Mach das Internet aus, ich muss telefonieren - Adrian Lobe - E-Book

Mach das Internet aus, ich muss telefonieren E-Book

Adrian Lobe

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Beschreibung

Deutschland, in einer anderen Zeit. Homeoffice hieß Teleheimarbeit, Fernsehonkel Manfred Krug warb für die T-Aktie, und in den Wohnstuben der Republik stand eine pralinenschachtelgroße Box, die das Tor zur neuen Welt öffnete: das Modem. Das Internet war teurer als die Sexhotline und nicht mehr als ein aufgemotzter Bildschirmtext, aber für Digital Natives war es auch eine Verheißung. Man konnte surfen, ohne durch heftige Shitstorms segeln zu müssen. Nachrichten ungelesen im Postfach lassen, ohne gleich für tot erklärt zu werden. Und Webseiten besuchen, ohne dabei verfolgt zu werden. Adrian Lobe kehrt in seinem Buch in die digitale Steinzeit der 90er und frühen Nullerjahre zurück. Sein Mix aus Technikgeschichte, Generationenporträt und BRD-Gesellschaftssatire ist ein großer Lesespaß!

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Adrian Lobe

Mach das Internet aus, ich muss telefonieren

Kuriose Geschichten aus der digitalen Steinzeit

C.H.Beck

Zum Buch

Deutschland, in einer anderen Zeit. Homeoffice hieß Teleheimarbeit, Fernsehonkel Manfred Krug warb für die T-Aktie, und in den Wohnstuben der Republik stand eine pralinenschachtelgroße Box, die das Tor zur neuen Welt öffnete: das Modem. Das Internet war teurer als die Sexhotline und nicht mehr als ein aufgemotzter Bildschirmtext, aber für Digital Natives war es auch eine Verheißung… Die Jugendlichen wählten sich vor einer schrillen Geräuschkulisse ins World Wide Web ein, es knarzte und zischte in der Leitung – und dann waren sie «drin», wie Boris Becker im AOL-Werbespot sagte. Der Spaß konnte losgehen: surfen, chatten, illegal Musik und sonst was herunterladen. Zum großen Missfallen der Eltern, deren Telefon unterdessen blockiert war. Und was sollte das überhaupt sein, dieses Internet? Nur «ein Hype», wie Bill Gates Anfang der 90er glaubte? Helmut Kohl verwies Journalisten, die nach seinen Plänen für den Ausbau der Datenautobahnen fragten, am Ende seiner Kanzlerschaft gar an die Länder: Straßenbau sei deren Sache. Adrian Lobe kehrt in seinem Buch auf humorvolle Weise in die digitale Steinzeit der 90er und frühen Nullerjahre zurück und zeichnet das Porträt einer Generation, die das Internet als ihren Abenteuerspielplatz entdeckte.

Über den Autor

Adrian Lobe ist Politikwissenschaftler und Journalist. Den Umgang mit digitalen Technologien lernte er bei seinem Vater, der Informatik-Lehrer ist. 2016 wurde er für seine Artikel über Datenschutz und Überwachung mit dem Preis des Forschungsnetzwerks Surveillance Studies ausgezeichnet. Für seinen Artikel «Wir haben sehr wohl etwas zu verbergen!» bei ZEIT ONLINE erhielt er 2017 den ersten Journalistenpreis der Stiftung Datenschutz. Bei C.H.Beck erschien von ihm zuletzt «Speichern und Strafen. Die Gesellschaft im Datengefängnis» (2019).

