es mögen. Keiner bestimmt über sie.«
Wir Kinder spielten gerne in den verlassenen Häusern, die nicht weit von unserer Siedlung standen. Drumherum war eine steinerne Mauer, die zum größten Teil von Dieben abgetragen war. Aus den leerstehenden Häusern hatten Langfinger alles mitgenommen, was ihnen brauchbar erschien. Eigentlich war es untersagt, diesen Ort aufzusuchen. Die alten Männer erzählten, die Stadt wäre verflucht und die Einwohner hätten nach zwei mageren Jahren Schatten über ihre Augen bekommen. Sie wurden zu wilden Tieren und es gab blutige Auseinanderset-zungen untereinander. Der Hunger trieb sie so in Rage, dass sie, nach dem sie ihre Hunde gegessen hatten, sich gegenseitig aufaßen. Diejenigen die überlebten, zerstreuten sich und gründeten kleinere Siedlungen, weit weg von hier. Sheyenns Vater meinte, es wäre ein Beispiel von Gier, Misswirtschaft und die Verschwendung von lebenswichtigen Gütern. Der Mensch könne nicht in Massen zusammen existieren, nur kleinere Verbände hätten eine Chance auf Leben. Ein Wolfsrudel würde auch nicht aus tausenden von Wölfen bestehen. Immer nur eine Handvoll. Mein Vater sagte dazu, was sein Vater ihm sagte: »Wie dumm Menschen sein können, hast du an diesem Ort gesehen. Je mehr von ihnen auf engstem Raum hausen, desto mehr Aufgaben, Neid, Gier und unnötige Machtausübungen entstehen. Die Dynamik zwischen den Menschen kippt ins Schlechte, wenn es zu viele werden.« Wir hatten sogar Sinnsprüche für diesen Ort: »Sei nicht dumm, du bist doch kein Altmuillthaler.«»Es wächst maximal so viel Korn auf deinem Feld, wie du säst und nicht, wie viel du gerne hättest haben wollen.« »Wer dem Teich ein Graben gräbt, braucht sich nicht wundern, wenn er im Trocknen steht.« »Der Lebenslauf spielt eine Rolle, wie alt man wird. Drum gräme dich nicht, das lässt dich altern.«
»Mauern bieten Schutz, aber kein Korn.« »Äpfel wachsen nicht im Dunkeln.« »Kommt Zeit, kommt Wald. Doch die Altmuillthaler haben nichts mehr davon.« Uns Kindern war es gleich. Wir spielten in den Ruinen, dachten uns Geschichten aus und genossen es, ohne Erwachsene zu sein. Hin und wieder fanden wir im Boden Fußdornen mit Widerhaken. Diese bösen Dinge hatten die ehemaligen Bewohner dort vergraben. Wenn man langsam lief, wurde man dem stechenden Schmerz gewahr, noch bevor er sich durch den Fuß bohren konnte. Wehe aber demjenigen der im vollen Lauf hinaufsteigt. Auch hatten wir auf Löcher im Boden zu achten, die für das Auge unsichtbar waren. Mit der Zeit füllten sich diese mit Wasser und wurden zu Sümpfen. Am liebsten war ich mit Sheyenn dort. Er wusste so vieles von unseren Vorfahren und ich hörte ihm gerne zu. Meine Eltern sagten mir, zur Zeit der nächsten Ernte, könnten Sheyenn und ich uns überlegen den Bund der Ehe einzugehen. Sein Vater hätte ihm Schild und Speer gegeben, was ihn auch zum heiratsfähigen Mann machte. Bis zur Ernte, hatten wir aber zu warten und mehr als Händchen halten, war nicht erlaubt. Wir gehorchten, denn wir fürchteten den Zorn der Götter und noch mehr, den der Väter. Ihren Zorn bekamen wir stets gleich zu spüren. Die Götter hatten des Öfteren ein Nachsehen mit uns und ließen ihre Strafe aus. Für mich hatte es nie ein anderes Leben gegeben. Es war bestimmt durch die Jahreszeiten, die Menschen um mich herum und durch das Wohlwollen der Götter, die uns jedes Jahr mit reichlich Ernte beschenkten, die wir für unsere Nahrung und den Handel verarbeiteten.
