Machtworte - Clemens Bittlinger - E-Book

Machtworte E-Book

Clemens Bittlinger

0,0

Beschreibung

Unser Leben ist geprägt von Machtwörtern: Negative Machwörter wie "Aus dir wird nie etwas!" halten uns klein und entmutigen. Positive Machtwörter wie "Ich bleibe bei Dir!" spenden uns dagegen Trost, Mut und Hoffnung. Welches Wort, welcher Satz, welcher Ausruf oder Befehl haben in einer Zeit der Angst und Unsicherheit die Macht, etwas zu bewirken und uns in Bewegung zu bringen? Anhand von vielen Beispielen aus der Politik, den Märchen, der Philosophie und Psychologie, aber auch der Bibel begibt sich der Autor gemeinsam mit der Leserin und dem Leser auf eine äußerst anregende und heilsamen "Machtwort-Entdeckungsreise".

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 220

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Clemens Bittlinger

Machtworte

Was uns bestimmt, ermutigt und befreit

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Die Bibelverse wurden, soweit nicht anders angegeben,

folgender Ausgabe entnommen:

Die Bibel. Die Heilige Schrift

des Alten und Neuen Bundes.

Vollständige deutsche Ausgabe

© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005

Darüber hinaus wurden einzelne Verse vom Autor frei übersetzt.

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Khanthachai C / shutterstock

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print 978-3-451-39208-5

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82780-8

Inhalt

Vorwort

Bestimmende Machtworte

Das Gerücht

Das Urteil

Die amtliche Verfügung

Lockdown

Der Befehl

Krieg

Boykott

Traumhafte Machtworte

»Gebete und Kerzen«

Das Klagelied

Das Dankgebet

Die Bitte als Gebet

»Ich liebe dich«

»Ich bin dein Freund!«

Machtwort: Lebensmotto

»Mit der Zeit nimmt die Seele die Farben deiner Gedanken an!«

»Da, wo ich bin, da will ich sein!«

Mobilisierende Machtworte

»Just do it!«

»Ich faste!«

»Soll das so bleiben?«

»Heute wird aufgeräumt!«

»Zeit für mich!«

Machtworte in Märchen

»Sesam, öffne dich!«

Rapunzel

Des Kaisers neue Kleider

Fitchers Vogel

Giftsätze

Pass auf, kleines Auge, was du siehst …

Die Diagnose

Störungen haben Vorrang

Die Macht der Bilder

Belangloses Wortgeplänkel (Ohnmachtsworte)

Ganz Ohr

Machtwort: Die Bibel

»Es werde Licht!« (Gen 1,3)

»Kommt alle zu mir, die ihr mühselig beladen seid!« (Mt 11,28)

»Steh auf, nimm dein Bett und geh!« (Joh 5,8)

»Hokus pokus«

»Das Weib schweige in der Gemeinde!« (1. Kor 14,3–34)

Bibel-Machtwort (Poetry)

Fürchtet euch nicht! (Mt 14)

Letzte Worte

Die letzten Worte Jesu am Kreuz

»Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.« (Lk 23,46)

»Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!« (Lk 23,34)

»Frau, da ist dein Sohn … Da ist deine Mutter« (Joh 19,26–27)

»Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.« (Lk 23,43)

»Ich habe Durst!« (Joh 19,28)

»Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34)

»Es ist vollbracht!« (Joh 19,30)

Der Segen

Dank

Literatur

Über den Autor

Vorwort

»Nun sprich doch mal ein Machtwort!«, blafft die entnervte Ehefrau-Hausfrau-Mutter-der-gemeinsamen-Kinder ihren nach Hause kehrenden Ehemann-Versorger-Vater-der-gemeinsamen-Kinder an; denn sie ist mit ihrem Latein am Ende. Sie hat ihren beiden Kindern Josua (9) und Mira (12) gedroht: »Wartet nur, bis euer Vater nach Hause kommt; dann gibt es aber ein Donnerwetter!« Die beiden »hören« einfach nicht, machen, was sie wollen, und tanzen ihrer Mutter auf der Nase herum. Und nun soll der müde und abgespannte Vater »es richten« – mit einem Machtwort. Doch was ist ein Machtwort? Welches Wort, welcher Satz, welcher Ausruf oder Befehl hat die Macht, etwas zu bewirken, besitzt so viel Macht, dass er uns in Bewegung bringt? Beim Militär ist das klar: Da gibt es den Vorgesetzten, und wenn dieser etwas befiehlt, dann muss es umgesetzt werden. Ein Befehl ist ein Machtwort ohne »Wenn und Aber«, und wer als Soldat*in einen Befehl nicht befolgt, muss mit einer drakonischen Strafe, bis hin zum Kriegsgericht, rechnen.