Inhalt

Vorwort: Eine kleine Archäologie des Internets

1. Start me up

2. Deutschland im Börsenfieber

3. Die ersten Gadgets

4. Schröders Haarfarbe googeln

5. Die Angst vor dem Computercrash

6. Per Webcam in den TV-Knast

7. Von der Erotiksuchmaschine zur Online-Enzyklopädie

8. Wir wollten doch nur gruscheln

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Vorwort: Eine kleine Archäologie des Internets

1. Start me up

2. Deutschland im Börsenfieber

3. Die ersten Gadgets

4. Schröders Haarfarbe googeln

5. Die Angst vor dem Computercrash

6. Per Webcam in den TV-Knast

7. Von der Erotiksuchmaschine zur Online-Enzyklopädie

8. Wir wollten doch nur gruscheln

«Das Internet ist eine Spielerei für Computerfreaks, wir sehen darin keine Zukunft.»

Ron Sommer, 1990

«Das Internet ist nur ein Hype.»

Bill Gates, 1993

«Ich habe Gott sei Dank Leute, die für mich das Internet bedienen.»

Michael Glos, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, 2007

Vorwort: Eine kleine Archäologie des Internets

Erinnern Sie sich an das erste Mal? Also nicht das, was Sie jetzt denken. Wissen Sie noch, wann Sie zum ersten Mal drin waren? Also im World Wide Web. Man kann sich an den ersten Plattenspieler oder an den ersten Kassettenrekorder erinnern, auf den man Monate lang gespart hat. Aber an das erste Mal im Internet? Schwierig.

Als ich für dieses Buch zu recherchieren begann, fragte ich in meinem Freundeskreis nach. Wann war das nochmal genau mit ICQ? Hast du noch irgendwelche Unterlagen? Screenshots vielleicht? Es war also eine analoge Intuition, die ich hatte, so als gäbe es für die Anfänge des Internets eine Chronik. Die meisten meiner damaligen ICQ-Kontakte, mit denen ich heute auf WhatsApp oder Signal schreibe, antworteten mir, auch sie seien in dieser Hinsicht völlig blank. Der eine oder andere hat vielleicht noch eine Abizeitung oder Bravo-Hits-CD in irgendeiner eingestaubten Kiste im Keller liegen, und vielleicht hat der eine oder die andere auch noch ein Backstreet-Boys-Poster mit umgezogen. Aber von der gemeinsamen Anfangszeit im Netz scheint es keine Überlieferungen zu geben. Die schülerVZ- oder studiVZ-Profile existieren nicht mehr, auch die alten Chatprotokolle sind gelöscht – und das ist vielleicht gut so. Die «SMS von letzter Nacht» wurde nicht gespeichert, und die kompromittierenden Partypics, auf denen man als Schnapsleiche in den Ecken schummriger Discos abgelichtet wurde, sind zum Glück ebenfalls von den Servern verschwunden.

Diese Erinnerungslücken sind umso erstaunlicher, als unsere Generation mit dem Mahnspruch aufwuchs: «Das Internet vergisst nichts.» Das klang so, als würde da irgendeine dunkle Macht alles aufzeichnen und das belastende Material gegen uns vor dem Jüngsten Gericht vorbringen. Doch je tiefer ich in der Technikgeschichte und meiner eigenen Netzbiografie zu wühlen begann, desto mehr stellte ich fest: Es gibt kaum Quellen. Obwohl die Anfangszeit des World Wide Web nur 30 Jahre zurückliegt, hat man das Gefühl, man würde als Hobby-Archäologe in der Altsteinzeit forschen, als wären die tieferen Bewusstseinsschichten von meterhohem Spam überlagert.

Die erste Webseite, die der Physiker Tom Berners-Lee 1991 online stellte, ist mittlerweile wie vom Erdboden verschluckt.[1] Es existieren nur noch Kopien des historischen Dokuments: Screenshots, die zwei Jahre später gemacht wurden. Das Geburtsfoto des Internets ist verschollen. Auch der erste Wikipedia-Eintrag hat sich in den virtuellen Weiten des World Wide Web verflüchtigt. Nur mit viel Mühe stößt man auf solche Fossile der digitalen Steinzeit. Das Internet hat erstaunlich viel über sich und seine eigene Geschichte vergessen.

