Macht das glücklich, oder kann das weg? - Ulrike Schäfer - E-Book

Macht das glücklich, oder kann das weg? E-Book

Ulrike Schäfer

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Beschreibung

Manchmal braucht es einen fremden Besen, um Platz zu schaffen für das Glück Die Hamburger Modelegende Ella Castello, die den Sternen mehr vertraut als den Menschen um sich herum, zieht es zurück in ihre Heimat Rom. Doch zuvor muss sie sich von ihrer Villa an der Alster trennen – und von ihren Vintagekleidern, die sie wie einen Schatz hütet. Um endlich loslassen zu können, sucht die alte Dame Hilfe bei Aufräumberaterin Merle. Bei der disziplinierten jungen Frau scheint alles strikt nach Plan zu laufen. Aber nach und nach zeigt sich, dass auch in Merles Leben nur oberflächlich Ordnung herrscht, vor allem in Liebesdingen … Kann sie womöglich noch etwas von der temperamentvollen Ella lernen? Und schafft sie es endlich, auch in ihr eigenes Herz Klarheit zu bringen? Eine charmante Freundschafts- und Liebesgeschichte für alle, die endlich aufräumen wollen in ihrem Leben.

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Ulrike Schäfer

Macht das glücklich, oder kann das weg?

Roman

Über dieses Buch

Manchmal braucht es einen fremden Besen, um Platz zu schaffen für das Glück.

 

Die Hamburger Modelegende Ella Castello, die den Sternen mehr vertraut als den Menschen um sich herum, zieht es zurück in ihre Heimat Rom. Doch zuvor muss sie sich von ihrer Villa an der Alster trennen – und von ihren Vintagekleidern, die sie wie einen Schatz hütet. Um endlich loslassen zu können, sucht die alte Dame Hilfe bei Aufräumberaterin Merle. Bei der disziplinierten jungen Frau scheint alles strikt nach Plan zu laufen. Aber nach und nach zeigt sich, dass auch in Merles Leben nur oberflächlich Ordnung herrscht, vor allem in Liebesdingen … Kann sie womöglich noch etwas von der temperamentvollen Ella lernen? Und schafft sie es endlich, auch in ihr eigenes Herz Klarheit zu bringen?

 

Eine charmante Freundschafts- und Liebesgeschichte für alle, die endlich aufräumen wollen in ihrem Leben.

Vita

Ulrike Schäfer arbeitet als PR-Beraterin und Journalistin. Regelmäßig gründlich auszumisten ist für sie wie Wellness – vor allem das befreiende Gefühl danach. Kreatives Chaos herrscht nur, wenn die Münsteranerin, die nach vielen Jahren in Hamburg mittlerweile in Köln lebt, an einem Roman arbeitet: Dann türmt sich auf ihrem Schreibtisch allerhand Recherchematerial.

Meinen lieben Eltern

«Das Glück liegt in uns, nicht in den Dingen.»

François de La Rochefoucauld

 

 

«Die Seele trägt in sich selbst den Gedanken des Tierkreiszeichens.»

Johannes Kepler

Prolog

Das sieht ja aus wie meins, dachte Merle und sprang vom Rad. Sie war gerade vor dem Mehrfamilienhaus angekommen, in dem ihre Mutter wohnte, als ein Mann im altmodischen grauen Anzug die Haustür aufriss und davoneilte. Er hatte ein weißes Apple-Laptop unter den Arm geklemmt. So ein Modell hatte doch kein Mensch mehr! Die neuen Rechner waren kleiner und silbern oder roségold. Aber das konnte nicht sein. Bitte nicht, betete Merle.

Blitzschnell schloss sie ihr Fahrrad an der Hauswand ab und klingelte bei «Schneider». Der Summer schnarrte, und Merle sprang die Treppen hoch zur Wohnung im zweiten Stock. Sie war im Eiltempo von ihrer Wohnung in Eimsbüttel ins Portugiesenviertel gestrampelt, nachdem ihre Mutter angerufen hatte – um 9 Uhr morgens, das war an einem Samstag ja quasi noch Nacht. Angeblich «nur so», aber irgendetwas in ihrer Stimme hatte Merle beunruhigt. Da war etwas im Busch, das sagte ihr der siebte Sinn, den sie im Laufe der Jahre mit ihrer Mutter entwickelt hatte. Und jetzt ahnte sie auch, was es war. Merle stöhnte auf.

Wie gerne wäre sie noch mit Tom in ihrem Bett geblieben. Es war so kuschelig gewesen; sie hatte sich an seinen Rücken geschmiegt und die wohlige Wärme seiner Haut genossen. Wie gut dieser Mann roch! Nach Sonne und Salzwasser und einem Hauch von Marzipantasche. Ein Cocktail, der sie schwach machte, sodass sie ihre ganze Willenskraft hatte aufwenden müssen, um sich von ihm zu lösen.

Ächzend erreichte Merle den ersten Stock. Vielleicht hatte Tom ja recht, und sie sollte mal wieder Sport machen. Sitzen war das neue Rauchen – und sie selbst saß eindeutig zu viel. Nur die Yogastunde freitags morgens war ihr heilig. Tom dagegen war in seinem Laden für Surfbedarf ständig in Bewegung und fuhr fast jedes Wochenende zum Kiten nach St. Peter-Ording. Nichts für Merle. Sie hatte viel zu viel Respekt vor den hohen Wellen. Sie liebte das Wasser, aber sie hielt lieber Abstand, seit sie als Kind beim Schwimmunterricht einmal so viel davon geschluckt hatte, dass sie glaubte zu ersticken.

Merle lief weiter. Auf einer Treppenstufe lag noch immer das Streichholz, das sie zu Testzwecken dort platziert hatte. Also hatte in den letzten acht Wochen niemand geputzt. Merle seufzte. Sie nahm sich vor, bei der Verwaltung noch mal Druck zu machen. Das Haus war wie immer in einem erbarmungswürdigen Zustand. Im Erdgeschoss klaffte ein fingerbreiter Riss in der Wand, von der Decke bröckelte der Putz, und auf einer Treppenstufe lag vertrockneter Hundedreck. Merle hielt kurz die Luft an, als sie über den müffelnden Fleck hinwegstieg. Wie oft hatte sie ihrer Mutter schon angeboten, sich nach einer anderen Wohnung für sie umzusehen – vergeblich. Die Aussicht, mit all ihren Sachen umziehen oder womöglich etwas aussortieren zu müssen, schreckte sie wohl ab.

Merles Gedanken wanderten zu Tom zurück. Ein Glück, dass er nicht aufgewacht war, als sie sich heute Morgen aus dem Bett geschlichen hatte. Er brachte wenig Verständnis dafür auf, dass sie sich um ihre Mutter sorgte. Er hatte ja auch leicht reden: Seine Eltern waren schon vor Jahren nach Neuseeland ausgewandert, und abgesehen davon, dass er sie alle zwei Jahre besuchte, wenn sie vorher die Flugtickets für ihn buchten, fühlte er sich nicht verantwortlich für sie.

Merle ärgerte sich ja selbst, dass sie ausgerechnet heute herkommen musste. Es war selten genug, dass Tom am Wochenende in Hamburg blieb und Zeit für sie hatte. Freitags fuhr er meist direkt nach Ladenschluss gen Norden. Sein Freund und Geschäftspartner Kai hatte einen VW-Bus, in dem die beiden sogar im Winter ans Meer düsten. Von Schnee oder Kälte ließen sie sich nicht abschrecken – wozu hatte man schließlich einen Neopren-Anzug? Jetzt in diesem ungewöhnlich milden Oktober gab es natürlich erst recht kein Halten mehr.

Aber diesen Samstag musste Kai zu einer Familienfeier nach Lübeck. Tom war erst genervt gewesen – ein Wochenende ohne Kiten war für ihn fast wie ein Drogenentzug. Doch Merle hatte sich alle Mühe gegeben, ihn mit ihrer Vorfreude auf ein gemütliches Wochenende anzustecken. Erst zum Frühstücken in das kleine französische Café. Dort servierten sie ein Petit Déjeuner, das seinem Namen alle Ehre machte: zwei knusprige Mini-Croissants und ein Töpfchen Marmelade. Mehr brauchte Merle nicht zu ihrem Glück. Sie mochte es übersichtlich, und das galt auch für das, was auf ihrem Teller lag. Kürzlich hatte sie einen Artikel über die Bewohner der japanischen Insel Okinawa gelesen. Wissenschaftler hatten festgestellt, dass die Menschen dort so steinalt wurden, weil sie sich niemals ganz satt aßen. Merle konnte sich also auf ein langes Leben einstellen. Ein beruhigender Gedanke, denn immerhin waren schon fünfunddreißig Jahre rum, und manchmal erschien es ihr, als ob das Leben immer schneller an ihr vorbeilief, ohne dass etwas Nennenswertes passierte.

Ihre Mutter erwartete sie bereits an der Wohnungstür, von Kopf bis Fuß ein Häufchen Elend. Merle musste gar nicht mehr fragen: Es war also wirklich ihr Computer gewesen, der da rausgetragen wurde. Schon der schlecht sitzende Anzug hatte den Gerichtsvollzieher verraten. Warum sahen diese Typen nur immer so aus, als hätten sie modisch gesehen die letzten zwanzig Jahre verschlafen?