»Wir schaffen das!« war ein sehr einprägsames und wirkungsvolles Machtwort unserer Bundeskanzlerin a. D. angesichts der Flüchtlingskrise. Wirkungsvoll war es aber vor allem deshalb, weil viele Ehrenamtliche sich das zu Herzen genommen und mit angepackt haben. In der Coronapandemie und während der diversen Lockdowns haben sich viele nach einem neuen Merkel-Machtwort gesehnt; aber es kam nicht, und alles wurde zerredet. »Stoppt Putin!« wäre ein wichtiges Machtwort bei seinem barbarischen Angriff auf die Ukraine gewesen. Aber niemand hatte und hat die Macht, dem zerstörerischen Treiben des russischen Autokraten Einhalt zu gebieten. Und schon gleich anhand dieses Beispiels sehen wir: Ein Machtwort ist immer auch ein komplexes Geschehen, und im Fall Putin bestand dieses Einhalt gebietende Wort aus vielen Machtentscheidungen (= Sanktionen), die den Kremlherrscher zur Vernunft bringen sollten.

Unser aller Leben ist geprägt von Machtworten, vielleicht von einem Lebensmotto, das uns helfen kann, Entscheidungen zu fällen und leichter durchs Leben zu kommen. Aber es gibt auch negative Sätze, Worte und Gedanken, wie »Aus dir wird nie was!«, die Macht über uns haben und die sich wie eine dunkle Signatur tief in unseren Lebenslauf eingegraben haben. Man kann sie auch Giftsätze nennen. Und schließlich ist die Bibel, das Wort Gottes, ein Buch voller Machtworte, die vor allem eines wollen: Sie wollen uns befreien von den negativen und zerstörerischen Machtworten dieser Welt. »Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht« ist so ein typisches Machtwort der Bibel: ein kreatives, schaffendes Wort, das in sich schon die Veränderung birgt und uns hoffnungsvoll nach vorne schauen lässt. Da ist Licht!

Bestimmende Machtworte

»Ab jetzt: nachhaltig!!!«

Die Welt wartet auf ein Machtwort; sie braucht dringend ein Machtwort. »Ab jetzt: nachhaltig!!!« Das wäre das vielleicht wichtigste Machtwort in unserer Zeit. Als die damals 16-jährige Greta Thunberg sich, von vielen belächelt, mit ihrem Pappschild »Schulstreik fürs Klima« der Öffentlichkeit präsentierte, war das ein Machtwort – oder besser gesagt: ein Machtbild, das um die Welt ging. Es war deshalb ein Machtwort, weil es die weltweite Jugendbewegung »Fridays for future« auslöste.