Zum Glück gibt es das Internet Archive. Die gemeinnützige Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Internet zu archivieren. Das Archiv, das in einer ehemaligen Kirche in San Francisco lagert und als «Gedächtnis des Internets» tituliert wird[2], umfasst mittlerweile 684 Milliarden Seiten (Stand: 25.5.​2022), die bis in das Jahr 1996 zurückreichen. Wenn man mit der «Wayback Machine» in den Sedimentschichten des virtuellen Raums gräbt, treten erstaunliche Dinge zu Tage – unter anderem auch Screenshots meiner eigenen Homepage. Damals bastelte man Webseiten noch mit einfachen grafischen Elementen wie animierten GIFs. Gäbe es das Internet Archive nicht, wären wir wohl von einer kollektiven Amnesie befallen.

Auch die Zeitungsarchive halten so manch kurioses Faktum bereit. Vor allem aber ist es Youtube, mit dem sich Erinnerungen aus der digitalen Steinzeit wachrufen lassen: der Benachrichtigungston von ICQ, der «Sie haben Post»-Jingle von AOL oder das seltsam melodische Verbindungsgeräusch der Modems. Das war der Sound des Web 1.0. Ein akustisches Spektakel. Ich möchte Sie, liebe Leserinnen und Leser, nun zu einer kleinen Nostalgietour in eine Zeit einladen, in der das Internet tatsächlich noch «Neuland» war – und man sich entscheiden musste, ob man surft oder telefoniert.

1. Start me up

Deutschland, in den 90ern. Über die Bonner Republik hatte sich ein Mehltau gelegt, alles wirkte bräsig, behäbig, biedermeierlich. Die Rente war sicher, die Lohntüte voll, und die Frisur saß dank Drei Wetter Taft. Die Samstagszeitung war so dick, dass sie kaum in den Briefkasten passte. Am Weltspartag gab es noch Zinsen und Geschenke. Und in den katholischen Kindergärten wurden sündige Gemeindefeste mit Freibier und Helferbratwürsten gefeiert. Die Nation hatte sich sattgefressen am Wohlstand. «Tagesschau»-Sprecher Jo Brauner verlas in ockerfarbenem Anzug mit Einstecktuch die Nachrichten in einer Monotonie, dass man meinen konnte, er sage jeden Tag dasselbe an. In der ARD lief der Fernsehpfarrer «Fliege», bei den Privaten talkte Margarete Schreinemakers. Und wer Probleme mit sich und der Welt hatte, postete kein Status-Update auf WhatsApp, sondern rief bei der Familientherapeutin Brigitte Lämmle an, die im SWR, der damals noch SWF hieß, in der Sendung «Lämmle Live» mit volkspädagogischem Eifer die Seelenklempnerin der Nation gab. Irgendwie waren wir alle ein bisschen «Bluna».

Als Bundeskanzler Helmut Kohl 1994 in einer Fernsehsendung gefragt worden war, wie er den Ausbau der Datenautobahnen fördern wolle, faselte er irgendetwas von Stopp-and-Go-Verkehr[1] – und verwies auf die Zuständigkeit der Länder: Straßenbau sei Ländersache.[2] Kein Wunder, dass der Datenverkehr nur schleppend vorankam. Aber auch der Grünen-Abgeordnete und einstige Straßenkämpfer Joschka Fischer hielt nicht viel von Info-Highways. In einer Rede im Deutschen Bundestag am 6. September 1995 sagte er: «[…] klinken Sie sich einmal in das Internet ein […], wenn Sie glauben, dass in diesem Bereich viele Arbeitsplätze entstehen könnten. Das, was da gegenwärtig an Schrott sozusagen über die Datenautobahn fährt, wird teilweise nur noch von dem überboten, was Sie an Regierungserklärungen abgeben.»[3] Die Politiker kamen mächtig ins Schlingern – einen digitalen Elchtest hätte wohl kaum einer bestanden.

