Madame Josette oder ein Dorf trumpft auf - Julia Stagg - E-Book

Madame Josette oder ein Dorf trumpft auf E-Book

Julia Stagg

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Beschreibung

Nach "Monsieur Papon oder ein Dorf steht Kopf" hat Julia Stagg ihren zweiten Roman über das charmante französische Dorf in den Pyrenäen und seine eigenwilligen Bewohner geschrieben. Als Stephanie einen vermeintlichen Einbrecher mit einem altbackenen Baguette niederstreckt, ahnt sie nicht, dass es sich dabei um den neuen Besitzer der Epicerie handelt. Fabian ist aus Paris in die südfranzösische Provinz gekommen, um den Lebensmittelladen von Madame Josette von Grund auf zu modernisieren. Doch er hat die Rechnung ohne das Dorf gemacht. Denn nicht nur Josette ist entsetzt, sondern auch die Bewohner, für die der Laden der zentrale Treffpunkt für Klatsch, Tratsch und Lebenshilfe ist. Sie werden es diesem zahlenbesessenen besserwisserischen Pariser zeigen. Besonders die alleinerziehende Stephanie hat es auf ihn abgesehen. Leider ist deren Tochter Chloé offenbar die Einzige, die den Mann aus Paris anhimmelt. Und Fabian verliebt sich am Ende ausgerechnet in seine ärgste Feindin.

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Seitenzahl: 484

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Julia Stagg

Madame Josette oder ein Dorf trumpft auf

Roman

Aus dem Englischen von Angelika Naujokat

Hoffmann und Campe Verlag

Zu dieser Ausgabe

Diese eBook-Ausgabe von Madame Josette oder ein Dorf trumpft auf ist ein sogenanntes »enhanced eBook«, ein angereichertes eBook, das über den Inhalt der klassischen Buchausgabe hinausgeht.

 

Exklusiv für dieses eBook wurden zusätzliche Inhalte erstellt, die Julia Staggs Roman noch weiter erschließen. Die Autorin selbst hat für das deutsche eBook nicht nur einen Text beigesteuert, in dem sie schildert, wie sie zum Schreiben kam und wie sie ihre Figuren entwickelt, sondern auch eins ihrer französischen Lieblingsrezepte. Weiterhin vertieft eine eigens für dieses eBook illustrierte Karte und ein Personenverzeichnis die Lektüre.

Für den großen Geschichtenerzähler

Du hast mich all dein Wissen gelehrt,

und dennoch weiß ich nichts …

Kapitel 1

Stephanie Morvan hatte noch nie einen Menschen getötet. Zumindest glaubte sie das. Sie hatte wohl hin und wieder in Rage ein paar Verwünschungen ausgesprochen, sich dann aber immer gleich davongemacht, bevor sie deren Wirksamkeit überprüfen konnte. Doch keiner ihrer Flüche war in der Absicht erfolgt, jemandem tödlichen Schaden zuzufügen. Normalerweise wünschte sie ihren Widersachern lediglich Hämorrhoiden oder üblen Mundgeruch. Daher war sie ihres Wissens noch niemals für den Tod eines Mitmenschen verantwortlich gewesen.

Bis jetzt.

Sie betrachtete die in Lycra gehüllte Gestalt, die ausgestreckt auf dem kalten Boden der Bar lag und unter dem dünnen Stoff nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien.

Dann fiel ihr Blick auf die Waffe in ihrer linken Hand. Wer hätte gedacht, dass etwas so Harmloses tödlich sein konnte? Als ihnen bei der Party in der Auberge des Deux Vallées das Brot und der Wein ausgegangen waren, hatte sie sich angeboten, die Straße hinaufzulaufen, um Nachschub zu besorgen. Josette hatte ihr die Schlüssel gegeben, und der stellvertretende Bürgermeister, Christian Dupuy, hatte sich mit ihr auf den Weg gemacht. Doch da er unterwegs von einem Nachbarn aufgehalten worden war, der sich nach der nächsten Sitzung des Conseil Municipal erkundigte, war Christian nicht mehr an ihrer Seite, als sie bei der Épicerie eintraf und feststellte, dass etwas nicht stimmte.

Das Gebäude, dessen Symmetrie etwas aus dem Lot geraten schien, da die Fensterläden auf der einen Seite wie immer offen standen, während die vor dem Ladenfenster ordentlich geschlossen waren, wirkte schief auf den Betrachter.

Aber etwas anderes ließ Stephanie stutzen.

Die Tür. Sie stand halb offen. Und Stephanie glaubte, Geräusche von drinnen zu hören.

Vorsichtig schlüpfte sie durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen, damit sie die Ladenklingel nicht auslöste, die Josette erst kürzlich hatte installieren lassen. Dann verharrte sie einige Sekunden, um ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen.

Nichts. Nur der Duft von frischem Brot und würziger saucisson, der sich mit dem erdigen Geruch von Kartoffeln mischte.

Stephanie versuchte sich gerade einzureden, dass Josette schlicht vergessen hatte, die Tür richtig zu schließen, als ein Knarren der Holzdielen ein Kribbeln in ihrem Nacken auslöste.

Da war jemand in der Bar, die an den Laden grenzte. Und weil fast das gesamte Dorf in der Auberge versammelt war, um deren Wiedereröffnung zu feiern, hatte dies wohl nichts Gutes zu bedeuten.

Stephanie streckte reflexartig die Hand nach etwas aus, womit sie sich verteidigen könnte. Ihre Hände berührten die kalte Oberfläche des Kühlschranks, glitten über den Eierkorb hinweg und streckten sich in Richtung der großen Messervitrine, die sich etwa in der Raummitte befand. Ihre Finger streiften lautlos über das Glas, in der Hoffnung, dass Josette sie einmal nicht abgeschlossen haben könnte. Vergeblich. Da hatte es auch keinen Zweck, es bei der kleineren auf der Theke neben der Kasse zu versuchen.

Stattdessen bewegte sich Stephanie nun ganz langsam nach rechts, wo sie das Geflecht eines Weidenkorbs ertastete.

Das Geräusch aus der Bar ertönte aufs Neue, dieses Mal lauter. Ein metallisches Klick-Klack, Klick-Klack, das immer näher kam.

Panik breitete sich in ihrer Brust aus, wie sie sie zuletzt vor vielen Jahren empfunden hatte, als sie mit ihrer kleinen Tochter nach Finistère geflohen war. Voller Verzweiflung stocherte sie mit ihren langen Fingern in dem Korb herum. Da. Endlich. Sie hatte eins gefunden. Mindestens drei Tage alt. Sie packte es und trat zu der Tür hinüber, die den Laden von der Bar trennte. Der Tür, die sich gerade langsam öffnete.

Sie brachte sich rasch in Stellung, als auch schon einige schwache Strahlen der Wintersonne durch die wachsende Öffnung drangen und an den Rändern der Dunkelheit nagten, in der sie sich versteckte. Nach und nach zeichnete sich die Silhouette einer Kreatur von allergrößter Scheußlichkeit ab.

Sie war so groß, dass sie kaum durch die Tür passte. Als sich der schwarze, zottelige Kopf langsam drehte, kamen tiefliegende Augen in weißen Kreisen zum Vorschein. Auf spinnenhaften Beinen, die in Pferdefüßen endeten und auf den Schieferfliesen des Ladens deutlich zu vernehmen waren, trat das Ungeheuer über die Türschwelle. Und als Stephanie ihren Arm hob, um zuzuschlagen, da streckte es ihr hummerähnliche Scheren entgegen, und ein hellrotes Licht leuchtete an einer Stelle auf, an der sich vermutlich sein Schwanz befand.

Bevor es sich ihr noch weiter nähern konnte, schleuderte ihm Stephanie ihren improvisierten Knüppel mit dem geballten Temperament eines Rotschopfs laut schreiend und mit voller Wucht ins Gesicht. Sie spürte den weichen Widerstand von Fleisch und Knorpel, bevor das Biest den Halt verlor, rückwärts in die Bar kippte und sein Kopf mit Wucht auf den Boden prallte.

In der Stille, die folgte und Stephanie die Gelegenheit gab, ihren Irrtum zu erkennen, hätte sie schwören können, dass ein Lachen aus der leeren Kaminecke ertönte.

 

Egal wie oft es ihm seine Lehrer versichert hatten, Christian Dupuy hatte sich selbst nie für einen geborenen Anführer gehalten. Er war immer der Meinung gewesen, ihre Bemerkungen hätten lediglich etingen? Sie waren doch derjenigwas mit seiner Größe zu tun, da er seine Klassenkameraden und bald schon auch die gesamte Lehrerschaft überragte. Seine hünenhafte Gestalt wuchs über die Grenzen der kleinen Bergschule hinaus, lange bevor sein Verstand ihr folgte. Daher war es nie seine Absicht gewesen, als Autoritätsfigur zu fungieren, und er hatte sich nur widerwillig zur Wahl für den Conseil Municipal der Gemeinde Fogas aufstellen lassen, die aus den Dörfern Fogas, Picarets und La Rivière bestand. Aber nachdem er erst einmal in den Gemeinderat gewählt worden war, tat er sein Möglichstes, um seinen Nachbarn auf jede nur erdenkliche Weise zu helfen.

