Die Hurenkönigin und der Venusorden - Ursula Neeb - E-Book

Die Hurenkönigin und der Venusorden E-Book

Ursula Neeb

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Beschreibung

Frankfurt am Main 1512: Die charismatische Alma und ihre verführerische Tochter Irene bescheren dem Frauenhaus am Dempelbrunnen einen Zulauf wie in besten Zeiten. Auch die Hurenkönigin Ursel ist fasziniert von Alma – so sehr, dass sie sich von ihrem langjährigen Geliebten trennt. Doch als man die Leiche eines Ratsherrn findet, verdächtigt man Alma, weil sie einen heftigen Streit mit ihm hatte. Die Hurenkönigin ermittelt und findet heraus, dass mehrere Personen gute Gründe hatten, dem Senator nach dem Leben zu trachten. Als ihr schließlich klar wird, wer den Mord wirklich begangen hat, muss sie um ihr Leben bangen…

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Das Buch

Frankfurt am Main 1512: Die charismatische Alma und ihre verführerische Tochter Irene bescheren dem Frauenhaus am Dempelbrunnen einen Zulauf wie in besten Zeiten. Die Hurenkönigin Ursel ist glücklich, in Alma eine Seelenverwandte gefunden zu haben. Von ihr erfährt sie vom Orden der Venusschwestern, einem Geheimbund, der die Göttin Venus verehrt.

Doch kurz nach der Ankunft der beiden neuen Frauen findet man die Leiche eines Ratsherrn unweit des Frauenhauses. Da sie tags zuvor einen heftigen Streit mit ihm hatte, verdächtigt man Alma. Die Hurenkönigin beginnt mit ihren eigenen Recherchen und findet heraus, dass es einige Personen gab, die gute Gründe hatten, dem Senator nach dem Leben zu trachten. Ihre Spur führt in hohe Politikerkreise, aber auch zu dem mysteriösen Venusorden. Als ihr schließlich klar wird, wer den Mord wirklich begangen hat, muss sie um ihr Leben bangen …

Die Autorin

Ursula Neeb hat Geschichte studiert. Aus dem spannenden Thema für die eigentlich geplante Doktorarbeit entstand ihr erster Roman Die Siechenmagd. Sie arbeitete beim Deutschen Filmmuseum und bei der FAZ. Heute lebt sie als Autorin mit ihren beiden Hunden in Seelenberg im Taunus.

Von Ursula Neeb sind außerdem in unserem Hause erschienen:

Das Geheimnis der Totenmagd

Die Hurenkönigin

Ursula Neeb

Die Hurenkönigin und der Venusorden

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

ISBN 978-3-8437-0451-9

1. Auflage August 2013© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: akg images (Venus: Tizian, Ruhende Venus, um 1538); FinePic® München (Beschläge)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Der Göttin in Liebe

»Stern so hell, Stern so klar, diese Nacht so wunderbar, mache meinen Wunsch mir wahr, der in meinem Herzen war.«

Vers, mit dem der Planet Venus als Abendstern angerufen wird.

TEIL 1 – Die Göttin der Liebe

»Es stand ein Mädchen,In rotem Kleidchen.Wer sie berührte:Das Kleidchen knisterte. Eia!«

Carmina Burana, um 1230

Prolog

Die Hurenkönigin stand Hand in Hand mit Alma und Irene in einem langen Reigen von Frauen. Das Licht des Vollmonds, der über den Wipfeln der Ulmen aufgegangen war, tauchte die Waldwiese in silbernen Glanz. Der Duft von Wiesenkräutern, durchsetzt vom würzigen Geruch des Waldes, stieg ihr in die Nase. Zarte Nebelschwaden hingen über dem Gras. Aus dem Ulmenhain drang plötzlich der Ruf eines Käuzchens und durchbrach die gespenstische Stille.

Mehr als hundert Venusschwestern waren auf der Lichtung versammelt. Sie trugen Blumenkränze im Haar und waren in ockerfarbene Gewänder gekleidet, und alle verharrten in tiefer Andacht. Die Hurenkönigin sah Frauen jeglichen Alters und unterschiedlichster Herkunft. Erstaunt gewahrte sie, dass sich auch einige Männer in dem Kreis befanden. Sie hatten Frauenkleider an, und das Mondlicht fiel auf ihre geschminkten Gesichter.

Nach einer Weile löste sich Alma aus dem Kreis und trat in die Mitte. Das alterslose Gesicht der Hohepriesterin verströmte Würde und Schönheit, als sie sich ehrfürchtig herunterbeugte und die Erde küsste. Langsam richtete sie sich wieder auf und schaute mit ausgebreiteten Armen in den Sternenhimmel. Ihr Blick verweilte auf dem Abendstern, der hell und klar am Firmament prangte. Das gleißende Sternenlicht fiel auf sie herab, und vor den staunenden Augen der Hurenkönigin wandelte sie sich zur sternengekrönten Venus, deren betörend schönes Antlitz die Züge von Irene trug.

»Höret die Worte der Großen Mutter«, sprach die Göttin mit dunkler, wohltönender Stimme aus ihr. »Die einst Artemis, Astarte, Diana, Melusine, Aphrodite und Venus genannt ward und viele andere Namen trug: Wann immer ihr mir nahe sein wollt, sollt ihr euch bei Vollmond an einem geheimen Ort zusammenfinden und mich anbeten, mich, die Königin aller Weisheit. Ihr sollt frei sein von jeglicher Sklaverei, und als Zeichen eurer Freiheit sollt ihr eure Riten nackt vollziehen.«

Die Göttin streifte ihr Gewand ab. Ihr Körper war der Inbegriff weiblicher Anmut.

Die Hurenkönigin war wie geblendet von ihrer Schönheit. Auch sie zog sich, ebenso wie die anderen Frauen und Männer im Kreis, das Kleid über den Kopf.