1995, also in dem Jahr, als Amazon das erste Buch verkaufte, auf eBay der erste Artikel versteigert wurde und die Suchmaschinen Lycos und Altavista an den Start gingen, wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) den Begriff «Multimedia» zum Wort des Jahres. Auf den Plätzen sechs bis acht landeten die Begriffe «anklicken (mit der Computermaus)», «virtuelle Realität» und «Datenautobahn».[4]

«Multimedia» klingt in heutigen Ohren etwas altmodisch, genauso wie «EDV» (elektronische Datenverarbeitung). Mitte der 90er Jahre war das aber ein schillernder, progressiver Begriff, unter den man alles, was mit «neuen Medien» zu tun hatte, fasste. Allein, dieses Klingelwort, durch dessen Verwendung damals jeder Forschungs- und Fördermittelantrag durchgewunken wurde, war natürlich völlig nichtssagend. (Wenn man unter «Medien» auch Luft und Wasser versteht, dann war ja gewissermaßen schon der Urknall multimedial und der redende und schreibende Cicero ein Multimedia-Talent.)

Genaugenommen war Multimedia natürlich eine milliardenschwere Verheißung: Computerfirmen, Softwareproduzenten, Elektrohersteller, Telefongesellschaften und Medienkonzerne sollten zu einem Mega-Markt zusammenwachsen. «Nach einer Nachrichtensendung informiert er sich in einem elektronischen Lexikon, bummelt dann in einem virtuellen Kaufhaus und bestellt einen Pay-Spielfilm, klickt eine CD-Rom an und bezahlt zum Schluss noch seine Rechnungen per Telebanking», skizzierte der «Spiegel» die Zukunft.[5]

Für die ABC-Schützen, die wie ich zwischen 1992 und 1998, in der Spätphase der Kreidezeit, eingeschult wurden, war die erste Begegnung mit Multimedia der Tageslichtprojektor (auch modisch «Overheadprojektor» genannt), auf dem man vor versammelter Truppe auf sich wellenden Folien Buchstaben nachfahren oder Rechenaufgaben lösen musste. So wie die Tafel, die ein wöchentlich rotierender «Tafeldienst» zu «löschen» hatte, oder der analoge Rechenschieber gehörte der Tageslichtprojektor zum Inventar der deutschen Klassenzimmer. Längst ein Exponat für technikgeschichtliche Museen, begleitete uns der vormoderne Beamer bis zu unseren Abschlussprüfungen in den späten Nullerjahren. Ein Klassenkamerad von mir versuchte mal, den optischen Bildwerfer zu sabotieren, indem er eine Salamischeibe auf die Linse legte, was zu üblen Geruchsbelästigungen in den vorderen Reihen führte. Das Geruchskino war schon vorher ein Flop, doch das Gerät war unkaputtbar. So dehnbar wie die Folien war auch sein didaktischer Anwendungsbereich: Ob binomische Formeln oder Vokabeln – alles war projektionsfähig. Ich glaube, wir litten chronisch unter Overheadprojektor-Fatigue, anders lässt sich die ständige Müdigkeit nicht erklären. Was den Einsatz «neuer» Medien («neu» war gefühlt alles nach dem Buchdruck) betraf, gab es unter deutschen Pädagogen doch einige Bedenkenträger. Sie bremsten die Einführung der neuartigen Lernmittel merklich ab.