»Jetzt oder nie!!! Die nächsten 3 Jahre entscheiden, ob wir die Wende noch schaffen!« Wie einen letzten drängenden Hilferuf griff die Presse die Blockbuster-Botschaft des Anfang April 2022 veröffentlichten Berichts des Weltklimarats IPPC zur aktuellen weltweiten Klimalage auf: »Die Zeit zum Handeln ist jetzt! Wir können die Emissionen bis 2030 halbieren.« Der Vorsitzende des Weltklimarats Hoesung Lee sagte wörtlich: »Wir befinden uns an einem Scheideweg.« Und er mahnte mit höchster Dringlichkeit: »Die Entscheidungen, die wir jetzt treffen, können eine lebenswerte Zukunft sichern.« Doch wer könnte dieses »Jetzt oder nie!« durchsetzen; wer wäre in der Lage, solch ein Machtwort zu sprechen? Der chinesische Staatsführer Xi Jinping fällt mir als Erstes ein. Als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas sowie als Vorsitzender der Zentralen Militärkommission und als Staatspräsident der Volksrepublik China gilt er aufgrund seiner autokratischen Machtfülle als »Überragender Führer« und aufgrund der Konzentration mehrerer Ämter in seiner Hand als einer der mächtigsten Herrscher der Welt. 2018 ließ er die Amtszeitbegrenzung des Präsidenten aufheben, was ihm eine Amtsführung auf Lebenszeit ermöglicht. Xi Jinping ist der Chef einer expansiven kapitalistischen Diktatur mit ganz klaren nationalistischen Zielen: China als führende Großmacht, die den Rest der Welt mehr und mehr in eine von China abhängige Position führen – oder besser gesagt: treiben möchte. Aufgrund eines ausgeklügelten Überwachungssystems sind die Herrschenden dieses Landes fast perfekt in der Lage, auch unbequeme Maßnahmen für die Bevölkerung im Nu umzusetzen. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben dies der Welt eindrücklich vor Augen geführt. Wäre China die Welt, könnte dieser Mann ein Machtwort sprechen, das die Welt rettet. Doch zu welchem Preis? Mit Schaudern stelle man sich vor, die Welt läge tatsächlich in der Hand eines kapitalistisch orientierten Diktators, für den die Achtung der Menschenrechte zweitrangig, Meinungsvielfalt und Pressefreiheit ein Gräuel und jegliche Opposition auszumerzen ist. Wenn wir in abendlicher Runde beisammensitzen und uns fragen, welche Herrschaftsform die Welt retten könnte, so steht immer die Utopie einer selbstlosen Weltregierung, einer weltweiten zentralistisch organisierten Öko-human-Diktatur im Raum. Neulich sagte ein Freund: »Um die Welt zu retten, bräuchten wir die Weltherrschaft altruistischer Aliens, die den kosmologischen Überblick haben und unseren Planeten retten, erhalten und heilen wollen!«

Denn darum geht es: Es geht um die Rettung der Welt. Was, wenn wir einfach die Welt retten? Handeln in der Klima­krise (2021) ist der Titel eines Buches von Frank Schätzing. Wie schon in seinem Bestseller Der Schwarm (2004) sendet der bekannte Autor wissenschaftlich fundiert und dennoch packend geschrieben einen Weckruf an die Menschheit. Seine Botschaft: Jeder Mensch ist Teil des Geschehens; wir alle sind verantwortlich, und es liegt an uns, dass wir für uns und jene, mit denen wir zusammenleben und -wirken, ein Machtwort sprechen. Ein Machtwort, das nur dann wirkmächtig sein kann, wenn wir tatsächlich anders, nachhaltig und verantwortlich leben und handeln – das Globale verändern im Lokalen. Ganz klar: Ein Machtwort braucht ein Ziel, einen wichtigen Grund, der jedem und jeder sofort einleuchtet. Die Rettung unseres Planeten ist solch ein Grund. Und somit müsste das Machtwort lauten: »Ab jetzt: nur noch nachhaltig, sonst vernichten wir unsere Lebensgrundlagen!« Doch stellen wir uns vor, eine Partei wie die Grünen würde solch eine Forderung öffentlich stellen: Es gäbe sofort eine hitzige Debatte, die wir uns in unserem Land übrigens nur deshalb (noch) leisten können, weil wir klimatisch in einer moderaten Zone leben, in der die Auswirkungen des Klimawandels noch längst nicht so verheerend sind wie in den Ländern Afrikas, Asiens und der Südsee. Die CDU würde behaupten, dass sie das schon seit vielen Jahren propagiere, aber immer wieder am Widerstand der Lobbyisten – allen voran der Industrie – scheitern würde. Die FDP würde behaupten, dass das eine unternehmerfeindliche Forderung sei, und man müsse dem freien Markt vertrauen; der würde durch Angebot und Nachfrage das Ganze schon regeln. Die AFD würde bestreiten, dass es den Klimawandel überhaupt gibt, und den Grünen vorwerfen, sie würden Hysterie verbreiten. Die SPD würde im Großen und Ganzen zustimmen, aber die Sozialverträglichkeit sämtlicher Maßnahmen einfordern. Alle weiteren Parteien würden sich mal ablehnender mal noch viel radikaler zu diesem Thema äußern.