»Singt, feiert, tanzt und liebt euch in meiner Gegenwart«, sagte Venus mit verführerischem Lächeln. »Denn ich bin die Göttin der Liebe!«

Die Hurenkönigin fühlte sich von einer mächtigen Woge der Lust ergriffen. Sie hätte nicht sagen können, ob es Alma war, eine der anderen Frauen – oder gar die Göttin selbst – , mit der sie sich vereinigte, es gab einfach keine Grenzen mehr, und sie hatte das unbeschreibliche Gefühl, mit allem eins zu sein. Wie lange die Glückseligkeit anhielt, wusste sie nicht, und auch nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie aus ihrem lustvollen Traum erwachte. Es erschien ihr endlos wie die Ewigkeit und gleichzeitig so jäh vergangen wie eine Sternschnuppe am Abendhimmel.

Noch ganz benommen schaute sie sich um. Das Mondlicht war dem Morgengrauen gewichen, eine bleierne Stille lastete auf der Lichtung, und die Nebelschwaden wurden immer dichter. Mit lautlosem Flügelschlag huschte eine große Eule an ihr vorbei, und die Hurenkönigin begann unversehens zu frösteln. In diesem Moment gewahrte sie im Morgennebel eine schattenhafte Gestalt, die von grauen Schleiern umhüllt war.

Wie gelähmt vor Angst starrte die Hurenkönigin auf die düstere Erscheinung, die bedrohlich auf sie zukam.

»Venus ist nicht allein die Göttin der Liebe«, verkündete die graue Gestalt mit furchterregender Stimme. »Sie ist auch die Königin der Schatten, die über den Tod regiert!«

Entsetzt sah die Hurenkönigin, dass sie eine Sichel in den Händen hielt.

Sie schrie laut auf und rannte um ihr Leben.

1

Dienstag, 20. März 1512 – Frühlingsanfang

Um die siebte Abendstunde legte die alte Irmelin noch ein paar Holzscheite in die Glut des Kachelofens, ergriff den Krug mit heißem Würzwein, der auf der Ofenbank stand, und schenkte zwei Becher voll.

Sie trat ans Fenster und reichte einen davon der Hurenkönigin, die im Lehnstuhl saß und mit der Spindel Garn spann.

»Vom Frühling merkt man ja noch nichts«, sagte Irmelin und spähte durch die gefrorenen Butzenglasscheiben. »Jetzt fängt es sogar noch an zu schneien. Da werden sie sich morgen auf der Frühjahrsmesse ganz schön den Arsch abfrieren.«

»Solange sie sich sonst nichts abfrieren, soll mir das egal sein«, erwiderte die Gildemeisterin Ursel Zimmer mit grimmigem Lächeln. »Ich hoffe nur, das Geschäft läuft diesmal besser als bei der Herbstmesse. So wenig Kunden hatten wir noch nie …«

»Kuck nur, da kommen schon wieder ein paar Auswärtige«, bemerkte Irmelin unwillig. »Wir sind doch schon voll bis unters Dach.«

»Ja, mit Huren schon …«, sagte die Zimmerin und ließ ihren Blick verdrießlich durch die Schankstube schweifen, wo die Hübscherinnen deutlich in der Überzahl waren.

Gleich darauf betraten zwei Frauen in gelbverbrämten Gewändern und mit schweren Tornistern auf den Rücken den Schankraum und schauten sich suchend um. Ihre Gesichter unter den weiten Kapuzen ihrer Mäntel waren vor Kälte gerötet.

»Grüß Gott«, sagte die ältere von ihnen höflich und schlug die Kapuze zurück. »Wir suchen die Hurenkönigin Ursel Zimmer …«

»Die bin ich.« Die Gildemeisterin erhob sich von ihrem Stuhl und ging auf die Besucherinnen zu.

Beim Anblick von Ursel knicksten die Frauen ehrerbietig.

»Mein Name ist Alma Deckinger – und das ist meine Tochter Irene«, sagte die Frau in Ursels Alter mit leicht schwäbischem Akzent. »Ich war in Ulm ebenfalls Frauenhauswirtin – bis sie es wegen der Geschlechterpest geschlossen haben. Und jetzt müssen wir als Wanderhuren über die Lande ziehen.« Alma hatte ungebändigtes rotblondes Haar, das von silbernen Strähnen durchwirkt war. Es gemahnte Ursel an eine Löwenmähne. Das Gesicht war sehr apart und mutete trotz feiner Fältchen um Mund und Augen alterslos an. Ihre Tochter Irene war von auffallender Schönheit. Sie lächelte Ursel so liebreizend an, dass es ihr ganz warm ums Herz wurde.

Alma blickte die Hurenkönigin eindringlich an. »Wir wollten fragen, ob Ihr uns vielleicht Obdach gewähren könnt? Wenigstens während der Messe. Wir haben viel von Euch gehört, von Eurem Mut und Eurer Tapferkeit, wie Ihr im letzten Jahr die Hurenmorde aufgeklärt habt, und zollen Euch große Anerkennung.« Alma verneigte sich vor der Hurenkönigin und streckte ihr einen Strauß Schneeglöckchen entgegen. »Die sind für Euch, Gildemeisterin. Ein kleiner Frühlingsgruß – auch wenn der Winter noch nicht weichen mag«, sagte sie lächelnd.

Ursel Zimmer nahm die Blumen und war gerührt. »Wie reizend, ich danke Euch! Setzt Euch doch auf die Ofenbank und wärmt Euch auf. Ihr könnt auch gerne einen heißen Würzwein trinken. – Nur leider muss ich Euch sagen, dass wir keinen Platz mehr haben. Alle freien Zimmer sind schon an auswärtige Huren vergeben. Tut mir leid, aber da hättet Ihr ein bisschen früher kommen müssen. Zur Messezeit strömen die ortsfremden Hübscherinnen doch scharenweise nach Frankfurt. Daran hat auch die Geschlechterpest nichts geändert.« Ursel schüttelte bedauernd den Kopf.