Anders ausgedrückt: Die deutschen Schulen waren bis ins 21. Jahrhundert hinein lange ein Digital-Detox-Camp, in dem es rezeptfrei analoge Entgiftungskuren gab. «Bring your own device» hieß damals: Lamy- oder Pelikan-Füller, Federmäppchen und Schreibheft (liniert oder kariert). «Jede Zahl hat ihr eigenes Kästchen», bläute uns der Mathelehrer ein. Second Screen? Das war neben dem Tafelbild der Siku- oder Barbie-Prospekt, auf den man unter dem Tisch spickte. Hefte und Bücher galt es einzubinden, wobei sich die milieuspezifischen Unterschiede darin zeigten, dass man als Kind der ökologisch bewussten Mittelschicht seine Utensilien selbstverständlich mit Papier einband. Plastik hatte nur der Idiot. Als ich in der Hausaufgabenbetreuung in der Grundschule mit verkrampfter Schreibhaltung Mathematikaufgaben löste, schwatzte mir die zur Kontrollvisite erschienene Schulleiterin einen Plastikgriff auf. Den Neigungswinkel des Schreibgerätes konnte man nicht vorschreiben, aber zumindest Haltungsnoten fürs Schreiben verteilen. Wobei ich bei der B-Note schummelte: Die Grundschullehrerin konnte nicht ahnen, dass ich beim Schönschreiben Großbuchstaben wie E oder F mit dem Lineal gezogen hatte und dafür jede Menge grüne Punkte einheimste. Grüner Punkt im Heft, Grüner Punkt auf dem Tetrapack. Toll gemacht!

Zu den bewährten Disziplinarmaßnahmen gehörte Ende der 1990er Jahre noch das In-die-Ecke-Stellen, genauso wie «Strafarbeiten» und Einträge ins Klassenbuch. Einmal musste ich 20 gleiche Buchstaben aus der Zeitung ausschneiden und auf ein Blatt Papier kleben, weil ich einem Klassenkameraden angeblich ein Schimpfwort hinterhergerufen hatte. Die Sträflingsarbeit löste zu Hause leichte Irritationen aus, weil so eigentlich nur Entführer kommunizierten (zumindest im Fernsehen). Auf welche Zukunft wurde man da vorbereitet?

Unser «Medienraum» im Gymnasium in Stuttgart-Bad Cannstatt war eine fensterlose Rumpelkammer, wo in einem TV-Schrank mit abschließbaren Seitentüren ein Röhrengerät verstaut war – so als müsste man das Gerät vor der Schülerschaft verstecken. Dort, im stillen Kämmerlein im zweiten Stock, wurden uns alte Filmklassiker vorgeführt. «Die Klassenlehrerin», «Tote tragen keine Karos», was die Lehrer halt so im verstaubten Archiv fanden. Leider blieb das TV-Gerät von digitaler Obsoleszenz verschont. Der Erdkundelehrer zeigte alte Dia-Fotos, der Biolehrer schob im Sexualkundeunterricht VHS-Kassetten aus den 80ern ein (Petting!), und im Französischunterricht schepperte aus den Boxen des CD-Players die nächste Découvertes-Lektion: «Arthur est un perroquet». Wir lernten Vokabeln wie «Rollschuhfahren», obwohl wir längst mit Inlinern unterwegs waren, und in den Schulbüchern hatten die Protagonisten noch ihren Walkman, wo wir Jugendliche doch schon längst illegal heruntergeladene Musik auf MP3-Playern hörten.

Wir schleppten das analoge Gepäck unserer Elterngeneration noch eine Weile mit uns herum. In unseren Kinderzimmern hörten wir Benjamin-Blümchen- und Bibi-Blocksberg-Kassetten, und wenn der Kassettenrekorder mal wieder Bandsalat produzierte, wurde das Magnetband mit einem Bleistift durch die Spule aufgerollt – eine Kulturtechnik, die außer uns, der letzten analogen Nachhut, wohl kaum jemand mehr beherrscht.