Und so überraschte es niemanden – außer den schüchternen Landwirt selbst –, dass er bei den letzten Bürgermeisterwahlen zum stellvertretenden Bürgermeister berufen wurde. Und als der Bürgermeister, Serge Papon, dessen Frau gerade gestorben war, um eine längere Beurlaubung gebeten und Christian für die Zeit seiner Abwesenheit zu seiner Vertretung ernannt hatte, da hatte auch dies niemanden weiter überrascht.

Während er nun neben der Brücke in La Rivière stand und sich mit Philippe Galy über die aktuellen Entwicklungen in der Gemeindepolitik unterhielt, lag der Mantel der Macht leicht um Christians Schultern. Es war nichts, was seine Gedanken übermäßig beschäftigte, obwohl er sich ein klein wenig sorgte, wie wohl der andere stellvertretende Bürgermeister, Pascal Souquet – ein bekanntermaßen überaus ehrgeiziger Mann mit einer noch ehrgeizigeren Ehefrau –, auf diese Neuigkeit reagieren würde.

Doch als Stephanies Schrei die Nachmittagsluft wie ein heulender Wind zerriss, zeigte Christian instinktiv all die Eigenschaften, die seine Lehrer schon damals in ihm gesehen hatten. Bevor der Angreifer überhaupt auf dem Boden aufgeschlagen war, schrie Christian Philippe bereits zu, Hilfe von der Auberge zu holen, während er selbst in Richtung Épicerie stürmte. Er überquerte die Brücke mit donnernden Schritten, sodass die Erde sich aus den Lücken löste, in den Bach darunter fiel und dann in den tosenden Fluss geschwemmt wurden, der parallel zur Straße verlief.

Christian stapfte weiter, getrieben von dem Wissen, dass Stephanie nicht der Typ war, der schnell hysterisch wurde. In all den Jahren, die er mit ihr befreundet war, hatte er sie nur ein einziges Mal weinen sehen. Er war sich allerdings bewusst, dass sie ein stürmisches Temperament besaß, und so traf es ihn nicht ganz unvorbereitet, als er in den Laden gepoltert kam und Stephanie mit einem etwas lädiert aussehenden Baguette in der Hand über eine am Boden liegende Gestalt gebeugt erblickte.

»Was zum Henker …?«

Stephanies Blick schnellte zu ihm hinüber, und Christian trat unvermittelt einen Schritt zurück, als er den verstörten Ausdruck darin sah.

»Er ist auf mich losgegangen … ist wie aus dem Nichts aufgetaucht … Oh Gott! Habe ich ihn umgebracht?«

Sie fuhr sich mit einer zitternden Hand durchs Haar, während Christian sich hinkniete und seine Finger unter den Riemen des Helms der regungslos daliegenden Gestalt schob. Zu seiner Erleichterung fühlte er einen schwachen Puls.

»Alles halb so schlimm. Er ist nur bewusstlos. Ich glaube, der Helm hat ihn gerettet. Weißt du, wer das ist?«

»Ich habe keinen Schimmer. Ich dachte, er sei ein Ungeheuer …« Ihre Stimme geriet ins Stocken, als ihr bewusst wurde, wie albern das klingen musste, nun, da es offensichtlich war, dass es sich bei dem Mann nicht um irgendein Monstrum handelte.

Doch Christian vermochte nachzuvollziehen, wie leicht es zu einer solchen Verwechslung hatte kommen können. Der Mann auf dem Boden war sehr groß und spindeldürr, und seine skelettartige Statur wurde durch das eng anliegende Lycra nur noch mehr betont. Unter seinem Helm trug er eine wollene Skimaske, die sein Gesicht bis auf die Augen bedeckte, und seine Hände steckten in krallenförmigen Handschuhen. Seine schwarzen Tights endeten in unförmigen Schuhüberzügen, von denen jeder wie angegossen über die Spezialschuhe passte. Und unter seinem Körper drang das schwache Glühen eines roten Lichts hervor.

»Wieso sollte irgendjemand versuchen, in Radbekleidung in eine Bar einzubrechen?«

Bevor Stephanie darauf antworten konnte, vernahm sie aufgeregte Stimmen, und die Leute aus der Auberge drängten sich in den Raum.

»Was ist denn los?«, fragte Josette Servat, während sie sich, ein wenig außer Atem, weil sie die Straße hinaufgehastet war, durch ihre Nachbarn nach vorn drängte.

»Stephanie hat einen Einbrecher überrascht und ihn mit einem deiner Baguettes niedergestreckt.«

»Mein lieber Schwan!« René deutete auf das Brot in Stephanies Hand. »Und es ist noch nicht mal zerbrochen! Ich glaube, du solltest deinen Warenbestand hin und wieder mal auswechseln, Josette«, witzelte er zur allgemeinen Belustigung.

»Wer ist das denn?« Josette schob ihre Brille auf dem Nasenrücken nach oben und beugte sich vor, um sich den Mann genauer anzusehen. »Wir müssen ihm die Maske ausziehen.«

Mit gemächlichen Bewegungen nahm ihm Christian den Helm ab und legte ihn zur Seite. Dann zog er ihm ganz vorsichtig die Maske vom Kopf, und nach und nach kamen ein spitzes Kinn, dünne Lippen und bleiche Wangen unter hohen Wangenknochen zum Vorschein. Als er den Stoff ganz von seinem Kopf wegzog, standen dem Mann infolge der statischen Aufladung die feinen schwarzen Haare zu Berge – das Einzige an ihm, das überhaupt noch irgendein Lebenszeichen zeigte –, und Josette zog hörbar die Luft ein.

»Was ist?«, fragte Christian, als René einen Arm ausstreckte, um Josette aufzufangen, die nach hinten taumelte. »Kennst du ihn?«

Sie nickte. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. »Oh ja. Ich kenne ihn. Das ist Fabian Servat. Jacques’ Neffe.«

Sie warf einen Blick zu der Kaminecke hinüber, wo niemand außer ihr den Geist ihres toten Mannes zu sehen vermochte, der sich lautlos kaputtlachte, und sie spürte Wut in sich aufsteigen. Begriff er denn nicht, wie ernst das hier war?

»Fabian? Gott, den hätte ich nicht wiedererkannt.« Christian versuchte die bleichen Züge mit dem Jungen in Einklang zu bringen, den er vor Jahren zum letzten Mal gesehen hatte. »Hast du ihn erwartet?«

Josette schüttelte den Kopf. Aber das stimmte nicht ganz.

Als einziges Kind von Jacques’ Bruder hatte Fabian, als er noch ein kleiner Junge war, eine große Rolle in ihrem Leben gespielt. Er hatte die langen Sommerferien immer in La Rivière verbracht, und Jacques hatte ihn vergöttert. Aber das Erwachsenendasein hatte aus dem einst so neugierigen Jungen, der gern im Laden aushalf, einen arroganten Mann gemacht, der nur eins im Sinn hatte: nämlich Geld zu scheffeln. Seine Besuche wurden immer unerträglicher, bis er nach dem Tod seines Vaters vor vielen Jahren einfach aufhörte, in der kleinen Épicerie im Département Ariège, in den Pyrenäen, vorbeizuschauen, und seine Urlaube stattdessen an der Côte d’Azur verbrachte. Jacques hatte einen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, da er inzwischen nur noch Verachtung für seinen Neffen übrig hatte, der im Investmentbanking tätig war und die damit einhergehende Haltung übernommen hatte.

Josette hatte nach Jacques’ Tod im letzten Sommer nichts mehr von Fabian gehört. Er hatte eine Beileidskarte mit ein paar flüchtigen Worten geschickt und war danach in der Versenkung verschwunden. In Anbetracht dessen, was sie wusste, war sie darüber in gewisser Weise sogar froh gewesen.

Doch nun war er hier. Lag ausgestreckt zu ihren Füßen, und verräterische Lebenszeichen huschten über sein Gesicht, während seine Augenlider zu flattern begannen.

Josette, die normalerweise nicht zu Gewalt neigte, wünschte sich, Stephanie hätte etwas fester zugeschlagen. Sehr viel fester. Denn für sie wäre es eine Erleichterung, wenn er nie wieder aufstehen würde.

Es konnte nur einen Grund geben, warum er nach all dieser Zeit hier aufgetaucht war, und sie hatte sich seit Jacques’ Tod vor diesem Augenblick gefürchtet. Doch nachdem Monate vergangen waren, ohne dass sie etwas von ihm hörte, hatte sich langsam Hoffnung in ihr geregt, dass ihre Zukunft sicher war. Ihr ganzes Erwachsenenleben hatte sie Tag und Nacht in der Épicerie gearbeitet. Sie kannte nichts anderes. Das hier war ihr Zuhause. Und jetzt …? Jetzt könnte sich alles ändern.

»Ich glaube, er kommt zu sich«, sagte Christian, als die mit ausgestreckten Armen und Beinen daliegende Gestalt ein leises Stöhnen von sich gab. »Tretet etwas zurück. Er braucht Luft, Leute!«

Die Dorfbewohner wichen widerwillig zurück und reckten die Hälse, um den besten Blick auf den Fremden zu erhaschen, der sich langsam zu regen begann, während sein Stöhnen lauter wurde. Seine Gliedmaßen zuckten einige Male, dann öffneten sich blitzartig die Lider, und der Blick aus seinen dunkelbraunen Augen richtete sich just in dem Moment, als er das Bewusstsein wiedererlangte, ausgerechnet auf Stephanie.

