Maddrax 513 - Lucy Guth - E-Book

Maddrax 513 E-Book

Lucy Guth

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Beschreibung

Über den Tod hinaus

Die Parallelwelt-Areale halten für Matthew Drax und seine Gefährten nicht nur Gefahren und Schrecken bereit, sondern auch weit angenehmere Überraschungen. Eine solche eröffnet sich ihnen, als Coellen am Rhein von dem Phänomen betroffen wird. Die Stadt stammt aus einer Welt, in der die Daa'muren die Oberhand errungen haben und zum letzten Schlag gegen die Menschen ausholen - und es befinden sich gleich zwei alte Bekannte in diesem Areal. Für sie sind die Jahrzehnte anders verlaufen, doch manches ändert sich nie - im Guten wie im Bösen. Für Matt und Aruula ist es das Wiedersehen mit zwei Toten ...

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Seitenzahl: 146

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Inhalt

Cover

Impressum

Was bisher geschah …

Über den Tod hinaus

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Lektorat: Michael Schönenbröcher

Titelbild: Koveck und Néstor Taylor, Agentur Ortega

Autor: Lucy Guth

Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-8485-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Am 8. Februar 2012 trifft der Komet “Christopher-Floyd” – in Wahrheit eine Arche Außerirdischer – die Erde. Ein Leichentuch aus Staub legt sich für Jahrhunderte um den Planeten. Nach der Eiszeit bevölkern Mutationen die Länder und die Mensch­heit ist degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den Piloten Matthew Drax, “Maddrax” genannt, dessen Staffel durch einen Zeitstrahl vom Mars ins Jahr 2516 versetzt wird. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula erkundet er diese ihm fremde Erde. Bis sie durch ein Wurmloch in ein Ringplanetensystem versetzt werden, während der Mond auf die Erde zu stürzen droht. Matt findet Hilfe und Verbündete und die Rettung gelingt in letzter Sekunde – aber sie hinterlässt Spuren: Areale aus verschiedenen Parallelwelten tauchen plötzlich auf der Erde auf…

Matt und Aruula wissen nicht, was bei dem Wurmloch-Unfall geschah; nur, dass der Mond wieder in seinem alten Orbit ist. Vom Untergang der Kasynari im Ringplaneten-System und dass Colonel Aran Kormak mit seiner Flucht durch das Wurmloch zur Erde die Katastrophe ausgelöst hat, ahnen sie nichts. Sie entdecken fünfzig Kilometer durchmessende Areale von Parallel-Erden, die von einer hohen Dornenhecke umgeben sind, die offenbar die Vermischung beider Welten eindämmen soll. Was hat diese Versetzungen ausgelöst, und kann man sie rückgängig machen? Im Zentrum scheint es jeweils eine Verbindung beider Universen zu geben.

Um weitere Areale aufzuspüren, nutzen Matt & Co. ein im Erdorbit installiertes Satelliten-Netzwerk, das plötzlich auftauchende Polarlichter über dem Ort der Versetzung anzeigt. Mit einem Gleiter des Androiden Miki Takeo können sie den Pflanzenwall überwinden, so auch in Yucatán, wo sie auf eine Metropole von Dinosaurier-Nachfahren stoßen. Einer der Sauroiden, Ydiel, begleitet die Gefährten bei ihrer weiteren Reise. Die führt erst zum Hort des Wissens, wo sie einem Techno-Paten das Geschäft mit dem Zeitstrahl verderben und selbst hineingeraten, wodurch ihre Zellalterung wieder gehemmt wird, und dann nach Rom.