Ich bin Teil einer Schwellengeneration: Das Internet kam gerade auf, da spielten wir noch mit Wählscheibentelefonen und Agfamatic-Kameras. Aus unserer Kindheit gibt es keine Handyfotos, sondern Abzüge, die man entwickeln musste und in Alben einklebte. VHS-Kassetten, für die es heute womöglich gar kein Abspielgerät mehr gibt. Als noch nicht jeder mit einer Handykamera herumlief und die Zeichen inflationierte, musste man sich noch genau überlegen, welches Motiv man mit den verbliebenen vier oder fünf Fotos des Farbfilms noch knipsen will. Die Schönheit des Augenblicks stand unter Selektionsdruck. Es war die Zeit, in der man Reklame noch nicht wegklickte, sondern auf der Couch Werberaten machte. Eine Zeit, in der die Wirklichkeit noch ungefiltert war, in der man noch nicht mit der permanenten Dokumentation des Moments beschäftigt war, weil man Angst gehabt hätte, etwas zu verpassen. Wir litten noch nicht unter FOMO (Fear of missing out). Zwischen dem «Wort zum Sonntag» und Sabine Christiansen passierte auch wenig. Die Ereignisarmut wurde an sonntäglichen Familientreffen bei Apfelstrudel und Eierlikör im Zigarettendunst von Ernte 23 erstickt.

Unsere Jugend war papieren. Wir wälzten Reisekataloge und Atlanten, telefonierten Telefonkarten ab und tauschten Diddl-Blöcke. Statt Tinder gab es «Herzblatt», statt Amazon den Quelle-Katalog, statt Facebook Poesiealben. Wenn wir einem Mädchen oder Jungen in der Schule Avancen machen wollten, schrieben wir keine Textnachricht, sondern einen Zettel: «Willst du mit mir gehen? Ja? Nein? Vielleicht? Bitte ankreuzen.» Doch während wir uns in die wurmstichigen Tretnähmaschinen von Oma verkrochen und mit dem Schubrad als imaginärem Lenkrad eine Autofahrt simulierten, brach sich eine Technologie Bahn, die wie ein Teilchenbeschleuniger der modernen Gesellschaft wirken sollte: das World Wide Web. Doch der Reihe nach.

Deutsche Tüftler haben Technikgeschichte geschrieben: Konrad Zuse erfand 1941 den Computer, Jürgen Dethloff und Helmut Gröttrup schufen 1969 die erste Chipkarte, und das MP3-Format wurde 1988 am Fraunhofer-Institut entwickelt. Doch irgendwann hat Deutschland den Anschluss verpasst. Die nächsten Innovationen kamen von der anderen Seite des Atlantiks – aus den USA. Von dort aus haben die Heimcomputer ihren Siegeszug angetreten: Atari ST, C64, Mac und wie sie alle hießen. Das waren die Klassiker. In den USA stand 1995 bereits in 18 Millionen Haushalten ein PC mit Modem-Anschluss.[6]

Zwar wurde der Heimcomputer in Deutschland durch Ketten wie den PC-Discounter Vobis seit Beginn der 1990er Jahre zu popularisieren versucht. Trotzdem wurden Computer immer noch als Spielzeug für Elektronik-Freaks und Nerds belächelt. Der Otto Normalverbraucher konnte mit Größen wie ROMs und RAMs nichts anfangen. Unsere Eltern, die ihre Bewerbung noch auf der Schreibmaschine getippt hatten und sich «Elektronnik» (mit kurzem o) von Joachim Bublath in der Knoff-Hoff-Show erklären lassen mussten, begegneten der neuen Technik mit einer Mischung aus Distanz und Skepsis. Das Paperless Office war schon in den 1970er Jahren ausgerufen worden, aber man schickte noch immer haufenweise Post. Das Betriebssystem, das in der Bonner Republik installiert war und von der Berliner Republik nicht wieder deinstalliert wurde, hieß: Papier. Was einmal etabliert ist, wird nicht wieder abgeschafft. Pfadabhängigkeit nennt sich das in der Politikwissenschaft. Die pferdeschwänzigen Computerverkäufer, die mit ihren durchgeschweißten Hawaiihemden an irgendwelchen Platinen herumschraubten, fanden wir damals schon etwas abstoßend. Computerläden hatten den Charme von Hinterhofgaragen.

