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Joyce Summer

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Beschreibung

WER SCHÖN SEIN WILL, MUSS LEIDEN Madeiras Damen sind glücklich. Endlich gibt es eine Schönheitsfarm nur für sie. Auch Leticia Avila und ihre Freundin Inês zieht es sofort in den Tempel der Schönheit. Mit Schlammpackungen, Peelings und Massagen lassen es sich die beiden gut gehen. Dann aber machen sie die Bekanntschaft der unangenehmen Journalistin Sofia Lima, die auf den Spuren Kaiserin Sisis die Insel und das Personal der Schönheitsfarm in Unruhe versetzt. Comissário Avila passt derweil auf seine kleine Tochter auf und denkt darüber nach, seine Arbeit im Polizeipräsidium zugunsten seiner Familie zu reduzieren. Doch als ein paar Tage später die abgetrennte Hand der Journalistin und kurz danach ihre Leiche auf dem Gelände eines ehemaligen Nonnenklosters gefunden wird, muss er sich entscheiden: Will er weiter den Hausmann geben oder sein Team rund um Subcomissário Vasconcellos unterstützen – vor allem, da Avila den Hauptverdächtigen besser kennt, als ihm lieb ist. Der gemütliche Avila ermittelt wieder auf Madeira. Der besondere Portugal Krimi mit Inselfeeling für alle Liebhaber von Regionalkrimis aus südlichen Ländern.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Joyce Summer

 

Madeiraschweigen 

Kriminalroman

Zu diesem Buch:

WER SCHÖN SEIN WILL, MUSS LEIDEN

Madeiras Damen sind glücklich. Endlich gibt es eine Schönheitsfarm nur für sie. Auch Leticia Avila und ihre Freundin Inês zieht es sofort in den Tempel der Schönheit. Mit Schlammpackungen, Peelings und Massagen lassen es sich die beiden gut gehen. Dann aber machen sie die Bekanntschaft der unangenehmen Journalistin Sofia Lima, die auf den Spuren Kaiserin Sisis die Insel und das Personal der Schönheitsfarm in Unruhe versetzt.

Comissário Avila passt derweil auf seine kleine Tochter auf und denkt darüber nach, seine Arbeit im Polizeipräsidium zugunsten seiner Familie zu reduzieren.

Doch als ein paar Tage später die abgetrennte Hand der Journalistin und kurz danach ihre Leiche auf dem Gelände eines ehemaligen Nonnenklosters gefunden wird, muss er sich entscheiden: Will er weiter den Hausmann geben oder sein Team rund um Subcomissário Vasconcellos unterstützen – vor allem, da Avila den Hauptverdächtigen besser kennt, als ihm lieb ist.

 

Über die Autorin:

Joyce Summer ist das Pseudonym einer Hamburger Krimiautorin, die in ihrem vorherigen Leben als Projektmanagerin gearbeitet hat und sich jetzt ganz ihrer großen Leidenschaft, dem Schreiben, widmet.

Die Nähe zu Wasser hat es Joyce Summer angetan. Sei es in ihren Büchern, die immer Schauplätze am Wasser haben, oder im echten Leben beim Kajakfahren auf Alster und Elbe.

 

 

 

Juli 2020

Copyright Text

© Joyce Summer 2020 

Umschlaggestaltung:

Kay Fretwurst - im Auftrag für BoD

Bildmaterial:

Portuguese_eyes / Vitor Oliveira (Casa de Montezelo)

CC BY 2.0 – https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

 

Korrektorat: Claudia Heinen

 

Joyce Summer

c/o AutorenServices.de

König-Konrad-Str. 22

36039 Fulda

 

www.joycesummer.de 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, fotografischen oder elektronischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften und Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung und Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen, auch einzelner Text- und Bildteile und der Übersetzung in andere Sprachen

 

Bereits erschienen:

Serie »Pauline Mysteries«

Mord auf der Levada – Paulines erster Fall

Malteser Morde – Paulines zweiter Fall

Paulines Weihnachtszauber – Eine weihnachtliche Kurzgeschichte

Serie »Avila Mysteries«

Madeiragrab – Comissário Avila ermittelt

Madeirasturm – Comissário Avilas zweiter Fall

Serie »Strauss Mysteries«

Tod am Kap – Captain Pieter Strauss ermittelt

 

 

 

 

 

 

Personenverzeichnis

Hier finden sich die Hauptcharaktere der Geschichte:

Brigada de homicídios und weitere Polizei

Comissário Fernando Avila – leitet die Abteilung »Brigada de homicídios« und kämpft sonst mit seiner neuen Rolle eines frischgebackenen Vaters.

Subcomissário Ernesto Vasconcellos – seine rechte Hand mit einer Schwäche für die Frauenwelt, Spitzname »Belmiro«.

Aspirante a Oficial Filipe Baroso – jüngstes Mitglied im Team.

André Lobo – Director de Departemento, Chef von Avila und seinem Team, wird auch »der Wolf« genannt.

Doutora Katia Souza – zuständige Gerichtsmedizinerin und Patentante von Vasconcellos.

Sargento Manuel (Manel) Fonseca – Hundeführer und Herrchen von Galina.

Intendente Costa – der prinzipientreue neue Chef der Polícia de trânsito, der Verkehrspolizei. 

Weitere Personen:

Leticia Avila – Ehefrau von Avila, Katalanin und Mutter.

Inês Lobo – Ehefrau von Avilas Chef und Leticias beste Freundin.

Romario Palmeiro – Inhaber von Palmer’s Winery und Hotelier.

Aleen Lamont – Besitzerin einer Orchideenzucht und Vermieterin von Vasconcellos.

Nuno – Aleen Lamonts alter Gärtner und Pflanzenexperte.

Carlos Santos – Müllmann, Gärtner und Mann für alles in Garajau, Freund von Avila.

Sofia Lima – Journalistin und Gast in der Quinta da beleza.

Isabel Delgado – Inhaberin von Quinta da beleza.

Clara Pinto – Kosmetikerin von Quinta da beleza.

Dunja – Kosmetikerin von Quinta da beleza.

Abadessa Benedita – ehemalige Äbtissin des Klosters Mosteiro de Santa Maria-a-Velha.

Jaimy Dias – Bruder von Clara Pinto.

Engenheiro José Cunha – zuständig für die Wasserversorgung rund um Camacha.

1893:

Baroness Anna Concini – Hofdame.

Gräfin Janka Mikes – Hofdame.

Gräfin von Hohenems

Constantin Christomanos – Griechischlehrer.

Gabriella Andrade – Großmutter von Aleen Lamont.

 

»Man braucht keinen poetischen Tod zu suchen, wenn man einen so schönen Tod vor sich hat.«

 

(Kaiserin Elisabeth von Österreich beim Anblick des Cabo Girão, Madeira)

 

 

PROLOG

Mit einem gurgelnden zornigen Plätschern brach sich das klare Wasser an dem Unrat, der es auf seinem üblichen Weg hinderte. Auf der Suche nach einem neuen Bett hinunter ins Tal sickerte das kühle Nass der Levada in den Boden.

»Krxxxx.«

Die Spitze der gebogenen kleinen Harke kratzte über den unebenen Stein des Wasserkanals. José verursachte dieses Geräusch ein unangenehmes Kribbeln auf der Kopfhaut.