»Scheiße!«, kreischte Fabian, robbte einem Krebs gleich hastig rückwärts auf seinem Hintern davon, weg von der rothaarigen Schönheit, die mit der Waffe in der Hand über ihn gebeugt dastand. Doch er konnte nirgendwohin, da die massiven Beine des langen Tisches, der die Bar einnahm, im Weg standen.

Er versuchte verzweifelt, sich hochzurappeln, doch auf den glatten Sohlen rutschte er immer wieder weg, bis René ihm einen kräftigen Arm entgegenstreckte und ihn in die Höhe zog. Er schwankte ein wenig, während sich sein Kopf auf die plötzliche Höhenänderung einstellte, und dann zeigte er mit seinem Handschuh, das Gesicht vor Furcht verzerrt, in Stephanies Richtung.

»Sie wollte mich umbringen!«, quiekste er.

»Ich wollte Sie umbringen? Sie waren doch derjenige, der im Dunkeln herumgeschlichen ist. Was sollte ich denn davon halten?«

Er zuckte zurück, als sie einen Schritt auf ihn zutrat, dabei unabsichtlich das Baguette schwang und die Armbänder, die sich an ihrem Arm hinunterschlängelten, ein Todesrasseln von sich gaben.

»Haltet diesen Drachen von mir fern!« Mit den dünnen Ärmchen, die er sich vor das Gesicht hielt, ähnelte er eher einer Gottesanbeterin als Karate Kid.

»Herrschaft noch mal, Fabian! Beruhige dich.« Josette legte eine beschwichtigende Hand auf seine Schulter, und sein Blick richtete sich erleichtert auf die zierliche Gestalt seiner Tante.

»Tante Josette. Gott sei Dank bist du hier. Diese Verrückte da hat versucht, mich umzubringen.«

»Da kennst du unsere Stephanie aber schlecht, mein Junge«, blaffte Annie Estaque aus dem Kreis der Zuschauer. »Wenn sie das gewollt hätte, wärst du jetzt tot!«

Schallendes Gelächter folgte Annies Zwischenruf, aber ihr breiter Dialekt des Ariège war für Fabians feine Pariser Ohren ungeeignet.

Er hatte nur einen unverständlichen Kauderwelsch aufgeschnappt, auf den er sich keinen Reim machen konnte.

»Wie bitte? Was haben Sie gesagt?«

»Ja, kannst du mich etwa nach all den Jahren immer noch nicht verstehen? Nicht mal jetzt, wo ich ein neues Gebiss habe?«

Noch mehr Gelächter.

Fabian wand sich vor Frustration. Außerdem wurde ihm von dem unverkennbaren Stallgeruch, der von der alten Dame ausging, flau. Er erinnerte sich aus den zahllosen Sommern, die er in diesen Bergen verbracht hatte, nur zu gut an sie. Und an ihren Geruch. Offenbar veränderten sich die Dinge auf dem Land nur langsam.

Während das Geplänkel um ihn herum weiterging, fuhr er sich mit der Hand über die Stelle an seinem Hinterkopf, wo ein dumpfer Schmerz pochte, und ertastete die Umrisse einer wachsenden Beule.

Das war nicht die Begrüßung, die er sich vorgestellt hatte. Von einer solchen Furie empfangen zu werden, die etwas schwang, das sich wie eine Eisenstange angefühlt hatte. Und dann auch noch verspottet zu werden. Er kam sich wie ein kleines Kind vor.

Josette, die seine Qualen spürte, empfand für einen Moment Mitleid mit ihm. Schließlich war er Jacques’ Neffe, und vielleicht war er mit den Jahren umgänglicher geworden.

»Nun, Fabian«, sagte sie freundlich, und das Lachen legte sich. »Was bringt dich nach Fogas?«

Fabian blinzelte. »Hast du denn den Brief nicht erhalten? Von meinem Anwalt?«

»Nein.« Die kalten Finger der Furcht griffen nach Josette.

»Tja, also, das ist bedauerlich, denn da steht alles drin. Dieser ganze Juristenjargon. Ich bin ja durchaus bereit, mit mir reden zu lassen. Den Marktpreis zu zahlen. Und natürlich kannst du auch gern bleiben. Solange du willst. Ich bin mir sicher, dass wir gut miteinander auskommen werden. Sehr gut sogar.«

Er lächelte, um diesen letzten Punkt zu unterstreichen, aber Josette sah ihn gar nicht an. Sie starrte mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck zum Kamin hinüber. Und Jacques starrte voller Entsetzen zurück. Sein schlohweißes Haar stand ihm zu Berge, und sein Gesicht war so bleich, wie es bei einem Geist nur sein konnte.

»Pardon, Josette. Was hat das zu bedeuten? Willst du uns etwa verlassen?«, fragte Christian. Nun waren es die Dorfbewohner, die Mühe hatten, zu folgen.

»Nein, ich gehe nirgendwohin«, erwiderte sie, doch das Zittern in ihrer Stimme machte die Zuversicht ihrer Worte zunichte.

»Aber was soll dann –«

Josette fuhr ihm über den Mund, und ihr scharfer Tonfall stand in krassem Gegensatz zu ihrer sonstigen Herzlichkeit. »Wieso erklärst du es ihnen nicht, Fabian?«

Fabian hustete und zuckte nervös angesichts all der ungewollten Aufmerksamkeit, mit der sich sämtliche Augen auf ihn richteten.

»Eigentlich ist es ganz simpel. Da gibt es gar nicht viel zu erklären. Ich brauchte mal eine Auszeit, wisst ihr? Ein neues Leben und so. Dachte mir, das hier wäre ideal …«

Annie gab ein Schnauben von sich. »Du liebe Güte. Hör auf, wie ein Pariser zu schwafeln, und spuck’s endlich aus!«

»Was er zu sagen versucht«, mischte sich Josette ein und griff dabei Halt suchend nach dem Tisch, »ist, dass er vorhat, die Épicerie zu übernehmen, nicht wahr, Fabian?«

Fabian nickte, und in der Stille, die auf diese Neuigkeit folgte, fragte er sich, wie lange es wohl dauern würde, die Einheimischen für sich zu gewinnen.

Kapitel 2

»Er ist also hergekommen, um Anspruch auf den Laden zu erheben? Und Josette hat dabei kein Wörtchen mitzureden?«

»Exactement.«

Lorna Webster unterbrach das Abwischen der Tische und blickte durch das Restaurant zu Stephanie hinüber, die gerade mit der schockierenden Nachricht aus der Épicerie zurückgekehrt war.

»Aber es muss doch irgendetwas geben, was sie tun kann? Irgendein Gesetz, das sie schützt?«

Stephanie schüttelte den Kopf und räumte die dreckigen Gläser ab, die auf der Theke standen. Die Party schien schon eine Ewigkeit her zu sein.

»Josettes Mann, Jacques, er ’at die ’albe Épicerie ’interlassen seinem Neffen Fabian. So ist das Gesetz in Frankreich«, erklärte Stephanie ihrer englischen Freundin.

»Wie bitte? Man muss die Hälfte von allem seinem Neffen hinterlassen?«, fragte Lornas Mann Paul, der einige Müllbeutel nach draußen zum Abfallbehälter gebracht hatte und nun wieder hereinkam.

»Mais non! Nicht die Neffe, die Familie!«

»Aber Josette gehört doch zu seiner Familie.«

»Nicht vor die französische Gesetz.«

»Also, das verstehe ich nicht.« Lornas Gesicht trug einen gebührend verdutzten Ausdruck. »Soll das etwa heißen, falls ich morgen sterbe, wird Paul gar nicht meine Hälfte der Auberge erben? Obwohl er mein Ehemann ist?«

»Doch, schon. Aber nur die ’älfte von deine ’älfte. Die andere ’älfte von deine ’älfte bekommt deine Familie. Und da du keine Kinder ’ast, voilà, geht deine ’älfte an deine Eltern.«

»WAS?« Pauls Stimme stieg zu einem Kreischen an. »An Lornas Eltern? Aber die hassen mich!«

Stephanie zog nur eine Augenbraue in die Höhe und grinste.

Paul fuhr zu Lorna herum. »Davon hatte ich keine Ahnung. Du etwa?«

»Wieso? Hättest du die Auberge dann nicht gekauft?«

»Vielleicht!« Er duckte sich, als Lorna ihm mit einem gutgezielten Wurf ein Spültuch an den Kopf schleuderte.

»Aber ich verstehe es immer noch nicht«, fuhr sie fort und ignorierte ihren Mann, der vorgab, tödlich verletzt zu sein. »Wieso kann sich dieser Fabian so wichtigmachen, wenn Josette die Mehrheit an der Épicerie besitzt?«

»Das ist eben die Problem. Sie besitzt nicht die Mehr’eit.«

»Aber du hast doch gerade gesagt …«

Stephanie hielt ihre Hand in die Höhe, um Paul zum Schweigen zu bringen, und stieß einen verzweifelten Seufzer aus. Ihre angelsächsischen Freunde waren heute ein bisschen schwer von Begriff. Das Ganze war doch gar nicht so kompliziert. Sie waren einfach nicht dafür gemacht, die Feinheiten des französischen Gesetzes zu kapieren.