Die Ewige Stadt und fast die ganze Erde wurden in dieser Parallelwelt vom Archivar Patrem kontrolliert. Als Rom nun vom Rest seiner Welt abgeschnitten wird, bringt Patrem Matt unter seine Kontrolle und will Rom opfern, um in Agartha ein neues Machtzentrum zu eröffnen. Er beschädigt ein Artefakt, das ihn vor Verfolgern seiner Spezies schützt, sodass es bald kollabieren wird. Während seine Freunde in Rom um ihr Leben kämpfen, fliegt Matt den Archivar nach Tibet – doch Agartha ist verschwunden! Denn ein Transfer gleich nach dem Wurmloch-Kollaps blieb unbemerkt: Das Königreich wurde in eine Parallelwelt versetzt. Bei der Rückkehr nach Rom wird Patrem Opfer seines eigenen Vernichtungsplans, und während Matt seine Gefährten und einige Hydriten retten kann, verschwindet er zusammen mit ganz Rom – in der Zeit!

Da taucht Kormak auf! Er hat einen Gleiter von Takeo gestohlen und stellt die Gefährten bei Nürnberg zum Kampf. Dabei wird Ydiel von einer Artefaktwaffe getroffen und löst sich auf. Matt kann Kormaks Gleiter lahmlegen, der in einen See stürzt. Die Suche nach ihm bleibt ergebnislos.

Über den Tod hinaus

von Lucy Guth

Das Blätterdach über ihnen war dicht und grün. Der Geruch nach feuchter Erde stieg Aruula in die Nase, während sie den Spuren am Ufer des Bachlaufs folgte. Das Jagdfieber hatte sie gepackt. Gerade wollte sie Maddrax auf der anderen Seite des Bachs auf eine Spur aufmerksam machen, die sich deutlich im schlammigen Boden der Böschung abzeichnete, als sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Eine vermummte Gestalt brach zwischen den hochaufragenden Farnen hervor!

„Maddrax, Vorsicht!“, schrie Aruula. Ein Nosfera, durchfuhr es sie. Warum sind wir nicht gewarnt worden? Die hagere Kreatur hob die rechte Hand. Eine Strahlenwaffe richtete sich auf Maddrax.

Ihre Warnung kam zu spät! Maddrax, der am Ufer hockte, schnellte herum und griff gleichzeitig nach seiner Pistool. Zwischen ihm und dem Nosfera waren es vielleicht vier Schritte; so breit war der kaum knöcheltiefe Bachlauf.

Vielleicht wäre Maddrax sogar schnell genug gewesen. Aber durch die abrupte Bewegung rutschte sein Fuß im schlammigen Untergrund weg und er verriss den Schuss, der ins Leere ging. Der Nosfera hingegen traf: In Maddrax’ Brust erschien ein winziges qualmendes Loch. Er brach aufstöhnend zusammen.

„Nein!“, schrie Aruula. Sie stand auf der gleichen Uferseite wie der Nosfera, riss ihr Schwert aus der Rückenkralle und schleuderte es auf den Blutsauger. Der fuhr zu ihr herum. Die Kapuze rutschte nach hinten und entblößte einen kahlen Kopf und tiefschwarze, bösartige Augen. Doch die Bewegung besiegelte seinen Tod: Der Bihänder traf ihm nicht seitlich, sondern durchbohrte ihn von vorn.

Die Waffe entglitt seiner Hand. Der Nosfera taumelte und ging in die Knie. Seine Hände krampften sich um den Bihänder, während er nach hinten kippte. Aruula lief auf den noch zuckenden Körper zu. Sie wollte ihm mit dem Schwert den Kopf von den Schultern trennen.

Doch als sie die Waffe aus der Brust des Nosfera zog, blähte sich der schwarze Mantel plötzlich auf und ein lautes Zischen erklang. Schockiert verharrte Aruula.

Der Nosfera stieß ein Röcheln aus, während heißer Dampf aus der Stichwunde hervorschoss wie aus einem Kessel.

Sein Kopf – was ist mit seinem Kopf?, dachte Aruula. Der bleiche Schädel schwoll an wie ein Kadaver in der Sommerhitze und verformte sich. Die schmalen Hände wurden zu krallenbewehrten Klauen, die ebenso wie der Kopf von winzigen silbrigweißen Schuppen besetzt waren.