Merda, Mist. Warum tue ich das hier eigentlich? Wo sind diese verdammten Levaderos? Wieso mache ich hier ihre Arbeit?, schimpfte er vor sich hin. Er griff in seine Hosentasche, um sein telemóvel, sein Mobiltelefon, herauszuholen. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Bolas, oh nein. Das Ding liegt immer noch zu Hause auf dem Nachttisch. Wie oft will ich heute noch darauf reinfallen? 

Ich hätte im Bett bleiben sollen, wünschte er sich, um sich gleich darauf zu korrigieren. Nein, doch besser nicht, denn zu Hause war auch seine Frau und der wollte er im Moment lieber nicht begegnen. Sie hatte ihm heute Morgen eine Riesenszene gemacht, weil er am Abend davor mal wieder mit den Jungs in der Bar Camarão ein paar Poncha zu viel gehabt hatte. Wieso konnte sie ihm nicht den kleinsten Spaß gönnen? Sie hatte ja keine Ahnung, wie stressig seine Tage waren. 

Von morgens bis abends war er unterwegs, um dafür zu sorgen, dass die Bauern in Camacha und Umgebung ihr Wasserstündchen bekamen. Gerade in diesem Sommer, in dem die heißen Winde der Sahara viel früher als sonst eingesetzt hatten, hing alles von seiner Arbeit ab. Und jetzt das hier. Als er heute Morgen von Palheiro Ferreiro zur Levada dos Tornos lief, hatte er schon geahnt, dass etwas nicht in Ordnung war. Die Levada war komplett trockengefallen. Sofort hatte er zu seinem telemóvel greifen wollen, nur um festzustellen, dass es nicht in seiner Hosentasche steckte. Fluchend machte er sich an den Aufstieg in Richtung Pico Alpires. Wenn er Glück hatte, hatte einer der Bauern schon das fehlende Wasser bemerkt und Pascoal, den Vorarbeiter der Levaderos, angerufen. Aber wahrscheinlich klingelte gerade bei ihm zu Hause sein Telefon Sturm und sein Weib würde heute Abend noch mehr Grund für schlechte Laune haben. Er folgte der Levada um eine Biegung und sah schon von Weitem Senhora Baroso auf sich zu humpeln. Die alte Frau hatte an der Levada eine Parzelle gepachtet, um mit Salat und anderem Gemüse ihre kleine Rente aufzubessern.

»Engenheiro, ich habe schon versucht, Sie zu erreichen! Meu deus, mein Gott, es ist eine Katastrophe, das Wasser ist weg!« Sie deutete auf ihr Feld. »Sehen Sie, wie welk mein Salat aussieht? Wenn er heute nichts zu trinken bekommt, habe ich nichts, was ich am Freitag auf dem Mercado dos Lavradores in Funchal verkaufen kann.« Sie schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an, als ob er schuld an der leeren Levada war.

»Senhora Baroso, ich werde gleich nach dem Rechten sehen! Es wird irgendwo Steinschlag gegeben haben und die Levada weiter oberhalb verstopft haben. Haben Sie vielleicht schon versucht, Pascoal zu erreichen?«, setzte er nach.

»Aber Sie haben uns doch gesagt, wir sollen Sie anrufen, wenn das Wasser nicht kommt, Engenheiro«, erwiderte die Alte. »Gilt das jetzt etwa nicht mehr?«

»Desculpe, Entschuldigung. Sie haben alles richtig gemacht. Ich versichere Ihnen, Sie bekommen Ihr Wasser.« Mit einem kurzen Kopfnicken verabschiedete er sich und stapfte leise vor sich hin schimpfend die Levada hoch.

Senhora Baroso blieb nicht die Einzige, die ihm an diesem Morgen Vorwürfe machte. Sein Weg entlang der Levada glich einem Spießrutenlauf vorbei an den wartenden Bauern. Erleichtert atmete er auf, als der Lauf der Levada die Felder verließ und durch ein Stück Lorbeerwald emporstieg. Immer noch war kein Wasser in dem kleinen Kanal. Die Ursache musste weiter oben liegen. Demnächst musste die Abzweigung der Levada da Serra do Faial kommen. Ob sie auch betroffen war? Er ging um die nächste Biegung, vorbei an einem blühenden roten Fingerhut, für dessen Schönheit er aber heute keinen Blick übrig hatte. Da sah er es. Es war kurz hinter der Gabelung. Vor dem Gitter, das Zweige und Blätter abfangen sollte und so den Levaderos die Arbeit erleichterte, hatte sich ein größerer Haufen gebildet. Die Levada hatte sich davor so aufgestaut, dass sie bereits über ihr etwa achtzig Zentimeter tiefes Bett floss. Vorsichtig beugte er sich über den Wasserlauf, um das Geröll näher in Augenschein zu nehmen. Es half nichts, er musste versuchen, mit seinen Mitteln das Hindernis zu beseitigen. Wenn er jetzt loszog, um Pascoal zu erreichen, würde zu viel Zeit vergehen und die aufgebrachten Bauern am Ende noch seinen Chef anrufen. Fluchend zog er seine Schuhe aus, krempelte die Hose hoch und stieg in den gestauten Teil der Levada. Caramba, verdammt, das Wasser ist scheißkalt. Er zog die aus einer Zinke bestehende gebogene Harke aus seinem Hosenbund, mit der er normalerweise die kleinen Steine an den Abzweigungen der Levada zu den Feldern forträumte, um die Bewässerung zu regulieren. Etwas Besseres hatte er nicht. Mit dem Zinken pulte er abgestorbene Äste und abgeknickte Farnzweige aus dem Geröll. Das tote Holz und die Zweige warf er im hohen Bogen in Richtung der Lorbeerbäume. Immer noch machte das Wasser keine Anstalten, auf der anderen Seite durch das Gitter zu fließen. Wieder bohrte er die Harke in das Geröll und etwas Größeres löste sich. Das musste der Übeltäter sein. Er griff ins Wasser. Seine Hände umschlossen etwas Weiches, was sich irgendwie klebrig anfühlte. Que diabo …? Was zum Teufel? Fassungslos starrte er auf den Gegenstand, den er eben herausgeholt hatte: eine Hand mit abgeplatztem Nagellack. An der Stelle, an der einmal ein weiblicher Arm gewesen war, war nur noch ein ausgefranster Stummel. Mit einem Schrei ließ er die Hand wieder in die aufgestaute Levada fallen. Platschend tauchte sie in das klare, kalte Wasser ein. 

 

Drei Tage vor dem Fund

»Fühl mal meine Haut.« Leticia Avila streckte ihrer Freundin Inês die rechte Hand entgegen.

»Wie die Haut von eurer kleinen Felia! Was hast du für eine Behandlung machen lassen? Das brauche ich auch!«

»Ich habe ein Meersalzhandpeeling gehabt mit einer anschließenden Algenmaske. Verrate es Fernando nicht, aber ich habe mir gleich einen großen Tiegel von dem Peeling für zu Hause gekauft. Sündhaft teuer, aber ich kann mich nicht erinnern, schon einmal so weiche Hände gehabt zu haben.«

»Du brauchst dich vor deinem Mann doch nicht zu rechtfertigen! Schließlich hast du das letzte Jahr doch damit verbracht, dich um Felia zu kümmern. Es wird Zeit, dass du dir auch mal etwas gönnst.« Inês schüttelte den Kopf.

