Mädchen zwischen den Zeilen - Sylvia Krupicka - E-Book

Mädchen zwischen den Zeilen E-Book

Sylvia Krupicka

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Beschreibung

Ostberlin 1973.
Simone wächst in einem Neubaublock nahe der Berliner Mauer auf. Sie ist gerade dabei, sich in einen älteren Jungen aus der Nachbarschaft zu verlieben. Aber ihr Tagesablauf ist engmaschig vorgeschrieben, ihr Verhältnis zu den Eltern angespannt. Und Simone überwältigen immer wieder Gefühle und Gedanken, die sie nicht kontrollieren kann und von denen sie nicht genau weiß, wo sie überhaupt herkommen.

Sylvia Krupicka schickt ihre Leserinnen und Leser auf eine atemberaubende Zeitreise. Sie beschreibt dabei Grenzüberschreitungen, die über alle Maßen zeitlos sind.


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periplaneta

Alle Figuren in diesem Buch sind Erfindungen der Erzählerin. Keine ist identisch mit einer lebenden oder toten Person. Ebenso decken sich beschriebene Episoden nicht mit tatsächlichen Vorgängen.

Sylvia Krupicka: „Mädchen zwischen den Zeilen”, Roman 1. Auflage, März 2024, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2024 Periplaneta - Verlag und Medien Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlinperiplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Lektorat: Thomas Pappritz , Thomas ManegoldCover: Thomas Manegold (Made with Adobe Firefly) Autorinnenfoto: Roland BrechtSatz & Layout: Thomas Manegold

Lied-Zitate: Vicky Leandros: „Theo, wir fahr’n nach Lodz“ (Fritz Löhner-Beda, Subtext: L. Leandros, K. Munro).John Lennon, Yoko Ono: „Give Peace a Chance“ (J. Lennon) „Your Mama Don’t Dance” (Kenny Loggins, Jim Messina)

Made in EU print ISBN: 978-3-95996-272-8epub ISBN: 978-3-95996-273-5

Sylvia Krupicka

Mädchen zwischen den Zeilen

Roman

periplaneta

Teil 1

Ich habe vor meinen Eltern Angst. Beide zusammen sind in der Lage, mein Leben auszulöschen. Ich bin in ihren Augen nur zugelassen, weil ich mir das Leben bei ihnen hart erarbeite. Sie mögen mich erst, wenn andere Menschen mich grüßen oder loben. Dann haben meine Eltern das Gefühl, dass ich doch ein guter Mensch bin. Es ist mein Glück, dass es Menschen gibt, die nicht wissen, was meine Eltern über mich denken. Es hält sie davon ab, mich zu töten.

Verliebt sein

Erst fünf Tage sind von meinen acht Ferienwochen vergangen und schon bin ich mittendrin. Die Zeit fliegt an mir vorbei wie nichts. Denn: Ich bin verliebt. Pillepalle-Liebesbriefe in Geheimschrift waren gestern. Jetzt gibt es Mario und er ist auch verliebt in mich. Ich habe es gehört und gesehen, beim Versteckenspielen. Ich entdeckte sie im Schacht zum Kellereingang: Mario samt kleiner Schwester und seinen Freund René. Eng aneinandergerückt und sich völlig sicher, nicht gefunden zu werden, alberten die drei dort herum. Mario hielt seine kleine Schwester im Arm und René neckte ihn, indem er ihm am Ohr zog.

»Rote Ohren. Ein klarer Fall von verknallt.«

»Gar nicht.« Mario lachte und stieß Renés Arm weg.

Aber René hörte nicht auf: »Eine blaue Jacke mit Kragen, ein langer blonder Zopf und sie heißt S …«

»Lass mich in Ruhe!« Mario knuffte René in die Seite.

»Simone, Simone, Simone …«, René sprach meinen Namen schnell hintereinander.

»Du sollst das nicht hinausposaunen, du Blödmann!« Obwohl er René wieder knuffte, lächelte Mario, was René nicht sah. Mario hielt seine Schwester Nele fest umarmt und küsste sie auf ihren Haarscheitel. In mir zog eine warme Wolke auf. Sie wanderte vom Bauch langsam in den Hals hinauf und kitzelte mich dort. Ich drückte mit der Hand leicht an meine Kehle, um nicht zu husten. Sonst hätten sie mich entdeckt, wie ich da hockte und gebannt auf die Versteckten guckte. Ich wünschte mich an die Stelle der kleinen Schwester. Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht, tuschelte ihr ins Ohr und wog sie wie ein Baby hin und her.