Der scheinbare Blutsauger richtete sich auf. Durch die aufgerissene Kutte war die klaffende Wunde gut zu sehen. Auch, dass der Dampfstrahl plötzlich verebbte und sich die schuppigen Wundränder wieder schlossen.

Aruula erstarrte. Das ist kein Nosfera! Das ist …

Mit einem Fauchen stürzte sich der Daa’mure auf Aruula. Instinktiv sprang sie zurück, schwang das Schwert und trennte ihm den deformierten Schädel vom Leib. Der Daa’mure stürzte vor Aruulas Füßen zu Boden, und dieses Mal rührte er sich nicht mehr.

Aruula beachtete ihn nicht weiter und rannte durch das Wasser auf die andere Seite des Baches, wo Maddrax zusammengekrümmt lag. Sie kniete sich nieder und drehte ihn auf den Rücken. Er hustete und stöhnte schmerzerfüllt.

„Wudan sei Dank, du lebst“, sagte Aruula erleichtert. Sie sah allerdings sofort, dass es nicht gut um ihn stand. Er brauchte schnellstens Hilfe.

Sie schob ihren Arm unter seinen Oberkörper, um ihm hoch zu helfen. Maddrax stöhnte vor Schmerz. Dann riss er erschreckt die Augen auf, starrte an ihr vorbei. „Aruu-“, begann er – und brach ab. Ein kleiner schwarzer, leicht rauchender Punkt erschien auf seiner Stirn. Maddrax’ Blick brach.

Einige Sekunden starrte Aruula ihn verständnislos an. Dann begriff sie und fuhr herum. Hinter ihr stand die schuppige Nosfera-Kreatur. Zwischen ihren Schultern ragte ein neuer, rudimentärer Kopf auf. Ich hätte die Waffe an mich nehmen müssen, dachte Aruula noch, während sie auf den Abstrahlpol des Strahlers starrte.

Dann wurde alles dunkel – für immer.

Coellen im Jahr 2520

Die untergehende Sonne färbte den Abendhimmel rötlich. Von der Wildblumenwiese vor dem Haus wehte ein süßer, angenehmer Duft herüber, der vom nahenden Sommer kündete. Sie hatten im Freien gegessen, um den schönen Abend zu genießen.

Rulfan lehnte sich entspannt zurück und nippte an seinem Biir. Er musste aufpassen, dass er es dabei nicht versehentlich mit einem Schluck austrank.

„Das ist einfach kein Gefäß für ein richtiges Biir“, sagte der Albino mit widerwilligem Spott und reichte das Glas, das gerade mal so breit wie zwei seiner Finger war, an seine Frau Maleen weiter, damit sie es wieder auffüllte. Sie lachte leise und stand auf, holte den Krug aus der Küche und erfüllte seinen Wunsch.

„Sei froh, dass es kein Coelsch ist. Im Übrigen verstehe ich in dem Punkt die Coelleni genauso wenig wie du“, sagte sie und warf ihre hüftlangen braunen Haare zurück. „Das Biir, das wir in Dysdoor1) brauen, ist um Längen besser und wird in richtigen Krügen ausgeschenkt. Aber hier bekomme ich ja nur dieses dünne wässrige Gebräu.“

Rulfan packte sie um die Hüften und zog sie auf seinen Schoß. „Ich werde trotzdem beides vermissen – das Biir und dich.“

„Ist das nun ein Kompliment oder nicht?“ Maleen gluckste belustigt.

„Dein Lachen ist mein Lieblingsgeräusch“, sagte Rulfan und küsste sie lange und ausgiebig. Sie strich mit den Fingern zärtlich durch seine langen weißen Haare.