»Ich weiß, aber ich habe schon ein schlechtes Gewissen, weil dieses Wochenende so viel kostet. Dafür hätten Fernando, Felia und ich auch zu meiner Mutter nach Barcelona fliegen können.«

»Hättest du dich dabei entspannt? Fernando wäre doch die meiste Zeit von seiner Schwiegermutter genervt gewesen und du hättest dich dabei aufgerieben, zwischen den beiden zu vermitteln.«

»So schlimm ist das Verhältnis der beiden gar nicht«, protestierte Leticia. Insgeheim musste sie ihrer Freundin aber recht geben. Der letzte Besuch ihrer Mutter Sabrina bei ihnen in Garajau war eine Katastrophe gewesen. Fernando hatte sich am Ende sogar freiwillig beim Wolf, seinem Chef, gemeldet, um alte ungelöste Fälle zu bearbeiten. Nur, um Sabrinas spitzer Zunge und ständiger Kritik an seinen Vaterqualitäten zu entgehen.

»Ach, ist das so?« Inês musterte sie und zog dabei ihre frisch gezupften Augenbrauen hoch. »André hat mir erzählt, dass Fernando bei ihm im Büro war und um Arbeit gebeten hat.« Leticia seufzte. Ihrer Freundin konnte sie nichts vormachen. Das lag nicht nur an Inês’ wachem Verstand, sondern ebenso an der Tatsache, dass ihr Mann André Lobo, genannt »der Wolf«, Fernandos Chef bei der Mordkommission war.

»Hast du mitbekommen, was vorhin oben auf der Empore vor den Behandlungsräumen los war?«, wechselte Leticia schnell das Thema. »Ich dachte, es würde gleich Tote geben, so laut hat diese Journalistin herumgeschrien. Leider konnte ich nicht genau verstehen, worum es ging.«

»Oh, das kann ich dir sagen.« Inês schaute kurz über die Schulter, um zu prüfen, ob sie auch alleine im Aufenthaltsbereich der Schönheitsfarm waren, der im offenen ebenerdigen Bereich des Gebäudes lag. Hier trafen sich die ausschließlich weiblichen Gäste zwischen ihren Anwendungen zu Kräuter- oder Entschlackungstees oder um ihre Mahlzeiten einzunehmen. »Sofia Lima ist nicht besonders glücklich mit dem Ergebnis von Claras Behandlung.«

»Du meinst aber nicht das Permanent-Make-up, von dem sie uns heute Morgen am Frühstückstisch so ausführlich erzählt hat? Das täte mir wirklich leid.« Leticia kicherte. Schadenfreude war normalerweise nicht ihr Ding. Aber in diesem Fall … Der einzige Wermutstropfen an dem Aufenthalt hier war die Tatsache, dass man ihnen Sofia Lima an den Tisch gesetzt hatte und sie jetzt bei jeder Mahlzeit die endlosen Tiraden der Lissabonnerin ertragen mussten. Im Vertrauen hatte sie ihren Tischnachbarinnen erzählt, dass sie Journalistin war. Genau genommen sogar Investigativjournalistin, die quasi Hand in Hand mit der Polizei arbeitete und viele Fälle im Alleingang gelöst hatte. Gerade jetzt wäre sie wieder an einer Geschichte dran. Bei jeder Mahlzeit die gleiche Leier. Zum Glück schien es aber im echten Leben mit ihrer Spürnase nicht so weit her zu sein, da sie nicht herausgefunden hatte, dass sie mit den Ehefrauen der beiden wichtigsten Männer der madeirensischen Mordkommission an einem Tisch saß.

Inês stimmte in Leticias Lachen ein.

»Oh doch, und ich muss gestehen, es tut mir gar nicht leid. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat Clara die Form der tätowierten Augenbrauen anders ausgeführt als abgesprochen. Ich habe nur gehört, dass Sofia beklagte, sie müsse jetzt mit einem Ausdruck ständiger Überraschung herumlaufen.«

»Ich freue mich schon, nachher bei Tisch das Ergebnis zu begutachten.«

Inês wurde wieder ernst. »Mir tut es für Clara leid. Sofia hat damit gedroht, sie zu verklagen. Sie meinte, das grenze schon an Körperverletzung, so wie sie jetzt verunstaltet ist.«

»Arme Clara. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die hier auf der Farm nicht gegen solche Fälle versichert sind. Isabel Delgado macht auf mich den Eindruck einer klugen Geschäftsfrau. Die wird damit umgehen können.«

»Hauptsache, sie entlässt Clara nicht. Das Mädchen hat göttliche Hände. Ich hatte vorhin eine Fußreflexzonenmassage bei ihr. So entspannt war ich noch nie.«

Zwei Stunden später konnten die Freundinnen beim Abendessen das Ergebnis der Tätowierung begutachten.

»Haben Sie gesehen, was diese kleine Schlampe mit mir gemacht hat?«, begann Sofia Lima sofort das Gespräch, kaum das Leticia und Inês Platz genommen hatten.

Am liebsten hätte Leticia so getan, als ob sie keine Veränderung feststellen könnte. Tatsächlich aber bewirkten die hoch aufgemalten Augenbrauen einen erstaunten Ausdruck auf den verhärmten Gesichtszügen der älteren Frau. Allerdings fand Leticia, dass sie dadurch freundlicher aussah als vorher.

»Ich finde, es steht Ihnen gut. Es macht Ihr Gesicht weicher«, erwiderte sie vorsichtig.

»Aldrabona! Blödsinn! Ich sehe aus wie eine aufgeschreckte Kuh!«

»Wenn Clara die Augenbrauen ein wenig breiter zieht und nach unten hin ausfüllt …«, versuchte Inês, die Wogen zu glätten.

»Sie glauben doch nicht, dass ich diese unfähige Person noch einmal an mein Gesicht lasse?«, unterbrach Sofia sie. »Nein, wenn ich mit der fertig bin, kann sie sich einen neuen Job suchen. Besser noch, sie wird das letzte Mal als Kosmetikerin gearbeitet haben. Gleich am Montag werde ich meinen Anwalt anrufen.« Zur Bestätigung zeigte sie den beiden einen Eintrag in ihrem Terminkalender, den sie ständig mit sich herumschleppte, um sich Dinge zu notieren. Dort stand das Wort »Advogado« in Großbuchstaben und war dick unterstrichen.

»Aber damit würden Sie das Leben des Mädchens ruinieren. Gestern Abend waren Sie voll des Lobes, vergessen Sie das nicht. Schließlich hat sie Ihnen so schöne Fingernägel gemacht.« Leticia deutete auf die langen Fingernägel der Journalistin, die mit weiß-rosa Blütenblättern und Strasselementen verziert waren. Sofia hatte ihnen gestern noch versichert, dass Clara tatsächlich keine vorgefertigten Schablonen benutzt hatte, sondern jeden einzelnen Nagel wie ein Gemälde gestaltet hatte.

»Mir doch egal. Das Ergebnis heute zählt und das ist eine Katastrophe. In Lissabon würde so jemand wie diese Clara schon lange nicht mehr arbeiten. Ich sehe die Schlagzeile bereits vor mir: ›Frau auf Schönheitsfarm entstellt‹.«

Leticia merkte, wie sie langsam sauer wurde. Diese Journalistin war furchtbar.

»Ich denke, Sie übertreiben. Wie Inês schon sagte, ein paar kleine Korrekturen und es ist in Ordnung.«

Die Lima stand abrupt auf. Der Stuhl erzeugte ein lautes, quietschendes Geräusch auf den Terrakottafliesen und die Gespräche an den anderen Tischen verstummten.

