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Während Internetpioniere und Digital Natives das Word Wide Web als grenzenloses Konzept der Heimat feiern, traut sich der Journalist Adrian Lobe in Kursbuch 198 die Gegenthese zu formulieren: Die Vorstellung des Internets als Ort, das keine Fremden mehr kennt, ist gerade die Ursache des Gefühls der Heimatlosigkeit, an dem heute – vor allem junge – Menschen leiden. Das "Überall-zu-Hause" wird gleichsam zum "Nirgendwo-zu-Hause".
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Seitenzahl: 20
Inhalt
Adrian LobeNeue Heimat InternetHeimweh nach dem Netz
Der Autor
Impressum
Adrian LobeNeue Heimat InternetHeimweh nach dem Netz
In der Mitte der 1990er-Jahre war im Grundrauschen der Modems, die in Wohnzimmern und Büroräumen installiert waren, ein Revolutionsknistern zu vernehmen. Der Siegeszug des World Wide Web würde die Demokratisierung beschleunigen, er würde autoritäre Herrscher hinwegfegen, tradierte Institutionen überflüssig machen, Machenschaften ans grelle Licht der Öffentlichkeit zerren. In dieser Aufbruchsstimmung verfasste der Internetpionier John Perry Barlow im Jahr 1996 seine berühmte »Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace«: »Regierungen der industriellen Welt«, hob er darin an, »Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat [eigene Hervorhebung] des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich Euch, Vertreter einer vergangenen Zeit: Lasst uns in Ruhe! Ihr seid bei uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt Ihr keine Macht mehr.« 1
Das Dokument war als Reaktion auf den einige Wochen zuvor vom damaligen US-Präsidenten Bill Clinton unterzeichneten Telecommunications Act verfasst worden, mit dem eine weitgehende Liberalisierung des Telekommunikationsnetzes bewirkt werden sollte. Barlow erblickte in dem Gesetz eine Zensurmaschine, die das freie Internet bedroht.
Das Gründungsdokument des freien Internets ist aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive vor allem deshalb interessant, weil Barlow einen neuen Heimatbegriff definiert: »die Heimat des Geistes«.2 Der Autor spricht von der »neuen« Heimat, was impliziert, dass es eine alte Heimat des Geistes gibt und der Geist zumindest vorübergehend heimatlos geworden ist.
Der Cyberspace, wo dieser neue Geist verortet ist, ist eine Wortschöpfung des amerikanischen Science-Fiction-Autors William Gibson. In dessen Neuromancer-Trilogie taucht der Begriff der Heimat als Kontinuum auf. Darin heißt es: »Wie ein Origami-Trick in flüssigem Neon entfaltete sich seine distanzlose Heimat, sein Land, ein transparentes Schachbrett in 3-D, unendlich ausgedehnt.« 3 Gibson imaginiert den Cyberspace als infinite Matrix, als »Konsens-Halluzination, tagtäglich erlebt von Milliarden zugriffsberechtigter Nutzer in allen Ländern«, als eine »grafische Wiedergabe von Daten aus den Banken sämtlicher Computer im menschlichen System«, »Lichtzeilen im Nichtraum des Verstands«.4 Cyberspace und auch Heimat sind also imaginär, eine Bilderflut, die vor dem geistigen Auge wie ein Bildprogramm abläuft. Das verweist auf ähnliche Semantiken von Cyberspace und Heimat als einer abstrakt-idealen Räumlichkeit, die zwar nicht konvergent, aber kompatibel miteinander scheinen. Heimat ist dem Cyberspace nicht unbedingt fremd.