„Ich werde dich auch vermissen“, sagte sie, als sie wieder zu Atem kam. „Ich hasse es, dass du schon wieder gehen musst.“

Rulfan seufzte. „Fang nicht wieder davon an. Du weißt, dass ich keine andere Wahl habe.“ Sie schwiegen einige Augenblicke vertraut und genossen die kostbaren Sekunden, die sie gemeinsam vor ihrem kleinen Haus verbringen konnten.

„Was denkst du – wann wird Honnes in Coellen eintreffen?“, fragte Maleen schließlich, während das letzte Licht des Tages schwand und die Stadt mit dem dunklen Tuch der Nacht einhüllte.

„Es wird nicht mehr lange dauern.“ Rulfan runzelte die Stirn. „Vielleicht ist es schon morgen so weit. Und dann ziehen wir weiter zum Kratersee.“

Der Druck von Maleens Armen wurde fester, so als wollte sie Rulfan in Coellen festhalten. „Ihr seid nicht genug, und das weißt du auch. Ihr habt gegen die Daa’muren keine Chance.“

Rulfan runzelte die Stirn. Maleen war eine starke Frau – nur einer der Gründe, aus denen er sich vor zwei Jahren in sie verliebt hatte. Es sah ihr weder ähnlich, zu klammern, noch übertrieben ängstlich zu sein. Doch dumm war sie auch nicht. „Auf dem Weg nach Zentral-Ruland werden noch weitere Heere zu uns stoßen“, sagte er und strich ihr über die Unterarme. „Du weißt, es ist unsere …“

„… unsere letzte Chance, ich habe es verstanden“, unterbrach ihn Maleen. Es klang nicht ungeduldig, nur resigniert.

Ein helles Quäken ertönte im Haus: das unzufriedene Schreien eines Säuglings, der nach seiner Mutter verlangte.

„Das ist auf jeden Fall nicht mein Lieblingsgeräusch.“ Rulfan seufzte. „Du weißt, ich vergöttere Leonard, aber ich liebe ihn am meisten, wenn er satt und zufrieden ist.“

Malens fröhliche Natur setzte sich durch; sie lächelte wieder und löste sich von Rulfan. „Warte ab – wenn er etwas älter als vier Monate ist, wird er häufiger zufrieden sein. Aber momentan bleibt mir nichts anderes übrig, als dem Rufen des jungen Herrn zu folgen.“

Auch Rulfan erhob sich. Er atmete tief ein und streckte sich. „Es ist spät, wir müssen ohnehin hineingehen.“

Das Haus war nicht sehr groß und bestand aus nur einem großzügigen Raum und einer Küche.

Maleen hatte Leonard bereits aus seinem Körbchen genommen und an die Brust gelegt. Das Schreien verklang abrupt, als der kleine Junge gierig zu saugen begann.

Rulfan trat zu seiner Frau, die sich mit dem Kind auf das Bett legte, und hockte sich vor sie hin. „Du hast es gut“, sagte er zu seinem Sohn und stupste ihn liebevoll mit dem Finger an, was das Kind mit einem unwirschen Grunzen quittierte. Ganz offensichtlich wünschte der junge Gebieter, bei seinem Mahl nicht gestört zu werden. Rulfan lachte. „Ich bin froh, dass ihr hier in Sicherheit seid, wenn ich unterwegs bin.“

Maleen streichelte das Köpfchen ihres Sohnes, das von feinem hellblondem Flaum bedeckt war. „Was heißt schon sicher? Die Daa’muren können auch Coellen jederzeit überrennen.“

„Bisher konnten wir die Stadt erfolgreich gegen die Schuppenköpfe verteidigen, und dabei wird es bleiben.“

„Warum bist du dir da so sicher? Wenn du und die besten Kämpfer fort seid …“

„Dann sind immer noch genug gute Kämpfer hier, um Coellen weiterhin zu halten – und vergiss Kanzler Jannes Attenau nicht.“ Rulfan grinste breit. „Ich traue dem alten Haudegen zu, dass er zur Not mit der Mistgabel in der Hand selbst auf die Stadtmauer steigt, um sich den Daa’muren entgegen zu stellen.“