Offensichtlich hatte er ihre Mutter aus dem Bett geholt: Sie trug ihren lachsfarbenen Bademantel über dem grau gemusterten Schlafanzug. Die hellblonden Haare, in denen die grauen Strähnen gar nicht auffielen, hingen ungekämmt über ihre schmalen Schultern. Sie wäre locker als Schwedin durchgegangen. Merle selbst sah dagegen eher südländisch aus mit ihren kastanienbraunen Haaren und den bernsteinfarbenen Augen. Als Kind hatte sie das traurig gemacht. Sie musste dann immer an ihren Vater denken, den sie nur von Fotos kannte. Später, als Teenager, war sie sich interessant vorgekommen, wenn sie neben ihrer Mutter herlief und niemand auch nur einen Cent darauf gewettet hätte, dass sie miteinander verwandt waren. Inzwischen war die fehlende Ähnlichkeit einfach eine Tatsache, die Merle verwundert zur Kenntnis nahm.

«Hast du es also wieder geschafft, ja?», sagte sie statt einer Begrüßung und stürmte an ihrer Mutter vorbei in die Wohnung. Im Schlafzimmer schlug ihr muffige Luft entgegen. Merle zog angewidert die Stirn kraus.

«Lüftest du hier eigentlich auch mal?», fragte sie.

«Natürlich lüfte ich, Kind. Wenn ich noch mehr lüften würde, könnte ich auf die Fenster auch gleich verzichten», sagte ihre Mutter trocken.

Merle riss das Schlafzimmerfenster auf und sah hinaus auf die Straße. Der schlechte Geschmack auf zwei Beinen war längst über alle Berge, mitsamt dem Laptop. «Verdammter Mist», entfuhr es Merle. Ihre Mutter seufzte laut.

«Ja, Mist.» Sie wollte Merle über die Schulter streichen, doch die entwand sich mit einer schlängelnden Bewegung.

«Und du bist nicht auf die Idee gekommen, ihm zu sagen, dass das mein Rechner ist?», schimpfte sie.

«Aber du hast ihn mir doch geschenkt, Merle-Schatz», verteidigte sich ihre Mutter.

Merle stöhnte. «Das weiß der doch nicht, Mama.» Sie überlegte fieberhaft: Irgendwo musste sie noch den Kaufbeleg haben. Gleich Montag würde sie sich darum kümmern, den Computer zurückzubekommen. Hoffentlich war es dann noch nicht zu spät. Oder konnte man da auch am Samstag anrufen?

«Trink doch erst mal einen Kaffee mit mir», sagte ihre Mutter und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, in die Küche. «Ich trinke nur Tee, Mama.» Und das schon seit Jahren, ergänzte Merle im Geiste und pfefferte ihre braune Lederjacke aufs Bett. Das war sonst nicht ihre Art, aber in dieser vollgestopften Wohnung fiel ein kleiner Beitrag zur Unordnung nicht weiter ins Gewicht. Und irgendwo musste sie mit ihrem Frust ja hin.

Ihre Mutter schien die Sache mit dem Laptop mit Fassung zu tragen. Merle aber versetzte es einen Stich. Nun gut, das Modell war deutlich günstiger gewesen als die neuen, aber Merle hatte sich das Geld mühsam abknapsen müssen, um es ihrer Mutter zu kaufen. Und das Laptop war absolut ausreichend gewesen, um online Kontakte zu knüpfen. Die Freundinnen ihrer Mutter hatten sich in den letzten Jahren mehr und mehr von ihr zurückgezogen. Erst kürzlich war Merle einer Schulkollegin ihrer Mutter über den Weg gelaufen. Hilde hatte sich bei ihr beschwert, dass sie ihrer Mutter 300 Euro geliehen und sie nicht wiederbekommen hatte. Merle hatte die Schulden sofort beglichen, obwohl sie selbst nicht gerade im Geld schwamm.

Sie konnte es nur schwer ertragen, ihre Mutter so allein zu wissen. Darum hatte sie ihr nach dem Kauf des Computers gleich einen Facebook-Account eingerichtet. So wie die Dinge jetzt lagen, hatte ihre Mutter das Gerät aber wohl eher zum Shoppen genutzt, allen Beteuerungen zum Trotz.

«Also, was brauchtest du so dringend?», startete Merle ihr Verhör, nachdem sie ihrer Mutter in die Küche gefolgt war. «Lass mich raten: einen Bauchtrainer? Eine Sondermünze zum Weltspartag? Ein Socken-Abo?»

Ihre Mutter sah sie schuldbewusst an, doch Merle wandte sich ab. Diesmal würde sie sich nicht von ihrem Unschuldsblick besänftigen lassen.

«Wir hatten eine Abmachung, schon vergessen?», schimpfte sie.

Vor vier Jahren war ihre Mutter kurz nach ihrer Privatinsolvenz schon wieder überschuldet gewesen. Mit ihrer Frührente, die gerade mal auf Hartz-IV-Niveau lag, kam ihre Mutter nicht über die Runden, und Merle hatte es nicht übers Herz gebracht, sie darben zu lassen. Sie hatte ihr Unterstützung angeboten, damit sie wenigstens die Wohnung halten konnte. Im Gegenzug musste ihre Mutter ihr versprechen, keine größeren Anschaffungen mehr zu machen, ohne sie mit Merle abzuklären. Wie sich zeigte, hatte ihre Mutter aber eine ganz eigene Definition von einer «größeren Anschaffung». Vor ein paar Monaten hatte sie beim Homeshopping-Kanal eine ganze Armada Kochtöpfe erstanden, die Merle zu spät entdeckt hatte, um sie noch umtauschen zu können. Danach war es eine ganze Kiste Schafmilchseife vom Eppendorfer Isemarkt gewesen. Ihre Mutter hatte stolz damit vor ihrer Tür gestanden. «Die ist gut für die Haut», hatte sie ihr in verschwörerischem Ton zugeraunt, so als hätte Merle hartnäckige Akne. Die Seife würde jedenfalls locker bis zur Rente reichen.

«Was zum Henker hast du jetzt wieder bestellt? Noch dazu hinter meinem Rücken?», bohrte sie weiter, da ihre Mutter immer noch keinen Ton sagte. Stattdessen stellte sie in aller Seelenruhe zwei Tassen auf den Küchentisch. Dann verschränkte sie trotzig die Arme vor der Brust.

«Wenn du es unbedingt wissen willst: Ich brauchte eine Winterjacke und einen warmen Pullover! Wie du weißt, friere ich leicht. Außerdem wird es in dieser Wohnung nicht richtig warm.»

«Machst du Witze?», gab Merle zurück. Sie stürmte ins Schlafzimmer, riss die Türen des Ikea-Kleiderschrankes auf, der die gesamte rechte Zimmerwand einnahm, und zog mit einem Handgriff drei Wollpullis heraus. Mit den Oberteilen im Arm lief sie zurück in die Küche, wo ihre Mutter sich auf einen der wackeligen Holzstühle gesetzt hatte. Merle legte die Pullover vor ihr auf den Tisch. «Warum versuchst du es nicht mal mit denen?»

«Die kann man doch nicht mehr tragen, Kind. Völlig aus der Form – und aus der Mode sowieso.»

 

«Warum bewahrst du sie dann noch auf?», fragte Merle genervt. «Schmeiß sie weg! Und all die anderen Klamotten, die du nicht mehr trägst, gleich mit.»

«Ich will aber bald Flohmarkt machen», sagte ihre Mutter, die Arme noch immer verschränkt.

«Das erzählst du seit zehn Jahren. Ach, was sage ich: seit zwanzig», winkte Merle ab. «Setz doch endlich mal was bei ebay rein! Du kannst das Geld brauchen. Ich helfe dir auch mit den Bildern.»

Ihre Mutter besaß ein uraltes Handy, dessen Kamera statt eines Fotos nur eine sehr unscharfe Ahnung dessen produzierte, was man eigentlich aufnehmen wollte.

«Wir machen es so: Ich packe die Pullover in eine Flohmarktkiste, mit allem, was du verkaufen willst, und nehme sie nachher mit zu mir. Damit die Sachen auch wirklich darin bleiben», sagte Merle in besänftigendem Ton. «Und wenn du so weit bist, gehen wir es an. Was meinst du?»

Ihre Mutter zuckte erst mit den Schultern und sagte dann leise: «Okay.»

Sie wusste, wie es lief: Merle würde ein Datum auf die Kiste schreiben und die Sachen vier Wochen bei sich zwischenlagern. Wenn ihre Mutter bis dahin nicht danach verlangt oder sie bei ebay eingestellt hatte, brachte Merle sie zum Umsonstladen. Das war immer ein guter – wenn nicht der einzige – Weg, die Wohnung wenigstens vom gröbsten Unfug zu befreien.