Die beiden Frauen ließen sich enttäuscht auf der Ofenbank nieder. Die alte Irmelin, die seit dem Tod von Ursels bester Freundin Ingrid die Stellvertreterin der Gildemeisterin war, warf Ursel einen betretenen Blick zu und kredenzte den Besucherinnen die Getränke.

Die Hurenkönigin sagte freundlich: »Ich stell nur rasch die Blumen ins Wasser, dann setze ich mich ein wenig zu Euch. Wir finden in Frankfurt schon noch eine geeignete Unterkunft für euch beide.«

Als sie in die Küche ging, um eine Vase zu holen, folgte ihr Irmelin eilig. Ursel drehte sich zu ihr um und zog nachdenklich die Brauen hoch. »Du brauchst gar nichts zu sagen …«, murmelte sie zerknirscht. »Aber es geht nicht. Ich komme einfach nicht über ihren Tod hinweg, und ich kann es nicht ertragen, das Zimmer an jemand anderen zu vergeben.« Der Hurenkönigin waren unversehens Tränen in die Augen getreten.

Die alte Irmelin trat auf Ursel zu und schloss sie in die Arme. »Wir trauern doch alle um Ingrid und auch um Rosi und Isolde. Es ist ja gerade ein halbes Jahr her, seit sie tot sind. – Doch so bitter das ist, Meistersen: Das Leben muss weitergehen. Auch wenn Ihr Ingrids Zimmer leerstehen lasst, sie wird trotzdem nicht mehr zurückkehren. Das ist halt nun mal so.«

»Du hast ja recht«, entgegnete Ursel gepresst. »Vielleicht ist es doch langsam an der Zeit, das Zimmer wieder zu vergeben.«

Seit ihre beste Freundin im letzten Sommer auf tragische Weise zu Tode gekommen war, war Ingrids Zimmer für Ursel ein Zufluchtsort gewesen. Besonders in der ersten Zeit nach Ingrids Tod hatte die Hurenkönigin dort häufig eine Kerze angezündet, an die Freundin gedacht und sich ihrer Trauer ergeben. Auch jetzt hielt sie sich noch gerne dort auf, stellte einen Blumenstrauß oder Zweige in die Kammer, hielt mit der Freundin stumme Zwiesprache und fühlte sich ihr nahe. Daher war die Entscheidung für Ursel so schmerzlich.

Endlich erklärte sie mit brüchiger Stimme: »Gut, ich sage den Hübscherinnen aus Ulm, sie können das Zimmer haben.« Sie griff nach der Blumenvase und kehrte mit Irmelin in den Schankraum zurück.

Die beiden Neuankömmlinge wärmten ihre klammen Hände an den heißen Bechern, sie sahen müde und erschöpft aus. Als Ursel ihnen mitteilte, dass sie doch bleiben könnten, hellten sich ihre Mienen auf.

»Ihr seid ein Engel, Zimmerin!«, rief Alma aus und drückte dankbar Ursels Hand. »Ich wusste doch, dass eine Frau wie Ihr uns nicht die Tür weisen wird.« Die grünen Augen der ehemaligen Frauenhauswirtin strahlten.

Ihre Tochter Irene schien nicht minder erleichtert zu sein. »Gott vergelt’s, Gildemeisterin«, sagte sie und legte die Hand aufs Herz.

Ursel Zimmer, der die überschwänglichen Dankbarkeitsbezeugungen unangenehm wurden, lächelte beschwichtigend und erklärte: »Ihr werdet Euch allerdings ein Zimmer teilen müssen, denn es ist das letzte, das wir haben. Außerdem muss jede von Euch einen Gulden pro Woche an den Scharfrichter entrichten. Das ist während der Messe so üblich. Dafür kriegt jede Hure täglich einen Hering und zwei weitere Gerichte, und Ihr könnt so viel Wein trinken, wie Ihr wollt. Es ist zwar noch Fastenzeit, aber für die Frankfurter Frühjahrsmesse hat der Kaiser die strengen Fastenvorschriften ein bisschen gelockert. Wir wollen ja auch ein paar Taler verdienen, wenn Messe ist, gell?«

»Das ist doch selbstverständlich, Hurenkönigin. Und was das Zimmer anbetrifft, werden Irene und ich uns schon einig werden. Irene wird sowieso die meisten Freier abstauben, und die wenigen, die sich zu mir verlaufen, können wir schon irgendwie dazwischenschieben …«, sagte Alma gutgelaunt.

»Gut, dann trinkt aus und kommt mit«, erwiderte Ursel. Sie nahm die Ulmerinnen noch einmal genauer in Augenschein – und sie gefielen ihr, alle beide.

Alma hatte ein sehr ausdrucksvolles, markantes Gesicht, das verriet, dass sie viel erlebt hatte. Am meisten beeindruckt war Ursel von Almas Augen, die von fast transparentem, hellem Grün waren und sie an Bergseen erinnerten.

War die Mutter schon eine eindrucksvolle Erscheinung, so war Irenes Schönheit schlicht atemberaubend. Sie hatte makellose blasse Haut, sinnliche Lippen und geheimnisvoll schräge, mandelförmige Augen, alles umrahmt von kastanienbraunen Locken. Die Hurenkönigin konnte kaum die Augen von ihr abwenden.

Die wird uns guten Zulauf bescheren, dachte Ursel pragmatisch und begleitete die Frauen nach oben.