»Da bin ich aber anderer Meinung! Sie Madereinser stecken alle unter einer Decke! Aber Sie werden noch sehen. Ich lasse mich nicht mundtot machen!« Sie stürmte mit hocherhobenem Kopf aus dem Raum in Richtung des linken Flurtraktes, in dem die Zimmer der Gäste untergebracht waren. Kurze Zeit später verließ sie, den Kopf mit einem bunten Schal verhüllt, die Farm.

»Das ist ja furchtbar. Wenn die Lima einen Artikel über diesen Vorfall schreibt, werden der Quinta da beleza die Gäste ausbleiben. Wer weiß, was für einen Schmutz sie sich ausdenkt. Die Frau hat die ganzen letzten Tage hier ständig herumgeschnüffelt und rumgemäkelt. Jetzt sieht es tatsächlich so aus, als ob sie etwas gefunden hat, um die Quinta schlecht zu machen. Ich mag keine Journalisten!«, stellte Leticia fest.

»Meine Damen, es tut mir so leid, dass Ihr Aufenthalt durch diesen kleinen Vorfall ebenfalls gestört wird. Darf ich Ihnen als Entschädigung eine Packung von unserem wunderbaren Entschlackungstee schenken?« Isabel Delgado war unbemerkt an ihren Tisch getreten.

Leticia wollte sofort ablehnen, aber ein schmerzhafter Tritt ihrer Freundin unter dem Tisch hielt sie zurück. Inês nickte begeistert.

»Ja? Wunderbar, ich bin gleich wieder bei Ihnen.« Isabel verschwand mit wiegendem Schritt in ihr Büro.

»Inês, das sollten wir nicht machen! Hast du nicht gesehen, was so eine Packung kostet?«

»Natürlich habe ich das. Der Tee kostet fünfundsechzig Euro. Aber ich bin mir sehr sicher, dass dies nicht der Einkaufspreis ist. Vielleicht hat Isabel sogar Muster von der Firma bekommen und die gibt sie jetzt nur an uns weiter. Außerdem überlege ich schon seit gestern, ob ich diese Entschlackungskur auch zu Hause fortführen sollte. Ein paar Kilo weniger wären nicht schlecht.« Inês kniff sich in ihren Bauch, der sich im Sitzen in einer kleinen Falte über den Hosenbund schob.

Fünf Minuten später kam Isabel mit zwei Packungen des teuren Tees in ihren sorgfältig manikürten Händen zurück. Ein kurzer Blick von Leticia auf die Verpackung bestätigte Inês’ Annahme. Não vender, nicht zu verkaufen, stand auf dem Karton. 

»Ich versichere Ihnen, wir kümmern uns um Senhora Lima, damit sie diesen Aufenthalt doch noch in guter Erinnerung behält«, meinte die junge Chefin und schob sich eine Strähne, die sich aus ihrem sorgfältig gesteckten Dutt gelöst hatte, hinter das linke Ohr. »Clara ist am Boden zerstört und wir besprechen gerade im Team, wie wir das Ergebnis der Behandlung verbessern können.«

»Es tut uns wirklich leid für Sie«, beeilte sich Inês zu sagen, während sie eine der Packungen in ihre wie immer prall gefüllte Handtasche stopfte. »Wir fühlen uns sehr wohl in der Quinta da beleza und haben auch vor, in unserem Golfklub kräftig für Sie zu werben. Es gibt nicht viele solcher Häuser hier auf Madeira, wo man als Frau sich ungestört verwöhnen und ausspannen kann.«

»Vielen Dank, dass Sie für uns Werbung machen wollen.« Isabel klatschte in die Hände. »Wir sind nach der Eröffnung vor drei Monaten noch dabei, uns hier zu etablieren. Ich glaube, Sie sind die ersten Madeirenser, die hier zu Gast sind. Bisher waren es fast ausschließlich Damen vom Festland oder Touristinnen.«

»Sie sollten versuchen, bei den englisch-stämmigen Expats Interesse zu wecken. Die Briten, die nach Madeira ausgewandert sind, sind meist sehr gut situiert und die Damen können Sie bestimmt für diesen kleinen Luxus hier begeistern.«

»Inês hat recht. Sie sollten sich zunächst auf die Zugewanderten konzentrieren«, bestätigte Leticia ihre Freundin. Im Stillen dachte sie: Wenn ich vorher gewusst hätte, wie teuer so ein verlängertes Wochenende wird, hätte ich Inês’ Vorschlag nicht angenommen. Allzu oft werde ich mir so eine Extravaganz auch nicht leisten können. So wird es den meisten hier auf der Insel gehen. Nicht jeder hat so viel Geld wie Inês und der Wolf zur Verfügung. 

»Das ist eine sehr gute Idee! Um auf Ihren Golfklub zurückzukommen: Darf ich Ihnen ein paar Flyer zur Auslage für den Klub mitgeben? Ich würde sie Ihnen auf Ihre Zimmer legen lassen.« Sie blickte die beiden Damen dankbar an. Wie schon die letzten Tage fiel Leticia dabei wieder die ungewöhnliche Augenfarbe der jungen Frau auf. Es war fast veilchenblau. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass Elisabeth Taylor ebenfalls veilchenfarbene Augen gehabt haben sollte, hatte das aber immer für ein Märchen gehalten.

»Siehst du, ich sagte doch, diese Isabel ist eine tüchtige Geschäftsfrau«, meinte Inês, als sie wieder mit Leticia alleine am Tisch saß. »Schau dich doch um, wie sie dieses Hotel innerhalb von einem halben Jahr komplett umgebaut und zu dieser Luxusfarm geformt hat. Ich kenne einige Schönheitsfarmen auf dem Festland. Dahinter muss sich diese wirklich nicht verstecken.«

»Woher diese junge Frau wohl das Geld hat? Denkst du, es gibt noch ein paar reiche Investoren im Hintergrund?«, wollte Leticia wissen.

»Wir werden es bald erfahren. Auf dieser Insel ist kein Geheimnis lange sicher.«

Garajau, Bar Camarão, ebenfalls drei Tage früher, 17:03

»Urso, lass das!« Avila beugte sich zu seinem Hund, der mitten auf der überdachten Terrasse saß, den Kopf im Nacken, und heulte.

»Wie ich sehe, bist du mit deiner kleinen Bagage hier.« Ana kam aus dem Lokal und stellte Avila eine Schale mit Tremoços hin. Sofort hörte Urso auf zu heulen und schnupperte an ihren Beinen. Es könnte ja sein, dass sich dort eine Leckerei für ihn versteckte.

Die Kellnerin tätschelte Ursos Kopf. »Für dich habe ich auch gleich etwas, mein Schöner. Wir haben in der Küche ein paar Chouriços. Der Koch merkt gar nicht, wenn ich ihm eine für dich stibitze. Aber zuerst lasse ich mir von deinem Herrchen erklären, was es mit dem Heulen auf sich hat.« 

»Frag mich nicht, Ana. Seit ein paar Wochen hat er diese Marotte. Sobald ein Auto mit Sirene vorbeikommt, setzt er sich hin und spielt den Wolf, der den Mond anheult. Es macht mich wahnsinnig.«

»Vielleicht hat er sich das bei Galina abgeschaut?«

»Bei Fonsecas ausgebildetem Polizeihund? Die würde im Dienst sogar still liegen bleiben, wenn ihr ein Hase über die Schnauze springt. Nein, auf die Idee ist Urso von ganz alleine gekommen. Gott sei Dank scheint es Felia nicht aufzuregen. Sie schläft wie ein Stein.« Er deutete auf den Buggy, den er in die Ecke der Terrasse geschoben hatte. Felias Kopf war auf die Brust gesunken und der kleine Stoffhase, den sie kurz vorher noch fest umklammert hatte, war zur Seite gerutscht.