***
Die Nachricht eines neuen, schwerbewaffneten Römerlagers, nicht weit von uns, breitete sich schnell aus. Sie zog sich durch die Luft wie eine Wolke. Das Gerede der Männer, der Angstruf der Frauen, die Unsicherheit in den Stimmen der Kinder, all das ähnelte dem Grollen des Himmels, wenn ein Unwetter heranzieht und seinen Weg durch die Wolken bahnt, um danach als Sturzbäche auf alles einzuschlagen, was auf Erden wandelt. Die einen sprachen von Möglichkeiten, die anderen von Tod und gehörnten Erscheinungen. Egal was es war, es hatte jeden in unserem Dorf fest im Griff. Einige berichteten von zerstörten Dörfern, verschleppten Menschen. Die Römer seien in der Übermacht und fest entschlossen zu ihrem Vorteil zu handeln. Diejenigen, die ihnen wohlgesonnen waren, würden sie mit Anstand behandeln. Jedoch drohten sie Tod und Verderben denjenigen, die sich nicht anpassten. »Deswegen sei es für uns wichtig, ihnen einzuverleiben, dass ein Miteinander besser für sie ist, als ein Gegeneinander«, hatte mein Vater gesagt, »das hier ist unser Land, wir kennen den Wind, das Wetter, die Tiere, den Wald. Wir wissen, wo es Quellen gibt, was man wie zum Essen zubereiten muss. Sie müssen davon überzeugt werden, uns zu brauchen.« Andere waren nicht seiner Meinung: »Wenn wir ihnen unsere Lebensweise zeigen, werden sie das bald gegen uns verwenden. Eine Niederlage bedeutet das Ende unserer Selbstbestimmung. Unsere Freiheit ist unser Recht, das wir von Zeit zu Zeit mit den Klingen unserer Schwerter verteidigen müssen. Die Römer sind klein und dumm.« »Sie sind vielleicht klein, aber dumm sind sie nicht. Sie sind organisiert. Sie wissen sich auf dem Schlachtfeld zu ordnen. Und sie sind mehr als wir.«»Wenn ihr meint, ich verbünde mich mit den anderen Dions, dann irrt ihr. Da ist man tot schon besser dran. Was ist schon schlimm an der Welt danach? Außerdem kam mir zu Ohren, dass manch Einheimischer mit den Römern zusammenarbeitet, um Unterstützung zu haben, gegen die eigenen Feinde. Tod und Teufel.« »Ich fürchte den Tod nicht. Ich fürchte mich vor der Bedeutungslosigkeit. Wenn wir mit den Römern leben, haben wir dies nach deren Vorstellung zu tun. Wir, unsere Sprache, unsere Kultur, unsere Traditionen werden in der Bedeutungslosigkeit versinken. Dagegen will ich kämpfen. Aber nicht mit dem Schwert.« »Habt ihr mitbekommen, was sie mit unseren metallenen Halsreifen machen? Sie tragen sie als Schmuckstück!«, dabei lachte er schallend, »was wir früher den Straftätern um den Hals legten, schwer, unbequem und für jeden als Schandreifen ersichtlich, tragen die Römer als Schmuck um den Hals!«, er hörte nicht auf dabei zu lachen, »ich habe gehört, ein Übeltäter hat ihnen einen Schandreifen sogar verkauft. Er hat also noch Geld dafür bekommen. Die Römer verlangen nach den Schandreifen, die wir als Strafe einsetzen. Sie nennen sie Torques.« »Wartet ab, die Römer machen es uns nur vor. Bald werden unsere Nachfahren diese Torques aus Gold anfertigen und als Schmuckstück tragen und nicht mehr als Schande.« »Wir sollten uns in den dichten Wäldern verstecken. Die Bäume bieten uns Schutz. Sie würden uns nie finden.« »Sie roden die Wälder für ihre Zwecke. Wir roden die Wälder für unsere Zwecke. Bald wird es keine Bäume mehr geben, hinter denen man sich verstecken kann.«
