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SALZIGER TOD, BITTERE WAHRHEIT Kommissarin Stine Janssen braucht Erholung und sucht eine Auszeit bei ihrem Onkel im idyllischen Holtenau an der Ostsee. Doch als sie bei einem Helmtauchseminar auf einen Toten stößt, ist es vorbei mit der erhofften Ruhe. Schnell wird Stine klar, dass es sich um Mord handelt. Ist Jan, der attraktive und geheimnisvolle Ermittler aus Südafrika, wirklich auf ihrer Seite oder verfolgt er seine eigenen Pläne? Zwischen der pittoresken Seebadkulisse und den geheimnisvollen Tiefen der Förde entwickelt sich ein gefährliches Spiel aus Intrigen und Verrat, dessen Ursprünge weit in die Vergangenheit von Stines Onkel zurückreichen. Holt ihn sein früheres Leben ein und wird er das nächste Opfer? Der Auftakt zu einer spannenden neuen Küstenkrimireihe für alle Ostseekrimifans und die, die es werden wollen. Endlich lässt Joyce Summer ihre Ermittler auch an deutschen Küsten los. Ihre neue Krimiserie besticht durch die detailiert und liebevoll gezeichneten Charaktere und Spannung bis zur letzten Seite. Für Fans der Captain Pieter Strauss Krimis gibt es ein Wiedersehen mit Jakkals Mulder, Pieters bestem Freund, der sich auf Spurensuche an die Ostsee begibt. Jeder Krimi ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig von den anderen Bänden gelesen werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über die Adresse http://dnb.ddb.de abrufbar.
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September 2024
Copyright Text
© 2024 Joyce Summer c/o autorenglück.de
Franz-Mehring-Str. 15
01237 Dresden
Umschlaggestaltung:
Joyce Summer
Bildmaterial: Pixabay
CC BY 2.0 – https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/
Herstellung: tolino media GmbH & Co. KG
ISBN: 978-3-759-21949-7
Für Heinz
Der alte Löwe streckte seine Glieder und sprang. Das kalte Wasser umhüllte seinen Körper und ein belebendes Prickeln durchströmte Arme und Beine. Als er auftauchte, schüttelte er die Wassertropfen aus seiner Mähne und atmete tief die salzige, nach Algen riechende Luft ein.
Fast wie im Herbst zu Hause, dachte der Mann. Nur ist die Ostsee wärmer als der Atlantik im Schatten des Tafelberges.
Er rückte seine Schwimmbrille zurecht und setzte zum Freistil an.
Mal sehen, wie viele Bahnen ich heute schaffe. Achte auf deine Wasserlage, die Phasen des Armzuges und die Rotation des Körpers, zitierte er seinen alten Schwimmtrainer bei der Marine und begann das Morgentraining.
Sein Körper glitt mühelos durch das Wasser. Für einen alten Mann wie mich gar nicht schlecht. Gleich bin ich am Anschlagbrett.
Die nächsten langen Züge. Er schaute kurz nach vorne, um sich zu orientieren. Dann atmen nach links. Als er den rechten Arm ins Wasser tauchte, fühlte es sich an, als ob er seine Hand in Watte steckte. Hmm, heute scheint mir die Kälte doch etwas mehr zuzusetzen als erwartet. Ein Krampf zog sich durch seinen linken Fuß und kroch langsam die Wade hoch. Sofort reduzierte er seinen Beinschlag, um die beanspruchten Beinmuskeln zu entlasten. Seine Schläfen begannen zu pochen und sein Kopf fühlte sich an, als steckte er in einem überdimensionalen Schraubstock, der langsam immer fester gezogen wurde. Die verfluchte Kälte! Plötzlich war das Schwimmen kein Spaß mehr. Jeder Zug wurde zum Kampf. Aber Aufgeben kam nicht infrage. Was würde der Löwe tun? Das Vorgehen anpassen und sich dem Kampf stellen. Wieder hob er leicht den Kopf, um sich zu orientieren. Das Anschlagbrett war kaum nähergekommen.