»Lass mich mal eure kleine Schönheit sehen.« Ana ging zum Buggy. Felia hob den Kopf und blickte sie aus großen Augen an. »Von wegen Schlafen! Dein Mädchen bekommt alles mit!« Sie strich der Kleinen mit dem Finger leicht über die Wange. »Darf ich sie hochnehmen?« Als Avila nickte, schnallte sie Felia los und nahm sie vorsichtig auf den Arm. »Was für eine weiche Haut! Dazu dieser Babygeruch. Ach, Babys riechen so gut.« Ana setzte Felia auf ihre Hüfte, was mit einem erfreuten Quieken erwidert wurde. »Sie ist schon ganz schön groß geworden. Wie alt ist sie jetzt?«

»Übernächste Woche wird sie ein Jahr«, verkündete Avila und streckte die Brust vor.

»Läuft sie schon?«

»Nein, da lässt sie sich Zeit. Sie kann aber schon alleine aufrecht sitzen und sie liebt es, wenn man sie an beiden Händen festhält und sie mit den Beinen hüpfen lässt.« Das ließ sich Ana nicht zweimal sagen und probierte mit Felia dieses Kunststück aus. Die beiden hatten gerade ein paar Meter zurückgelegt, als das Quietschen einer Mülltonne Carlos, Avilas besten Freund, ankündigte.

»Boa tarde«, grüßte der Müllmann, nachdem er die Tonne links neben dem Eingang auf der Straße geparkt hatte. Wie immer hatte er dabei bedacht, sie so hinzustellen, dass sie keinen der Fußgänger oder Gäste behinderte.

Ana schnallte die protestierende Felia wieder im Buggy fest und drückte ihr den Stoffhasen in den Arm.

»Zwei Caneca für euch? Oder wollt ihr Poncha?«

»Für mich heute kein Poncha, Ana. Und bitte nur ein Fläschchen Bier«, winkte Avila ab.

»Du willst deine Tochter heute Abend wohl nicht mit einer Alkoholfahne ins Bett bringen«, neckte ihn Ana. »Für dich auch nur eine Garaffa, Carlos?« Er nickte kurz und sie verschwand im Inneren der Bar.

Avila wendete sich an Carlos, der sich schweigend einen Stuhl herangezogen hatte und auf den Tisch starrte.

»Ist alles in Ordnung bei dir, meu amigo, mein Freund? Du bist so still.«

Carlos schreckte aus seinen Gedanken auf. Er fuhr sich durch die Haare und ein leichtes Lächeln ging über sein Gesicht.

»Viel zu tun.« Avila wusste, dass Carlos mehrere kleine Jobs parallel hatte und gut beschäftigt war. Mal passte er auf die Häuser der viel reisenden Bewohner von Garajau auf, dann wieder verdiente er sich Geld mit Hausmeistertätigkeiten in Hotels oder Apartmentanlagen hinzu. Normalerweise strahlte der Müllmann dabei Ruhe aus und vergaß nie, die Schönheit der Welt um sich herum zu genießen. Aber heute war es anders. Carlos’ graue Haare waren ungekämmt und standen ihm in Wirbeln vom Kopf ab. Das sonst immer saubere und gebügelte weiße T-Shirt unter seiner Latzhose war zerknittert und wies Schmutzränder am Hals auf. Unter den Augen hatten sich Tränensäcke gebildet.

Carlos bemerkte die vorsichtige Musterung durch seinen Freund und hob abwehrend beide Hände.

»Mach dir keine Sorgen, Fernando. Jetzt, wo ich hier bei dir sitze, ist alles gut. Erzähl mal, hast du etwas von Leticia gehört? Und vor allem, wie fühlt es sich an, so als Strohwitwer mit Kind alleine zu Hause? Kommt ihr klar?«

»Wir verstehen uns prächtig! Außerdem hat Leticia dafür gesorgt, dass ich nicht groß nachdenken muss. Die ganze Kühltruhe ist voll mit Vorgekochtem. Sowohl für Felia als auch für mich. Alles mit kleinen Zettelchen versehen, sodass ich uns jeden Tag mithilfe des Ofens oder der Mikrowelle ein Festmahl zubereiten kann.« Avila lachte leise, als er sich die lange Liste vor Augen führte, die Leticia ihm an den Kühlschrank gehängt hatte. Dort war für ihre gesamte Abwesenheit minutiös aufgeschrieben worden, was er zu beachten hatte. Auch an die Telefonnummern des Kinderarztes und des Tierarztes hatte sie gedacht. Meine Leticia, was wäre ich nur ohne sie, sinnierte er.

»Du hast eine wunderbare Frau«, durchbrach Carlos seine Gedanken. »Andere Männer haben mit den Frauen nicht so viel Glück wie du.«

Gerade wollte Avila nachfragen, ob sein Freund an jemand Bestimmtes dachte, als Ana mit ihrem Bier erschien.

»Saúde. Lasst es euch schmecken.« Sie stellte zwei Flaschen eisgekühltes Coral vor die Freunde. »Braucht ihr ein Glas?«

»Ist doch schon im Glas«, kam Avilas üblicher Spruch an der Stelle, bevor er die beschlagene Flasche zum Mund führte. Ana lachte und verschwand.

»Und wie gefällt es den beiden Damen auf der Schönheitsfarm?«, wollte Carlos wissen.

»Sie sind begeistert. Wahrscheinlich werde ich Leticia gar nicht wiedererkennen, wenn sie am Mittwoch wiederkommt.«

»Deinen Kontostand wahrscheinlich auch nicht«, lachte Carlos.

»Du hast recht. Es ist teuer. Aber ich wollte, dass Leticia sich etwas Gutes tut. Die letzten Monate waren sehr anstrengend für sie. Du weißt ja, wie katastrophal das Wochenende im Februar war.«

»Hat sie Folgeschäden von der Vergiftung?«

»Nein, es ist alles gut gegangen. Aber nur, weil der Wolf und Palmeiro so geistesgegenwärtig waren. Wenn sie mit mir alleine gewesen wäre, wäre sie jetzt tot.« Avila schluckte.

»Ich erinnere, dass du in der Nacht einem Mörder bei schwerstem Sturm und Unwetter hinterhergelaufen bist, nur um deine Tochter zu retten. Du musst dir wirklich keine Vorwürfe machen!«

»Für meine Familie würde ich alles opfern, auch mein Leben. Du verstehst das vielleicht nicht.«

»Sei dir versichert, ich verstehe das …« Carlos’ Stimme brach und er nahm einen großen Schluck Bier.

»Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?« Avila überlegte, wie wenig Einzelheiten er von dem Leben seines Freundes kannte. Hatten sie je über Carlos’ Familie geredet? Hier auf Madeira wohnte der Müllmann allein. Wie der Comissário kam auch Carlos vom Festland. Allerdings lebte er bereits auf Madeira, als Avila 2008 auf die Insel zwangsversetzt wurde. Mehr Einzelheiten wusste Avila nicht. Immer, wenn er versucht hatte, etwas mehr über das Vorleben seines Freundes zu erfahren, hatte dieser abgeblockt.