In der holzgetäfelten Wohnstube war es bitterkalt. Die zierliche Frau mit den verhärmten Gesichtszügen zog sich den Wollumhang fester um die Schultern und blies in die spärliche Glut des Kaminfeuers, das kaum noch Wärme von sich gab. Ihr Blick fiel auf den Stapel Buchenholzscheite, der an der Seite der mannshohen Feuerstelle sorgsam aufgeschichtet war, und Angst legte sich um ihr Herz.

Nein, sie durfte nichts mehr nachlegen, denn er hatte die Holzscheite am Morgen genau gezählt – und sie hatte doch schon drei Scheite verbraucht.

Bald würde er nach Hause kommen, und dann musste sie nicht mehr frieren. Angespannt blickte sie zur Tür und lauschte mit angehaltenem Atem, doch alles blieb still. Hastig beugte sie sich zu der hellgrauen Windspielhündin hinab, die vor ihrem Lehnstuhl lag. Obgleich das Tier in eine Wolldecke gewickelt war, zitterte es vor Kälte. Mit klammen Fingern streichelte sie den Kopf des Hundes und zog ihm behutsam die Decke vom Körper. Das Tier sah freundlich zu ihr auf und wedelte.

»Gleich wird es warm, Asta«, raunte sie dem Hund zu und schüttelte mit mehreren ruckartigen Bewegungen die Decke aus. Auch wenn das Fell des Hundes fein und glatt war, konnte ihn zuweilen doch schon das kleinste Hundehaar zur Weißglut bringen. Zwar bürstete sie Asta täglich und achtete peinlichst auf Sauberkeit, trotzdem konnte es vorkommen, dass er an dem Fell des Hundes schnüffelte und verärgert ausrief: »Der Köter stinkt ja wie eine Kloake!« – was zur Folge hatte, dass er das verängstigte Tier packte und es unten in der Waschküche in einen Wasserbottich setzte, wo er es über und über mit Kernseife einschäumte und ausgiebig schrubbte.

Sie streifte die grazile Hündin mit einem mitleidigen Blick. Asta fürchtete sich fast genauso vor ihm wie sie.

Auf einmal sprang der Hund auf und flüchtete mit eingeklemmtem Schwanz unter die Sitzbank im hinteren Winkel der Wohnstube. Ein sicheres Zeichen, dass er nach Hause kam. Der fragile Körper der Frau erbebte, hektisch griff sie nach dem Stickrahmen, der neben ihr auf einem Tischchen lag, und begann mit zitternden Händen zu sticken. Den ganzen Tag waren ihre Finger vor Kälte so steif gewesen, dass sie an ihrer Stickerei nicht arbeiten konnte.

Gleich darauf vernahm sie das Knirschen des Schlüssels im Haustürschloss, energische Schritte stapften durch die Halle, und im nächsten Moment trat er bereits durch die Stubentür. Er trug noch seine pelzverbrämte Schaube und die Kappe aus Biberfell, als er grußlos zum Wandbord eilte und begann, die Zinnkrüge, Kerzenhalter und Teller zurechtzurücken. Dann fuhr er mehrfach mit den Fingern über die Regalböden, besah sich die Fingerkuppen genau und knarzte übelgelaunt: »Es wird Zeit, dass hier mal wieder Staub gewischt wird! Was bist du bloß für eine untaugliche Hausfrau!«

Wie immer enthielt sie sich einer Entgegnung, denn jedes Widerwort hätte ihn nur noch wütender gemacht. Dabei wusste sie genau, dass sein Tadel unbegründet war, denn die Magd hatte die Regale erst am Morgen abgewischt.

Dann näherte er sich dem Kamin. Ohne sie anzusehen, begutachtete er den Holzstapel.

»Ich … ich habe drei Holzscheite verheizt … weil … weil es mir so kalt war«, stieß sie mit bangem Blick hervor.

Nun wandte er sich zu ihr um. »Schaff was, dann frierst du auch nicht!«, zischte er aufgebracht. »Wenn ich den ganzen Tag auf der faulen Haut liegen würde, wäre es mir auch kalt!«

Abwartend blieb er vor ihr stehen. Sofort sprang sie auf und nahm ihm Hut und Schaube ab. Dabei musste sie sich ganz schön strecken, denn der große, bullige Mann überragte sie um gut zwei Köpfe. Während sie mit der schweren Schaube überm Arm und der Biberpelzkappe in der Hand zur Halle lief, rief er ihr nach: »Sorg gefälligst dafür, dass eingeheizt wird und das Essen auf den Tisch kommt!«

Nachdem sie der Magd und der Köchin die entsprechenden Anweisungen gegeben hatte, kehrte sie mit seinem gefütterten Hausmantel und den Filzpantoffeln wieder in die Stube zurück. Während sich das Dienstmädchen am Kamin zu schaffen machte, deckte die Köchin den Esstisch und trug Schüsseln und Platten mit dampfenden Speisen herein.

Der kahlköpfige Mann mit den groben Gesichtszügen hatte sich auf einem gepolsterten Lehnstuhl am Kamin niedergelassen und musterte die junge Magd, die vor ihm auf dem Boden kauerte und ihm den Rücken zukehrte, mit lüsternen Blicken. Unversehens beugte er sich zu ihr hinab und tätschelte ihr pralles Hinterteil. Erschrocken fuhr das Mädchen zusammen und wich ängstlich zurück.

Ohne weiter auf sie zu achten, erhob er sich und schlurfte zum Tisch, wo er sich an die Stirnseite setzte. In diesem Moment schlug die mechanische Räderuhr am Römerrathaus die siebente Abendstunde. Seine Gattin machte sich daran, ihm von den Speisen aufzutun, doch er brüllte so lautstark, dass sie vor Schreck den silbernen Schöpflöffel auf den Boden fallen ließ: »Wo bleibt denn das Frauenzimmer nur wieder? Um sieben wird gegessen!« Gleich darauf gab er seiner Frau wegen ihrer Ungeschicktheit eine schallende Ohrfeige.