Für einen Moment schwiegen sie beide. Ihre Mutter saß wie versteinert auf ihrem Stuhl. Auf der Tasse, die sie in der Hand hielt, stand der Spruch «Das kann ja Eiter werden», und sie starrte darauf, als würde sie ihn gerade zum ersten Mal lesen. Merle seufzte. Sie spürte, wie ihre Wut verflog und ihre Mutter ihr nur noch leidtat.

Sie wusste ja selbst, wie schwer es manchmal war zu widerstehen. Auch sie hatte hin und wieder diese Momente, in denen sie gedankenlos im Netz herumsurfte und eigentlich etwas ganz anderes suchte. Und dann tauchte es plötzlich auf, dieses besondere Kleid oder das Top, und sie stellte sich vor, wie gut sie in dem Teil aussehen würde, rosiger und schlanker denn je, und wie Tom sie völlig überwältigt aufs Bett werfen würde …

Doch bevor die Phantasie endgültig mit ihr durchging, hatte sie ihre Tricks, mit denen sie den Kaufimpuls in Schach hielt. Da war zum einen die «One in One out»-Regel: Für jedes neu angeschaffte Teil sortierte sie ein anderes aus. Und das war alles andere als leicht, da sie ohnehin nichts Überflüssiges besaß. In ihrem Schrank hatte sie ausschließlich Kleidungsstücke, die zueinanderpassten. Das war gar nicht so schwierig – sie blieb einfach bei ihrer gewohnten Farbfamilie: Blau, Grau und Weiß. Da konnte man beim Kombinieren gar nichts falsch machen und brauchte automatisch weniger Sachen. Selbst ihre Accessoires, ihre Gürtel und Sonnenbrillen, hatte sie weitgehend auf diesen Farbcode abgestimmt. So musste sie sich keine Gedanken über ihren Look machen und war trotzdem immer gut angezogen.

Das Problem war nur: Wenn man sich in einem dieser Online-Shops etwas angeschaut hatte, ließen die einen nicht mehr vom Haken. Wo auch immer man sich in den nächsten Tagen und Wochen online hinverirrte, wurde einem das Produkt wieder unter die Nase gehalten. Merle war sich ziemlich sicher, dass sie im Silicon Valley bereits nach einem Weg suchten, die Produkte auch noch in ihre Träume zu schmuggeln. Wenn sie dann aber doch mal kurz davor war, schwach zu werden, trat das zweite Gegenargument auf den Plan: ihre Finanzen. Merle konnte es sich schlichtweg nicht leisten, jedem Kaufanreiz nachzugeben. Also klickte sie das meiste einfach weg. Ihre Mutter war zu dieser Form der Impulskontrolle leider nicht in der Lage.

Merle pustete den Dampf über ihren Tassenrand. Ihre Mutter sah sie schuldbewusst an.

«Tut mir leid mit dem Computer», sagte sie. «Es war kurz vor Weihnachten, du weißt ja, dass es mir in der Zeit immer nicht so gutgeht. Ich war einfach traurig, und da hab ich die Sachen gesehen. Die sahen so kuschelig aus und waren runtergesetzt. Ich dachte, es wird schon irgendwie gehen.»

Merle entfuhr ein leises Grunzen.

«Wir könnten ja Widerspruch einlegen!», schlug ihre Mutter vor. «Das Laptop ist doch viel mehr wert als der Pulli und die Jacke. Außerdem gehört der heute zur Grundversorgung, oder? Vielleicht könntest du mal Alfons anrufen?»

Merle nickte resigniert. Natürlich, Alfons. Das musste ja kommen. Der Schuldenberater, der ihnen schon oft aus der Patsche geholfen hatte, würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Das einzig Gute war, dass Merle ihm nichts mehr erklären musste. Er wusste schon Bescheid, wenn er nur ihre Nummer auf seinem Display sah.

«Klar kann ich ihn anrufen. Es sei denn, du möchtest dich ausnahmsweise mal selbst um deine Probleme kümmern», brummelte Merle.

«Ach nein, du hast doch so einen guten Draht zu Alfons.» Ihre Mutter zwinkerte ihr etwas unbeholfen zu. «Ich weiß genau, dass er ein Auge auf dich geworfen hat. Aber davon willst du ja nichts wissen.»

«Mutter, ich habe einen Freund, und das seit vier Jahren. Aber davon willst du ja nichts wissen», gab Merle genervt zurück.

«Tom wirst du nicht heiraten, mein Kind. Das wissen wir doch beide. Er sieht gut aus, keine Frage, aber er ist nicht der Mann fürs Leben. Glaub deiner alten Mutter. So ein Exemplar hat man nie für sich alleine.»

«Du musst es ja wissen. Schließlich bist du eine wahre Expertin auf dem Gebiet, nicht wahr?» Merle hatte das nicht so heftig sagen wollen. Aber wieso nervte ihre Mutter sie immer wieder mit Beziehungstipps? Ausgerechnet sie, die nie einen Mann hatte halten können! Nicht einmal ihren Erzeuger, der mit einer anderen Frau durchgebrannt war, kaum dass Merle das Licht der Welt erblickt hatte.

«Glaub mir, Kindchen. Ich erkenne Männer, die nicht lieben, drei Meilen gegen den Wind.»

Der Satz traf sie wie ein Fausthieb. Das war jetzt wirklich zu viel.

«Du kennst Tom doch gar nicht. Gerade zweimal hast du ihn gesehen. Wie kannst du dir da ein Urteil erlauben?», zischte Merle.

Mit einem Ruck stand sie auf und ging Richtung Wohnungstür. Keine Sekunde länger hielt sie es hier aus. Sie hatte wirklich Besseres zu tun, als sich anzuhören, wie falsch ihr Leben in den Augen ihrer Mutter war.

Die Verabschiedung fiel kurz aus. Merle war bereits an der Treppe, als sie hinter sich noch mal ihre Stimme hörte. «Merle?»

Sie drehte sich um. Ihre Mutter sah blass aus in ihrem Frotteemantel. Dieser Lachston war ganz und gar nicht ihre Farbe.

«Was ist denn?»

«Ach, nichts. Ruf mich bitte an, wenn du Alfons erreicht hast, ja?»

«Natürlich.»

Sie tat Merle schon wieder leid, wie sie da in der Tür stand mit ihrem traurigen Blick und den eingezogenen Schultern. Aber sie musste jetzt erst mal durchatmen und sich abregen. Hastig winkte sie ihrer Mutter zu und sprang die Stufen hinunter. Sie würde später noch mal bei ihr anrufen.

Sie konnte ja nicht wissen, dass es kein Später geben würde.

Kapitel 1

Etwa ein Jahr danach

 

«Na, min Deern? Alles im Lot?»

Hausmeister Giese winkte Merle gutgelaunt mit der Farbrolle zu, als sie ihr weißes Rennrad durch den Torbogen in den Ottenser Hinterhof schob. Wie jeden Morgen übermalte der alte Herr, dessen Arbeitskittel den gleichen dunklen Grauton aufwies wie sein Haarkranz, die Graffiti der vergangenen Nacht. Fast hatte Merle den Eindruck, dass ihm der seit Monaten währende Kampf gegen die nächtliche Bemalung diebische Freude machte. Noch war völlig offen, wer die Schlacht gewinnen würde: Die selbsternannten Künstler, die die weißen Wände des Durchgangs als Leinwand betrachteten? Oder Hausmeister Giese, der beim täglichen Überpinseln einen bemerkenswert langen Atem bewies?

«Jou, alles im Lot. Und selbst?», grüßte Merle zurück und bemühte sich, ein ebenso breites Hamburgisch an den Tag zu legen wie er.

«Man lebt, min Deern, man lebt. Wirste heute wieder fürs Wegwerfen bezahlt?»

Merle lachte. Seit er herausgefunden hatte, was sie beruflich machte, zog er sie bei jeder Gelegenheit damit auf. Es wollte ihm nicht in den Kopf, warum manche Menschen viel Geld dafür bezahlten, dass man ihnen ihr Hab und Gut wegnahm.

«Wenn Sie so wollen. Aber wir meinen es wirklich nur gut mit unseren Kunden», versuchte sie es erneut. Doch Herr Giese winkte ab. «Hör bloß auf. Probleme haben die Leute! Solange man seine Siebensachen noch unterbringen kann, ist doch alles paletti. Alles andere ist Operette. Stimmt’s, oder hab ich recht?»

«Schön wär’s, wenn die Leute nur sieben Sachen hätten», seufzte Merle. «In Wahrheit sind es um die 10000 pro Haushalt. Eigentlich brauchen wir aber nur etwa 500.»

Der Hausmeister machte ein erstauntes Gesicht. «Das erklärt einiges», sagte er trocken und tunkte seine Rolle erneut in die Farbe. «Deswegen ist am Ende von meinem Gehalt immer so viel Monat übrig. Da muss ich wohl mal ein ernstes Wörtchen mit meiner Frau reden, was?» Er zwinkerte Merle zu und wandte sich laut pfeifend wieder seiner Arbeit zu.