Seitdem sitzt die warme Wolke in meinem Bauch und kommt nicht mehr heraus. Ich sehne mich danach, dass er mich genauso umarmt und küsst. Denn die mit dem langen Zopf und der blauen Jacke bin ich.

Mario wohnt nebenan, im Hinterhaus. Dieses Nachbarhaus unterscheidet sich in vieler Hinsicht von meinem. Er lebt im Altbau, ich im Neubau. Obwohl ich Marios Wohnung nie betreten habe, stelle ich mir sein Zuhause oft vor. Ich vergleiche es mit den großen Zimmern von Frau Schultz, denn sie wohnt im Vorderhaus dieses Mario-Aufgangs im Erdgeschoss. Sie ist eine ältere Dame, die ich regelmäßig besuche und ihr dabei im Haushalt helfe. Mit ihren 73 Jahren schafft sie es nicht mehr, Fenster zu putzen, Holz zu hacken und Kohlen zu tragen.

Sooft ich vom Fußabtreter ihrer Wohnung aus über die Holzschwelle in ihr Reich – wie sie immer sagt – eintrete, verschiebt sich die Zeit in wenigen Sekunden um einhundert Jahre. Im Flur liegt ein schwerer dunkelroter Teppich mit Fransen. Kurz darauf laufe ich auf den miteinander verwobenen orientalischen Rankenmustern. Eine riesige schwarze Garderobe mit Messinghaken verdeckt die gesamte Flurwand an der linken Seite. Im Wohnzimmer gegenüber steht ein dunkelgrüner Kachelofen mit verschnörkelten Türen aus Eisen. Weiße Gipsblumen wachsen weit oben in den Ecken der Zimmerdecke. Ein schwarzlackierter gewaltiger Buffetschrank (1) mit Glastüren thront an der Breitseite, daneben quasseln Bubi und Hansi (schon allein die Namen der beiden Wellensittiche sind urzeitlich) in einem goldenen runden Käfig am Fenster. Gegenüber finden das rote Sofa aus Samt, Tisch und Stühle Platz. Sie sind alle mit Häkeldeckchen bedeckt, die überall liegen, auch unter Tischleuchten und den Sammeltassen (2), aus denen wir gemeinsam Kinderkaffee trinken.

Wenn Frau Schultz aus ihrem Buffetschrank die Sammeltassen für uns zusammensammelt, passt die schwarze Farbe des Möbelstückes farblich zu ihren weißen Haaren, die sich in winzigen Löckchen kringeln, wie kleine Sahnebaisers. Ihr Hobby ist Kuchenbacken. Sie backt für alle Leute, die sie besuchen. Für meinen Bruder und mich rührt sie einige Erbsen oder Linsen mit in den Teig hinein. Sie hat sich das ausgedacht, damit wir den Kuchen bis zum letzten Stück aufputzen – wie sie es nennt. Wer eine Erbse findet, bekommt zwanzig Pfennig, wer eine Linse entdeckt, zehn. Dann lacht sie voller Freude mit ihrer hellen, hohen Stimme.

Bei Mario wird es nicht so altmodisch aussehen wie bei Frau Schultz, aber die Zimmer werden ebenfalls hoch und geräumig sein, eben Altbau. Er wird Poster von bekannten Rockgruppen oder Sängern an der Wand haben. Er wird auf seinem Bett liegen, Musik hören und zur hohen Decke schauen, die bestimmt auch mit Stuckverzierungen versehen ist, und er wird hoffentlich an mich denken.

In mein Zimmer passt nur ein Bett, ein kleiner, dicht an die Wand gepresster Schreibtisch, außerdem der Familienesstisch mit vier Stühlen und ein Kleiderschrank.