Das brachte Maleen zum Kichern. „O ja, das wäre ein schönes Bild.“ Sie wurde wieder ernst. „Aber was ist, wenn ihr keinen Erfolg habt?“

Rulfans Lächeln verblasste bei ihren Worten ebenfalls. „Dann sind wir alle verloren.“ Maleen wusste das genauso gut wie er; er brauchte ihr nichts vorzumachen. Die Daa’muren hatten in den vergangenen Jahren ihre Herrschaft auf der Erde gefestigt. Sie hatten Bomben aus der Zeit vor Kristofluu eingesammelt, wie Rulfans Verbündete herausgefunden hatten. Atombomben, um genau zu sein. Er hatte sich am Kratersee selbst davon überzeugt. Die Daa’muren hatten die Bomben strategisch platziert, angeblich, um durch gezielte Explosionen die Erde näher an die Sonne heranzuschieben – ohne Rücksicht auf die Zerstörung, die sie damit anrichten würden.

Welchen Grund sie dafür hatten, das war Rulfan und seinen Verbündeten nach wie vor ein Rätsel. Aber was es auch war: Sie mussten dieses Vorhaben verhindern, wenn die Erde nicht zu einem lebensfeindlichen, verstrahlten Gesteinsklumpen werden sollte.

Vielleicht hätte alles anders kommen können, wenn damals nicht … aber daran wollte er nicht denken.

„Wir müssen Erfolg haben“, wiederholte Rulfan fest.

Maleen ergriff seine Hand. „Bei Wudan, das werdet ihr!“

Die Erde erzitterte – erst leicht, dann immer stärker. Die Fensterscheiben klirrten leicht in ihren Rahmen.

„Was ist das?“, fragte Maleen alarmiert und presste den Säugling fester an sich. Leonard, der gerade eingeschlafen war, wachte wieder auf und weinte erneut los. Rulfan war längst aufgesprungen und bereit, seine Familie ins Freie zu bringen. Aber das Beben war nicht sehr stark, und es hielt auch nicht lange an. Als er sicher war, dass es verebbte und es im Haus sicher war, lief Rulfan hinaus.

Das Erste, was er sah, waren blaugrüne Lichtschlieren am Himmel, wabernd wie Polarlichter. Seltsam und faszinierend, aber sicher nicht gefährlich.

Die Straße, in der sein Haus stand, lag am Rand des alten Zentrums, in der Nähe des Wudan-Tempels, der früher „Schwarzer Dom“ genannt worden war. Seitdem die Coelleni die alten Stadtmauern zum großen Teil wieder aufgebaut und die Stadt auf diese Weise zu einer Trutzburg gegen die Daa’muren gemacht hatten, waren viele Menschen nach Coellen geflüchtet und hatten sich hier niedergelassen, innerhalb und außerhalb der Mauern. Nun jedoch kamen alle Anwohner aus ihren Häusern. Ein paar weinten, alle redeten aufgeregt durcheinander.

„Was war das? Das Beben – und dann die Geisterlichter! Ist Wudan erzürnt?“, wandte sich eine Frau, die seit einigen Monden ein paar Häuser weiter lebte, an den Albino.

Geisterlichter! Rulfan grinste innerlich. Dass die Leute immer gleich in Aberglauben verfielen, wenn etwas Ungewöhnliches passierte …

„Die Götter haben damit bestimmt nichts zu tun“, antwortete Rulfan.

Er pfiff leise. Hinter seinem Haus schoss ein weißer Lupa hervor und drückte sich an Rulfans Beine. „Komm, Wulf“, sagte der nur. Als er losmarschierte, folgte ihm Wulf wie ein heller Schatten.

Rulfan schlug den Weg zum Rathaus ein. Sicher wusste Kanzler Attenau auch noch nicht, was los war, aber Rulfan war sicher, dass er einer der ersten sein würde, der es erfuhr. Und dann wollte er in seiner Nähe sein.