Die Eltern untersagten uns, weiterhin unbefangen umherzustreifen, aus Furcht, wir könnten einem dieser Fremden begegnen. In unserem jugendlichen Leichtsinn gehorchten wir natürlich nicht. Wir fühlten uns auf unseren heimischen Böden den Ankömmlingen überlegen. Wir waren es, die jede Felsspalte kannten, jeden Baum, hinter dem man sich verstecken konnte. Natürlich wurden sie unser gewahr, aber sie taten uns als närrische Jugendliche ab, die ihrer Neugier nachgingen. Es stellte sich heraus, dass die schwer bewaffneten Römer tatsächlich mehr von lebendigen Einheimischen profitierten. Sie ließen uns gewähren, wenn wir ihnen Vorräte gaben, Informationen und den Weg durch dichtes Gestrüpp und über die Hügellandschaft zeigten. Unser Dorf tauschte Waren wie Felle, Lederschuhe, Gürtel, Wolle, Wachs, Honig und bekam dafür wertvolle Münzen und scharf schmeckendes Wasser, das an Medizin erinnerte. Es war allerdings kein freundschaftliches Miteinander. Sie waren und blieben die Eindringlinge, denen wir uns anzupassen hatten. Die Anpassung unseres kleinen Dorfes war einfach. Doch hörten wir von Aufständen anderer Dörfer und Völker, die sich in den dichten Wäldern versteckten und den Römern auflauerten. Hin und wieder gab es zwischen unseren Dorfbewohnern und den Römern Rangeleien, aber keine war so schlimm, wie die, die ich erleben sollte. In diesem schicksalhaften Augenblick änderte sich alles für mich. Es war ein Tag nach meinem Geburtstag. Wir feierten mit unseren Nachbarn und Freunden. Von jedem Gast bekam ich etwas für meinen Knotenseilkalender. Jedes Jahr wurde ein weiterer Knoten angeknüpft, so weiß ich genau, dass ich in diesem Jahr 12 wurde. Am meisten freute ich mich über die Gegenstände, wie eine geschnitzte Holzfigur, eine reichverzierte Tonschale mit Deckel und neue Kleidung. Manche Leute brachten Blumen oder grüne Äste und banden es an mein Knotenseil. Wenn die Feierlichkeiten vorbei waren und mein Knotenseil voller guter Wünsche, Kostbarkeiten und Dekoration hing, überreichte ihn mir meine Mutter. Zusammen mit ihr knüpfte ich den neuen Knoten. Meine Mutter verstand es die schönsten Knotenschleifen zu binden. Ich liebte meinen Knotenseilkalender, weil er so schön war. Sheyenn und sein Vater waren auch gekommen. Von ihnen bekam ich Blumen, da Shey-enns Vater sein ganzes Geld für ein kunstvoll gearbeitetes Messer für seinen Sohn ausgegeben hatte. Weil ich Sheyenn aufrichtig liebte, verzieh ich ihm, denn dachte ich daran, ihn zu heiraten und dann wäre das schöne Messer genauso meines, wie seines.