Sie schob ihr Fahrrad über das Kopfsteinpflaster bis zu dem niedrigen alten Fabrikgebäude, in dem die Agentur «Queen of Clean» ihren Sitz hatte. Wie jeden Morgen war es, als würde sie in eine andere Welt eintauchen: Das rote Backsteingebäude mit den grauen Sprossenfenstern hatte genau den nostalgischen Industrial Charme, den sie so mochte. Auch innen entsprach das Loft ihrem Geschmack: ein großer, lichtdurchfluteter Raum mit unverputzten Wänden, weiß lackierten Dielen und großen schwarzen Industrieleuchten über den Schreibtischen. Es erfüllte sie mit Stolz, hier arbeiten zu dürfen. Gleichzeitig spürte sie aber auch ein ängstliches Ziehen im Bauch, denn ihre Probezeit lief bald ab. Das hier war der erste Job, der ihr etwas bedeutete. Nur durch ihn machte alles, was vorher gewesen war, einen Sinn.

Als sie vor einem halben Jahr im Internet die Stellenanzeige entdeckt hatte, war ihr gleich klargewesen, dass sie für diese Position wie geschaffen war.

«Zählen Sie nicht nur 2 und 2 zusammen, sondern ziehen gleich 3 wieder ab? Dann suchen wir Sie: eine(n) aufgeräumte(n) Mitarbeiter(in), der/die weiß, dass weniger Besitz kein Verzicht, sondern eine Bereicherung ist. Wollen Sie unseren Kunden helfen, Überflüssiges loszulassen und leichter durchs Leben zu gehen? Dann freuen wir uns auf Ihre Bewerbung.»

Zunächst hatte sie gerätselt, ob da nicht vielleicht doch eine Ernährungsberaterin für Übergewichtige gesucht wurde. Doch nachdem sie den Firmennamen gegoogelt hatte, war klar, dass es genau um die Art von Diät ging, die Merle am Herzen lag. Noch am gleichen Tag hatte sie ihre Bewerbung abgeschickt – und war nicht überrascht, als kurz darauf die Einladung zum Vorstellungsgespräch eintrudelte.

Wie viel Mühe sie auf das Anschreiben verwendet hatte! Sie wusste ja, dass ihr Lebenslauf streng genommen nicht viel hergab. Zumal sie die entscheidende Qualifikation – die Jahre mit ihrer kaufsüchtigen Mutter – lieber für sich behielt. Ihr Kunstgeschichtsstudium hatte sie nach sechs Semestern abbrechen müssen, obwohl sie so idealistisch damit begonnen hatte. Sie war ihren Neigungen gefolgt, denn in Museen hatte sie sich immer wohl gefühlt. Bei all dem Weißraum zwischen den übersichtlich platzierten Kunstwerken konnte sie durchatmen und zur Ruhe kommen. Sie hatte es sich schön vorgestellt, in einem solchen Umfeld zu arbeiten. Und tatsächlich war sie an der Uni regelrecht aufgeblüht, hatte es genossen, Bilder zu analysieren, sich mit Strömungen und Epochen zu beschäftigen oder in der Bibliothek nach Material zu stöbern. Sechs Semester lang hatte sie sich voll reingekniet – bis sie einfach nicht mehr konnte. Neben dem Studium hatte sie in jeder freien Minute jobben müssen. Das Bafög reichte hinten und vorne nicht – und dann noch die Privatinsolvenz ihrer Mutter. Wochenlang hatte sie nur Reis mit Ketchup gegessen und sich auch sonst nichts gegönnt. Irgendwann war ihr alles zu viel geworden. Ihre Freundin Heike, die seit dem ersten Tag im Hörsaal so etwas wie ihr Schatten war, hatte es ihr auf den Kopf zugesagt.

«Du musst etwas ändern, Merle. Deine Augenringe sehen schon aus wie Jahresringe, an denen man die Zeit bis zum Burnout ablesen kann. Ich will dich wirklich nicht in der Klinik besuchen müssen.»

Erst war sie eingeschnappt gewesen, doch dann war ihr klargeworden, dass Heike recht hatte. Sie war so erschöpft, dass sie morgens kaum noch aus dem Bett kam. Ihre Bemühungen schienen ohnehin wenig aussichtsreich. Denn die wenigen Stellen, die es in Museen und Galerien gab, bekamen eh nur die Überflieger mit Promotion. Während also Heike weiterstudierte, obwohl sie ebenso wenig in dieses Höhere-Töchter-Fach passte wie Merle, hatte sie die Waffen gestreckt und sich lieber voll und ganz ihren Brotjobs gewidmet. Eine schwere Entscheidung, an der sie oft gezweifelt hatte. Doch jetzt sah es so aus, als zahle sich das Ganze sogar beruflich aus. Denn mit ihren teilweise recht bizarren Jobs hatte sie bei Konstanze, der Chefin von «Queen of Clean», echt Eindruck schinden können.

Die Callcenterstelle bei der Online-Partnerbörse hatte sie in ihrer Bewerbung als Beleg dafür angeführt, dass sie den Umgang mit schwierigen Menschen gewöhnt war. Das konnte auch für die Tätigkeit als Aufräumcoach nur nützlich sein. Davor hatte sie eine Zeitlang als Simulationspatientin an der Uni gearbeitet und mal Migräne, mal einen Blinddarmdurchbruch oder sogar eine manisch-depressive Störung vorgetäuscht, damit Medizinstudenten den Umgang mit Patienten üben konnten. Manche von ihnen hatten sie damals für ihre überzeugende Darstellung gelobt. Sie nahm es als Beweis, dass sie über genügend Empathie und Geschick verfügte, sich auch in die Agenturkunden und ihre Bedürfnisse hineinzudenken.

Überhaupt passte der Job perfekt zu ihrem Lebensstil. Wie beiläufig hatte sie im Gespräch einfließen lassen, dass sie auf lediglich achtundzwanzig Quadratmetern wohnte, damit sich kein überflüssiger Kram bei ihr ansammeln konnte. Und dass sie freiwillig auf einen Kellerraum verzichtete, denn wozu sollte sie etwas lagern, das nicht gut genug war, um es in der Wohnung aufzuheben? Sie sah noch das Lächeln von Konstanze vor sich, als sie ihr von der «One in One out»-Regel erzählt hatte, und dass sie ihr Herz grundsätzlich nicht an Dinge hängte. Es stimmte ja: Schon lange ließ sie sich nichts Materielles mehr schenken. Sie hatte Tom aufgefordert, ihr zum Geburtstag oder zu Weihnachten nur noch gemeinsame Erlebnisse zu spendieren – was zur Folge hatte, dass eine ganze Sammlung von Gutscheinen in ihrer Nachttischschublade auf Einlösung wartete.

Merle musste kichern, als sie an das Vorstellungsgespräch dachte. Um ganz sicherzugehen, hatte sie Fotos mitgebracht, um Konstanze das Ordnungssystem in ihrem Kleiderschrank (maximal 25 Bügel, und nichts darf übereinanderhängen) und ihren picobello aufgeräumten Schreibtisch zu zeigen. Natürlich hatte sie vorher alle einschlägigen Bücher verschlungen, von Marie Kondo bis Feng Shui. Womit sie Konstanze schließlich überzeugt hatte, wusste sie nicht. Sie war einfach nur froh, dass sie nicht übers Ziel hinausgeschossen war. Offenbar war sie als Überzeugungstäterin rübergekommen und nicht als Zwangsgestörte. Wie erleichtert sie gewesen war, als ihre neue Chefin ihr schließlich feierlich die Hand gegeben und gesagt hatte: «Willkommen bei Queen of Clean.» Sogar das Du hatte sie ihr spontan angeboten, und Merle hatte sich nur mühsam bremsen können, einen spontanen Freudentanz aufzuführen.

Merle stellte ihr Fahrrad in den Ständer vor der Agentur und sperrte es mit zwei Schlössern ab, um die Chance zu erhöhen, dass es heute Abend noch auf sie wartete. Sie ging die kleine Treppe hoch zu der schweren Eisentür, vorbei an den Tontöpfen mit raschelndem Bambus, die dort Spalier standen, als warteten sie darauf, von ihr begrüßt zu werden. Sie kramte ihren Schlüsselbund aus der Tasche ihres beigefarbenen Trenchcoats, hielt dann aber kurz inne und schloss die Augen.

Sie liebte Ottensen für die lauschigen Gassen und die bunten Jugendstilhäuser, vor allem aber für die Geräusche, die hier in der Luft lagen. Das Viertel lag so nah an der Elbe, dass man das Tuten der Schiffshörner und das Kreischen der Möwen hören konnte. In Merle weckte das jedes Mal die Sehnsucht nach einer unbestimmten Ferne.

Seufzend öffnete sie die Augen und schloss die Tür auf.

«Ah, unser Frischling! So früh schon aus den Federn?», begrüßte sie ihr Kollege Björn mit schiefem Grinsen, als sie das Großraumbüro betrat. Wie immer sah er aus wie aus dem Ei gepellt. Der hellblaue Pullover passte perfekt zu seinem braunen Teint und den mittelbraunen welligen Haaren, die wirkten, als hätte sie ein Starfriseur morgens noch schnell in Form geföhnt. Er war in etwa so alt wie sie und markierte gerne den Witzbold. Anfangs hatte sie das irritiert, doch dann hatte sie beschlossen, einfach mitzuspielen. Im Gegenzug nahm er es ihr nicht übel, dass sie ihn mit seinem streberhaften Verhalten aufzog. Inzwischen waren die Sticheleien ihr allmorgendliches Begrüßungsritual.