Rulfan traf etwa zeitgleich mit einem Späher bei Attenau ein. Der Späher – Rulfan kannte ihn als Dietra – war bereits dabei, dem Kanzler mit großen Gesten von dem zu berichten, was er gesehen hatte.

„Da sind Lichter am Himmel, blau und grün!“, rief Dietra.

Rulfan nickte. „Nordlichter“, sagte er. „Ich habe sie auch gesehen. Ungewöhnlich für diese Breitengrade.“

Der Späher nickte eifrig. „Ich war gerade in den Außenbezirken unterwegs, als die Erde sich aufbäumte und die Lichter am Himmel erschienen.“

Attenau sah Rulfan an. „Hängt das irgendwie zusammen?“, fragte er. Er wirkte verstört und längst nicht so selbstsicher wie sonst.

Der Albino zuckte die Schultern. „Nur, wenn etwas beides ausgelöst hat“, sagte er. „Aber dafür sehe ich keinen Anhaltspunkt. Beides sind normale Naturerscheinungen.“

Gemeinsam mit den Ratsmitgliedern, die zum Rathaus gelaufen kamen wie die Mäuse zum Käse, berieten sie, was zu tun war, kamen jedoch zu keinem Schluss. Nachdem sie etwa eine Stunde diskutiert hatten, stürmte ein Bürger in den Raum.

„Seht euch das an!“, rief er aufgeregt. „Das ist Orguudoos Werk!“ Damit riss er einen der schweren Vorhänge im Ratssaal zur Seite und deutete zum Horizont: „Seht nur!“

Rulfan riss verblüfft die Augen auf. Der Himmel verfärbte sich im Osten rötlich. „Das ist … unmöglich.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Die Sonne ist doch erst vor anderthalb Stunden untergegangen. Wie kann die Morgendämmerung jetzt schon einsetzen?“

„Schaut doch, die Sterne verblassen!“, rief Mikek, einer der Räte.

„Orguudoo hat damit nichts zu tun“, knurrte Rulfan. „Ich wette, das ist eine Teufelei der Daa’muren.“ Sein Herz krampfte sich zusammen. Hoffentlich haben sie nicht bereits mit der Zündung der Bomben begonnen. Diesen Gedanken sprach er jedoch nicht laut aus.

Ohne sich näher zu erklären, pfiff er nach Wulf, verließ das Rathaus und wühlte sich durch den Pulk der auf der Straße wild durcheinander wuselnden Menschen. Er erreichte die trutzige Stadtmauer nach wenigen Minuten, nutzte die in die Mauern eingelassenen Trittsteine und zog sich auf den Wehrgang hinauf. Das kostete ihn nur wenig Anstrengung, aber Wulf musste unten warten.

Oben angekommen, legte Rulfan die Hände auf die Mauer und spähte darüber hinweg. Auch überall zwischen den vereinzelten Häusern vor der Stadtmauer standen aufgeregte Menschen. Zwischenzeitlich war es zwar ruhiger geworden, doch die Entdeckung, dass es plötzlich früher Morgen war, hatte viele wieder aus den Häusern getrieben.

Im Osten verwandelte sich der Himmel immer mehr in eine Melange aus Rosa, Weiß und Hellblau.

Es waren keine Daa’muren zu sehen, und Rulfan zweifelte inzwischen auch daran, dass das Licht von der Explosion Hunderter Atombomben herrührte. Das war ein ganz normaler Sonnenaufgang.

Trotzdem konnte er nicht ausschließen, dass die Gestaltwandler dahintersteckten. Dass sie vielleicht schon näher waren als gedacht und das Beben und das Nordlicht vom Probelauf einer neuen Waffe ausgelöst wurden.

Höchste Zeit, den lenkbaren Ballon endlich fertigzustellen, dachte Rulfan.