Sheyenn und ich streiften wie üblich durch die Wälder. Wir liefen durch einen Bach, bewegten Steine, um darunter Tiere zu entdecken. Wir waren ausgelassen und fröhlich. Der Wind wehte in den hohen Wipfeln der Bäume und die Sonne schien noch hell und freundlich. Wir kamen auf den Weg, den wir als Handelsroute kannten. Sheyenn zog ein paar Glasperlen aus seiner Tasche und hielt sie mir hin. »Diese bunten Glasperlen habe ich von einem einheimischen Händler bekommen und will sie den Römern zeigen. Sie werden wohl begeistert sein. Sieh nur, wie sie im Licht funkeln.« Ich betrachtete die hübschen Steine in seiner Hand und berührte sie vorsichtig. »Ich weiß nicht, Sheyenn. Lass uns von den Wantes wegbleiben. Sie sind mir unheimlich. Sie tragen seltsames Beinwerk. Man kann ihre Knie sehen. Und ihre Füße stecken in Riemchenschuhen.« Aber Sheyenn war überzeugt von sich: »Ich will Handel mit ihnen treiben. Es werden viele dabei reich. Ich möchte einer von ihnen sein. Warum sollte ich mit Blut und Schweiß meinen Ruhm verdienen, wenn ich mit Kauf und Verkauf steinreich werden kann. Außerdem habe ich mein Messer dabei, falls es jemand wagen sollte dich anzufassen! Du weißt, ich bin im Frieden dein Stolz und im Kampf dein Schirm, Matorrhah.« Bevor die Römer kamen, war es nur wenigen erlaubt Handel zu treiben. Die sogenannten Kaupmees wurden von den Kauppias gewählt. Das war ein Kreis aus Handelsmännern. Meistens blieb die Handelserlaubnis in bestimmten Familien. Wer etwas verkaufen wollte, musste entweder den Kaupmees einen Teil vom Gewinn abgeben, oder es ihnen verkaufen, damit sie es teurer weitergaben. Als die Römer zu uns kamen fragten sie nicht nach Name, Herkunft oder Verkaufserlaubnis. Sie kauften, bezahlten und kamen wieder. Das Gefüge der Kauppias brach zusammen, da sich keiner mehr daran hielt. Es dauerte nicht lange, da begegneten wir drei Römer, die des Weges kamen. Wie ich gesagt hatte, steckten ihre von Erde beschmierten Füße in Riemchenschuhe und ihr Gewand war lediglich ein kurzes Hemd, das an der Taille mit einem Gürtel gehalten wurde. An ihrer Seite baumelte ein kurzes Schwert und Lederriemen überspannten ihre Schultern und ihren Brustbereich. Zielsicher ging Sheyenn auf sie zu und hob grüßend die Hand. »Seid gegrüßt, ihr fremdartigen Wesen. Schön, dass ihr mich nicht versteht, so kann ich euch mit den verschiedensten Namen ansprechen.« Er hielt die Glasperlen wie das wertvollste Stück der Welt in die Höhe und pries es ihnen an. Die Römer betrachteten es kurz, blickten sich gegenseitig an und brachen in schallendes Gelächter aus. Das verstimmte Sheyenn. Seine anfängliche Freude wechselte in Unbehagen. Einer der Männer sagte etwas zu seinen Weggefährten und hob die Hände beschwichtigend in die Höhe. Er lächelte uns an und deutete auf Sheyenns Messer, das in seinem Ledergürtel steckte. Sheyenn nahm es in die Hand. »Ja, es ist kunstvoll verziert, nicht wahr? Ihr könnt es betrachten, aber nicht haben. Es ist von einem Dorf im Westen. Ich könnte mehr davon besorgen, wenn ihr sie haben wollt.« Der Römer wollte es anfassen, da drohte Sheyenn ihm mit dem Messer. Er machte es spielerisch, mit lachendem Gesicht und sagte dabei: »Bloß betrachten. Nicht anfassen! Du wirst dir weh tun, es ist schärfer als eure Klingen.