»Sie besitzt nicht die Mehr’eit an die Épicerie, weil sie ge’ört Familie von Jacques. Er ’at sie von seinem Vater. Bevor sie ge’eiratet ’aben. Nach dem Gesetz muss eine ’älfte zurückge’en an seine Familie.« Sie ließ dem Ganzen ein fatalistisches Schulterzucken folgen. »Also sitzt Josette in die merde.«

»Großer Gott! Das scheint mir aber ein bisschen hart zu sein. Wird sie es anfechten?«

»Was soll das bringen? Es ist die Gesetz.«

»Aber trotzdem, es ist einfach so … Ich weiß auch nicht …«

»Unfair?«, schlug Lorna vor.

»Es ist weder fair noch unfair. Es ist die Gesetz!« Stephanie nahm sich der letzten Gläser an, marschierte mit ihnen in die Küche und überließ es Lorna und Paul, allein über Josettes Pech zu diskutieren. Sie brachte nicht mehr die nötige Energie auf, um darüber zu reden. Der Vorfall in der Bar hatte eine Flut schmerzhafter Erinnerungen geweckt, und sie fühlte sich ausgelaugt.

Es war schon eine Weile her, dass sie derart in Panik geraten war. Sie hatte keine Ahnung, warum sie nicht einfach aus dem Laden hinausgelaufen war und Christian gerufen hatte. Das war der Teil, der ihr Angst machte. Scheinbar hatte sie trotz der Erfahrungen, die sie in ihren ersten Ehejahren gesammelt hatte, immer noch nicht gelernt, wegzulaufen, wenn sie Furcht verspürte. Offensichtlich war da immer noch dieses Bedürfnis, ihr ohne Umschweife entgegenzutreten.

Und das bereitete ihr Kopfzerbrechen.

Sie begann, die Spülmaschine zu füllen, zwang sich dazu, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Aber es war nicht gerade einer ihrer besten Tage gewesen, und Josettes missliche Lage drohte sich auch zu ihrem eigenen Nachteil auszuwirken.

Was war sie nur für ein egoistisches Weibsstück, dass sie in diesem Moment nur an sich selbst dachte? Doch in der Sekunde, als Fabian Servat damit herausgerückt war, dass er Miteigentümer der Épicerie sei, hatte sie nur noch einen einzigen Gedanken gehabt: Hatte er auch einen Teil des Grundstücks geerbt, das sich gegenüber der Gemischtwarenhandlung befand? Falls dies zutreffen sollte, war es nicht gerade die beste Idee gewesen, ihm mit einem alten Baguette eins überzubraten.

»Mist!« Stephanie fühlte den stechenden Schmerz, bevor sie sich überhaupt bewusst war, dass sie den Stiel eines Weinglases zerbrochen und sich geschnitten hatte. Sie hielt ihre Hand unter den Kaltwasserhahn, hieß das brennende Gefühl willkommen, als das eisige Wasser über ihre Haut lief.

»Mist«, murmelte sie erneut, als sie den Hahn zudrehte. Sie war wieder genauso weit wie zuvor. Gerade als die Erfüllung ihres Traumes, eine Biogärtnerei zu eröffnen, in greifbare Nähe gerückt war.

Obwohl bei dem Sturm, der die Gemeinde über Neujahr getroffen hatte, ihr Folientunnel und die meisten Jungpflanzen zerstört worden waren, war sie wieder an die Arbeit gegangen, hatte neu gepflanzt, zuversichtlich, dass sie den Rückschlag bis zum Frühjahr meistern würde. Dann hatten Lorna und Paul die Auberge wiedereröffnet, trotz der Versuche einiger Gemeindemitglieder, das zu verhindern, und heute Nachmittag, auf der Party, hatten ihr die beiden einen Job als Kellnerin angeboten. Mit dem Geld würden sie und Chloé sich über Wasser halten können, bis die Biogärtnerei auf soliden Füßen stand.

Sie hatte sogar schon die ideale Stelle für ihr Vorhaben auserkoren. Das Stück Land gegenüber der Épicerie, das auf einer Seite an den Fluss grenzte und auf der anderen an den gemeindeeigenen Parkplatz – und das Josette gehörte. Zumindest hatte sie das geglaubt.

Falls es zutraf, dass Jacques’ Neffe die Hälfte davon geerbt hatte, würde sie ihre Pläne auf Eis legen müssen. Er würde es ihr nie im Leben verpachten, nachdem sie ihn mit einem knochenharten Weißbrot angegriffen hatte. Dafür könnte er sie wegen Körperverletzung verklagen.

Ach, wäre Fabian Servat doch in Paris geblieben!

Sie schloss die Tür der Spülmaschine und schaltete sie ein. Ihr erster Tag als Kellnerin war wirklich sehr ereignisreich verlaufen, und falls Fabian tatsächlich ein Mitspracherecht bei diesem Grundstück hatte, wäre sie sehr viel länger auf diesen Job angewiesen, als sie gedacht hatte. Daher setzte sie ein Lächeln auf und kehrte ins Restaurant zurück, wobei sie sich im Stillen dafür schalt, dass sie so selbstsüchtig war. Schließlich hatte sie im Gegensatz zu Josette, deren Zukunft in der Schwebe hing, immer noch ein Dach über dem Kopf.

 

Wie stets im Januar verdunkelte sich der Himmel in den steilen Tälern der Pyrenäen bereits am späten Nachmittag, wenn die Leute in St. Girons aufbrachen, um über die kurvenreiche Straße hinauf nach Massat und zum Col de Port zu gelangen. Als sie an diesem Tag um die vertraute Kurve in La Rivière bogen, stellten sie verwundert fest, wie viel dunkler als sonst die Straße war, so finster, dass sie das Fahrtlicht einschalten mussten.

Einige hatten die Geschwindigkeitsbeschränkung von fünfzig Kilometern in der Stunde bei der Einfahrt ins Dorf ignoriert und fuhren zu schnell, um einen Gedanken daran zu verschwenden, warum die Lichtverhältnisse so anders waren. Andere, die nicht in so großer Eile waren, nach Hause zu kommen, grübelten durchaus darüber nach, während sie der kurvigen Straße folgten, die sie an den Häusern vorbei in die vom Wald gesäumte Schlucht führte. Aber diejenigen, die von der Straße abfuhren, um sich noch rasch ein Baguette für das Abendessen oder ein Päckchen Zigaretten und eine Flasche Wein für den langen Winterabend zu besorgen, die mussten nicht lange nachdenken, denn die Antwort war eindeutig.

Zum ersten Mal seit Menschengedenken waren die Épicerie und die Bar während der Geschäftszeiten geschlossen. Die Läden waren allesamt zugeklappt, weshalb kein Licht auf die Straße fiel, wie das im Winter normalerweise der Fall war.

Drinnen saß eine kleine Gruppe um den Tisch in der Bar. Der tanzende Schein des Kaminfeuers warf Schatten auf die tiefen Sorgenfalten in ihren Gesichtern.

»Glaubst du, dass er das durchziehen wird?«, fragte die Frau am Kopfende, die ihre Sitzposition verlagerte, um das Gewicht auf ihrem rechten Bein zu verringern, das einen Gipsverband trug und auf einem Stuhl gelagert war.

Josette nickte.

»Das ist wirklich eine schöne Bescherung!«, brummte Annie Estaque. »Dabei war er als Knirps so ein nettes Kerlchen. Wer hätte gedacht, dass er zu so was fähig ist?«

»Wenn ich das gewusst hätte«, sagte Christian, »hätte ich ihn damals, als er in den alten Steinbruch gefallen ist, da unten liegen lassen. Erinnerst du dich noch daran, Véronique?«

Die Frau mit dem gebrochenen Bein lachte. »Oh ja! Du hast mich dazu gebracht, Hilfe zu holen.«

»Genau. Und die ganze Zeit hat er wegen des Risses in seiner Hose gejammert. Hat gesagt, dass ihn seine Mutter dafür umbringen wird. Der arme Junge. Ich bin am Ende selbst runtergeklettert, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, ihn so verzweifelt zu sehen.«

»Und deshalb musste Serge Papon auch euch beide mit einem Seil herausziehen, als ich mit ihm zurückkam!«

»Diese Geschichte kenne ich ja gar nicht«, sagte Annie, deren Stimme bei der Erwähnung des Namens des Bürgermeisters einen schärferen Tonfall annahm.

Véronique lächelte. »Das liegt daran, dass ich dir nichts davon erzählt habe, Maman! Serge hat uns zu seinem Haus gefahren, und Thérèse hat uns pain au chocolat und Orangina vorgesetzt, während sie Fabians Hose nähte.«

»Der arme Bursche«, murmelte Annie, und Christian fragte sich, ob ihr Mitgefühl dem kleinen Jungen in der Vergangenheit oder dem kürzlich zum Witwer gewordenen Bürgermeister galt.

»›Arme Josette‹ trifft es wohl eher!«, gab Véronique zurück. »Wir müssen doch irgendetwas tun können!«

»Nicht viel.« Josette klang erschöpft. »Ich habe vor einigen Monaten einen Rechtsanwalt zurate gezogen, und im Grunde gibt es nur zwei Möglichkeiten. Ich kann Fabian anbieten, ihn abzufinden, was ich mir nicht leisten kann und er vermutlich ohnehin nicht akzeptieren würde. Oder ich kann versuchen, den Laden mit ihm gemeinsam zu führen.«

»Es gibt noch eine dritte Möglichkeit«, sagte Véronique zögernd. »Du könntest deinen Anteil an ihn verkaufen.«

Josette starrte die jüngere Frau hinter ihren Brillengläsern mit großen Augen an.