»Es wird alles gut«, kam wieder eine ausweichende Antwort.

Avila beschloss, nicht weiter nachzufragen. Sein Freund hatte ein Recht darauf, seine Gedanken für sich zu behalten. Wenn Leticia oder Inês hier wären, würden sie anfangen zu bohren. Aber wir Männer tun so etwas nicht.  

»Wie wäre es doch noch mit einem Poncha? Das Bier war so klein, ich könnte noch einen vertragen, bevor ich nach Hause gehe«, wechselte er zu einem unverfänglicheren Thema.

Carlos schüttelte den Kopf.

»Es tut mir leid, aber heute Abend habe ich nicht so viel Zeit. Ich muss gleich los.« Er leerte seine Flasche und schob den Stuhl zurück.

Avila war etwas überrascht über den plötzlichen Aufbruch, beschloss aber, noch eine Weile den lauen Abend zu genießen. Er holte sich die aktuelle Ausgabe der Diário de Notícias vom Nachbartisch und begann zu lesen.

Die Tageszeitung war voll mit Berichten über das anstehende Weinfest, die berühmte »Festa do Vinho«. Ab Ende August würde wieder Ausnahmezustand in Funchal und in Câmara de Lobos herrschen, wenn die Weinbauern traditionell die Weinernte feierten.

Avila stöhnte. Gerade hatten sie die Rali Vinho da Madeira hinter sich gebracht, bei der die Rennfahrer wie die Verrückten über die Insel rasten, und jetzt gab es schon das nächste Fest. In dieser Zeit, mit dem Auto nach Funchal zur Arbeit zu fahren, würde wieder fürchterlich werden. Schade, dass Vasconcellos jetzt direkt in der Hauptstadt auf der Orchideenfarm wohnte. Es war so praktisch gewesen, als dieser ihn jeden Morgen auf seinem Weg von Camacha in Garajau am Kreisel neben der Tankstelle aufgelesen hatte. Aber vielleicht reduziert sich mein Parkplatzproblem ja bald, dachte Avila. Mal sehen, was Leticia von der Idee hält. Wir müssten uns etwas einschränken, aber es könnte funktionieren. 

Nach einer halben Stunde war die dünne Zeitung ausgelesen und Avila begab sich entlang der Hauptstraße zurück nach Hause. Spontan hielt er noch bei der Pastelaria, um sich zwei noch warme Queijadas einpacken zu lassen. Die Frischkäsetörtchen würde er nachher beim Bier auf seiner Terrasse genießen. Als er den leichten Anstieg der kleinen Seitenstraße zu ihrem Haus hoch ächzte, hatte er kurz ein schlechtes Gewissen, dass er wieder schwach geworden war. Wieso eigentlich?, dachte er. So wie Leticia am Telefon klingt, wird sie ab der nächsten Woche wieder diäten wollen. Irgendein Idiot hat ihr auf der Farm den Unsinn in den Kopf gesetzt, dass sie zu dick ist. Das heißt dann auch für mich, dass ich kürzertreten muss. Leticia wird keine große Lust haben, mit knurrendem Magen für mich zu kochen. 

Zu Hause angekommen, brachte er Felia sofort zu Bett. Sie war schon in der Bar eingeschlafen und er musste das kleine Bündel nur noch vorsichtig aus dem Karren heben und in ihr Gitterbettchen legen. Er verzichtete auf das Windelwechseln und den Schlafanzug für die Kleine, um sie nicht zu wecken. Gut, dass Leticia das nicht sah. Aber solange sie nicht da war, hatten Felia und er eigene Regeln. Leise platzierte er das Babyfon neben dem schlafenden Kind und ging hinunter zur Küche.

Dort holte er sich ein eiskaltes Coral aus dem Kühlschrank und legte die beiden lauwarmen Törtchen auf einen Teller. Er schaffte es gerade noch ins Wohnzimmer, bevor das Telefon klingelte. Das musste Leticia sein, die sich versichern wollte, dass alles in Ordnung war.

»Cara minha, ich habe mir schon gedacht, dass du das bist«, nahm Avila nach einem kurzen Blick auf das Display den Anruf entgegen.

»Ist alles okay bei euch? Ich habe schon vor einer halben Stunde angerufen, da war aber niemand da.«

»Wir haben noch einen kleinen Abendspaziergang gemacht. Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.«

»Lass mich raten, dieser Spaziergang hat dich auf direktem Wege in die Bar geführt. Du weißt doch, was ich davon halte, wenn du Felia dorthin mitnimmst!«

»Wir haben uns ein stilles Plätzchen gesucht«, beschwichtige Avila. »Ana findet übrigens, dass Felia schon sehr groß geworden ist.«

»Ich vermisse euch.« So schnell, wie sich Leticia aufgeregt hatte, war ihr Zorn wieder verflogen.

»Wir vermissen dich auch, cara minha. Hast du denn keine gute Zeit?«, setzte Avila nach. Bei dem Geld, das er für diesen Urlaub ausgab, musste sie ihm wenigstens den Gefallen tun, es zu genießen.

»Doch, doch, die Quinta ist wunderbar. Die Menschen hier sind allerliebst und es ist schön, sich verwöhnen zu lassen.«

»Und diese Journalistin, die dich und Inês so nervt? Ist sie jetzt freundlicher?«

»Im Gegenteil.« Leticia erzählte Avila von den Vorfällen des Tages. »Zum Glück ist sie heute Abend außer Haus zu einer Verabredung. Derjenige tut mir jetzt schon leid, bei der Laune, die sie heute verbreitet hat. Inês und ich sind ernsthaft am Überlegen, ob wir Isabel bitten, uns an einen anderen Tisch zu setzen.«

»Das solltet ihr tun. Es kann doch nicht sein, dass euch diese Frau den gesamten Urlaub mit ihren Launen verdirbt!«, bestärkte Avila sie. Beide ahnten noch nicht, dass diese Maßnahme nicht mehr notwendig sein würde.

 

 

 

 

23. Dezember 1893

»Heute früh nichts geschossen. Fahre Abends auf das Dampfschiff und pirsche noch morgen früh und Abend, worauf ich nach Buda-Pest reise. Wetter bessert sich. Es geht mir sehr gut. Bin hier nicht zum Schreiben gekommen. Auf baldiges Wiedersehen.«

(Telegramm Kaiser Franz Josef von Österreich an die Kaiserin)

»Eure Ma…«

»Wie sollen Sie mich nennen, meine Liebe?«

Baroness Anna Concini biss sich auf die Zunge. Es war richtig, dass sie schon hier an Bord der »Greif« die korrekte Anrede übte. Die anderen Hofdamen waren schon länger im Dienst und den im Ausland bevorzugten Titel bereits von vielen Reisen gewöhnt.

»Ich meine, Eure Durchlaucht. Ist das Wasser zu Eurer Zufriedenheit temperiert?«

»Es muss noch kälter sein. Sind Sie sicher, dass Sie die sieben Grad eingehalten haben? Es kommt mir zu warm vor. Ich musste heute Morgen auf der Waage sehen, dass es fast 98,4 Pfund waren. Holen Sie mir noch mehr Eis!«

Anna rief nach einem der Diener und bat ihn, noch weitere Eiswürfel für das Badewasser zu holen. Als sie die Würfel in die Wanne gleiten ließ, lief es ihr kalt den Rücken herunter. Das konnte doch nicht gesund sein? Wieso diese Sorge um das Gewicht? Sie sah nur, wie schmal und verloren die hochgeborene Dame in dem Badezuber wirkte.