« Doch der Römer verstand es als Aggression. Ich bemerkte es erst später, seine zwei Weggefährten stellten sich hinter uns. Sheyenn hob die Hände, mit der gleichen beschwichtigenden Bewegung, wie es der Römer zuvor getan hatte. Der Römer griff erneut nach Sheyenns Messer, seine Hand wurde von dem wütend werdenden Sheyenn weggestoßen. Der Römer sagte irgendetwas auf seiner Sprache und wir verstanden es nicht. Kurz blickten Sheyenn und er sich tief in die Augen. Plötzlich nahm Sheyenn ruckartig sein Messer hoch und richtete es mit den Worten: »Nur ansehen, sagte ich!«, auf den Römer, kurze hektische Bewegungen folgten, zwischen ihm und dem Mann, da durchstach Sheyenn von hinten ein kurzes Schwert. Blitzschnell. Ich sah, wie die blutige Spitze aus seinem Brustkorb heraustrat und fast genauso schnell wieder herausgezogen wurde. Sheyenn sah an sich hinunter, drehte den Kopf zu mir und seine Augen wurden glasig. Mit flachem Atem sagte er sein letztes Wort: »Lauf!«
Wie gebannt sah ich auf seinen Körper, der schlaff in sich zusammenfiel und hart auf den Waldboden aufschlug. Sein Gesicht lag nach unten und ich betrachtete die blutende Wunde an seinem Rücken. Die Römer sprachen mit schneller Zunge. Einer sah sich suchend um und drängte die anderen mit ihm zu kommen. Der Römer, der Sheyenns Messer wollte, zeigte auf mich und sprach wild auf den anderen Mann ein. Ich stand einfach nur da. Reglos. Gefühllos. Unter Schock. Wie festgefroren. Lediglich meine Augen bewegten sich von einem Menschen zum anderen. Dann packte mich einer von ihnen am Arm und zog mich rasch mit. Ohne eigenen Willen ließ ich es geschehen und stolperte mehr, als dass ich lief. Ich blickte immer wieder zu Sheyenn zurück, der leblos auf dem Boden lag. Sein Messer glänzte in der Sonne. Der Römer brachte mich in eine ihrer Siedlungen. Dort wurde er von einem, der offenbar das Sagen hatte, beschimpft und sogar geschlagen. Ich stand immer noch reglos da. Es war, als ob mein Geist meinen Körper verlassen hatte und eine willenlose, leere Hülle zurückließ. Darauf wartend, dass andere meine Lage gestalten und mir sagen, was zu tun sei. ‚Sheyenn wird gleich kommen und mich holen‘, dachte ich. Der erhabene Römer kam lächelnd auf mich zu, nachdem er lautstark einige Befehle erteilte. Er nahm meine Hand und führte mich in ein Zelt, als wäre ich eine vornehme Frau. Dort gab er mir scharfes Wasser zu trinken und befehligte jemanden, der wenig später mit einem Brett voller Essen vor mir stand. Ich steckte ein paar flache Brote ein, nahm seltsame Früchte in die Hand und steckte sie ebenfalls in meine Tasche. ‚Sheyenn wird Hunger haben‘, dachte ich. Der Römer schnürte mir ein Bündel voller Essen und drückte es mir in die Hand. Er sah mich an und betrachtete intensiv mein blondes Haar. Er dachte nach. Zielgerichtet ging er zu einer Truhe, zog ein weißes Tuch heraus und legte es mir um die Haare und Schultern. Jetzt machte er einen etwas zufriedeneren Eindruck. Das nächste, an das ich mich erinnere, war ein Pferd, auf das ich gesetzt wurde. Ich dachte noch: ‚Dieses Pferd wird meinem Vater gefallen.‘ Ein anderer Reiter mit einem schneeweißen Pferd hatte es am Strick und wir ritten los. Ich erkannte den Wald, in dem wir waren und hoffte darauf, dass wir einen Weg einschlügen, der mich zurück in mein Dorf brachte. Aber das taten wir nicht. Ich kannte mich noch eine Weile aus und war drauf und dran vom Pferd zu springen, um wegzurennen. Ich wartete auf einen Augenblick der Ablenkung, eine geeignete Waldschneise, den Fluss. Doch blieb mein Körper regungslos auf dem trabenden Pferd sitzen. Ich hatte Mühe mich festzuhalten. ‚Lass los‘, dachte ich, ‚lass los, um Himmels willen, lass los! Flieh! Lauf weg, so wie es Sheyenn gesagt hatte!