Richtig sexy wurde der Computer erst mit Windows 95, das Microsoft im namensgebenden Jahr mit großen Fanfaren auf den Markt rammte. Der Konzern scheute weder Kosten noch Mühen. 200 Millionen Dollar machte er für sein Werbebudget locker. Für kolportierte 3 Millionen Dollar kaufte Bill Gates die Rechte an dem Rolling-Stones-Song «Start me Up». Der altehrwürdigen Londoner «Times» überwies Microsoft eine halbe Million Dollar, damit diese ihre Gesamtauflage auf 1,5 Millionen Exemplare verdreifachte und verschenkte.[7] In Toronto wurde am CN Tower ein 90 Meter langes Banner mit dem Windows-95-Logo enthüllt. Und in New York wurde das Empire State Building in den Windows-Farben rot, gelb und blau angestrahlt.[8]

Microsoft inszenierte den Start seines neuen Betriebssystems als megalomane Show: Zur Produktpräsentation wurde eigens Late-Night-Star Jay Leno aus Los Angeles an den Firmencampus nach Richmond bei Seattle eingeflogen, der die 9000 «Microsofties» – so nannte man die Mitarbeiter des Tech-Konzerns – in einem riesigen Festzelt begrüßte. Und dann stand da dieser schüchterne Chef einer einstigen Garagenfirma mit dunkelblauem Poloshirt und beiger Stoffhose auf der Bühne, als hätte gerade der Pausenclown den Streber aus dem Klassenzimmer gezerrt – und rockte die IT-Welt. Gates’ kühne Vision: in jedes Zuhause einen Computer zu bringen.

Die schöne neue Welt kündigte sich mit einem Jingle an, den der Starproduzent und einstige Roxy-Music-Mastermind Brian Eno komponiert hatte. Der Windows-95-Sound ging unserer Generation ins Ohr. Er war, wenn man so will, der erste Klingelton. Oder um es im Microsoft-Sprech zu sagen: das Fenster zu einer neuen Welt.

Windows 95 kam mit einer intuitiven Benutzeroberfläche daher: Statt eines Programm-Managers gab es ein Startmenü, das sich durch den – längst ikonischen – Start-Button öffnen ließ; auf dem Desktop, dem Hauptarbeitsplatz, ließen sich Verknüpfungen erstellen. Neu waren auch die Zubehörprogramme wie die Grafiksoftware Paint, mit der man erstmals den virtuellen Pinsel schwingen konnte. Nach dem Herunterfahren leuchtete auf dem Monitor in müllabfuhrorangenen Lettern die Meldung auf: «Sie können den Computer jetzt ausschalten.» Damals musste man noch den Hauptschalter betätigen, damit die Kiste endgültig aus war. Der Computer war dafür zu faul. Und doch hatte das Betriebssystem für damalige Verhältnisse mächtig PS unter der Haube: Es bestand aus elf Millionen Zeilen Programmiercode.[9] Zum Vergleich: Das Weltraumteleskop Hubble kommt mit etwa 50.000 Zeilen Code aus.

Windows 95 löste einen Computer-Boom aus. Die Leute rannten den Geschäften die Türen ein, um eine der begehrten himmelblauen Schachteln zu ergattern. Darin enthalten: Disketten, eine CD-Rom (mit kurzem «o» ausgesprochen, «CD-Romm») sowie ein Internet-Explorer-Starter-Kit. Das war eine Kampfansage – und der Beginn des ersten «Browserkrieges». Denn 1995 dominierte noch ein anderer Webbrowser: der Netscape Communicator, aus dem später Mozilla Firefox hervorging. Entwickelt wurde er von Marc Andreessen, einem 1,96 Meter großen Hünen aus der Provinz von Iowa, der das äußere Erscheinungsbild eines Fleischers hatte und später zu einem der einflussreichsten Investoren des Silicon Valley avancierte. Schon in der Schulzeit bastelte er mit dem legendären Heimcomputer Tandy TRS-80 eine Rechenmaschine für seine Mathehausaufgaben.[10] Während seines Studiums an der University of Illinois at Urbana-Champaign entwickelte er den Browser Mosaic.