Von der Halle her waren Schritte zu vernehmen, und eine hochgewachsene junge Frau trat in die Stube. Ehe sie sich an den Tisch setzte, beugte sie sich zu ihrer Mutter, die mit dem Schöpflöffel in der Hand auf dem Boden kniete, und umarmte sie. Sie gewahrte ihren verstörten Blick und die gerötete Wange.

»Na, Mutsch, was ist denn wieder?«, fragte sie besorgt und fixierte den Vater mit unverhohlener Feindseligkeit.

»Nichts, mir ist nur der Löffel aus der Hand gefallen …«, erwiderte die kleine Frau hastig und bemühte sich um einen heiteren Tonfall. Sie lächelte ihre Tochter tapfer an und sagte: »Setz dich, Kind. Es gibt saure Nieren.«

Sie hatte gelernt, nicht mehr in Tränen auszubrechen, wenn ihr Mann sie züchtigte. Sonst fühlte er sich lediglich dazu angestachelt, erneut zuzuschlagen. Mit fahriger Geste wischte sie die Schöpfkelle an ihrem Gewand ab und wollte sie gerade in die Schüssel tauchen, als er sie empört anschrie: »Mir vergeht gleich der Appetit! Schaff gefälligst den dreckigen Löffel weg und hol einen sauberen aus der Küche! Da sind doch lauter Hundehaare dran!«

Die junge Frau richtete sich auf, legte der Mutter beschwichtigend die Hand auf den Arm und sagte mit fester Stimme: »Lass nur, Mutter. Ich gehe ihn holen.«

Als sie die Küche betrat, saßen die Köchin, die Magd und der Hausknecht gerade beim Essen. Dienstbeflissen richtete sich die Magd auf und fragte: »Braucht Ihr etwas, gnädiges Fräulein? Soll ich kommen?«

Die junge Frau warf ihr einen kühlen Blick zu. »Bleib sitzen, Traudel. Ich hole mir nur eine frische Schöpfkelle.«

»War die andere denn nicht in Ordnung?«, erkundigte sich die Magd betreten.

»Nein, nein, es ist schon alles recht«, entgegnete sie und trat an den Herd, über dem, aufgereiht an einer Eisenstange, die unterschiedlichsten Küchenutensilien hingen. Sie nahm eine Schöpfkelle und wollte die Küche schon wieder verlassen, als ihr Blick auf das lange Brotmesser fiel, das neben der Kochstelle auf einem Holzbrett lag.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Sollte sie … ? Die Bediensteten würden es vom Tisch aus nicht sehen können, weil sie davorstand und ihnen den Rücken zukehrte. Ihre Hand zitterte, als sie es am Griff packte und mit einer raschen Bewegung unter den Ärmel schob.

Nachdem Alma und Irene sich oben im Zimmer ihrer Mäntel entledigt und ihr Gepäck verstaut hatten, kehrten sie in die Schankstube zurück. Gerade betrat eine Gruppe Kaufleute die Gaststube. Als die Männer Irene gewahrten, flackerte Begehrlichkeit in ihren Augen, und eh sie sich versah, wurde die schöne Hübscherin mit Avancen nur so überhäuft. Obgleich Irene von der langen Reise noch ziemlich erschöpft war, entschied sie sich für den erstbesten Galan und ging mit ihm aufs Zimmer.

Als sie nach geraumer Zeit zurückkehrte, wiederholte sich das Schauspiel – und so ging es unter den missgünstigen Blicken der anderen Hübscherinnen mit kurzen Unterbrechungen weiter.

Im Frauenhaus am Dempelbrunnen herrschte an diesem Abend ein Betrieb wie in besten Zeiten. Unter den Messebesuchern hatte es sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass es dort eine Hübscherin gab, die schön sei wie die Sünde. So war die betörende Irene bereits am Vorabend der Frankfurter Fasten- und Frühjahrsmesse zur Attraktion des Frauenhauses geworden – neidisch beäugt von den anderen Huren, denen nur noch die Freier blieben, die Irene nicht bedienen konnte.

Die Hurenkönigin, die gemeinsam mit der alten Irmelin und Alma an einem Schanktisch am Rande der Stube saß und das Schauspiel mit angehaltenem Atem verfolgte, sagte staunend: »So was habe ich in all den Jahren noch nicht erlebt. Die Kerle scharen sich ja um die Kleine wie Raben ums Aas!«

Alma lächelte stolz. »Das kenne ich nicht anders bei Irene. Sie ist wie geschaffen für unser Gewerbe.«

Gerade wollten die drei Frauen auf den erfolgreichen Abend anstoßen, da trat Irene in Begleitung eines vornehm gewandeten Mannes an den Tisch.

»Das ist Sebastiano Visconti aus Mailand«, stellte sie ihren jungen Begleiter vor. »Er möchte die ganze restliche Nacht mit mir verbringen und zahlt dafür einen Golddukaten.« Geschäftstüchtig zwinkerte sie der Hurenkönigin zu.

»Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden«, meinte Ursel zögerlich. »Nur, was machen wir dann mit Eurer Mutter? Sie kann Euch ja schlecht im Bett Gesellschaft leisten …«

»Macht Euch um mich keine Sorgen, Zimmerin, ich kann hier unten in der Stube schlafen. Gebt mir einfach eine Decke, dann leg ich mich vor den Ofen«, schlug Alma vor.