‘ Wir ritten die ganze Nacht hindurch und als das Sonnenlicht am nächsten Tag die Gegend erhellte, stellte ich erschrocken fest, dass ich mich nicht mehr auskannte. Die Hügel, die Wälder, die Bäume, die Steine. Keine Formation kam mir bekannt vor. Wir mussten weit von meinem Dorf entfernt sein. Ich war ein Kind und hoffte, die Erwachsenen würden mich zu meinen Eltern bringen. Ich hoffte auf Bekannte zu treffen. ‚Ich werde schon irgendwie heimkommen‘, dachte ich, ‚bis jetzt habe ich immer nach Hause gefunden.‘ Ich hatte keine Ahnung was mit mir geschah. Ich hatte ja keine Ahnung, wie groß die Welt ist. Wir hatten kurz Rast gemacht, um danach sofort weiterzureiten. Die Sonne zog noch ihre langen Schatten auf die Erde, die bereit waren, miteinander zu verschmelzen. Langsam und unaufhaltsam breitete sich die nächste Nacht mit ihrem kühlen Atem aus, der aus der Tiefe der Erde zu kommen schien und sich auf alles legte. Erst auf die Täler, dann auf den dichten Wald, auf die Hügel und Berge und schließlich auf mich. Die Gerüche des Tages wechselten sich mit denen der Nacht ab. Die einen Tiere gingen schlafen, die anderen erwachten. Die Sonne war untergegangen. Erst nach Tagen begriff ich, dass auch für mich die Sonne untergegangen war. Ich war eine Gefangene. Nach einiger Zeit übergab mich der Reiter einem Wanderer. Er überreichte ihm eine Tonscherbe auf die fremdartige Zeichen geritzt waren. Der Wanderer schien es wohl zu verstehen, denn er nickte, bekam etwas Geld vom Reiter und wurde noch von ihm mit ernstem Tonfall und erhobenem Zeigefinger in irgendetwas unterwiesen. Der Wanderer nickte eifrig und hieß mich ihm zu folgen. Wie benommen folgte ich diesem Mann. Wir liefen lange Wiesen entlang. Kamen an jungen Bäumen vorbei und im nächsten Dorf schlossen sich uns andere an. Nachts weinte ich mich in den Schlaf. Ich vermisste meine Mutter, verlangte nach meinem Vater, wollte nach Hause. Aber keiner verstand meine Sprache. Tagsüber vergrub ich mein Gesicht im weißen Tuch, das mir der Römer im Zelt gegeben hatte. Ich wollte mich verstecken. Unsichtbar sein. Immer wieder sah ich auf, um vielleicht doch einen Felsen, einen Baum oder irgendetwas zu erkennen, so dass ich davonlaufen konnte, nach Hause. Wenn uns Menschen nahe genug kamen, suchte ich in ihren Gesichtern Bekannte. Ich hoffte meinen Vater zu hören, wie er laut meinen Namen rief. Ich lauschte. Ich beobachtete. Doch ich sah oder hörte nichts Vertrautes. Wie lange wir unterwegs waren, weiß ich nicht. Meine Füße schmerzten, mich plagte Hunger und Durst. Da sah ich sie zum ersten Mal in der Ferne liegen. Sie sahen für mich aus wie ruhende Riesen. Ich erkannte ganz deutlich ein zum Himmel blickendes Gesicht, ein Kinn, eine Nase, eine Stirn. Sah weiter am Horizont einen Rücken liegen, der sich wölbte, dazu ein Knie. Reglos lagen diese Riesen auf der Erde. Dunkel und mystisch. Sie mussten gigantisch sein, wenn sie aus solch einer Entfernung schon so groß aussahen. Es waren die Himmelsberge, oder wie man sie später nannte, die Alpen.
Rastlosigkeit.