Mario habe ich in den Jahren zuvor weder besucht noch mit ihm gesprochen. Dabei wohne ich schon lange in der Ernst-Thälmann-Straße. Ein Grund ist, dass er älter ist als ich. Drei Jahre. Im August sind es nur noch zwei, dann werde ich dreizehn. Schon wenn ein Junge zwei Jahre älter ist, interessiert ihn in der Regel eine Jüngere nicht im Geringsten. Aber irgendetwas wird ihm an mir gefallen. Ich wüsste gern, was. Vielleicht sehe ich älter aus? Oder hat er etwa nur Langeweile, weshalb er in den letzten fünf Tagen fast täglich um dieselbe Uhrzeit auf der Straße vor meiner Hausnummer steht?

Jetzt ist es siebzehn Uhr. Ich bin zwar mit dem Abtrocknen vom gestrigen Geschirr fertig, doch das von heute Morgen steht noch ungespült neben dem Becken. Aber mich interessiert mehr, was vor der Haustür los ist, ob Mario schon da ist. Ich ziehe den Müll unter der Spüle hervor und schleppe den schweren Metalleimer zur Tür. Das Treppenhaus ist kühl. Normalerweise springe ich die Treppen herunter, erst zwei Stufen auf einmal nehmend und wenn ich in Schwung bin, vier bis fünf, aber mit dem Eimer funktioniert das nicht. Er schlägt mir gegen die Waden, so schwer ist er.

Mario ist nicht zu sehen. Schade. Schon zweimal war ich eher da als er.

Kerstin, meine beste Freundin, die zwei Etagen unter mir wohnt, sagt immer, dass Jungs so tun, als hätten sie keinerlei Absichten. Nur zufällig stünden sie da und dort und niemals etwa, um ein Mädchen zu treffen. Ich glaube, sie hat recht. Hätte ich die drei nicht belauscht, wüsste ich heute nichts von Marios Verliebtsein und müsste mich allein auf mein Gefühl verlassen. Wahrscheinlich setzen die Jungs voraus, dass Mädchen einen siebenten Sinn haben und wissen, dass dieser oder jener in sie verknallt ist. Aber Jungs, hört her, so ist es nicht! Ich finde es besser, wenn ich gefragt werde, ob ich mich um diese oder jene Uhrzeit da oder dort mit jemand treffen möchte. Aber Mario überlässt das dem Zufall. Oder er geht davon aus, dass ich es so einrichte, am nächsten Tag wieder »zufällig« unten zu sein. Oder diese Lässigkeit zu zeigen, hängt mit seinem Alter zusammen.

Ich gehe an den sechs Aufgängen unseres Neubaublocks (3) vorbei zum Müllhäuschen. Je näher ich dem Ort komme, umso mehr stinkt es. Folgerichtig ist der Geruch am schrecklichsten, wenn ich nahe dran bin. Eine Menge zylinderförmiger Tonnen stehen von einer Mauer eingefasst. Ein Dach gibt es nicht, weshalb die Speisereste von zweihundert Menschen eine Woche lang in der Sonne durchgekocht werden, bevor man sie zu dem anderen Matschmüll von Berlin kippt. Jedes Öffnen einer Mülltonne ist eine Herausforderung: Luft anhalten, Metalldeckel hochdrücken, den Müll aus dem eignen Eimer reinschütten, wegrennen, nach frischer Luft schnappen. Wenn man bei den Tonnen Luft holt, hat man eine Ladung Mülltonnenrülps in der Nase.

Und schon gibt es Probleme! Die ersten drei Tonnen quellen über. Dann folgt eine, deren Deckel geschlossen ist. Da ist Platz. Ich atme tief außerhalb des Gestanks ein, gehe mit schnellen Schritten hin, schnappe mir den Griff und donnere den Deckel hinten an das Mauerwerk. Innen ist das Teil völlig verklebt und verdreckt, weil es niemals ausgewaschen wird. Rotbraune Ofenasche aus dem Winter ist die Grundfarbe, alle anderen Farben ordnen sich unter. Der Gestank übertrifft alles. Zwei grausame Gerüche gibt es immer: faule Kartoffeln und saure Milchtüten. Deshalb ist schnelles Handeln angesagt: Mülleimerdeckel abnehmen, Eimer in Brusthöhe stemmen, ausschütten, zwischen die ekligen Blechtonnen treten, um den Deckel wieder zu greifen und ihn fallen zu lassen, schnell wegrennen. Schepper, schepper. Ich schnappe nach Luft wie nach einem längeren Unterwasserausflug. Dann laufe ich wieder mit leerem Eimer zurück. Aber Mario ist nicht da.