Zu der Zeit, als Willy Brandt Bundeskanzler war, wurde er in einem innerparteilichen Konflikt einmal gebeten, er solle doch mal ein Machtwort sprechen und richtig »auf den Tisch hauen«. Darauf soll Brandt geantwortet haben: »Das würde noch nicht mal den Tisch interessieren!« Und so hören wir, in einer Zeit, in der wir so dringend ein Machtwort bräuchten, in erster Linie »Ohnmachtsworte« wie »Der Einzelne kann ja sowieso nichts ändern!« oder »Wenn wir in unserem Land versuchen, nachhaltig zu leben und zu handeln, verschaffen wir anderen Ländern einen Marktvorteil!« oder »Diese Welt ist nicht mehr zu retten; genießen wir das ›Hier und Jetzt‹«. Diese Ohnmachtsworte gilt es zu entlarven und mutig, phantasievoll und aufgeweckt einem lutherischen Machtwort zu folgen: »Und wenn morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen!«

Aber nicht nur Staatslenker und Klimaaktivisten verwenden Machtworte. Sie sind allgegenwärtig und werden auch von uns selbst – oft unbewusst – gesprochen. Ob als Eltern, gegenüber Freunden und Kollegen, in der Schule, auf der Bühne oder im Sport. In unterschiedlichen Zusammenhängen und auf unterschiedlichen Ebenen des Alltags verändern wir alle mithilfe von Machtworten unser Zusammenleben und -wirken. Uns die Macht der Worte bewusst zu machen, kann ein erster Schritt sein, den Samen für eine bessere Welt aufgehen zu lassen.

Was für wirkmächtige Worte gibt es? Wo finden wir sie? Welche Worte bauen auf? Welche machen klein oder zerstören sogar? Was schränkt ein, was befreit?

Das Gerücht

»Die Gewalt von Worten kann manchmal schlimmer sein als die von Ohrfeigen und Pistolen.«

(Heinrich Böll, Interview im Oktober 1974)

»Wer hat denn wieder meinen Kassenbon geklaut?«, rief die Bedienung in die Gaststätte hinein. Sie hatte das mehr aus Spaß so salopp formuliert. »Jemand hat, aus Versehen, einen Kassenbon woanders abgelegt«, meinte sie wohl. Doch nun stand der Vorwurf im Raum. Eine andere hatte nur halb hingehört und verbreitete anschließend das Gerücht: Im Landgasthof »Zum Ochsen« wird geklaut. Dieser unbegründete Verdacht, der ja auf einem Missverständnis beruhte, fiel auf die langjährige Mitarbeiterin Petra, und auf einmal stand sie am Pranger. Sie sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie würde die anderen bestehlen. Nichts davon stimmte, aber das Misstrauen war gesät, und von heute auf morgen kippte das Betriebsklima so sehr, dass Petra nach wenigen Wochen unter Tränen ihren Job aufgeben musste, weil »die Anderen« sie mieden und mobbten. Gerüchte können eine unglaubliche Macht entfalten und menschliche Existenzen zerstören.