Die Hurenkönigin runzelte die Stirn. »Aber das geht doch nicht! Ihr seid auch nicht mehr die Jüngste, und auf dem harten Boden holt Ihr Euch bis morgen früh nur Kreuzschmerzen.« Sie musterte Alma mit nachdenklicher Miene. »Wisst Ihr was, teilt halt das Bett mit mir. Es ist breit genug für zwei, und für eine Nacht wird es schon gehen.«

Almas Augen leuchteten auf. »Es ist mir eine große Ehre, von einer solchen Berühmtheit, wie Ihr das seid, so herzlich aufgenommen zu werden«, sagte sie erfreut. »Ihr seid eine richtige Heldin, Zimmerin. Die Huren im ganzen Land sind stolz auf Euch! Wisst Ihr das eigentlich?«

Die Hurenkönigin lächelte geschmeichelt. »Das war mir nicht bewusst«, erklärte sie schlicht. »Ich habe nur getan, was getan werden musste.«

Almas Augen glänzten vor Begeisterung. »Allerorts haben die Flugblatthändler verkündet, wie die mutige Hurenkönigin von Frankfurt dem teuflischen Adelspaar, das Huren grausam gequält und ermordet hat, auf die Schliche gekommen ist. Und dass Ihr dem Senat auch noch abgetrotzt habt, dass Ihr das Bürgerrecht erhaltet! So etwas gibt es im ganzen Abendland für Huren nicht.«

»Das Bürgerrecht hat sie nicht nur für sich erstritten, unsere Meistersen«, warf die alte Irmelin ein. »Auch wir anderen haben am Anfang des Jahres das Bürgerrecht erhalten. So ist sie halt, unsere Gildemeisterin.«

»Ihr seid eine großartige Frau, Zimmerin. Und ich muss zugeben, dass wir nicht nur wegen der Messe hierhergekommen sind. Ich wollte Euch auch unbedingt einmal kennenlernen.«

Die Hurenkönigin schüttelte verlegen den Kopf. »Jetzt ist es aber genug mit der Bauchpinselei. Erzählt lieber mal von Euch. Wann hat man denn Euer Frauenhaus geschlossen?«

»Im Januar«, antwortete Alma, der unversehens die Tränen kamen. »Ich kann es einfach nicht verwinden. Das Frauenhaus war mein Zuhause, ich bin dort mehr oder weniger aufgewachsen. Meine Mutter – Gott hab sie selig – war nämlich auch eine Hure, und außerdem die Frauenhauswirtin. Das hat in unserer Familie eine lange Tradition. Ich wurde ihre Nachfolgerin, und meine Tochter Irene sollte ebenfalls einmal Hurenkönigin werden.«

Ursel hörte ihr interessiert zu. »Dann seid Ihr ja eine richtige Hurendynastie«, sagte sie beeindruckt.

»Ja, das sind wir. Und nicht nur das, wir stehen in der viel älteren Tradition der römischen Venuspriesterinnen. Die heiligen Tempeldirnen des Altertums lehrten nicht nur die Sexualriten, sie waren auch sehr angesehen und überdies hochgebildet. Sie verkehrten mit den großen Gelehrten ihrer Zeit auf Augenhöhe. Zu Ehren der Erdenmutter trugen sie ockerfarbene Gewänder – was sich ja bis in die Gegenwart im gelben Gewand der Huren erhalten hat. Mit dem großen Unterschied, dass Gelb inzwischen als die Farbe der Liederlichkeit gilt und Huren allgemein verachtet werden. Das haben wir der Kirche und den Pfaffen zu verdanken«, schnaubte Alma verächtlich.

Irmelin und Ursel lauschten ihr gebannt. »Das ist ja famos, mit den Venuspriesterinnen«, stieß Ursel begeistert hervor. »Erzählt mir mehr von ihnen.«

»Alma Mater nannten die Römer jede Priesterin der Göttin Venus. Das heißt Seelen-Mutter«, fuhr Alma fort. »Nach ihr bin ich benannt. – Meine Mutter war eine sehr gelehrte Frau. Sie beherrschte die alten Sprachen und hat ihr Wissen an mich weitergegeben. Auch das gehört in unserer Familie zur Tradition. Denn nur weil Huren in unserer heutigen Zeit verachtet werden, müssen sie ja nicht auch noch ungebildet sein.«

»Dann könnt Ihr auch lesen und schreiben? Ich beneide Euch darum!«, rief Ursel aus. »Meine verstorbene Freundin Ingrid, die frühere Lohnsetzerin des Frauenhauses, konnte es auch und war zudem sehr gebildet. Und mein Geliebter Bernhard von Wanebach – vielleicht habt Ihr schon von ihm gehört – ist ein großer Gelehrter, der sogar mehrere Doktorhüte erworben hat. Ihr müsst ihn unbedingt kennenlernen. Am Wochenende kommt er vorbei.« In Ursels Augen war ein zärtlicher Ausdruck getreten.

Alma schwieg einen Moment und schüttelte unwillig den Kopf. Dann erzählte sie weiter von der langen Tradition der Venuspriesterinnen.

Als der Frauenhausknecht am Tresen die Schelle läutete und damit die Sperrstunde verkündete, sagte die Hurenkönigin: »Eure Geschichten sind einfach phantastisch. Aber wir müssen leider Schluss machen – für heute jedenfalls.« Sie lächelte versonnen und erhob den Trinkbecher. »Wollen wir nicht auf das ›Du‹ anstoßen? Wir sind doch etwa im gleichen Alter!«

»Gerne«, erwiderte Alma bewegt. »Dann müssen wir uns aber auch küssen.« Spontan umarmte sie Ursel und küsste sie mitten auf den Mund.

Irmelin warf den beiden einen missmutigen Blick zu. »Wir kennen uns seit über dreißig Jahren, und ich duze Euch nicht«, grummelte sie verdrossen.