»Nein!«

»Willst du es nicht wenigstens in Erwägung …«

»Nein! Ich gehe hier nicht weg.« Josette verstummte, und Véronique fiel auf, wie zerbrechlich sie wirkte. Die Falten ihrer Strickjacke hingen von den dünnen Schultern herab, und sie hielt die Hände auf dem Tisch umklammert, während sie nervös mit ihrem Ehering spielte.

Christian legte seinen gewaltigen Arm um sie, was sie nur noch zerbrechlicher wirken ließ. »Keine Sorge, Josette, wir werden uns schon etwas einfallen lassen. Und wer weiß, vielleicht gefällt es ihm hier ja gar nicht, und er kehrt wieder nach Hause zurück. Es ist schon etwas gewöhnungsbedürftig, wenn man aus Paris kommt!«

Josette versuchte sich an einem Lächeln, doch es wollte ihr nicht so recht gelingen.

»Und in der Zwischenzeit werde ich zu Maman ziehen und euch beiden euren Freiraum lassen«, sagte Véronique, die sich bewusst war, dass die Belegung von Josettes Gästezimmer nun, da Fabian seine Rechte auf das Gebäude geltend gemacht hatte, ein Problem darstellen würde.

Als Véronique infolge des Feuers, bei dem das Postamt am Silvesterabend abgebrannt war, ohne Wohnung und ohne Arbeit dagestanden hatte, war sie über Josettes Angebot, in der Épicerie zu wohnen, dankbar gewesen. Inzwischen war sie geübter darin, sich auf Krücken fortzubewegen, und da auf dem Bauernhof ihrer Mutter fast alle Orkanschäden behoben schienen und beinahe alles wieder zur Normalität zurückgekehrt war, hatte sie ohnehin vorgehabt, einstweilen dort einzuziehen. In Anbetracht der Tatsache, dass sie mit ihrer Mutter nicht unbedingt gut auskam, war es nicht gerade ideal, aber vielleicht würde der Umzug zu Maman ihr den nötigen Tritt in den Hintern verpassen, den sie brauchte, um das ganze Durcheinander um ihre Wohnung zu klären. Die Gemeinde zog die Entscheidung hinsichtlich einer neuen Bleibe wirklich in die Länge.

»Das ist sehr rücksichtsvoll von dir«, sagte Josette. »Fabian hat mich gefragt, ob er heute hier übernachten darf, aber darüber hinaus weiß ich nicht, welche Pläne er hat. Ich könnte mir vorstellen, dass er es darauf abgesehen hat, seine Füße so bald wie möglich unter meinen Tisch zu stellen!«

»Oh, dieser unverschämte Mistkerl. Was für eine Frechheit!«

»Also, wenn ihr eine Mitfahrgelegenheit braucht, könnte ich euch mitnehmen. Ich wollte mich nämlich jetzt auf den Weg machen«, sagte Christian beim Aufstehen, an die beiden Estaques gewandt. »Wird Zeit, dass ich nach Hause komme, wenn ich noch etwas von dem Essen retten will, das Maman heute mal wieder einzuäschern versucht.«

»Und es ist Zeit, dass ich die Hunde füttere«, sagte Annie, deren Gelenke knackten, als sie sich erhob. »Hast du all deinen Kram beisammen, Véronique?«

Véronique deutete mit einem verzerrten Lächeln zu einem kleinen Koffer in der Ecke hinüber. »Ich habe zurzeit nicht viel.«

»Gott, was für ein Chaos«, brummte Christian. »Du verlierst alles in einem Feuer, und jetzt sieht es ganz so aus, als würde Josette womöglich ihr Heim verlieren. Es kommt einem fast so vor, als wäre ganz Fogas im Augenblick vom Pech verfolgt.«

»Wohl eher von so verdammten Schwachköpfen wie Fabian Servat!«

»Apropos«, fuhr Christian fort, als er die Tür öffnete, die in die zunehmende Dunkelheit hinausführte, »wo ist eigentlich der Maskenmann? Sollte er nicht inzwischen von seiner Fahrradtour zurück sein?«

»Mit etwas Glück ist er noch einmal in den Steinbruch gefallen. Aber dieses Mal werde ich bestimmt keine Hilfe holen«, sagte Véronique, als sie an ihm vorbeihumpelte.

Während Annie ihrer Tochter auf den Rücksitz des Wagens half, wandte sich Christian an Josette.

»Wirst du denn heute Abend allein zurechtkommen?«

Josette nickte, richtete sich auf und schenkte ihm ein tapferes Lächeln. »Aber ja, mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Ich werde mich schon irgendwie mit ihm einigen. Er ist ja im Grunde kein schlechter Kerl.«

Christian umarmte sie ein letztes Mal, bevor er seine hünenhafte Gestalt in den kleinen Panda faltete und mit einem stotternden Husten in die Abenddämmerung davonfuhr.

Josette wartete, bis die Scheinwerfer die Straße nach Picaret hinauf verschwunden waren, schloss dann langsam die Tür und lehnte sich erschöpft dagegen.

Das hier war ihre ganze Welt. In diesen beiden Räumen hatte sie beinahe ihr gesamtes Erwachsenenleben verbracht. Durch die Verbindungstür sah sie die Regale an der Rückwand des Ladens. Wie viele Male hatte sie sie aufgefüllt? Gläser mit hiesigem Honig, Schokoladenriegel, Dosen mit Cassoulet, Milchflaschen. Und all die Wurstketten, die über der Theke hingen. Wie viele hatte sie wohl in all den Jahren dort aufgehängt? Wie viel Kilogramm Käse in Scheiben von den großen Laiben Rogallais oder Bethmale abgeschnitten? Von all den Stunden ganz zu schweigen, die sie damit verbracht hatte, diese verfluchten Messervitrinen zu putzen!

Ihr Blick wanderte zur Bar hinüber, sie nahm die Flaschen mit Ricard und Cassis wahr, die Gläser, die sie unzählige Male in der kleinen Spüle hinten ausgewaschen hatte, die Tische, an denen die Geschäfte der Gemeinde in Wahrheit getätigt wurden, da der Bürgermeister es vorzog, hier Hof zu halten statt oben auf dem Berg im Rathaus von Fogas. Und was sie hier für Feste gefeiert hatten! Ihre Mundwinkel wanderten bei der Erinnerung daran in die Höhe.

Könnte sie all das wirklich zurücklassen?

Oberflächlich betrachtet, schien Véroniques Vorschlag nicht der unvernünftigste zu sein. Schließlich hatte sie Geld gespart, und mit dem, was sie für ihren Anteil an der Épicerie bekommen würde, sollte sie in der Lage sein, sich ein kleines Anwesen in der Nähe zu kaufen, es ruhiger angehen zu lassen. Die Füße hochzulegen. Vielleicht würde ihr der Ruhestand ja sogar gefallen.

Dann erst erlaubte sie sich, einen Blick in Richtung Kamin zu werfen, auf den wahren Grund für ihre Qual.

Was würde aus Jacques werden?

Als er das erste Mal erschienen war, hatte seine gespenstische Anwesenheit sie nervös gemacht. Damals war sie in die Bar getreten – immer noch in ihrem schwarzen Kostüm, während das Glockengeläut von den Bergen widerhallte –, und er hatte neben dem Kamin gesessen, als wäre er niemals weg gewesen. Als ob sein Herz nicht unvermittelt aufgehört hätte zu schlagen und damit ihr Leben seiner Bedeutung beraubt worden wäre.

Sie hatte den Mund zu einem Schrei geöffnet, doch es war kein Ton herausgekommen, lediglich ein asthmatisches Krächzen, wie es sie in den Sommermonaten plagte, wenn der Pollenflug in vollem Gange war. Oder wenn sie etwas erschütterte.

Sie hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und war in den Laden geflohen, wo sie sich mit zitternden Händen auf der Vitrine neben der Theke abgestützt hatte, um wieder zu Atem zu kommen, während die Gedanken in ihrem Kopf herumschwirrten wie eine Flipperkugel. Sie hatte versucht, sich zu beruhigen, indem sie sich auf die Messer unter dem Glas konzentrierte: die breite Klinge des Kenav, die, in wasserbeständiges Holz eingelassen, besonders bei bretonischen Fischern beliebt war; die sinnliche Rundung des Hefts des Couteau du Pèlerin, das für die Pilger auf dem Jakobsweg gemacht wurde; und Jacques’ ganzer Stolz, ein Laguiole mit einer Damaszenerklinge und der dekorativen Signatur, die wie ein Wasserzeichen erscheint, versehen mit einem Heft aus Hirschhorn.

Als sie sich dessen bewusst wurde, dass ihre Finger Abdrücke auf der makellosen Oberfläche hinterließen, wusste sie, dass sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Und bereit war, dem, was in der Bar auf sie wartete, noch einmal gegenüberzutreten.

Sie versuchte sich einzureden, dass es nur Einbildung gewesen war. So etwas passierte einfach nicht. Doch als sie sich der Türöffnung näherte, da wünschte sich ein großer Teil von ihr, dass es wahr wäre.