Vor einigen Jahren haben wir in unserer Region regelmäßig zu den sogenannten Sternstunden eingeladen. Das waren besondere Gottesdienste mit popmusikalischen Elementen, einer thematisch orientierten Eingangsaktion, einem Anspiel, einer Themenpredigt und einem Aktionsraum, bei dem die Teilnehmenden selbst Gebete formulieren und diese in eine Klagemauer stecken, eine Kerze anzünden oder sich segnen lassen konnten. Einmal hatten wir als Thema »Das jüngste Gerücht«. Frei nach dem Motto: »Früher hatten die Leute Angst vor dem Jüngsten Gericht, heute interessieren sie sich nur noch für das jüngste Gerücht«, streuten zwei Damen am Eingang zur Begrüßung das Gerücht, ich hätte ein erotisches Verhältnis mit einer verheirateten Frau. Interessant und spannend waren die Reaktionen der Gottesdienstbesucher*innen: Manche waren erschüttert, andere empört und wieder andere nahmen es als (fast) selbstverständlich hin, als hätten sie sich so etwas schon gedacht. Man konnte aber bis hin zur Predigt sehr gut beobachten, wie dieses Gerücht sich in den Köpfen der Leute festgesetzt hatte. Also begann ich meine Predigt mit der Bemerkung, ich wüsste wohl, dass am Eingang ein Gerücht über mich und mein Liebesleben gestreut worden sei, aber dazu wolle ich mich nicht äußern; das sei mir einfach zu blöd! Damit hatte ich natürlich und durchaus beabsichtigt genau das Gegenteil erreicht: Jetzt rumorte es umso mehr in den Köpfen der versammelten Gemeinde. Ein Gerücht, das nicht entkräftet wird, kann eine noch größere Macht entfalten. »Ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben«, so fuhr ich dann fort, »aber diese Kirche wurde von einem Bordellbesitzer aufgekauft und soll in den nächsten zwei Jahren zu einem exklusiven Nachtclub umgebaut werden. ›The Church‹ soll das Ganze dann heißen …« Dieses Gerücht nahm mir die Gemeinde dann doch nicht ab, und so predigte ich über die Tatsache, dass die Jünger Jesu die Botschaft von seiner Auferstehung zunächst auch nur für ein Gerücht gehalten hatten, bis ihnen der Auferstandene persönlich begegnet sei.

»Der Engel aber sagte zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier; denn er ist auferweckt worden, wie er gesagt hat. Kommt und seht die Stelle, wo er gelegen hat. Dann geht schnell zu seinen Jüngern und sagt ihnen: Er ist von den Toten auferweckt worden. Er geht euch voraus nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn sehen. Ich habe es euch gesagt. Da eilten sie weg vom Grab, voll Furcht und großer Freude, und liefen zu seinen Jüngern, um ihnen die Botschaft zu verkünden.

Da kam ihnen Jesus entgegen und sagte: Seid gegrüßt! Sie gingen zu ihm, umfassten seine Füße und warfen sich vor ihm nieder. Da sagte Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Geht und sagt meinen Brüdern, sie sollen nach Galiläa gehen; dort werden sie mich sehen.

Während sie weggingen, kamen einige von der Wache in die Stadt und meldeten den Hohenpriestern alles, was sich zugetragen hatte. Da versammelten sie sich mit den Ältesten, hielten Rat und gaben den Soldaten reichlich Geld mit der Weisung: Erzählt, seine Jünger sind in der Nacht gekommen und haben ihn gestohlen, während wir schliefen. Wenn das dem Statthalter zu Ohren kommt, werden wir ihn beschwichtigen und dafür sorgen, dass ihr nichts zu befürchten habt. Sie aber nahmen das Geld und taten, wie man sie angewiesen hatte.« (Mt 28,5–15)

Die Botschaft von der Auferstehung Jesu sollte von Anfang an und ganz gezielt als Gerücht, als Fake News gebrandmarkt werden. Denn nichts war für die religiösen und politischen Machthaber gefährlicher als eine Hoffnung »über den Tod hinaus« und eine Bewegung, die sich nicht an Macht, Einfluss und Geld, sondern an der Nächsten-, ja sogar an der Feindesliebe orientierte. Und die gerade dadurch in geradezu rasantem Tempo an Einfluss und Macht gewann.

Ich beendete meine Ausführungen dann allerdings mit folgender Abschlussbemerkung: »Ich weiß, dass Sie die ganze Zeit noch auf eine Stellungnahme zu dem am Eingang gestreuten Gerücht, ich hätte eine erotische Beziehung zu einer verheirateten Frau, warten. Es stimmt: Ich habe eine erotische Beziehung zu einer verheirateten Frau. Sie ist auch heute Abend da, und wir sind seit vielen Jahren verheiratet.«