Ursel umhalste die alte Hure übermütig. »Dann wird es aber langsam Zeit!«, erklärte sie warmherzig und prostete Irmelin zu. »Komm her, altes Haus, und lass dir auch einen Kuss geben!«

Irmelin lächelte zwar, als die Hurenkönigin sie küsste, aber dann verabschiedete sie sich knapp. »Ich geh dann mal ins Bett. Gute Nacht.«

»Wir sollten auch langsam nach oben gehen«, sagte Ursel und gähnte herzhaft.

Als die beiden Frauen wenig später in Ursels Stube ihre Nachtgewänder überzogen, fiel der Hurenkönigin an Almas Hals ein eigentümliches Amulett auf. Sie trat näher und nahm es genauer in Augenschein. Es war aus Gold und hatte die Form einer Mondsichel.

»Hat dieses Schmuckstück eine besondere Bedeutung?«, fragte Ursel erstaunt.

Alma lächelte geheimnisvoll. »Die Sichel war eine Waffe der Amazonen«, erklärte sie. »Die Priesterköniginnen verwendeten sie bei der rituellen Kastration der männlichen Diener der Venus.«

Ursel lief ein Schauder über den Rücken, es schüttelte sie unwillkürlich. »Das ist ja schrecklich!«, entfuhr es ihr.

»Die Kastration war ein heiliger Akt, dem sich die männlichen Priester freiwillig unterzogen. Die Diener der großen Göttin waren allesamt Eunuchen«, erläuterte Alma beschwichtigend.

Als sie wenig später im Bett lag, konnte die Hurenkönigin nicht verhindern, dass ihr die Ulmerin bei aller Sympathie, die sie für sie empfand, auch ein bisschen unheimlich war.

2

Samstag, 24. März 1512

Am Samstagmorgen um die neunte Stunde erschien der Henker Jerg Kalbfleisch im Frauenhaus und verlangte die Gildemeisterin zu sprechen.

»Die Hurenkönigin schläft noch«, erklärte ihm der junge Frauenhausknecht Franz Ott, den die lauten Schläge des Türklopfers aus dem Bett getrieben hatten. Er rieb sich verschlafen die Augen. »Es ist spät geworden gestern. Die Bude war voll bis unters Dach.«

Der Henker nickte zufrieden. »Ist doch gut, dass der Laden wieder läuft. Ich wär auch gar nicht so früh gekommen, wenn’s nicht wichtig wäre. Also, holt mir die Gildemeisterin herbei.«

Der muskulöse Hausknecht tat wie ihm geheißen und kehrte wenig später in Begleitung der Hurenkönigin zurück, die noch im Nachtgewand war.

»Morgen, Meister Jerg«, murmelte Ursel gähnend und ließ sich auf dem Stuhl neben dem Henker nieder. »Was steht denn so Wichtiges an, dass Ihr mich zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett holt?«

»Hoher Besuch steht an, Zimmerin«, erwiderte der Henker. »Sagt Euch der Name ›Fugger‹ etwas?«

»Fugger? Das ist doch der reiche Geldsack aus Augsburg. Den habe ich schon mal bedient. Das muss aber gut zwanzig Jahre her sein.« Ursel musste unwillkürlich grinsen.

»Und jetzt werdet Ihr vielleicht wieder das Vergnügen haben«, knarzte Meister Jerg. »Er kommt nämlich am Montag nach Frankfurt, um die Frühjahrsmesse zu besuchen. Da werden die Stadtoberen dem hohen Herrn gehörig in den Arsch kriechen.« Der Henker verzog hämisch die Mundwinkel. »Bürgermeister Reichmann will ihn am Montagmorgen um zehn am Mainzer Tor feierlich willkommen heißen. Und die Herren vom Rat lassen sich natürlich nicht lumpen: Reichmann hat bestimmt, dass die Hurenkönigin und die drei schönsten Hübscherinnen des Frauenhauses den reichen Augsburger artig begrüßen sollen. Anschließend wollen sich die Herrschaften im Frauenhaus vergnügen. Die Hütte bleibt also am Montag für das gemeine Volk geschlossen, verstanden? Haltet Euch bereit, Zimmerin, und weckt auch die Huren auf. In einer halben Stunde kommen die Gewandmacher mit den Stoffen, um Maß zu nehmen, und die Goldschmiede, Schuhmacher und Hutmacher haben sich auch angekündigt, denn Ihr und die drei Schönsten sollt ja zu so einem Anlass entsprechend herausgeputzt sein, gell! – So, das war’s erst mal. Gehabt Euch wohl und haltet nur ordentlich die Hand auf bei diesen Pfeffersäcken!« Grinsend verabschiedete sich der Henker.

Die Hurenkönigin hatte sämtliche Huren, ortsansässige wie fremde, in den Aufenthaltsraum beordert und sie über die Pläne des Bürgermeisters informiert.

»Das ist ja dumm, wenn das Frauenhaus am Montag geschlossen hat. Da geht uns doch die ganze Messekundschaft durch die Lappen«, murrte eine der auswärtigen Hübscherinnen.

»Keine Angst, unsere Stadtväter werden schon dafür sorgen, dass ihr entsprechend entschädigt werdet«, erwiderte die Zimmerin und musterte die Huren mit prüfendem Blick.

Dann sagte sie: »Die Jennischen Marie, die rote Mäu und die Ulmer Irene bleiben hier. Die Gewandmacher müssen jede Minute eintreffen.« Die Übrigen schickte sie wieder auf ihre Zimmer.

»Warum nehmt Ihr denn eine von den Auswärtigen?«, beklagte sich eine blonde Hure und verzog schmollend die rotgeschminkten Lippen. »Sind wir Euch vielleicht nicht schön genug, Meistersen?«

»Natürlich seid ihr schön, Kinder! Eine schöner als die andere – deswegen fällt mir ja die Auswahl auch so schwer«, erwiderte die Zimmerin begütigend. »Aber es dürfen ja nur drei bei dem Begrüßungskomitee dabei sein, da muss ich mich halt ein bisschen beschränken.«

Auch andere Huren äußerten ihren Unmut darüber, dass Irene zu den Auserwählten gehörte – ausgerechnet sie, die schon in den vergangenen Tagen die meisten Freier abgestaubt hatte.