Dabei möchte ich ihm dringend begegnen, denn gestern fiel mir etwas Wichtiges an mir auf. Ich schaute flüchtig in den Flurspiegel und sah mich so, wie mich Mario immer sieht: Über das Gesicht hingen ein paar blonde Haarsträhnen und wellten sich. Die anderen Haare fielen hinten in einem langen Zopf auf die blaue Jacke. Ich sah verdammt gut aus, fand ich. Ganz fest wünsche ich mir, dass er mich heute wieder sieht und sich weiter verliebt, immer mehr und mehr, bis – ich seine Freundin bin.

Ich schlendere vor dem Nachbarhaus herum, die Gardine von Frau Schultz bewegt sich etwas. Schnell ducke ich mich. Einen Arbeitsauftrag kann ich im Moment nicht gebrauchen.

Aus einem weiteren Grund gefällt mir die Situation nicht, denn in einer Viertelstunde kommt mein Vater von der Arbeit. Steigt er in der Mittelstraße aus dem Bus und läuft von dort nach Hause, überschaut er die Ernst-Thälmann-Straße mit einem Blick. Steigt er an der Endstation aus, kommt er direkt auf den Mario-Aufgang zu. Ich sollte zusehen, dass ich ihm hier nicht begegne. Langsam schlendere ich zurück zu meiner Haustür.

Jeden Tag trinkt mein Vater halb sechs am Nachmittag zusammen mit meiner Mutter im Wohnzimmer Kaffee und sie berichten sich alles, was geschehen ist. Wenn ich was angestellt habe, erfährt er es dann. Manchmal weiß ich nicht genau, ob ich an irgendwas schuld bin. Erst wenn er mich ruft, weiß ich, dass es was gibt. Wenn Mutter um fünfzehn Uhr aus der Bibliothek, also von ihrer Arbeit, mit einem zusammengekniffenen Strichmund kommt und sich ins Wohnzimmer verzieht, dann habe ich möglicherweise was angestellt. Das denke ich immer.

Heute ist leider solch ein Tag, an dem ihre Gewitterwolkengedanken durch die Wohnung ziehen. Sie schaut mich entweder kaum an oder sie guckt mich streng an, als hätte ich was getan. Ich kann mich aber nicht erinnern, was das sein soll. Heute zum Beispiel trocknete ich deswegen gleich das Geschirr ab und stellte es weg.

Zu unserer Familie gehört außerdem mein jüngerer Bruder, der Roman heißt. Alle rufen ihn Römi. Römi wird entweder von meiner Mutter nach der Arbeit vom Kindergarten abgeholt, was eher selten der Fall ist, oder von mir. Meistens wird das vor dem Frühstück besprochen.

Meinem Bruder Römi fehlt die Antenne für Gewitterwolkengedanken. Wenn ich das Gefühl habe, die Stimmung ist so dick, dass man sie scheibchenweise aus dem Fenster werfen sollte, lässt er stundenlang auf dem Boden seine Matchboxautos (4) fahren. Er beobachtet die Räder. Er studiert, wie sie sich drehen, wenn er seine Matchboxautos langsam, noch langsamer, schnell, noch schneller, normal und noch normaler fahren lässt. Jetzt liegt er in seinem Kinderzimmer auf der Erde und spielt mit ihnen.

Römi ist es zu verdanken, dass ich wie ein sprechendes Lexikon Begriffe erkläre von denen ich glaube, dass sie unverständlich sind. Angefangen hat das, als er drei Jahre alt war. Ständig wollte er wissen »Hum?« Das hieß bei ihm so viel wie: »Warum?« Jetzt hat sich das bei mir automatisiert, obwohl er gar nicht mehr fragt.

1 Das ist ein Wohnzimmerschrank aus echtem Holz, in welchem unten das selten benutzte gute Geschirr steht und oben die Gläser für Wein und Schnaps hinter Glas ausgestellt sind.

2 Sammeltassen heißen Tasse, Untertasse und Kuchenteller mit Goldrändern und Blumen. Die drei Geschirrteile gleichen Musters bilden ein Gedeck und Gedecke werden gesammelt, weil sie jeweils anders aussehen.