«Und Mamis Liebling ist auch schon da», gab Merle zurück. «Sammelst wohl wieder Fleißpunkte bei Konstanze?» Björn war wie immer überpünktlich, weil er wusste, dass die Chefin das schätzte.

«Von nix kommt nix, Frischling!», erwiderte Björn und sah mit hochgezogener Augenbraue zu, wie sie umständlich versuchte, ihren Trench noch im Gehen abzustreifen. Was ihr unter seinem kritischen Blick erst recht nicht gelang. Sie kam sich in Björns Anwesenheit oft ungeschickt vor. Nicht ohne Grund hatte er ihr den Spitznamen «Frischling» verpasst, weil sie in der Agentur eine Art Azubi-Status hatte.

Alle bewunderten Björn für die Schnelligkeit und Professionalität, mit der er Aufträge abwickelte. Merle war einige Male mit ihm «mitgelaufen», um von ihm zu lernen. Sie war beeindruckt gewesen von der Autorität, die er ausstrahlte. Scheinbar mühelos bewegte er die Kunden dazu, sich von ihren Sachen zu trennen. Der leicht angeekelte Gesichtsausdruck, mit dem er die Gegenstände beäugte, reichte meistens schon, und sie landeten im Müll – nicht in irgendeinem natürlich, sondern in den Plastiksäcken mit dem verschnörkelten «Queen of Clean»-Schriftzug samt darüber schwebendem Krönchen, die Konstanze eigens in verschiedenen Farben hatte anfertigen lassen. Björn war so erfolgreich, dass er sich bereits als rechte Hand der Chefin betrachtete.

Merle fuhr ihren Rechner hoch und betrachtete den aufgeräumten Schreibtisch. Es gehörte zum Selbstverständnis der Agentur, dass die Mitarbeiter nicht mehr als zehn Dinge mit an den Arbeitsplatz bringen durften. Derjenige, der die Woche über am wenigsten oder gar nichts dabeihatte, bekam von Konstanze eine goldene Pappmedaille an den Bildschirm geheftet. Auf diese Weise wollte sie nicht nur die interne Konkurrenz anheizen, von deren motivierender Wirkung sie überzeugt war. Sie wollte auch verhindern, dass sich auf den Schreibtischen zu viel Kram ansammelte. Immer montags wurden außerdem die Arbeitsplätze gewechselt, und die Mitarbeiter rückten im Uhrzeigersinn einen Tisch weiter, damit es sich niemand zu gemütlich einrichten konnte. Bei «Queen of Clean» gab es keine Post-its an den Computern, keine Bilderrahmen oder Stofftierchen. Schließlich kam es durchaus vor, dass ein Kunde die Agentur persönlich aufsuchte. Wenn auf den Tischen dann Chaos herrschte, würde ihn das kaum überzeugen, dass man ihm hier helfen konnte. Die Mitarbeiter sollten das Weniger-ist-mehr-Prinzip auch im Alltag leben, so wollte es Konstanze – und so bemühten sich alle nach Kräften, die Regeln einzuhalten.

«Welches Thema wirst du dir denn diese Woche für den Blog vornehmen? ‹So ordnen Sie Ihre Briefmarkensammlung?› oder ‹Socken aussortieren – leichtgemacht?›», riss Björn sie aus ihren Gedanken, ohne den Blick von seiner Tastatur abzuwenden, während er ein Gewitter von Anschlägen darauf herabregnen ließ.

«Sehr witzig», brummelte Merle und gab ihr Passwort ein, um sich ins System einzuloggen. Es wurde höchste Zeit für ihren Text, der bis übermorgen online gehen sollte.

Bevor Merle «auf die Kunden losgelassen» würde, wie Konstanze es formuliert hatte, sollte sie sich zunächst in das Thema einarbeiten. Und was wäre dazu besser geeignet gewesen, als die Öffentlichkeitsarbeit zu übernehmen und den hauseigenen Blog zu füllen? Konstanze legte größten Wert auf die sozialen Medien als wichtigstes Akquiseinstrument der Agentur. Und so hatte Merle, seit sie vor sechs Monaten hier eingestiegen war, jede Woche einen Beitrag verfasst. Die Texte sollten die Leserinnen – 90 Prozent ihrer Kundschaft waren Frauen – dazu inspirieren, ihre Wohnungen auszumisten, um sich freier zu fühlen. Natürlich wies Merle in jedem Artikel darauf hin, dass sich jeder, dem das Aussortieren schwerfiel, professionelle Unterstützung holen konnte – von dem Team von «Queen of Clean».

Von Woche zu Woche fiel es ihr allerdings schwerer, sich zum Schreiben zu motivieren. Immerhin hatte Konstanze sie doch als «Aufräum-Queen» engagiert – so lautete der offizielle Titel, der bei allen sechs Mitarbeitern auf den Visitenkarten stand. Auch für Björn als einzigem Mann im Team wurde da keine Ausnahme gemacht, was er als bekennender schwuler Mann durchaus schick fand. Neidisch sah Merle ihnen hinterher, wenn sie zum Kundeneinsatz fuhren, während sie selbst nie aus der Agentur herauskam. Immerhin konnte sich der Blog über eine ganze Reihe treuer Leserinnen freuen, die regelmäßig Kommentare hinterließen und Merle das Gefühl gaben, für ein dankbares Publikum zu schreiben. Sie hatte auch schon so ziemlich alles abgehandelt, was man zum Thema Aufräumen und Ballastabwerfen sagen konnte. An ein Thema hatte sie sich bislang allerdings nicht herangetraut: Wie sollte man mit geerbten Dingen umgehen? Galt es, sie aus Pietätsgründen für immer aufzubewahren? Oder zumindest eine Zeitlang? Was, wenn man es einfach nicht über sich brachte, sich von Erbstücken lieber Menschen zu trennen?

Sie erinnerte sich noch genau, wie es war, nach dem Tod ihrer Mutter in der verwaisten Wohnung zu stehen. Wie überfordert sie sich gefühlt hatte angesichts der ganzen Dinge, die ihre Mutter über Jahre und Jahrzehnte angesammelt hatte. Wo sollte sie da nur anfangen? Wie sollte sie sich von all den Sachen trennen, die ihrer Mutter so wertvoll gewesen waren? Auf einmal war ihr schmerzlich bewusst geworden, wie viele Fragen offenbleiben würden: Wer waren diese Menschen auf den Schwarzweißfotos, und was war das für ein Ausflug, den ihre Mutter in den achtziger Jahren in die Berge unternommen hatte? Von welcher Ingrid stammte die Widmung in dem Heinrich-Böll-Buch? Sie konnte ihre Mutter nicht mehr danach fragen. Mit jedem Gegenstand, den sie in die Hand nahm, hatte sie den Verlust gespürt. Anfangs hatte sie noch Erinnerungsstücke aussortiert, die sie aufbewahren wollte. Nach und nach aber war ihr klargeworden: Sie würde sich nicht öfter oder länger an ihre Mutter erinnern, wenn sie ihre Teetassen, Pullover oder Kissen für den Rest ihrer Tage um sich scharte. Nichts von alldem konnte sie wieder lebendig machen, all diese Gegenstände würden sie ihr nicht ersetzen.

Die Erkenntnis hatte ihr kurz den Boden unter den Füßen weggezogen. Aber dann war etwas mit ihr passiert.

«Nur Erinnerungen sind Erinnerungen.» Dieser Satz war ihr nicht mehr aus den Kopf gegangen. Eine ungekannte Entschlossenheit hatte sie ergriffen und ihr neue Energie verliehen. Das ganze Zeug musste weg! Und zwar so, dass es noch jemandem zugutekam. Die Sammelei ihrer Mutter sollte wenigstens etwas Positives gehabt haben. Von da an hatte sich Merle in einen regelrechten Rausch hineingeräumt und entsorgt. Sie sah sich noch herumwirbeln zwischen Müllsäcken und Umzugskisten, ein Teil nach dem anderen hineinwerfend. Weg mit dem Ramsch, der ihrer Mutter und ihr das Leben so schwergemacht hatte! All die Stofftiere, Prospekte, Schals, Tischsets und die unbenutzten Tchibo-Artikel wie der Nasenhaarschneider oder der Sockenhalter – sie waren schneller in die Säcke geflogen, als Merle es vorher für möglich gehalten hätte. Am Ende hatte sie so viele Sachen bei der Heilsarmee, der Flüchtlingshilfe und beim Umsonstladen vorbeigebracht, dass sie dort schon mit Namen begrüßt wurde. Sogar die Tagebücher und die meisten Fotos ihrer Mutter hatte sie aus einem Impuls heraus weggeworfen. Sie wollte nicht in der Vergangenheit leben, sondern den Kummer ihrer Kindheit endgültig hinter sich lassen. Schließlich sollte man nur aufbewahren, was einen glücklich machte, so stand es in den Lehrbüchern.