Als sie eintrat, blickte er mit einem verwirrten Gesichtsausdruck auf, als wäre er ebenso bestürzt darüber wie sie, dass er anwesend war. Sein weißer Haarschopf stach im Tod noch mehr hervor, schien vor den rußbefleckten Steinen der Kaminecke förmlich zu leuchten. Sein Gesicht darunter war blass, und die Umrisse seines drahtigen Körpers wirkten verschwommen. Doch als sich ihre Blicke trafen, da durchfuhr sie das gleiche vertraute Gefühl des Wiedererkennens wie damals, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Und dann hatte sie weiche Knie bekommen und war ohnmächtig zu Boden gesunken.

Als sie wieder zu sich kam, streichelte er ihr übers Haar, und danach hatten sie einfach abgewartet, wie es weiterging. Er hielt sich lediglich in der Bar und der Épicerie auf und sprach niemals ein Wort. Doch seine Anwesenheit war ihr ein ungeheurer Trost. Er war ihr stummer Schatten. Weshalb ihr die ganze Sache mit Fabian nun das Herz zerriss.

»Du wärst nicht imstande, mit mir von hier wegzuziehen, nicht wahr, mein Liebling?«

Er starrte sie mit dem gleichen verwirrten Ausdruck an wie damals vor einem halben Jahr. Dann schüttelte er den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht.

Sie wusste, was in ihm vorging.

»Es ist nicht deine Schuld. Das konntest du doch nicht wissen.«

Sie trugen beide die Verantwortung dafür. Sie hätten sich schon vor Jahren beraten lassen sollen. Doch sie hatten keine Veranlassung dazu gesehen. Das Gesetz war nun einmal das Gesetz, so einfach war das.

Doch natürlich stellte sich heraus, dass sie sehr wohl etwas hätten unternehmen können. Nach Jacques’ Tod hatte ihr der Anwalt mitgeteilt, dass neue Gesetze erlassen worden waren, einige davon erst kürzlich, die sichergestellt hätten, dass Josette besser versorgt wäre. Doch dafür war es nun zu spät.

Sie zog sich einen Stuhl zu Jacques herüber und legte ihre Hand auf die seine. Die Hitze des Feuers vermochte nicht die kalte Furcht zu vertreiben, die sich um ihr Herz legte.

Schon der bloße Gedanke daran, die Épicerie aufzugeben und ihren Mann zurückzulassen, war schrecklich.

Aber ebenso zuwider war ihr die Vorstellung, sie gemeinsam mit ihrem Neffen zu führen.

Also würde sie dafür sorgen müssen, dass Fabian Servat es sich noch einmal anders überlegte.

 

Genau in diesem Moment beschlich Fabian das Gefühl, dass er einen großen Fehler begangen hatte.

Er war davon überzeugt gewesen, die Straßen um La Rivière wie seine Westentasche zu kennen. Aber ganz offensichtlich hatte er in der letzten Zeit keinen Blick mehr in diese Tasche geworfen, denn er hatte sich verfahren.

Verfahren!

Wie konnte das sein? Von La Rivière – das, wie sein Name schon sagte, am Fluss lag – führten nur zwei Straßen zu den anderen beiden Ortschaften der Gemeinde hinauf, eine nach Fogas und die andere nach Picarets. Außer zu diesen unbedeutenden Bergdörfchen gab es keine Straße.

Daher war er nach der hitzigen Debatte mit Josette und den Dorfbewohnern aus dem Laden gestürmt, auf sein Fahrrad gesprungen und hatte sich auf den Weg hinauf nach Picarets gemacht, um den Kopf wieder einigermaßen frei zu bekommen.

Er hatte wie ein Wilder in die Pedale getreten, und die steile Straße hatte ihm dabei geholfen, einen Teil seines Frusts loszuwerden, während er sich auf das kleine Display konzentrierte, das an seinem Lenker angebracht war: Herzfrequenz 180 Schläge pro Minute, Leistung 350 Watt. Automatisch begann er Berechnungen über seine Fitness anzustellen, und allein das reichte aus, um sich ein bisschen zu entspannen.

Schon als Kind hatte ihm sein Zahlentalent geholfen. Hineingeboren in eine Ehe, die bereits Richtung Scheidung schlitterte, bevor die Tinte auf der Heiratsurkunde ganz trocken war, entwickelte er früh ein Geschick dafür, ruhige Orte ausfindig zu machen – fern der nicht enden wollenden Streitereien und lauten Stimmen. Orte, an denen er Trost fand in der Schlichtheit von Addition oder Multiplikation. Wenn er in der Schule wegen seiner mageren Statur gehänselt wurde, war es seine Liebe zur Mathematik, die ihm dabei half, die endlose Hetze auf dem Schulhof auszuhalten. Und in seinem letzten Jahr an der Universität, das unbeschriebene Blatt seiner Zukunft beängstigend nah vor Augen, da war es ihm wie ein Wink des Schicksals erschienen, als der Headhunter einer Investmentbank auf sein mathematisches Talent aufmerksam wurde.

Er hatte nicht die geringste Ahnung vom Bankgeschäft gehabt. Hatte es nie als Beruf in Erwägung gezogen. Doch die Tatsache, dass sich da jemand ausgerechnet um ihn bemüht hatte, gab letztlich den Ausschlag. Nachdem er jahrelang von allem ausgeschlossen worden war, gab es jemanden, der ihn tatsächlich in seinem Team haben wollte.

Er hatte diese unerwartete Karriere in der Annahme begonnen, dass er endlich unter Menschen seinesgleichen sein würde, Menschen, die es aufregender fanden, eine schwierige Gleichung zu lösen, als in Bars herumzuhängen.

Doch es war anders gekommen. Er hatte sich stattdessen inmitten von Menschen wiedergefunden, die nichts anderes im Sinn hatten, als vorwärtszukommen. Die vor nichts zurückschreckten, um ein Geschäft abzuschließen. Sie waren nicht an Mathematik oder an der makellosen Schönheit von Zahlen interessiert. Sie waren ganz versessen darauf, dem spindeldürren Neuling das Leben zur Hölle zu machen.

Ein normaler Mensch hätte zugesehen, dort sofort wieder wegzukommen. Aber genau das war das Problem. Er war kein normaler Mensch. Er war sonderbar. Das hatte man ihm schon so oft gesagt, dass etwas Wahres daran sein musste.

Was wiederum der Grund dafür war, dass er trotz der ständigen Schikanen weiterhin Tag für Tag in der Bank erschien. Und nachdem er sein erstes großes Geschäft abgeschlossen hatte, das dem Unternehmen einen guten Gewinn einbrachte, da begannen seine Kollegen ihn mit anderen Augen zu sehen. Als sein Erfolg anhielt, ließen die Beleidigungen nach. Einige waren auf ihn zugekommen, um sein Erfolgsrezept herauszufinden, doch er vermochte es nicht zu erklären, und sie hatten seine Zurückhaltung für Arroganz gehalten. Doch wie sollte er etwas erklären, das er selbst nicht verstand? Er wusste nur, dass er über die Marktdaten hinauszuschauen vermochte, ihm Figuren und Muster ins Auge sprangen und etwas beinahe Greifbares erschufen. Und das war es, worauf er seine Geschäfte gründete.

Jahrelang hatte er so gelebt, hatte es den Zahlen erlaubt, sein Leben zu beherrschen, während er in die Rolle eines Investmentbankers schlüpfte und vorgab, dass die Jagd nach Geld sein wichtigstes Ziel im Leben war. Irgendwie war er damit durchgekommen. Und dabei reich geworden.

Doch dann, im Jahr 2007, war alles falsch gelaufen.

Er hatte es versäumt, den Crash vorherzusehen.

Natürlich war er nicht der Einzige gewesen. Während seine persönlichen Finanzen davon unberührt blieben, weil Fabian niemals eigenes Geld investiert hatte, waren seine Kollegen alle betroffen gewesen, manche sogar so schlimm, dass sie angesichts der Verluste, die sie mit dem Geld der Firma und auch mit ihrem eigenen erlitten hatten, kurz davor standen, sich das Leben zu nehmen.

Doch keiner von ihnen fühlte sich so wie er.

Seine einzige Quelle des Trostes in seinem Leben, die einzige Sache, auf die er sich immer hatte verlassen können, hatte sich als ebenso falsch und verlogen herausgestellt wie alles andere auch.

Die Zahlen hatten ihn verraten.

Er hatte sich noch ein Jahr abgemüht, versucht, seine Zuversicht wiederzuerlangen, doch es war vergebens. Jedes Mal, wenn er die Märkte beurteilen wollte, hatte er auf das Geschreibsel einer Seite gestarrt wie eine Zigeunerin, die in eine Tasse schaut und nichts weiter sieht als Kaffeesatz.

Der Zauber war verschwunden.

Und dann kam ihm die Idee. Die Idee, nach Fogas zurückzukehren, dem einzigen Ort, an dem er sich jemals heimisch gefühlt hatte.