»Der Kapitän meinte, es käme von Norden Wind auf und zu unserer Sicherheit müsste er die Maschinen wieder starten. Würden Eure Durchlaucht das Bad unter diesen Umständen beenden wollen?«

»Gut, bringen Sie mir meinen Morgenmantel. Hat der Kapitän Ihnen gesagt, wann wir Madeira erreichen?«

»Der Wind soll sehr günstig aus Nordosten blasen. Unter Segeln können wir es bis heute Nachmittag schaffen, meinte er.«

»Das sind doch gute Nachrichten. Sagen Sie bitte der Coiffeurin, dass sie sich bereithalten möge.« Sie richtete die schmale Gestalt zu ihrer vollen Größe auf. Dabei überragte sie die zierliche Gräfin um fast einen Kopf. »Ich möchte, dass wir gleich an Land gehen können, sobald wir angelegt haben. Ich muss mir dringend die Beine vertreten.«

Drei Stunden später sahen sie die steilen Hänge der Vulkaninsel vor sich. Kaum war die Jacht in Sichtweite des sonnengelb strahlenden Forts São Tiago, ertönten Kanonenschüsse. 

»Was hat das zu bedeuten? Wie kommen die Menschen darauf, eine Gräfin von Hohenems mit Salutschüssen zu begrüßen?«

Anna merkte, wie ihr unter dem strengen Blick ihrer Herrin der Schweiß trotz des kühlen Fahrtwindes den Rücken herunterlief.

»Ich versichere Euch, Eure Durchlaucht, dass niemand von der Besatzung oder eine von uns Euren Besuch angekündigt hat.«

»Ist schon gut, mein Kind. Wahrscheinlich müsste ich ein anderes Schiff als dieses benutzen, um wirklich unerkannt zu bleiben. Es wäre auch zu schön gewesen. Bitte sagen Sie den anderen Damen und dem Griechen Bescheid, dass sie sich für den Landgang bereithalten sollen.«

Eine Stunde später betrat Anna, die junge Baroness aus Südtirol, zum ersten Mal die berühmte Blumeninsel. Auf der Promenade warteten mehrere Ochsenkarren auf ihre Ankunft und die Möglichkeit, die Neuankömmlinge durch Funchal zu fahren.

»Wir brauchen die Karren nicht!«, beschloss die Gräfin von Hohenems. »Auf, auf, ich möchte heute noch hoch nach Monte.« Mit weit ausladenden Schritten führte sie die kleine Gesellschaft, die neben drei Hofdamen noch aus dem Griechischlehrer Constantin Christomanos bestand, an in Richtung der Kathedrale Sé. 

»Lassen Sie uns zunächst schauen, ob die Confiserie noch existiert, in der ich vor fast dreißig Jahren diese köstliche Marmelade gefunden habe! Natürlich gibt es die Süßigkeit morgen in der Frühe nur, wenn wir heute noch einen gehörigen Marsch zurücklegen.« Keine zehn Minuten später betraten sie den kleinen Laden in der Rua das Pretas mit der himmelblauen Fassade, auf der in schwarzer Schreibschrift »Confeitaria Felisberta« stand.

Die junge Verkäuferin begrüßte sie höflich.

»Boa tarde, minhas Senhoras. Guten Tag, meine Damen. Womit kann ich Ihnen dienen?«

Die Gräfin von Hohenems trat an den gläsernen Tresen und klappte den schwarzen, filigranen Spitzenfächer zu, hinter dem sie ihr Gesicht versteckt hatte.

»Haben Sie noch die berühmte Marmelade, die es vor dreißig Jahren bei Ihnen zu kaufen gab?«

»Sie meinen sicher unsere Feigenmarmelade nach dem Rezept von Senhora Felisberta?«

»Genau die«, bestätigte die Gräfin. »Baroness, sind Sie so lieb und kaufen mir zwei Gläser?« Sie klappte ihren schwarzen Fächer wieder auf und rauschte mit wiegendem Schritt zur Tür hinaus.

Anna, die sich gar nicht an den Auslagen sattsehen konnte und gerne noch ein Stück von dem berühmten Honigkuchen probierte hätte, zahlte schnell und lief hinterher. Zwar hatte sie ihre Stellung erst kurz, aber bereits verstanden, dass ihre Herrin eine Getriebene war und sich nie lange an einem Ort aufhielt.

Auf der Straße drehte sie sich um. Wo waren die anderen? Ein Junge mit zwei Milchkannen, die er an einem Stock über seinen Schultern balancierte, sah ihre Verzweiflung. Mit einem kurzen Nicken des Kopfes deutete er nach rechts.

»À direita, Senhorita.«

Dankbar stürzte Anna die Straße herunter. Hinter der nächsten Biegung rannte sie beinahe Christomanos um, der mit weit aufgerissenen Augen den Ausführungen der Herrin folgte. Der junge Grieche hatte sich, wie gewöhnlich, großzügig mit Parfüm besprüht. Anna wartete nur darauf, dass er deswegen wieder einen Tadel einstecken würde. Es war bekannt, dass die hochgeborene Dame zwar Stunden mit Schönheitsritualen verbrachte, aber es hasste, wenn Menschen in ihrer Umgebung zu stark parfümiert waren.

»Baroness, da sind Sie ja! Sehen Sie, was ich gefunden habe. Ein eiserner Nagel, wenn das nicht Glück bedeutet! Wahrlich, das können wir in diesen Zeiten gebrauchen.« Die Gräfin steckte den Nagel in das kleine schwarze Spitzensäckchen, das sie um ihr Handgelenk trug. »Geschwind, wenn wir uns beeilen, können wir in einer Stunde oben in Monte sein.«

 

Quinta da beleza, zwei Tage vor dem Fund, 08:41

»Ich habe es gleich gewusst! Diese Frau hat kein Benehmen! Hast du mitbekommen, wie sie die letzten Tage überall herumgeschnüffelt hat? Ich habe sie vorgestern direkt vor der Privatwohnung der Chefin angetroffen. Gut möglich, dass sie sogar drin war. Als ich sie zur Rede stellte, behauptete sie frech, sie hätte sich verlaufen. Dass ich nicht lache!«

»Zumindest hätte ich erwartet, dass ihr Geld wichtig ist und sie keinen teuren Termin schwänzt. Die Chefin wird nicht begeistert sein. Ich habe schon alles für die Cellulite-Behandlung vorbereitet. Wenn ich jetzt das Salzpeeling und die aufgewärmte Mineralienpackung in den Ausfluss spüle, gibt es Ärger.«

Durch die nicht ganz geschlossene Tür hörte Leticia, wie sich ihre Kosmetikerin Dunja mit einer ihrer Kolleginnen unterhielt. Am liebsten hätte sie laut gerufen: »Gebt die warme Mineralienpackung mir!«

In einem Anfall von Wahnsinn, wie sie jetzt fand, hatte sie sich von Inês zu der Cooling-Behandlung überreden lassen. Ihre Beine waren mit kalten, nassen Stoffbinden, die zuvor in eine Mischung aus Kampfer und Menthol getaucht worden waren, umwickelt. Seit einer Viertelstunde fror sie so erbärmlich, dass ihre Zähne angefangen hatten aufeinanderzuschlagen. Sehnsüchtig dachte sie an die gestrige Moorpackung zurück: Das schöne Gefühl, als die Wärme langsam über den Rücken in alle Glieder sackte. Sie seufzte leise. Sofort steckte Dunja ihren Kopf durch den Türspalt. Der süßliche Geruch ihres Parfüms wehte hinein.