3 Unsere Straße ist zu beiden Seiten mit grauen Neubaublöcken derselben Bauweise gesäumt. Gefühlt gucken Tausende gleich aussehende Fenster auf den dort laufenden Fußgänger. Immer könnte dich irgendjemand gesehen oder beobachtet haben.

4 Das sind kleine Modellautos, die es nur im Westen zu kaufen gibt, auf die allerdings die Jungs in der DDR ziemlich scharf sind. Dafür, dass sie Westgeld kosten, gibt es recht viele hier.

Grenzgebiet

Mit einem Mal schießt mir das Blut in die Wangen, denn Mario und sein Freund René sind zu sehen. Sie stehen beide direkt vor Frau Schultz’ Fenster und schauen ab und zu herüber. Sie unterhalten sich. Wie Kerstin gesagt hat, so tun, als ob nichts wäre, als würden sie nicht warten und mich nicht treffen wollen. Zu blöd, dass ich den dreckigen Mülleimer in der Hand halte, denn jetzt setzen sie sich in Bewegung und schlendern heran.

»Hei, Simone, was machst du mit der Milchkanne (5)?«

René grinst. Sein Gesicht ist bis über die Ohren mit Sommersprossen betupft. Neben Mario sieht er eher aus wie sein jüngerer Bruder, aber er ist gleichaltrig.

»Welche Milchkanne, ist doch ein Mülleimer.« Mit einem Seitenblick streife ich etwas verunsichert den früher weiß gewesenen Metalleimer.

»Milch gibts nicht im Müllhaus!«, kichert René.

Ich schaue mir René von oben bis unten an. »Hast du jemals in deinem ganzen Leben einen Mülleimer in der Hand gehalten oder eine Milch eingekauft?«

»Nee, hat er nicht«, schaltet sich Mario ein. »Er lässt sich abends noch eine Nuckelflasche von seiner Mama machen.«

»Spinnst du? Du bist der, der sich Pudding kochen lässt«, ruft René erbost und schlägt die Richtung zum Müllhäuschen ein. Jetzt ist René beleidigt.

»Wo will René hin?«, frage ich Mario. Zufällig treffen sich unsere Augen. Seine sind blau und um die Pupillen herum blinken kleine braune Sonnenstrahlen auf, die mich nervös machen. Ich würde jetzt gern stundenlang so stehen und ihm in die Augen schauen. Aber da ist die warme Wolke, die sich regt und langsam in den Kopf steigt. Hoffentlich bin ich nicht rot im Gesicht.

»Kommst du mit auf das Grenzgebiet?«, fragt er. »Wir wollen da eine Weile bleiben.«

»Warum?« Ich beobachte, wie sich seine Augen eine Nuance dunkler färben, fast traurig wirken sie. Will er mich wirklich dabeihaben? Wieder einmal flackert hier Kerstins Theorie auf: Jungs denken, dass Mädchen wissen, was Jungs wollen. Aber ich möchte es gern hören.

»War das eine Einladung?«, frage ich Mario. Seine Augen lächeln plötzlich wieder. Das bedeutet ganz sicher ›Ja‹, doch Mario muss, weil er ein Junge ist, etwas anderes sagen: »Wenn du eine brauchst, dann soll es eine sein.«

»Meine Güte«, sage ich, »warum einfach, wenn es auch kompliziert geht.« Diesen Satz habe ich letzte Woche im Bus aufgeschnappt.

René winkt. »Komm mit, Simone, wir zeigen dir wirklich etwas Spannendes!« Na, geht doch! Die haben außerdem ein Geheimnis, das interessiert mich. »Bin sofort da!«, versichere ich ihnen, während ich den Haustürschlüssel aus meiner Jackentasche fingere und zur Haustür laufe.

Seitdem ich die beiden kenne, trage ich ihn nicht mehr um den Hals wie ein Schlüsselkind, sondern in einer Jacken- oder Hosentasche. Das wirkt erwachsener, obwohl es nervt, dass ich ihn dauernd suche. Eine kleine Weile überlege ich, ob ich den Eimer nicht hochbringen sollte, denn Ärger bei meinen Eltern entsteht aus vielen Kleinigkeiten. Andererseits kommt jeden Moment mein Vater und er würde mich aufhalten. Dann wäre es vorbei mit dem Geheimnis aus dem Grenzgebiet. Ich schließe unschlüssig die Haustür auf, vergesse aber meine Grübelei auf der Stelle, denn Mario stößt mich an.