Seine Eltern waren nur allzu froh gewesen, das Kind los zu sein, das es nicht geschafft hatte, ihre kaputte Ehe zu kitten, und so hatten sie ihn jeden Sommer für zwei Monate in die Pyrenäen verfrachtet, wo er eine Freiheit vorgefunden hatte, die er zu schätzen lernte. Mit zwei Erwachsenen zusammenzuleben, die sich in der Gesellschaft des anderen wohlfühlten, war eine völlig neue Erfahrung für ihn gewesen, und der junge Fabian durfte gemeinsam mit Onkel Jacques und Tante Josette essen, wurde ermutigt, eine eigene Meinung zu allem zu haben, worüber sie redeten, und man erwartete lediglich von ihm, dass er ihnen vor dem Zubettgehen einen Gutenachtkuss gab.

Insgesamt waren die Regeln simpel. Wenn es dunkel wurde, musste er zu Hause sein, und die Messervitrine neben der Ladenkasse war tabu.

Egal wie sehr er Onkel Jacques in all den Jahren auch in den Ohren gelegen hatte, er hatte ihm niemals erlaubt, das wunderschöne Laguiole oder das robuste Kenavo in die Hand zu nehmen. Er weigerte sich sogar, den Glaskasten auch nur zu öffnen, damit Fabian die Messer aus der Nähe betrachten konnte. Sie seien für einen Jungen zu gefährlich und zu wertvoll, erwiderte er barsch. Die Messer waren nicht zum Verkauf bestimmt, und nicht einmal Tante Josette hatte einen Schlüssel für diese Vitrine! Onkel Jacques schloss stattdessen den Schaukasten in der Nähe der Tür auf und erlaubte ihm, die Opinels anzufassen.

Eines Sommers hatte er, als er an seinem ersten Ferientag in sein Zimmer hinaufgelaufen war, eine Schachtel auf seinem Kissen vorgefunden. Ein Opinel. Für ihn. Die ganzen Ferien verbrachte er damit, Holz zu schnitzen und die Klinge zu schärfen. Als es an der Zeit war, nach Paris zurückzukehren, wurde seine übliche Verstimmung darüber noch dadurch verschlimmert, dass ihm Onkel Jacques, wohl wissend, dass Fabians Mutter es nicht gutheißen würde, das Messer abnahm, um es »sicher zu verwahren«. Sie würde es schon schlimm genug finden, dass der Junge nach seinem Aufenthalt in den Bergen mit dem breiten Dialekt der Region zurückkam – nicht auszudenken, was passierte, wenn er etwas mitbrachte, was sie als tödliche Waffe erachtete. Doch von da an lag in jedem Juli bei Fabians Rückkehr die Schachtel mit dem Opinel auf seinem Kissen.

War es da ein Wunder, dass er sich, als sein Leben zusammenbrach, nach den glücklichen Sommertagen zurücksehnte, die er in Fogas verbracht hatte, und zu der Überzeugung gelangte, dass das Leben in der kleinen Gemeinde genau das war, was er nach dreizehn stressigen Jahren im schnelllebigen Paris benötigte? Außerdem hatte sich ihm mit der Teilhaberschaft an der Épicerie die ideale Gelegenheit geboten.

Aber nach dem Empfang, den man ihm bereitet hatte – Körperverletzung, gefolgt von offener Feindseligkeit –, befürchtete Fabian, dass er wieder einmal auf Ablehnung stoßen würde.

Und so hatte er sich, während er die Straße nach Picarets hinauffuhr, auf die Zahlen seines Radcomputers konzentriert, die vor seinen Augen tanzten, und versucht, nicht daran zu denken, was die Zukunft für ihn bereithielt. Es war ihm gar nicht aufgefallen, wie schummrig das Licht wurde – in den Tälern der Pyrenäen dämmerte es sehr viel schneller als in den Straßen von Paris –, bis er anhalten musste, um einen Platten zu flicken. Erst da merkte er, dass er keine Ahnung hatte, wo er sich befand.

Was verrückt war.

Er war bis zum Steinbruch geradelt und dann umgekehrt, musste aber wohl irgendwo auf eine Nebenstraße geraten sein, die man vermutlich seit seinem Besuch vor vielen Jahren neu gebaut hatte.

Er hatte sich verfahren.

Nun, da das Loch im Reifen geflickt war, blickte er sich um, doch es gab nirgendwo ein Lebenszeichen, nur Bäume, die auf den steilen Abhängen wuchsen. Offenbar blieb ihm nichts anderes übrig, als umzudrehen und zu versuchen, seinen Fehler zu korrigieren.

In der zunehmenden Dämmerung stieg er abermals auf sein Rad und fuhr wieder bergauf in die Richtung, aus der er gekommen war. Es dauerte nicht lange, bis er herausfand, wo er falsch abgebogen war. Nach ein paar Minuten Auffahrt tauchte die Hauptstraße auf. Zu seiner Rechten erkannte er gerade noch Christian Dupuys Hof, ein robustes, gutgepflegtes Bauernhaus, umgeben von Scheunen und mit einem Hof, in dem Hühner herumliefen. Und unten, zu seiner Linken, befand sich Picarets.

Leichteren Herzens fuhr er im Freilauf auf das Dorf zu und nahm dabei all das in sich auf, was sich während seiner langen Abwesenheit verändert hatte. Er bemerkte beispielsweise, dass das alte Häuschen, in dem einmal Christians Großmutter gelebt hatte, hübsch renoviert worden war, die Fensterläden bunt angemalt mit strahlend gelben Sonnen. Es sah bewohnt aus. Aber als er weiterfuhr, fiel ihm auf, dass das die Ausnahme war.

Abgesehen von ein paar wenigen Häusern, aus denen Licht in die länger werdenden Schatten fiel, lag das Dorf verlassen da. Vielleicht waren die anderen alle noch bei der Arbeit? Aber das glaubte er eigentlich nicht. Es kam ihm eher wie ein Geisterdorf vor.

Er kam an der Stelle zum Stehen, die einem Dorfplatz am meisten ähnelte und wo sich eine Handvoll Häuser aufs Geratewohl um eine stämmige, etwas schräg gewachsene Linde drängten. Ursprünglich einmal – lange vor dem Zeitalter des Automobils – als Schössling gepflanzt, um das Zentrum Picarets zu markieren, war der Baum inzwischen zu einer solchen Größe herangewachsen, dass er alles schief erscheinen ließ und die Straße zweigeteilt ungleichmäßig um ihn herumführte.

Fabian dachte an damals zurück und versuchte sich an die Namen der Familien zu erinnern, die hier gewohnt hatten, als er noch ein Kind gewesen war. In dem Haus, das ihm am nächsten stand, hatte ein Brüderpaar gelebt, echte Rugby-Fans. Die Rogalle-Brüder, ja genau, so hatten sie geheißen. Und wenn er sich recht erinnerte, hatte es einer von ihnen sogar geschafft, für Toulouse zu spielen. Er hatte sie nicht gut gekannt, da sie ein wenig älter gewesen waren. Und ruppiger. Den beiden Kinderrädern nach zu schließen, die im Vorgarten lagen, und den zerknäuelten Rugbybällen, die unter der Hecke sichtbar waren, lebte hier inzwischen eine neue Generation.

Nebenan sah es allerdings anders aus. Hier hatte einmal eine spindeldürre Witwe gewohnt, die stolz gewesen war auf ihre sauberen Fenster. Nun hingen kaputte Fensterläden lustlos an verrottenden Rahmen herab, und der Boden war mit ebenjenem Glas bedeckt, das sie so fleißig geputzt hatte. Selbst Fabians ungeschultem Auge fiel auf, dass das Dach absackte, wo alte Balken nicht mehr in der Lage waren, das Gewicht der Schieferplatten zu tragen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis es in sich zusammenstürzte.

Unmittelbar gegenüber, am Hang gelegen, befanden sich zwei andere Häuser, die zwar recht gut gepflegt waren, denen aber ebenfalls ein Hauch von Vernachlässigung anhaftete, was darauf schließen ließ, dass sie nur gelegentlich bewohnt wurden. Die Spätblüher des letzten Sommers waren alle braun und verwelkt, und die Gartenstühle lagen noch vom letzten Wintersturm auf der Terrasse verstreut. Und das würde alles so bleiben, bis die Besitzer im nächsten Urlaub zurückkehrten, was wohl frühestens dann der Fall sein würde, wenn sich das Wetter im Frühjahr änderte.

Aber zumindest schien sich jemand um das Dubonnet-Haus zu kümmern, dessen gesamter Giebel von einer Reklame mit dem klassischen Dubo, Dubon, Dubonnet-Slogan bedeckt war, der trotz des verblassten blauen Hintergrunds eindrucksvoll leuchtete.

Es war einmal der Wohnsitz des alten Monsieur Papon gewesen, des Vaters des gegenwärtigen Bürgermeisters, ein ruppiger Pensionär, dessen knotige Hände immer rasch dabei waren, einem Störenfried eine Ohrfeige zu verpassen, dessen Frau dafür hinter seinem Rücken Süßigkeiten verteilte. Als treuer Ricard-Trinker war er niemals darüber hinweggekommen, eines Tages bei der Heimkehr einen bemalten Giebel vorzufinden. Das Geld, das seine Frau dadurch verdiente, war keine Entschädigung für die Tatsache, dass er in einem Haus wohnen musste, das den Namen eines Getränks zierte, das er als Weibergesöff erachtete. Und die Kinder, die dies wussten, verspotteten ihn aus sicherer Entfernung, skandierten immer und immer wieder den Slogan, der seine Mauern besudelte, bis er sich wütend zurückzog.