»Seid doch nicht kindisch, Mädchen! Das nächste Mal kommen andere an die Reihe. So, und jetzt macht euch vom Acker, damit die Gewandmacher maßnehmen können«, wiegelte die Hurenkönigin ab.

»Wenn’s nach mir gegangen wär, ich hätt sie auch nicht genommen«, murmelte die alte Irmelin und warf Alma, die über Ursels Wahl augenscheinlich hocherfreut war, einen scheelen Blick zu.

Ursel zog ärgerlich die Brauen in die Höhe. »Und an wen hättest du gedacht?«, fragte sie ihre Stellvertreterin gereizt.

»Halt eine von unseren Mädels. Da sind doch genügend schöne darunter«, entgegnete die Dienstälteste verschnupft und wandte sich dem Ausgang zu.

Irmelins Worte stimmten die Hurenkönigin nachdenklich. War es wirklich richtig gewesen, ihre eigenen Mädchen zu brüskieren? Aber Irene war nun einmal außergewöhnlich liebreizend …

Alma kam auf die Hurenkönigin zu und umarmte sie. »Ich danke dir, Ursel! Es freut mich sehr, dass du Irene ausgewählt hast.«

Die Hurenkönigin entwand sich ihr und murmelte missmutig: »Ich weiß nicht, ob das so klug von mir war. Das gibt böses Blut unter den Mädels.«

»Eine Entscheidung, die von Herzen kommt, kann nicht verkehrt sein«, erwiderte Alma und lächelte Ursel entwaffnend an.

Plötzlich erklang das laute Schlagen des Türklopfers, und ein ganzer Trupp Tuchhändler, gefolgt von mehreren Gewandschneidern, trat in die Schankstube. Die Tuchhändler trugen schwere Stoffballen auf den Armen, die sie ächzend auf den großen Tisch des Aufenthaltsraums legten.

Die drei Hübscherinnen und die Hurenkönigin rissen beim Anblick der prächtigen Stoffe staunend die Augen auf: Samt, Atlas, Seide und Brokat in den schillerndsten Farben, denn zu einem solchen Anlass war es den Huren erlaubt, ihre gelbe Hurentracht abzulegen und in Purpur einherzuschreiten wie Adelsdamen.

Es dauerte eine Weile, bis die Frauen, trefflich beraten von den Tuchhändlern und den Gewandmachermeistern, ihre Wahl getroffen hatten.

Ursel entschied sich für schweren scharlachroten Atlas, der wunderbar mit ihrer hellen Haut und den rot gefärbten Haaren korrespondierte.

»Das Gewand einer Königin«, schwärmte einer der Schneidermeister und schien im Geiste schon die fertige Robe vor sich zu sehen.

Die Jennischen Marie hatte rosafarbene Seide ausgewählt, die ihren dunklen Teint und die schwarzen Haare vorteilhaft zur Geltung brachte. Nach längerem Zaudern suchten auch die beiden anderen Hübscherinnen ihre Stoffe aus. Irene entschied sich für blutroten venezianischen Samt, und die rote Mäu nahm jadegrünen Brokat.

Während die Gewandmacher bei der Zimmerin und den drei jungen Frauen Maß nahmen und sich die Tuchhändler mit den restlichen Stoffen zurückzogen, erschien eine Abordnung der städtischen Goldschmiedeinnung mit Schatullen voller Geschmeide. Jede der Huren konnte sich zu ihrer Festtagsrobe den passenden Schmuck aussuchen – sollten doch die kostbar ausstaffierten Hübscherinnen dem hohen Besucher den Wohlstand der Stadt Frankfurt demonstrieren.

Die Ohrgehänge, Stirnreifen und Halsbänder wurden von den Goldschmiedemeistern in einer eigens mitgebrachten Kladde genau quittiert und vermerkt, denn nach Beendigung der Feierlichkeit mussten sämtliche Schmuckstücke wieder unbeschadet und vollständig an die Goldschmiedeinnung zurückgegeben werden. Die Hurenkönigin verpflichtete sich mit ihrer Unterschrift, dafür Sorge zu tragen.

Im Laufe des turbulenten Vormittags gaben sich die städtischen Handwerker im Hurenhaus regelrecht die Türklinke in die Hand. Schuhmacher passten den auserwählten Huren elegante Schnabelschuhe aus weichem Ziegenleder an, und schließlich kam noch ein Hutmachermeister mit seinen Gesellen, um für kunstvolle Kopfbedeckungen Maß zu nehmen.

Alle Handwerker sagten verbindlich zu, die fertiggestellte Garderobe mitsamt den Accessoires bereits am frühen Montagmorgen, also in zwei Tagen, am Dempelbrunnen anzuliefern. Als sie das Frauenhaus um die Mittagszeit verließen, kamen ihnen bereits die ersten Freier entgegen.

Am Samstagabend betrat Bernhard von Wanebach um die sechste Stunde die berstend volle Schankstube des Frauenhauses und sah sich suchend nach der Hurenkönigin um. Unter all den lärmenden, angetrunkenen Menschen kam sich der hochgewachsene Mann im schwarzen Gelehrtentalar und einem Samtbarett auf den graumelierten Haaren fast ein wenig verloren vor. Er roch die Ausdünstungen und fühlte unversehens einen leichten Unmut in sich aufsteigen. Wo war Ursel denn nur? Sie eilte ihm doch sonst immer freudig entgegen, wenn er kam, oder spähte erwartungsvoll aus dem Fenster, um ihn, kaum dass er durch die Tür getreten war, an ihr Herz zu drücken.