Die Grenzen zwischen Vorverurteilung, Gerücht und Fake News sind mittlerweile fließend. Murat Kurnaz wurde 1982 in Bremen geboren. Er ist in Deutschland aufgewachsen und türkischer Staatsbürger. Er wurde von Januar 2002 bis August 2006 ohne Anklage im Gefangenenlager der Guantanamo Bay Naval Base offensichtlich aufgrund eines Missverständnisses festgehalten. Nach dem Anschlag der Taliban auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 haben die US-Streitkräfte wohl lieber einen Verdächtigen zu viel als zu wenig verhaftet. »Sein Anwalt Bernhard Docke klagte zusammen mit den Anwälten anderer freigelassener Guantánamo-Häftlinge dagegen vor einem US-Bundesgericht. Die zuständige Richterin Joyce Hens Green stellte am 31. Januar 2005 fest, dass Kurnaz’ Einstufung als ›ungesetzlicher Kombattant‹ unbegründet und somit seine Inhaftierung rechtswidrig gewesen sei. Die Richterin, die Zugang zu Kurnaz’ gesamter Gefangenenakte inklusive der Geheimhaltung unterliegender Informationen hatte, stellte fest, es gebe keine Beweise, dass Kurnaz Verbindungen zu al-Qaida gehabt oder eine besondere Bedrohung der USA dargestellt habe«.1 Murat Kurnaz verarbeitete diese Zeit in seiner Autobiographie Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantánamo (2007). Vorverurteilungen, Fake News und Gerüchte sind Machtworte, die ein ganzes Leben und ganze Familien zerstören können.

Mit rund 3 Millionen verkaufter Exemplare ist der Roman Die verlorene Ehre der Katharina Blum das erfolgreichste Prosawerk von Heinrich Böll. Darin wird die von Gerüchten und Vorverurteilungen geprägte Hetzjagd einer Boulevardzeitung geschildert. Die Protagonisten sind die hübsche Haushälterin Katharina Blum und der skrupellose Zeitungsreporter Werner Tötges, der sein Opfer so sehr beschädigt und in die Enge treibt, dass diese ihn schließlich tötet. Der Springerkonzern versuchte die Veröffentlichung dieses Romans zu verhindern, da Parallelen zum journalistischen Gebaren der Bild-Zeitung offensichtlich waren und sind. In einer Vorbemerkung erläutert Böll dazu: »Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.« In diese Kategorie von systematischer Zerstörung eines Menschen gehört sicherlich auch der »Fall Kachelmann«. Der prominente Wettermoderator sah sich 2010 mit dem Vorwurf einer Ex-Geliebten konfrontiert, er hätte sie vergewaltigt. In einem entsprechenden Strafverfahren wurde er jedoch von diesem Vorwurf freigesprochen. Allerdings hatte die Presse bis zum endgültigen Freispruch dermaßen zu einer vorverurteilenden Hetzjagd gegen den Wetterexperten geblasen, dass sein Ruf irreparabel beschädigt war.

Mit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten 2016/17 rückte der Begriff »Fake News« und »alternative Wahrheiten« ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Gleich zu seiner Amtseinführung wurde die Menschenmenge, die sich da versammelt hatte, als die größte in der Geschichte der US-Präsidenten-Einführungen beschrieben. Die Luftaufnahmen zeigten das genaue Gegenteil. Als die Pressesprecherin des Weißen Hauses damit konfrontiert wurde, prägte sie u. a. den Begriff »alternative Wahrheiten«. Fakt ist: Kein US-Präsident hat während seiner Amtszeit mit Hilfe von Fake News und »alternativen Wahrheiten« das öffentliche Klima seines Landes so sehr und nachhaltig vergiftet wie Donald Trump.

Das Urteil

Wenn alle Argumente gehört sind, wenn die Staatanwaltschaft ihren letzten Antrag gestellt hat und die Strafverteidigung ihr letztes Plädoyer gehalten hat, dann ziehen sich die Richter oder die Geschworenen zurück, um ein Urteil zu fällen. Ein Urteil ist ein Machtwort; denn es entscheidet mit einem Hammerschlag über die Zukunft eines Angeklagten. In einer Welt, in der Egoismus, Habgier und Täuschung leider zu unserem gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinander gehören, brauchen wir letzte Instanzen, die über »Recht« und »Unrecht« entscheiden.