Bei einigen Sachen war es ihr trotzdem schwergefallen, sie wegzugeben. Also hatte sie sich selbst ausgetrickst und die Dinge fotografiert. Die Ohrringe mit den Mondsteinen zum Beispiel, die ihre Mutter so gerne getragen hatte.

Beim Gedanken daran griff Merle nach der halb leeren Wasserflasche und trank einen Schluck. Ihr Hals war auf einmal wie ausgedörrt. Sie winkte einer Kollegin zu, die gerade hereinkam und «einen aufgeräumten Morgen» wünschte.

Sie stellte die Flasche wieder auf den Schreibtisch und las den Spruch auf ihrem Desktop. Schwarz auf hellblau stand es dort:

«Nur Erinnerungen sind Erinnerungen.»

Der Satz war zu ihrem Lebensmotto geworden. Sie fürchtete nur, dass ihre Leserinnen nicht unbedingt damit sympathisierten. Und das konnte sie ihnen nicht einmal übelnehmen. Nicht jeder hatte so schlechte Erfahrungen mit übermäßigem Besitz gemacht wie sie.

Merle seufzte. Irgendwie war sie nicht in der richtigen Stimmung, den Blogartikel zu schreiben. Sie würde sich später darum kümmern. Stattdessen klickte sie auf das Outlook-Symbol und begann, Mails zu beantworten.

«Merle, du sollst zu Konstanze kommen. Aber pronto!»

Die schrille Stimme von Karola, Konstanzes persönlicher Assistentin, riss Merle kurz vor der Mittagspause aus ihren Gedanken.

Während sie sich von ihrem Stuhl erhob, warf Björn ihr einen vielsagenden Blick zu und formte mit den Lippen ein «Viel Glück», um dann noch ein deutlich artikuliertes «Frischling» dahinterzusetzen.

Als Merle in Konstanzes Büro trat, sah sie nichts als einen leeren Bürostuhl.

«Komm rein», hörte sie Konstanze sagen und wandte ihren Kopf nach rechts, wo sich ihre Chefin auf der breiten Fensterbank niedergelassen hatte. Versonnen blickte sie hinaus auf den Innenhof und den vor sich hin pfeifenden Hausmeister und strich sich dabei ihre platinblond gefärbten Haare aus dem Gesicht. Ein Bein hatte sie angewinkelt, eines ausgestreckt, ein Zipfel ihrer weißen Seidenbluse hing lässig aus der schmalen, marineblauen Hose. Konstanze inszenierte sich stets so, dass man ein Foto von ihr auf Instagram hätte posten und damit eine Menge Likes hätte generieren können.

Sie hatte die Agentur vor sechs Jahren als Ein-Frau-Unternehmen gegründet. Seitdem war «Queen of Clean» nicht nur stetig gewachsen. Konstanze hatte mit der «30-Tage-Wohndiät» auch noch einen Sachbuch-Bestseller geschrieben und war regelmäßig als Aufräumexpertin im Fernsehen zu sehen. Merle bewunderte Konstanze für die schier unerschöpfliche Energie, mit der sie sich ihrem Leib- und Magenthema widmete. Sie ging längst nicht mehr selbst zum Kunden – ihren Stundensatz hätte sich eh keiner leisten können, wie sie gerne anmerkte –, sondern fungierte nur noch als attraktives Aushängeschild der Agentur. Oder, wie sie es selbst nannte, als «Director of first impression».

Merle war stolz darauf, dass sie Konstanze erst kürzlich ein zweiseitiges Interview in «Psychologie bringt dich weiter» verschafft hatte. Sie hatte sich einen Dreh überlegt, mit dem sie die Redakteurin letztlich überzeugt hatte: dass Aufräumberater eigentlich psychologische Arbeit leisteten. Auch die Headline stammte von Merle: «Wer aufräumt, ist aufgeräumter.» Konstanze hatte sich in dem Interview zu der Behauptung verstiegen, dass Entrümpeln jahrelange Sitzungen beim Therapeuten ersetzen könne. Und natürlich hatte sie es sich nicht nehmen lassen, die Erfolgsgeschichte von «Queen of Clean» zu erzählen. Es war die perfekte PR gewesen, und danach hatten sich für eine Weile deutlich mehr Interessenten bei ihnen gemeldet als sonst. Zu Merles Verdruss hatte Konstanze den Coup aber weniger ihr zugutegehalten als der eigenen Überzeugungskraft.

Konstanze erhob sich auf denkbar elegante Weise von der Fensterbank und ging zu ihrem Schreibtisch. Dann sah sie Merle endlich an.

«Entschuldige, ich brauchte gerade meine Fünf-Minuten-Meditation. Dauernd will jemand was von mir, und wenn es kein Kunde ist, dann ist es meine Mutter, die auf die Kinder aufpasst.»

Sie ließ sich schwungvoll in den schwarzledernen Chefsessel fallen und wies auf den grauen Eames-Stuhl gegenüber, damit Merle Platz nahm.

«Und damit wären wir auch schon beim Thema», redete Konstanze weiter, während sich Merle setzte und ungeduldig die Beine übereinanderschlug.

«Der Laden läuft gut. Wir werden in absehbarer Zeit sogar noch weitere Leute einstellen. Zunächst mal möchten wir aber, dass DU jetzt deine Chance bekommst: deinen ersten Einsatz beim Kunden vor Ort!»

Merle fragte sich kurz, wen Konstanze wohl mit «wir» meinte oder ob sie neuerdings von sich im Plural sprach. Dann mahnte sie sich zur Konzentration, schließlich ging es hier um ihre berufliche Zukunft.

«Genauer gesagt handelt es sich um eine Kundin, und ganz und gar keine unbedeutende», sprach Konstanze weiter. «Das wird kein einfacher Job, Merle, aber ich vertraue da ganz auf dein besonderes Einfühlungsvermögen und deine Kreativität, die du ja schon im Blog unter Beweis gestellt hast. Den wird übrigens bis auf weiteres Nina betreuen.»

Merle schluckte kurz. Dass der Job, den sie seit einem halben Jahr mit viel Herzblut erledigt hatte, jetzt von einer ahnungslosen Praktikantin gestemmt werden sollte, war nicht gerade schmeichelhaft. Doch dann ermahnte sie sich selbst: endlich ein Auftrag, noch dazu einer mit Fallhöhe! Das zeigte doch, dass Konstanze ihr einiges zutraute.

«Die Kundin heißt Ella Castello», hörte sie ihre Chefin sagen.

Konstanzes eindringlicher Blick gab ihr zu verstehen, dass sie irgendeine Reaktion von ihr erwartete. Tatsächlich kam Merle der Name bekannt vor, doch sie konnte ihn keiner Person zuordnen.

«Nun, du bist wohl zu jung, als dass dir das etwas sagt. Ella Castello ist Modedesignerin. Oder vielmehr: Sie war Modedesignerin. Mitte der siebziger bis Mitte der achtziger Jahre war sie hier in Hamburg eine große Nummer. Aber da hast du ja noch im Sandkasten gespielt.»

Konstanze lächelte kokett. Mit ihren neununddreißig war sie nur vier Jahre älter als Merle. Nur, dass sie bereits ein Unternehmen leitete und eine fünfköpfige Familie hatte.

«Eine hochinteressante Frau, von der du sicher viel lernen kannst. Und du wirst ihr Haus lieben! Ella Castello lebt auf der Uhlenhorst, direkt an der Alster. Ihre Jugendstilvilla ist – entschuldige die Wortwahl – der feuchte Traum jedes Architekten und jedes Innenarchitekten. Eigentlich jedes Menschen mit Geschmack. Aber du wirst es ja bald sehen. Übermorgen fängst du an. Ich lasse dir gleich die Infos zukommen, damit du dich vorbereiten kannst.»

«Übermorgen schon?» Merles Augen weiteten sich vor Schreck. Es war nicht ungewöhnlich, dass so eilige Aufträge hereinkamen. Die meisten Leute gaben erst dann Geld für Dienstleister aus, wenn die Not schon groß war. Trotzdem hätte sich Merle gewünscht, bei ihrem ersten Einsatz weniger Zeitdruck zu haben.

«Ich weiß, das ist recht kurzfristig», sagte Konstanze verständnisvoll. «Frau Castello hat beschlossen, so bald wie möglich in ihre Heimat zurückzukehren, nach Rom. Offenbar war es eine spontane Entscheidung.» Konstanze sah in die Unterlagen vor sich. «Es gibt keine Deadline. Ihr Haus an der Alster soll verkauft werden, sobald es leer geräumt und besenrein ist. Nun ja … Deine Aufgabe wird es sein, gemeinsam mit Frau Castello die Dinge auszuwählen, die mit nach Rom dürfen, und die restlichen Sachen loszuwerden. Traust du dir das zu?»

Konstanze hatte die Hände ineinandergefaltet und auf dem Tisch abgelegt. Wieder sah sie Merle gespannt an, als erwartete sie eine überschwängliche Reaktion. Aber Merle fühlte bloß Panik in sich aufsteigen. Nur ein Tag Vorbereitung. Das war sportlich, wenn man bedachte, dass sie keinerlei Erfahrung hatte. Doch sie ließ sich ihre Unsicherheit nicht anmerken.