Was ist nur mit mir los?, fragte er sich, während sein rechter Ellbogen aus dem Wasser auftauchte. Er drehte den Kopf nach rechts, um Luft zu holen, und öffnete den Mund. Tausend Nadeln stachen in seine Brust. Kein angenehmes Prickeln wie beim Eintauchen in das kalte Wasser, sondern purer Schmerz. Anstatt belebender Luft schluckte er salziges Ostseewasser. Aus seinem Magen suchte der Frühstückskaffee mit einem sauren, beißenden Geschmack seinen Weg nach oben. Er stoppte und versuchte sich umzudrehen, zurück zum Steg zu schwimmen, zu den Menschen, die dort gerade ihre Utensilien auf der Plattform aufbauten. Das klare morgendliche Blau des Himmels und des Wassers verschwammen zu einem dumpfen Gelb-Grün. Als wäre er in einem alten Farbfilm gelandet, dessen Farben durch das Alter verblasst und verändert waren. Seine Glieder wurden schwer und zogen ihn nach unten. Anstatt eines Schreis entwich ihm nur ein leises Gurgeln. Kraftlos glitt er in Richtung Meeresboden. Wieder umhüllte ihn das kalte Wasser. Nur diesmal würde es kein Auftauchen für ihn geben.
Die grün-graue Welt breitete sich vor ihr aus, ihre Sicht getrübt und durch das kleine Fenster begrenzt. In klobigen, schweren Stiefeln stapfte sie langsam über den Grund. Einzelne zarte Pflanzen, zerdrückt durch ihre Masse, zierten als traurige Überbleibsel ihren Pfad.
Als wäre ich eine große orange-gelbe Walze, die hier alles platt macht, was sich mir in den Weg stellt.
Sie widerstand dem Drang, Schwimmbewegungen zu machen, um endlich an die Oberfläche zu gelangen. So lange war sie noch nie unter Wasser gewesen und sie fühlte sich immer beklommener in ihrer Lage. Von wegen hier würde sie das Gewicht der Ausrüstung nicht mehr spüren. Es war zwar nicht so schwer wie über Wasser, aber sie empfand Hilflosigkeit. Sie wedelte mit den Armen, um voranzukommen und das an ihr zerrende Gewicht der Bleischuhe zu verringern.
Um sie herum blubberte und zischte es. Luftblasen entwichen dem historischen Kupferhelm, der fest an ihrem Anzug verschraubt war. Als Leif vor zehn Minuten mit einem riesigen Schraubenschlüssel ankam, um den Helm zu befestigen, hielt sie das zunächst für einen Witz. Aber das hier war keiner. Die lebensnotwendigen Schläuche lagen hinter ihr auf dem Grund, und jeder Schritt war ein Kampf gegen den Widerstand des Wassers. Bestimmt bin ich, wenn ich wieder aus diesem kalten Wasser komme, nass geschwitzt vor Anstrengung. Diese wollene Unterwäsche, die sie mir wegen der Kälte aufgedrängt haben, hätte ich gar nicht gebraucht. Wahrscheinlich ist das nur für Berufstaucher gedacht, die bei solchen Tauchgängen nicht unter Adrenalin stehen, sondern die ganze Zeit tiefenentspannt sind. Sie drehte langsam den Kopf, und Michael, ihr Sicherungstaucher, erschien vor der Scheibe.Im Gegensatz zu ihr war er nicht mit Schläuchen an die Außenwelt gebunden, sondern tauchte mit Pressluft. Fast neidisch beobachtete sie, wie er sich ohne das schwere Gerödel schwebend über den Boden bewegte. Michael machte irgendwelche Zeichen mit den Armen.
Was will er mir damit sagen?
Sie schaute an sich herunter. Ihre Arme standen beinahe im rechten Winkel zu ihrem Körper und der Anzug war dick aufgeblasen. Verdammt, sie hatte die letzten Minuten vergessen, über das Ventil im Helm Luft abzulassen. Wenn sie so weiter machte, würde sie wirklich gleich nach oben treiben. Stine neigte den Kopf zur Seite und betätigte das Ventil. Mit der entweichenden Luft schmiegte sich der Anzug wieder an. Endlich gelang es ihr, die Arme zu senken. Michael nickte ihr zu und formte das Okay-Zeichen mit Daumen und Zeigefinger.