»Du bist!«, ruft er und schon fliegt der Eimer in eine Ecke vom Treppenhaus und ich flitze hinter Mario her, um ihn abzuschlagen.

Wir wohnen an der Berliner Mauer. Mitten durch die Stadt zieht sich eine Grenze, die sich auf mein und unser aller Leben auswirkt. Das gesamte Grenzgebiet vor der Mauer ist eine weitläufige Zone mit unterschiedlichen Flächen. Diese wiederum sind mit Anlagen versehen, die das Betreten verhindern. Aber, es gibt eine Pause. Sie erstreckt sich vom Holzzaun hinter dem Müllplatz bis zum Drahtzaun vor dem Wachturm der Grenzpolizei. Der Turm ist mit zwei Grenzsoldaten besetzt. Jeden Tag gucken sie mit dem Fernglas in der Gegend herum. Sie sollen verhindern, dass jemand hinüberläuft oder wie ein Stabhochspringer mit großem Anlauf und einem langen Stab die Mauer überspringt. Das wäre jedenfalls die von mir erdachte Möglichkeit, über die Betonwand zu kommen.

Die Pause ist vom Wachturm durch den Drahtzaun getrennt, der oberhalb mit Stacheldraht umwickelt ist. Ich habe beiden Bewachern auf ihre Bitte hin schon Schrippen gekauft und hinübergereicht. Einer von ihnen ist dazu vom Turm heruntergekommen. Es war derselbe, der mich darum gebeten und mir Geld durch den Zaun gesteckt hat, aber die Schrippentüte passte dann nicht mehr durch. Ich musste sie noch über den Stacheldraht hinüberreichen.

Wir großen Kinder aus den Neubaublöcken mit den Q3A Wohnungen (6) dürfen hier auf der Pause ungestört spielen, obwohl direkt daneben die Grenzanlagen sind.

Der Wachturm steht auf einem Sandstreifen, der sich wie ein helles breites Band links und rechts hinter dem Zaun entlang schlängelt. Nach Zaun und Sandstreifen kommt eine schmale Teerstraße für die Kübelwagen (7). Die Kübelwagen bringen das Essen für die Grenzer, oder sie bringen neue Grenzer, um die anderen abzulösen. Ich wünsche mir, dass jemand versucht, »rüberzurennen« und ich dem Spektakel mal zusehen kann. Andererseits weiß ich, dass dieser Jemand es lieber nicht versuchen sollte, denn er könnte hinter der Asphaltstraße auf einem grauen Sandstreifen mit kreuzweise stehenden Eisenträgern in die Luft gesprengt oder von Hunden gebissen werden, die an gespannte Drahtseile gebunden sind und angerast kommen. Der Jemand müsste sich an der grauen Betonmauer hochhangeln, an der er sich oben nicht festhalten kann, da die daraufgelegten Betonröhren es verhindern. Der Jemand müsste auf der anderen Seite drei Meter herabspringen, ohne sich die Knochen zu brechen und ohne bis dahin von den Grenzsoldaten angeschossen worden zu werden. Doch dann könnte dieser Jemand sich die besten Hosen der großen weiten Welt kaufen - Levis. Levis sind die Röhrenjeans überhaupt. Die trägt Mario.

Ach ja, Mario. Wenn ich mir über Mario und mich im Zusammenhang mit dem Grenzgebiet Gedanken mache, bekomme ich Bauchschmerzen. Sollte sich was mit uns entwickeln, werde ich ihn besuchen, denn bei mir zuhause darf ich ihn niemals küssen. Bei mir zuhause haben die Wände Augen.