«Natürlich traue ich mir das zu! Danke für die Chance», sagte sie und versuchte dabei möglichst euphorisch zu klingen.

«Sehr gut, das ist die richtige Einstellung», lobte Konstanze. «Noch ein kleiner Tipp von mir, da das hier dein erster Einsatz ist: Als Aufräum-Queen solltest du immer professionelle Distanz bewahren. Mach einfach deinen Job und lass dich gefühlsmäßig nicht zu sehr reinziehen.»

Merle war verwirrt. Was sollte das denn jetzt bedeuten? Doch bevor sie nachfragen konnte, war Konstanze aufgesprungen und um den Tisch herumgegangen.

«Und noch etwas: Die Dame hat pauschal bezahlt. Je schneller du also fertig wirst, desto mehr verdienen wir daran. Und umgekehrt. Du verstehst, was ich damit sagen will?» Merle nickte. Natürlich verstand sie. Der Auftrag sollte gefälligst schnell erledigt werden. «Sehr schön. Falls es Probleme geben sollte, stehe ich dir natürlich immer mit Rat und Tat zur Seite.» Konstanze klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter, was wohl bedeuten sollte, dass das Gespräch beendet war.

Als Merle zu ihrem Schreibtisch zurückging, wurde ihr langsam bewusst, was geschehen war. Endlich durfte sie zeigen, was in ihr steckte! Sie fühlte sich, als wäre sie gerade fünf Zentimeter gewachsen. Jetzt ging es ums Ganze. Wenn sie sich bei diesem Auftrag bewährte, bestand sie garantiert die Probezeit.

Am Abend war Merle die Letzte, die noch in der Agentur saß. Sie brütete über den Unterlagen, die Konstanze ihr kurz nach dem Gespräch gemailt hatte. Leider gaben sie längst nicht so viel her, wie sie gehofft hatte. Nur die Adresse des Hauses sowie einige Angaben zur Besitzerin wie Alter (68) und Familienstand (ledig), die jedoch wenig über sie verrieten. Merle gab den Namen Ella Castello bei Google ein. Was sie fand, waren hauptsächlich Bilder von Modenschauen und Partys aus den siebziger und achtziger Jahren, was sie nicht weiter verwunderte. Schließlich hatte Konstanze schon erwähnt, dass das die Zeit ihres größten Erfolges gewesen war. Wie sie in einigen Artikeln von damals lesen konnte, hatte Ella Castellos Boutique in der Hartungstraße zehn Jahre lang floriert, die Haute Volée der Stadt war bei ihr aus und ein gegangen und hatte ihr die knallbunten Kleider und hautengen Hosen förmlich aus den Händen gerissen. Merle fiel es schwer, sich die Hamburger Damen, die sonst eher den schlichten, marineblauen Chic bevorzugten, in den exzentrischen Fummeln vorzustellen, die sie hier im Netz sah. Aber genau so musste es gewesen sein: Ella Castello hatte sie alle gekriegt. Trotzdem hatte sie ihren Laden 1986 zugemacht. Merle fragte sich, warum sie sich so sang- und klanglos zurückgezogen hatte. Aktuelle Fotos oder Berichte konnte sie trotz hartnäckigen Suchens nicht finden. Keine rauschenden Partys, keine Senatsempfänge, bei denen die Designerin zu Gast gewesen war wie zu ihren besten Zeiten. Warum war sie so aus der Öffentlichkeit verschwunden? War das nur dem Alter geschuldet, oder steckte etwas anderes dahinter?

Auf den Bildern wirkte Ella Castello auf einschüchternde Art selbstbewusst. Ihr Gesicht, das von einer mokkafarbenen Lockenmähne eingerahmt wurde, sah aus wie von einem Bildhauer modelliert: Die großen grünen Augen, die vollen Lippen und die adlig geschwungene Nase strahlten italienische Grandezza aus. Und sie schien groß zu sein. Zumindest überragte sie ihren Mann, der auf den Fotos häufig neben ihr zu sehen war und eher unauffällig wirkte, um fast einen ganzen Kopf. Allerdings war sie auf den Bildern höchstens Mitte dreißig. Wie sie wohl heute aussah, mit beinahe siebzig?

Merle fuhr den Computer herunter und warf sich ihren Mantel über. Ihre Hauptaufgabe bei Frau Castello bestand wohl darin, alles vorzusortieren und in Kisten zu packen. Und dabei gleich das ein oder andere Teil zu entsorgen. Aber vermutlich nicht allzu viel: Eine gutsituierte Frau wie Frau Castello würde sich bestimmt nicht verschlechtern, wenn sie nach Italien zog. Vielleicht hatte sie ja ein Haus geerbt? Merle malte sich einen alten Palazzo aus, auf einem Hügel mit Blick über Rom. Mit großen Sälen, hohen Decken und wunderschönen alten Fliesenböden … Merle schüttelte über sich selbst den Kopf. Sie war nicht neidisch auf den Wohlstand dieser Frau. Ihre kleine Wohnung war genau das, was sie brauchte. Morgen würde sie sich noch eine Strategie zurechtlegen, wie sie den Auftrag möglichst schnell erledigen konnte. Sie wollte Konstanze auf keinen Fall enttäuschen.

Kapitel 2

Merle balancierte vier Packungen Sushi auf der einen Hand, unter ihrer Achsel klemmte ein Strauß Gerbera, während sie mit der anderen die Tür ihrer kleinen Altbauwohnung aufschloss. Sie war auf dem Heimweg noch bei ihrem Lieblingsjapaner vorbeigefahren. Sushi war eines der wenigen Gerichte, auf das Tom und sie sich einigen konnten. Er hatte sich allerdings angewöhnt, ausschließlich den Fisch zu essen, denn nach 18 Uhr waren auf seinem Ernährungsplan keine Kohlenhydrate mehr vorgesehen. Während Merle sich genüsslich ein Häppchen nach dem anderen in ihren Mund schob, sezierte er die Röllchen auf seinem Teller und bugsierte die verbotenen Reiskörner dann zu ihr hinüber.

Als sie Tom vor fünf Jahren kennengelernt hatte, war er noch Sportstudent gewesen und hatte in dem Sportverein, wo Merle Yoga machte, am Empfang gejobbt. Damals wollte er Lehrer werden. Zwei Jahre später hatte sich dann die Chance aufgetan, mit Kai den Surfladen aufzuziehen. Seitdem war Tom ein anderer Mensch geworden. Hatte er zu Anfang noch ganz normal gegessen, quittierte er es heute mit skeptischen Blicken, wenn Merle Schokolade kaufte oder Pudding anrührte. Dabei war sie alles andere als dick. Aber neben seinem sehnigen Körper fühlte sie sich inzwischen wie eine der «Nanas» von Niki de Saint Phalle. Kein Wunder, so diszipliniert, wie er sich ernährte.

Dabei war er vom Zunehmen so weit entfernt wie Timm Thaler von einem Lachanfall. Dafür war sein Bewegungsdrang zu groß, auch wenn er sich auf Wassersport beschränkte. Ansonsten war es eher schwierig, Tom zu Unternehmungen zu überreden. Wenn sie ihn aufziehen wollte, nannte Merle ihn «mein Krokodil»: im Wasser pfeilschnell, an Land behäbig wie ein Baumstamm. Aber Tom war ein Mensch, der sich nicht fragte, was andere von ihm dachten, und der keine Probleme zu kennen schien. Ihm war im Leben alles wie von selbst zugeflogen. Die Chancen und Talente wetteiferten geradezu um ihn. Merle dagegen hatte immer für alles kämpfen müssen. Manchmal fiel es ihr nicht leicht, diese Ungerechtigkeit auszuhalten.

Seufzend hangelte Merle die Sushi-Packungen durch die Tür und stellte sie auf die weiße Anrichte im Flur. Sie atmete kurz durch. Seit sechs Jahren lebte sie nun in dieser Wohnung, und es war immer wieder ein gutes Gefühl, nach Hause zu kommen. An diesem Ort war sie nur von den Dingen umgeben, die sie brauchte oder die ihr wirklich etwas bedeuteten. Das hier war ihr Rückzugsort vom Lärm der Welt, hier fand sie Ruhe und Gelassenheit. Meistens jedenfalls.

Merle bückte sich und hob den Brief vom Dielenboden auf, den der Postbote durch den Türschlitz geworfen hatte. Ein goldener Umschlag mit zwei grünen Tierchen darauf – Merle wusste sofort, was das zu bedeuten hatte. Die Einladung zu Heikes Hochzeit. Sie und ihr Verlobter Jens nannten sich gegenseitig Lurchi und Froschi – sogar in Gesellschaft anderer, was Merle anfangs irritiert hatte. Aber irgendwie passte die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre verliebten Schrullen auslebten, zu den beiden. Gerade dass sie so ganz und gar sie selbst waren, mochte Merle ja an ihnen. Nun würden die beiden Amphibien also in den Hafen der Ehe einlaufen. Und demnächst würde es vermutlich kleine Kaulquappen zu vermelden geben.