Zu dem Zischen im Helm kam ein Knacken und die metallene Stimme von Leif hallte im Helm wider.
»Alles okay bei dir, Stine? Versuch mal, die Arme nicht nach oben zu strecken, dadurch strömt Luft über die Armmanschetten in die Handschuhe. Und die werden dir dann von den Händen geblasen. Das willst du nicht. Also schön regelmäßig Luft ablassen. Pass außerdem ein bisschen auf die Versorgungsleitung auf, damit du dich darin nicht verhedderst. Wenn du irgendwo lang gehst, immer schauen, wo die Leitung ist und den Rückweg immer daran entlang.« Seine Stimme klang ruhig, aber Stine meinte, Sorge darin zu hören.
Denkt er auch, dass ich lieber oben geblieben wäre und den anderen bei ihrem Helmtauchversuch zugeschaut hätte?
Ihr Blick folgte dem Luftschlauch. Leif hatte ihr gezeigt, dass nichts passieren konnte, wenn sie aus Versehen darauf trat, weil der Schlauch mit Stahldraht verstärkt war. Aber sie wollte nichts riskieren. Sie ging weiter, den Blick leicht nach hinten auf den Schlauch gerichtet. Bloß nicht verheddern, dachte sie, als ein dumpfes »Klong« in ihrem Helm dröhnte und sie gegen ein Hindernis stieß. Holzplanken ragten vor ihr auf. Von hinten klopfte ihr Michael auf die Schulter.
Wieder ertönte Leifs Stimme: »Du bist jetzt direkt unter uns. Vielleicht solltest du die Richtung wechseln, wenn du nicht unter der Seebrücke feststecken möchtest. Hier gibt es auch nicht viel Interessantes zu sehen, glaub mir. Lass dich von Michael in Richtung Anker führen. Den wollen wir später noch bergen. Du kannst ja schon mal die Lage erkunden. Achte beim Zurückgehen darauf, dass du an der Versorgung entlanggehst, damit du sie nicht um die Pfähle wickelst.«
Stine tastete sich an dem Balken entlang. Vor ihren Augen tauchte eine Plastikdose auf, die sich anscheinend dort verklemmt hatte.
Auch in der Ostsee gibt es schon überall Müll, sinnierte sie, als sie wieder Michaels Hand auf ihrer Schulter spürte. Mit sanftem Druck korrigierte er ihren Kurs in die entgegengesetzte Richtung. Dankbar bemerkte sie, dass er sie keinen Moment aus den Augen ließ. Ihr Puls beruhigte sich ganz langsam und sie fing an, die Unterwasserlandschaft zu beobachten. Kleine abgerissene Fetzen von Algen und Seegras schwammen um sie herum. Ab und zu nahm sie das silberne Glitzern eines Fisches wahr. Eine große Feuerqualle glitt vor ihr durch das Wasser. Als Schwimmerin hätte sie jetzt das Weite gesucht, aber geschützt durch den Anzug konnte sie in Ruhe die Schönheit dieses Lebewesens beobachten. Rot und Orange schimmerte sie in dem Licht, das von der Wasseroberfläche in die Tiefe fiel. Die Tentakel streiften Stines Sichtfenster und sie konnte sogar die Organe der Qualle erkennen. Ein Schwarm kleiner Fische zog direkt an ihr vorbei. Er und Michaels fester Griff leiteten sie in Richtung Anschlagbrett der Seebadeanstalt. Wieder tauchten Holzpfähle vor ihr auf. Das musste das Brett sein, welches für die Schwimmer des Seebades die 50 Meter begrenzte. Als sie sich näherte, konnte sie kleine Krebse sehen, die sich, festgeklammert an den Pfählen, vom Wasser umspülen ließen. Direkt unter dem Steg wiegte sich etwas Weißliches im Wasser. Ein großer Plastikbeutel? Oder eine Boje? Kann sich das Plastik an dem ominösen Anker verfangen haben?
Sie räusperte sich und sofort ertönte wieder Leifs Stimme: »Du müsstest gleich bei dem Anker sein. Geht es dir gut? Kein Schwindel so weit?«
»Ja, alles gut. Magst du mir noch mal sagen, warum wir den Anker suchen? Stellt er eine Gefahr für die Schiffe dar?«
Eine kurze Pause folgte, dann hörte sie jemanden im Hintergrund lachen.