Doch das Hinterhaus, in welchem Mario wohnt, gehört schon zum Grenzgebiet. Das Vorderhaus, in welchem Frau Schultz wohnt, nicht. Wenn Mario Besuch bekommt, ist es seine gesetzliche Pflicht, vorher bei der Polizei einen Antrag zu stellen mit Name und Anschrift derjenigen, die ihn besuchen wird, ergo mit meinem Namen und meiner Anschrift. Der Antrag wird genehmigt oder auch nicht. Außerdem darf der Besuch am Abend nur bis zehn Uhr bleiben. Wie soll das gehen? Selbst jetzt treffen wir uns anscheinend nur rein zufällig. Niemals kann er zu mir sagen: Komm doch mal hoch, ich zeig dir mein Zimmer! Möglicherweise käme sofort die Polizei angetrabt. Warum dieses Gesetz? Tja, der Staat meint, ich würde auf die Idee kommen, bei Mario aus dem Fenster zu springen. Dann lande ich nämlich fast im Westen, obwohl ich den Sprung aus dem dritten Stock, die Sprengminen, die Hunde und außerdem noch die Mauer überleben müsste. Sein Haus steht gleich am Drahtzaun mit dem Stacheldraht, nur hundert Meter entfernt vom Wachturm.

Mich interessiert der Westen nicht so, dass ich da wohnen will. Angeblich wollen das eine ganze Menge Leute, ich nicht, ich will nur zu Mario.

Mario ist jetzt durch den Zaun hinter dem Müllhäuschen gekrochen. Er wartet einen Augenblick, bis ich hinterherkomme und schaut zu mir nach hinten. Dann rennt er los und auch ich beschleunige das Tempo. Schnell macht er einen Sprung zur Seite, als ich ihn fast am hellblauen Nicki (8) erwische. Wir rennen auf gleicher Höhe, aber mit Abstand zueinander. Er ist um einen Kopf größer als ich. Das mag ich und ich mag seine langen blonden Haare. Er hält auf die Brombeerhecken zu. René umkreist ihn wie ein kleiner Satellit seinen Planeten. Plötzlich aber rempelt René Mario an der Schulter an und stößt ihn in meine Richtung.

»Du kannst doch neben ihr laufen, wenn du dir schon so viel Arbeit für sie gemacht hast.« René lacht. Mario knickt mit dem Knöchel auf einem Grasbüschel um und stürzt hin. Ich versuche, nicht auf ihn zu fallen, aber die Geschwindigkeit und das plötzliche Stoppen bringen mich ins Stolpern. Das Ergebnis ist: Wir liegen beide im Sand. Ich hoffe, dass er nicht sauer ist, und schaue in an. Doch Mario scheint sich nie zu ärgern.

René ruft: »Ei, ei, ei was seh’ ich da, ein verliebtes Ehepaar.«

Mario schaut zu René, für einen kurzen Moment überlegt er, ob er ihm was entgegnen soll, dann rappelt er sich auf und reicht mir die Hand.

»Lass den quatschen.«

Ich wüsste gerne, wie er es macht, nicht verklemmt zu sein, denn ich bin es. Meine Hand ist voller Sand und ich bemerke es erst, als ich sie ihm reiche.

»Oh, Tschuldigung.« Ich ziehe die Hand zurück und streiche sie an meiner Jeans ab. Ich habe leider keine Levis. Obwohl meine auch aus dem Westen ist! Als ich sie bekam, war sie hochwasser. Ich setzte einen Ost-Jeansstoff in jedes Hosenbein ein und stickte Blumen darauf, damit sie mir passt. Jetzt fällt der labbrige Ost-Jeansstoff durch die Blumen nicht mehr auf und sie sieht fetzig aus. Blumen auf Kleidung ist »in«. Vor allem hat das nicht jeder. Ich hoffe, Mario sieht das genauso. Er beugt sich zu mir, nimmt meine Hand von der Jeans und zieht mich hoch. Dann tippt er mit den Zeigefinger auf meine Nase und sagt: »Los, komm, Stupsnase.«

Die warme Wolke schwimmt wieder durch meinen Bauch. Sie zieht mich hoch und treibt mich über die weite stopplige Graslandschaft der Pause. Hei, ich bin die Frau von Gojko Mitić (9). Ich reite mit wilder Entschlossenheit und neben mir rennt der Gojko mit wehenden blonden Haaren. (Im Film trägt Gojko natürlich eine schwarze Perücke mit langem Haar.)

Mario holt den Abstand zu René auf und gibt ihm einen kräftigen Schubs. Natürlich geben Jungs das zurück, was sie eingesteckt haben.