Wir brauchen einen Ort, an dem ein Machtwort gesprochen werden kann. »Von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und Toten«, beten wir im Apostolischen Glaubensbekenntnis. Der Glaube, dass es eine allerletzte Instanz gibt, vor der jeder Mensch am Tag des Jüngsten Gerichts einmal stehen wird, hat auch, zusammen mit den Zehn Geboten, das deutsche Rechtssystem nachhaltig geprägt. Lange hat man im christlichen Abendland die weltlichen Gerichte als »verlängerten Arm« oder als »irdische Stellvertreter« des großen, abschließenden Jüngsten Gerichts verstanden. Der Glaube, »wir alle müssen einmal offenbar werden vor dem Richterstuhl des Allmächtigen« (auch die Richter!), war und ist bis heute für viele Menschen elementar wichtig und auch tröstlich. Tröstlich angesichts der Gräueltaten, die z. B. durch die Nazis im Dritten Reich an Millionen von Menschen begangen wurden. »Irgendwann werden sich ›diese Schweine‹ verantworten müssen für das, was sie getan haben!«, mag so mancher gehofft und gebetet haben.

In den Nürnberger Prozessen, nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, wurden die Hauptkriegsverbrecher aus den Bereichen Politik, Partei (NS) und Militär für die Planung und Durchführung eines Eroberungskriegs erstmals von den Siegermächten zur Rechenschaft gezogen. Die wichtigsten Anklagepunkte waren der millionenfache Massenmord an der jüdischen Bevölkerung und anderen »unliebsamen Gruppierungen« sowie die Verbrechen an Kriegsgefangenen und an der Zivilbevölkerung. Angeklagt waren 24 Personen, von denen drei freigesprochen, sieben zu Freiheitsstrafen und zwölf zum Tode verurteilt wurden. Zwei dieser Verfahren wurden ohne Urteil eingestellt.

Im Herbst 1946 wurden die Urteile verkündet. Der Hauptangeklagte, Adolf Hitler, hatte sich kurz vor der Kapitulation der Nazis selbst das Leben genommen.

»Die wahre Klägerin ist die Zivilisation«, sagte der US-Chefankläger Robert Jackson 1945 in Nürnberg. Fünf Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft mussten sich Hauptverantwortliche des Regimes vor Gericht verantworten. Das Tribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher sollte eine welthistorische Zäsur sein. Doch nach einem spektakulären Auftakt zeigte sich: »Die Rechtsfindung war schwierig.« (Deutschlandfunk/Kultur)

»Nürnberg ist nicht das Ende, sondern der Anfang des neuen Rechtsdenkens in der Welt. … Darin sieht der Neutrale den tieferen Sinn des Prozesses von Nürnberg, der einen ersten Schritt zur Schaffung eines internationalen Strafrechts darstellt, dem alle Regierungen, auch jene der heutigen Sieger, unterworfen sein werden.«2

So kommentierte ein Schweizer Korrespondent die Urteilsverkündung im Hauptkriegsverbrecherprozess hoffnungsvoll. Und in der Tat: Am 1. Juli 2002 nahm der Internationale Strafgerichtshof seine Tätigkeit auf und ist seitdem für 123 Staaten (60 % aller Staaten der Erde) zuständig. An dieser Stelle sei ausdrücklich auf die Charta der Menschenrechte hingewiesen: Jeder dieser 30 Artikel ist ein Machtwort – allen voran Artikel 1: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.«

»Friedenspalast« heißt das Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Mit der Gründung dieses Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court – ICC) besteht zum ersten Mal die Hoffnung, dass Schwerstverbrecherinnen und -verbrecher eine Aburteilung wegen individueller Vergehen weltweit fürchten müssen. Dieses Gericht ist die erste ständige Rechtsinstanz, die Einzelpersonen für schwere Menschenrechtsverletzungen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen strafrechtlich zur Verantwortung ziehen kann. Es gilt deshalb als eine der bedeutendsten Entwicklungen im Menschenrechtsschutz der letzten 70 Jahre. (Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen).

Und bereits am Tag 12 des Angriffskriegs Wladimir Putins gegen die Ukraine wurde, auf Antrag der ukrainischen Regierung, gegen Russland ein internationales Kriegsverbrechertribunal eröffnet mit dem Vorwurf des Genozids und der Kriegsverbrechen am ukrainischen Volk.