»Dona Leticia? Ist alles in Ordnung?«, wollte sie wissen.

»Wie lange muss ich noch?«, presste Leticia zwischen ihren Lippen hervor.

»Eigentlich noch zehn Minuten. Wenn Sie wollen, können wir die Behandlung gerne abbrechen. Sie ist dann aber nicht so wirkungsvoll …« Den Rest des Satzes ließ Dunja ausklingen.

»Ich schaffe das schon«, beeilte sich Leticia zu sagen. Sie meinte, im Ton der Kosmetikerin einen leichten Vorwurf gehört zu haben. Ich bin so dumm, dachte sie, als sie wieder alleine war. Wieso habe ich mir von Inês den Floh ins Ohr setzen lassen, dass ich dringend abnehmen sollte? Hat sich Fernando schon einmal wegen meiner Kurven beschwert? Andererseits, wenn ich mir hier die Damen aus Lissabon und Porto so ansehe … Ich muss langsam anfangen, etwas zu tun. Jünger werde ich auch nicht. 

Sie biss die Zähne zusammen und fixierte die Decke. Zu allem Überfluss bewirkten die sphärischen Klänge, die die Kosmetikerin als beruhigende Musik eingestellt hatte, dass sich ihre Blase meldete. Wieso muss so eine Entspannungsmusik immer das Tropfen oder Plätschern von Wasser enthalten? Als Dunja nach zehn Minuten das Zimmer betrat, war Leticia völlig am Ende. Sie hatte das Gefühl, die ganze Erholung der letzten zwei Tage sei verpufft. Sobald die junge Frau die Beine entwickelt hatte, griff Leticia zu ihrem Bademantel und machte sich auf den Weg zu den Toiletten, auf der anderen Seite der Empore.

Glücklich und deutlich entspannter verließ sie ein paar Minuten später die Örtlichkeiten. Ihr Blick fiel durch das große Panoramafenster, an dem sie vorbei musste, um zurück zu den Behandlungszimmern zu gelangen. Unten im Garten sah sie Clara mit einem bulligen Mann im Gespräch. Die junge Kosmetikerin fuchtelte wild mit den Armen. Gehörte der bullige Typ zu den Angestellten? Neugierig blieb Leticia stehen und beobachtete das ungleiche Paar. Clara mit ihrem perfekt frisierten Pagenkopf, die schmale Gestalt eingehüllt in den rosafarbenen Kittel der Schönheitsfarm, den alle Kosmetikerinnen trugen. Der Bulle mit einem weißen Muskelshirt, aus dem tätowierte, sehr kräftige Oberarme ragten. Überhaupt machte der Mann einen ungepflegten Eindruck. Die halblangen Haare fielen ihm in strähnigen Locken über die Stirn. Ob die junge Frau Hilfe brauchte? Leticia sah noch genauer hin. Nein, es wirkte eher so, als ob Clara ihm eine Standpauke hielt. Mit leicht gesenktem Kopf hörte er zu und nickte immer nur kurz. Eine Hand legte sich auf Leticias Schulter. Sie zuckte zusammen und drehte sich um.

»Dona Leticia, ich warte schon auf Sie! Die Behandlung ist doch noch nicht abgeschlossen.« Dunja blickte sie vorwurfsvoll aus sorgfältig geschminkten Augen an. »Was machen Sie denn hier?« Sie versuchte, über Leticias Schulter hinunter in den Garten zu schauen.

Schnell deutete Leticia auf das große Meerwasseraquarium, das als Raumteiler zwischen dem Wartebereich und den Behandlungsräumen aufgebaut war. Zwischen bunt angestrahlten Korallen wiegten purpurfarbene und weiß-schimmernde Seeanemonen ihre Tentakeln wie kleine Finger im Wasser. Ein schöner Anblick, aber Leticia wunderte sich, dass das Aquarium überhaupt keine Fische zu enthalten schien. Sie wendete sich ab und blickte zu Dunja.

»Ich wollte nur kurz auf die Toilette, bin aber dann bei diesem Anblick hängen geblieben. Gibt es denn gar keine Fische in dem Aquarium?«

Dunja schnaubte.

»Das Aquarium können Sie sich auch später noch ansehen. Das läuft nicht weg. Mit etwas Ruhe entdecken Sie vielleicht dann die Fische.« Der strenge Ton der Kosmetikerin erinnerte Leticia an ihre alte Lehrerin. Fehlte nur noch, dass Dunja ihr gleich eine Strafarbeit aufbrummte. »Sie sollten schleunigst zurück in den Behandlungsraum, Dona Leticia. Ich möchte noch die Lotion mit Meeresalgen auftragen. Sie wirkt wunderbar entschlackend.«

»Wärmt das auch?«, fragte Leticia. Sie hatte immer noch Gänsehaut auf dem ganzen Körper.

»Nein, aber das soll es auch nicht. Wir wollen, dass der Fettstoffwechsel angekurbelt wird, damit alles schön straff wird.« Die etwa fünfzehn Jahre jüngere Kosmetikerin, deren lange, schlanke Beine in engen weißen Hosen unter dem kurzen rosafarbenen Kittel hervorlugten, musterte Leticia von oben bis unten. Diese kam sich in dem Moment vor wie ein Nilpferd, das vor einem arabischen Vollblüter stand. Mit gesenktem Kopf folgte sie Dunja, um den Rest der Behandlung über sich ergehen zu lassen.

Als sie ein paar Stunden später zum kargen Mittagessen auf Inês traf, fror sie immer noch. Und das, trotzdem sie sich unter den Bademantel, in dem die meisten Frauen den ganzen Tag herumliefen, eine lange Jogginghose und einen dicken Baumwollpulli gezogen hatte. Über die Füße hatte sie zusätzlich Wollsocken gestülpt, bevor sie wieder in die Frottee-Pantoffeln geschlüpft war.

Bevor Inês sich neben sie auf den Stuhl sinken ließ, blickte sie sich um.

»Sofia ist immer noch nicht da? Was haben wir für ein Glück! Wahrscheinlich hat sie sich gestern in Funchal die Kante gegeben und liegt jetzt mit einem Kater im Bett. Aber was ist denn mit dir los?« Inês hatte erst jetzt die Aufmachung ihrer Freundin wahrgenommen. »Ist dir etwa kalt?«

»Ich hatte heute Morgen die Cooling-Behandlung«, versuchte Leticia, ihre Kleiderwahl zu erklären.

»Das soll ganz hervorragend sein, habe ich mir sagen lassen!«

»Mag ja sein, aber mir wird einfach nicht warm«, maulte Leticia.

»Sério? Wirklich? Draußen sind es doch fast dreißig Grad!« Inês griff nach Leticias Hand, um sie zu tätscheln. Mit einem kleinen Schrei zog sie ihre Hände zurück. »Du bist ja wirklich eiskalt! Weißt du was, wir bitten Isabel, uns heute Nachmittag die Sauna anzustellen.

---ENDE DER LESEPROBE---