In der Stille, die den Platz nun einhüllte wie der tiefhängende Rauch eines Feuers, schien es unwahrscheinlich, dass inmitten dieser Berge jemals der Klang von Kinderstimmen erschallt und das Gemurmel der Erwachsenen erklungen war, die sich unter der Linde zusammengefunden hatten. Wo waren sie nur alle geblieben?

Vielleicht waren die Kinder, mit denen er gespielt hatte, erwachsen geworden und wie er fortgegangen. Zu beschäftigt, um zurückzukehren.

Doch das entsprach in seinem Fall nicht ganz der Wahrheit. Er war noch einige Male zurückgekehrt, nachdem er begonnen hatte, für die Bank zu arbeiten. Doch es war einfach zu schwierig gewesen. Zu der Rolle, in die er geschlüpft war, hatte weder die Beschaulichkeit von La Rivière noch das gemächliche Tempo in den Bergen gepasst. Und er hatte sich davor gefürchtet, dass Onkel Jacques ihn durchschauen würde. Daher war es leichter gewesen, einige seiner weniger unausstehlichen Kollegen zu Strandurlauben nach Cannes oder zu Skiausflügen nach Megève zu begleiten. Er hatte sich einzureden versucht, dass er der Gesellschaft seiner Verwandtschaft vom Lande und den schlichten Freuden seines Opinel-Messers entwachsen war.

Während er so dastand und zusah, wie die letzten Strahlen der Sonne den Himmel über dem zerklüfteten Gipfel des Mont Valier hellviolett färbten, fragte er sich, wie er es nur geschafft hatte, so lange diese Lüge zu leben.

Ein wenig zitternd machte er sich wieder auf den Weg, wohl wissend, dass das Tal bereits in Dunkelheit getaucht sein würde. Er ließ das Dorf hinter sich und steuerte auf den Wald zu, der Picarets vom Ackerland der Estaques trennte. Bald schon war er durch die dichten Schichten der nackten Äste über ihm von einer frühen Nacht umgeben. Sein Scheinwerfer hatte Mühe, sich die Schatten vom Leib zu halten, und Fabian war hin- und hergerissen, ob er sich zur Eile antreiben und einen Unfall riskieren oder sich Zeit dabei lassen sollte, die Kurven zu nehmen.

Er war froh, als er oberhalb des Plateaus herauskam, auf dem das Gehöft der Estaques lag. Véronique Estaque war während der langen Sommer, die er in Fogas verbracht hatte, seine treue Begleiterin gewesen. Da sie im selben Alter waren, hatte sie allein das schon zusammengeführt, doch ihre Freundschaft gründete auf etwas noch viel Wesentlicherem: Sie waren beide in der Schule schikaniert worden.

Als Kind einer unverheirateten Mutter, die sich weigerte, den Vater zu benennen, hatte Véronique unter dem Stigma der Unehelichkeit gelitten. Die einheimischen Kinder riefen ihr »Bastard« hinterher.

Also hatten sie sich in den Wäldern oberhalb des Steinbruchs herumgetrieben, Verschläge gebaut und Klubs mit Parolen und geheimen Ritualen gegründet, in denen sie die einzigen Mitglieder waren.

Sie verbrachten ihre Tage damit, die Wege und Pfade in den Bergen zu erkunden, bis es Zeit für Fabian wurde, zur Épicerie zurückzugehen, und eine widerstrebende Véronique zum Hof ihrer Mutter heimkehrte. Sie musste nicht zu einer bestimmten Zeit zu Hause sein. Ihre Mutter, die sich abrackerte, jede Hilfe ablehnte und sich Gott und der Welt gegenüber abweisend benahm, schien Veronique keine große Beachtung zu schenken.

Fabian hatte entsetzliche Angst vor Madame Estaque gehabt, die ihn in einer Sprache ankläffte, die er nicht verstand, die Konsonanten vernuschelt, der Ton barsch. Am Ende der Ferien hatten sich seine Ohren dann endlich an ihren Dialekt gewöhnt, doch da war es bereits zu spät. Seine Angst hatte jegliche Aufnahmefähigkeit seines Gehirns blockiert.

Genauso war es ihm heute Nachmittag im Laden ergangen. Madame Estaque hatte ihn angeknurrt, und er war erstarrt, hatte wohl gesehen, dass sich ihre Lippen bewegten, war aber unfähig gewesen, die Bedeutung der Töne, die herauskamen, zu verstehen. In Anbetracht der Wut, die sie ganz offenbar über seinen Vorschlag, die Épicerie zu übernehmen, empfand, war dies vielleicht auch ganz gut.

Die negative Reaktion der Dorfbewohner hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen.

Er hatte geglaubt, Josette würde über die Möglichkeit, sich zur Ruhe zu setzen, erfreut sein, erleichtert, ihren Anteil an ein Familienmitglied verkaufen zu können. Und er hatte angenommen, dass die Gemeinde zufrieden sein würde, wenn jemand den Laden übernahm, auf den Menschen wie Madame Estaque, die kein Auto fahren konnte, angewiesen waren.

Vielleicht würde es ihm gelingen, sie mit der Zeit für sich zu gewinnen. Sie sollten erst einmal seine Pläne für den Laden sehen!

Positiver gestimmt fuhr er in das letzte Waldstück, das zur Hauptstraße hinunterführte. Seine Scheinwerfer waren hier inzwischen nutzlos, und angesichts der fehlenden Straßenbeleuchtung war es beinahe unmöglich, die Straße zu sehen. Er fuhr nur Schritttempo, konzentrierte sich auf den schmalen Streifen Asphalt, der gerade noch vor seinem Vorderreifen sichtbar war, und hoffte inständig, dass er nicht mehr weit vom Talboden entfernt war. Hinter sich vernahm er das Röhren eines Automotors, und weiße Lichtstrahlen durchschnitten die Nacht. Ein dunkles Etwas brauste an ihm vorbei, schlingerte in der letzten Minute auf die Gegenfahrbahn, um ihm auszuweichen, während er blinzelnd und desorientiert zurückblieb und seine Netzhaut versuchte, die Lage zu meistern.

 

Stephanie war spät dran. Bis sie mit ihrer Arbeit in der Auberge fertig war und Chloé mit dem Wagen von der Schule abgeholt hatte, war die Dunkelheit bereits hereingebrochen. Während der Fahrt nach Picarets grübelte sie über ihre finanziellen Nöte.

»Darf ich, Maman?«

»Wie bitte, mein Schatz?« Es kostete Stephanie einige Anstrengung, sich auf ihre Tochter zu konzentrieren.

»Darf ich Pizza zum Abendessen haben?«, wiederholte Chloé mit übertrieben geduldiger Stimme.

Stephanie schüttelte den Kopf. »Nein, heute Abend nicht. Vielleicht am Wochenende, ja?«

Chloé wandte sich ab und starrte aus dem Fenster. Stephanie kam sich gemein vor. Ihre Tochter war so ein liebes Kind. Machte ihr nie irgendwelche Scherereien – wenn man einmal von ihrer fixen Idee absah, Trapezkünstlerin zu werden, die Stephanie aus Gründen, die sie für sich behielt, nicht duldete. Und wie den meisten Müttern war auch ihr klar, dass das Verbot, Saltos zu schlagen, nur dazu führte, dass Chloé es heimlich tat.

Aber es lagen schwere Zeiten vor ihnen, und der Preis einer Pizza vom Wagen in Seix schien plötzlich ein Luxus zu sein, den sie sich nicht leisten konnten. Vermutlich nicht einmal am Wochenende.

Stephanie seufzte. Unter diesen Umständen würde sie vermutlich wieder Yoga-Unterricht in Toulouse geben müssen, was jedes Mal eine lange Autobahnfahrt für eine vierzigminütige Kursstunde bedeutete.

Wieso konnte nicht einfach mal etwas funktionieren? Wenn Fabian Servat nicht aufgetaucht wäre, hätte sie sehr viel optimistischer in die Zukunft geblickt. Doch nun machte sie sich wieder Gedanken darüber, wie sie Chloé je ein Universitätsstudium finanzieren sollte.

Oder die Zirkusschule!

Ein gequältes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Als sie einen Gang herunterschaltete, heulte der Motor angesichts der Steigung jäh auf und ließ den alten Polizeimannschaftswagen vor Anstrengung zittern. Sie fuhr gerade auf die letzte Kurve vor dem Hof der Estaques zu, als plötzlich wie aus dem Nichts ein Auto auftauchte.

Auf der rechten Straßenseite.

Ihrer Straßenseite.

Das Scheinwerferlicht blendete sie, und sie lenkte ihren Wagen instinktiv nach links, Richtung Berghang, denn sie wusste, dass auf der anderen Seite ein tiefer Sturz in den Fluss und der sichere Tod auf sie wartete. Sie streckte instinktiv den Arm aus, um ihn schützend vor Chloé zu halten, obwohl diese angeschnallt war. Ein metallisches Geräusch sagte ihr, dass das andere Auto ihr Heck streifte, aber sie hatte keine Zeit, zu reagieren, hatte Mühe, die Kontrolle über ihren Wagen wiederzuerlangen, und das war der Moment, in dem sie den Lichtschimmer vor sich sah. Sie trat die Bremse durch, spürte jedoch einen Schlag am Wagen, ehe sie zum Stehen kam.