In dem 1913 erschienenen Buch Das Urteil von Franz ­Kafka geht es um den jungen Kaufmann Georg Bendemann, der einen Brief an einen Freund in Petersburg geschrieben hat. Die Erzählung beginnt mit einem heiteren Anlass. Der junge, erfolgreiche Bendemann möchte seine Freude über die bevorstehende Verlobung (mit-)teilen. Er besucht seinen alten, bettlägerigen Vater, um ihm von diesem Brief zu erzählen. Jener macht auf Georg einen äußerst hilfsbedürftigen Eindruck. Deshalb nimmt er sich vor, den alten Herrn nach der Hochzeit bei sich aufzunehmen. Als Georg seinen Vater in ein Bett getragen hat, macht dieser ihm jedoch aus heiterem Himmel die schlimmsten Vorwürfe. Verrat an seinem Freund (mit dem der Alte offensichtlich ebenfalls in Verbindung stand), Schändung des Andenkens an die verstorbene Mutter und Veruntreuung des familiären Geschäftsvermögens muss sich Georg vorwerfen lassen. Der Vater verurteilt den Sohn zum »Tod durch Ertrinken«. Georg nimmt das Urteil an und stürzt sich von einer Brücke in den Fluss. »Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt«, sind seine letzten Worte.

So verstörend diese Erzählung sein mag: Sie bedeutete für Franz Kafka den internationalen Durchbruch als anerkannter Schriftsteller. Manche Interpretatoren entdecken in Das Urteil eine der ersten literarischen Beschreibungen von Altersdemenz. Wie dem auch sei: Das von seinem alten, geliebten Vater ausgesprochene Todesurteil nimmt der Protagonist der Erzählung so ernst, dass er dessen Vollstreckung selbst und unmittelbar vollzieht.

Viele Menschen verurteilen sich selbst, weil sie in der Vergangenheit etwas getan oder unterlassen haben, das wie ein schwerer Stein auf ihrer Brust liegt. »Das werde und kann ich mir niemals verzeihen!«, entfuhr es einer älteren Dame in einem Trauergespräch. Sie hatte es versäumt, sich mit ihrem schon vor vielen Jahren verstorbenen Vater auszusöhnen. Solche »Eigen-Verurteilungen« können ein ganzes Leben prägen, unter Umständen auch zerstören. Der Lieblingsbibelvers meiner Mutter, die einen Master in Theologie hatte und ausgebildete Psychotherapeutin war, steht im 1. Johannesbrief, Kapitel 3, Vers 20: »Denn wenn das Herz uns auch verurteilt – Gott ist größer als unser Herz und er weiß alles.« Sie hatte oft mit Menschen zu tun, die sich innerlich selbst zerfleischten und die unter einem ungnädigen Gottesbild litten, mit Älteren, aber mitunter auch mit ziemlich jungen Leuten, die mit ihren Schuldgefühlen nicht klarkamen. Sie hatten Angst vor einem ungnädigen und strafenden Gott, sodass sie sich verdammt und verurteilt fühlten. Diese Patienten behutsam, Stück für Stück darauf hinzuweisen und spüren zu lassen, dass die Wesenszüge Gottes nicht von Strafe und Urteil, sondern von Liebe, Vergebung und Barmherzigkeit geprägt sind, war für sie bis ins hohe Alter ein Herzensanliegen.

Die meisten Urteile werden im privaten und ganz persönlichen Bereich gefällt. Die sogenannten »Ehrenmorde«, mit denen eine angebliche Familienehre wiederhergestellt werden soll und muss, fallen mir dazu spontan ein. In manchen arabisch oder türkisch geprägten Großfamilien »dürfen« junge Frauen nicht einfach machen, was sie wollen. Sie stehen unter der Obhut der Männer: des Vaters, eines Onkels oder eines Bruders. Und wenn ein Mädchen versucht, aus diesem »Käfig« auszubrechen und wie eine ganz normale, westlich geprägte Jugendliche zu leben, wird das nicht geduldet. Die meisten Ehrenmorde werden niemals bekannt, weil sie als Unfall oder als Selbsttötung getarnt werden. Manchmal wird eine Frau als vermisst gemeldet, und der Rest der Familie hält still. Die Seite »ehrenmord.de« dokumentiert alle dementsprechenden Vorkommnisse, die in Deutschland bekannt geworden sind. Die Informationen stammen aus den Medien, aus Gerichtsurteilen oder persönlichen Hinweisen.