Merle seufzte, als sie den Brief öffnete. Sie gönnte Heike ihr Glück, aber gleichzeitig konnte sie nicht verleugnen, dass es ihr einen Stich versetzte, wie perfekt es für ihre Freundin lief. Mit der Pension in dem alten Strandhäuschen in Travemünde hatten sie und Jens ein gemeinsames Projekt gefunden, das sie beide erfüllte.

Merle erinnerte sich genau, wie Heike ihr Jens vor drei Jahren vorgestellt hatte: Sie hatte gleich gewusst, dass das mit den beiden etwas Ernstes war. Es war die Art, wie er ihre Freundin angesehen hatte, so voller Liebe. Wenn Heike von ihrem Job in der Ganztagsbetreuung einer Grundschule erzählte (für einen Job in der Kunstszene hatte es auch bei ihr nicht gereicht), hörte er ihr so hingebungsvoll zu, als würde sie die Zehn Gebote vorlesen. Ihre Freundin war angekommen – und davon war Merle meilenweit entfernt.

Tom und sie hatten es in den fünf Jahren nicht mal zu einer gemeinsamen Wohnung gebracht. Ganz zu schweigen von Heiratsplänen. Für Tom war das ein Reizthema, das hatte sie schnell gemerkt. Er war der freiheitsliebende Typ, und er würde länger brauchen, um sich endgültig zu binden. Und doch konnte sie sich nichts anderes vorstellen, als dass er eines Tages eine Familie mit ihr gründen würde. Was denn auch sonst? Er würde ja wohl nicht sein ganzes Leben mit Surfen verbringen wollen.

Sie versuchte, schnell an etwas anderes zu denken. Sie freute sich auf die Hochzeit, wie es sich für eine gute Freundin gehörte. Heike würde wunderschön aussehen mit ihren hellblonden Locken, die ihr Gesicht einrahmten wie kleine Pusteblumen. Sie fehlte ihr schrecklich. Es war eigentlich nur eine Stunde Fahrt von Hamburg nach Travemünde. Aber für gemeinsame Mittagspausen oder ein spontanes Bier war es eben trotzdem zu weit.

Merle legte die Einladung auf die Anrichte, schnappte sich die Sushi-Packungen und die Blumen und ging durch ihr Wohnschlafzimmer zu der kleinen Küchenzeile, um den Fisch in die Kühlung zu legen. Dann wickelte sie die weißen Gerbera aus, die sie von dem günstigen Blumenladen im Schanzenviertel mitgebracht hatte. Der Händler hatte nur ein Mal in der Woche geöffnet. Dann quoll der ganze Laden über vor Blumen, immer nur eine oder zwei Sorten, mal waren es Tulpen, mal Rosen oder Lilien, und die Kunden standen Schlange, um kurz darauf mit den Armen voller Blumen wieder herauszukommen. Merle liebte diesen Laden, auch wenn sie sich beim Kauf stets zurückhielt. Schließlich besaß sie nur zwei Vasen, eine für große, eine für kleine Blumen. Für eine so überschaubare Wohnung wie ihre reichte das vollkommen aus, fand sie.

«Hallo, meine Schöne!» Merle zuckte zusammen, als Tom zur Wohnungstür hereinplatzte. Sie hatte ihn gar nicht kommen hören. Kurz nach ihrem Kennenlernen hatte sie Tom einen Zweitschlüssel gegeben, mit dem er bei ihr ein- und ausgehen konnte, wie und wann er wollte. Obwohl ihre Wohnung kleiner war als seine, hielten sie sich bevorzugt bei ihr auf. Toms Wohnung in Barmbek war eher das Modell «anspruchsloser Junggeselle». Außer seiner Sneakersammlung, einem alten schwarzen Ledersofa und diversen Surfbrettern gab es dort nicht viel. Auf seine Art war er also ebenso ein Minimalist wie sie.

«Schau mal, die Amphibienhochzeit steht an.» Merle hielt ihrem Freund die Einladung unter die Nase. Toms Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Stirnrunzelnd überflog er den Text. «Oh, ich weiß gar nicht, ob ich da kann.»

Merles Stimmung verdunkelte sich schlagartig.

«Was soll das heißen? Das ist die Hochzeit meiner besten Freundin! Was könnte da wohl wichtiger sein?», fragte sie entsetzt.

«Baby, genau an dem Wochenende ist die Surfmesse in Rotterdam, das ist ein Pflichttermin für mich.»

Merle ließ das «Baby» unkommentiert. Sie mochte es nicht, wenn er sie so nannte.

«Kann nicht Kai da hingehen, nur dieses eine Mal?»

Tom lachte auf. «Kai auf der Messe? Du weißt doch, wie das endet. Beim letzten Mal hat er nach dem dritten Mojito so viele Boards bestellt, dass wir einen Kredit aufnehmen mussten.»

«Ja, aber das hier ist ein Notfall! Da muss doch eine Ausnahme möglich sein. Vielleicht kannst du ihn einfach besser vorbereiten?» Die Vorstellung, dass sie als unbegleitete Frau auf der Hochzeit womöglich am Singletisch Platz nehmen musste, versetzte Merle schon jetzt in Panik.

«Okay, ich rede mit Kai», sagte Tom, der wohl gemerkt hatte, wie sich Merles Laune eintrübte. «Aber ich kann nichts versprechen. Nächstes Mal soll Heike den Termin eben besser mit uns abstimmen.» Zum Zeichen, dass das keinesfalls ernst gemeint war, zwinkerte er Merle zu und ließ sich auf das schlichte graue Schlafsofa fallen, das Merle bei ebay ersteigert hatte.

Merle ging zu ihrer kleinen Küchenzeile, nahm das Sushi aus dem Kühlschrank und angelte aus einem der beiden Oberschränke zwei Teller und Besteck heraus. Sie beschloss, lieber das Thema zu wechseln, bevor die Stimmung kippte. Schließlich wollte sie sich mit Tom über ihren Auftrag freuen! Er würde staunen, wenn sie ihm gleich davon erzählte.

Doch als sie zurück zum Sofa kam, hatte Tom bereits sein Laptop auf den Knien und sah sich Kite-Videos an. Das machte er jeden Abend, um von seiner Arbeit abzuschalten. Merle legte das Essen und Besteck auf den Tisch und verteilte die Teller.

«Ich hatte heute ein Gespräch mit Konstanze», versuchte sie, zu ihm durchzudringen.

«Hmhm», machte Tom, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.

«Stell dir vor: Sie schicken mich endlich zu einem Einsatz!» Gespannt wartete sie auf seine Reaktion.

«Äh … das ist gut, oder?», fragte er, mit den Augen noch immer bei den Kitern.

«Und ob das gut ist. Du weißt doch, wie lange ich schon darauf gewartet habe», sagte Merle und konnte sich einen schnippischen Tonfall nicht verkneifen. Sie setzte sich mit demonstrativem Abstand zu ihm aufs Sofa. «Hey, komm mal her, Baby», sagte er, streckte seinen Arm nach ihr aus und zog sie an sich.

«Glückwunsch, meine Schöne. Das sind tolle Neuigkeiten», sagte er, und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Merle lehnte ihren Kopf an seine Schulter, atmete den Marzipanduft seiner Haut und starrte auf die hüpfenden Kitesurfer, während sie in Gedanken schon wieder bei ihrem bevorstehenden Einsatz war.

Kapitel 3

Ella Castello stand in ihrer Bibliothek und betrachtete die deckenhohen weißen Regale. Wahllos zog sie ein Buch heraus. Es war ein Bildband aus den sechziger Jahren mit Fotos von Brigitte Bardot in St. Tropez. Andächtig blätterte sie durch die Seiten. Sie erinnerte sich genau, wie sie das Buch in einem Pariser Antiquariat gefunden hatte. Die Aufnahmen von der Französin am Strand hatten sie damals zu ihrem ersten selbst entworfenen Badeanzug inspiriert – ausgerechnet in Vichy-Karo. Bei der Erinnerung lachte Ella in sich hinein. Warum hatte ihr dieses Muster eigentlich so gefallen? Es war doch eigentlich viel zu brav für sie. Und dann noch die Pastelltöne! Unvorstellbar! Wer konnte so etwas schon tragen außer Kleinkindern – und der Bardot natürlich! Aber genau das war es, was sie heute noch faszinierte: Die Bardot hatte sich was getraut, Stilbrüche, ja, fast schon Tabubrüche. Genau so, wie es Ellas Philosophie entsprach. Vielleicht war es ungewöhnlich für eine Designerin, aber sie hielt rein gar nichts von Modemagazinen. Es machte doch keinen Sinn, Frauen vorgeben zu wollen, was sie anziehen sollten. Generell mochte es ja richtig sein, sich von anderen etwas abzuschauen, um leichter durchs Leben zu gehen. Aber nicht in der Mode. Nein, wenn es um Stil ging, konnte es keine Vorbilder geben. Was brachte es der Leserin, wenn ein Kleid dem Model gut stand? An ihr selbst sah es deshalb noch lange nicht vorteilhaft aus.