»Nein, keine Gefahr für die Schiffe. Aber es ist gut, wenn wir das Ding bergen.«
Eine zweite Stimme meldete sich. Es klang nach Astrid, Leifs Frau. »Leif will nur nicht zugeben, dass er ›grabbeln‹ will.«
»›Grabbeln‹? Was soll das sein?«
Sie hörte Astrid erneut lachen. »Das bedeutet, dass mein Mann noch mehr unnützes Zeug vom Meeresboden bergen und zu seiner Sammlung zu Hause packen will. Du musst bei Gelegenheit mal bei uns vorbeikommen und dir sein Museum ansehen.«
Stine überlegte kurz, ob sie umkehren sollte, da der Notfall des am Boden liegenden Ankers ja keiner mehr war. Aber dann siegte ihre Neugier, und sie setzte ihren Weg fort, Michael immer in ihrer Nähe wissend. Wann würde sie wieder die Gelegenheit haben, am Boden der Ostsee entlangzulaufen? Sie war keine Taucherin, Schnorcheln konnte sie so leidlich, aber das war kein Vergleich mit dieser Erfahrung. Sie tat den nächsten Schritt und versuchte, durch die kleine Scheibe die gesamte Umgebung im Auge zu behalten. Diesmal wollte sie keine Holzpfähle rammen. Keine Sekunde später blieb ihr rechter Fuß hängen und ihr Körper bewegte sich in Richtung Boden. Nur die Trägheit hinderte ihren Fall.
Dieses beschränkte Sichtfeld macht mich wahnsinnig! So muss es sich anfühlen, wenn man alt wird. Angeblich soll man dann ja auch alles nur noch ausschnittweise wahrnehmen können. Was musste das für eine Belastung sein? Stine merkte, wie ihr Herz immer heftiger klopfte. Ich möchte zurück, raus aus diesem Anzug! So langsam wird es mir hier unter Wasser unheimlich.
»Hast du was gesagt, Stine?« Leif wieder.
Habe ich laut vor mich hin gebrabbelt? Hoffentlich nicht.
»Nein, nein. Alles okay hier. Aber ich glaube, ich möchte wieder zurück zum Steg. Lass lieber einen von den erfahrenen Tauchern nach dem Anker suchen. Ich …« Sie stockte. Während sie sich auf das Gespräch mit Leif konzentrierte, war sie viel zu nah an die Unterwasserbauten des Anschlagbretts geraten.
So ein Mist, schimpfte sie. Notiz für mich: Unter Wasser bin ich definitiv nicht multitasking-fähig.
Die weißliche Masse, die sie von weitem schon gesehen hatte, schob sich in ihr Gesichtsfeld.
Das war keine Plastiktüte. Das Gesicht eines Mannes starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.
Frau Janssen, es tut mir leid, aber wir können Sie nicht zur Personenschützerin befördern.« Der dicke Mann verzog das Gesicht hinter seinem massiven, dunklen Schreibtisch, offensichtlich bemüht, möglichst verständnisvoll zu wirken.
»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst!«
Stine spürte, wie sich ein unangenehmes Gefühl in ihrem Magen ausbreitete und ihr Kopf sich seltsam leicht anfühlte. Der Personenschutz war ihre Chance gewesen, endlich in eine höhere Besoldungsstufe aufzusteigen und den Seilschaften in der Abteilung zu entkommen. Zu lange hatte sie schon als Kommissarin gearbeitet, mit einem Einkommen, das kaum Extras erlaubte. Etwas Schönes zum Anziehen kaufen oder mit ihren Freundinnen in den Urlaub fahren, ohne nebenbei in einem Café oder einer Bar jobben zu müssen, schien unerreichbar. Nachdem sie den Fitnesstest als eine der Besten bestanden hatte, hatte sie sich schon ausgemalt, wie sie Ute, Svenja und Kirsten zum Essen einladen würde, um ihren Erfolg zu feiern. Schick und stilvoll in dem neuen Restaurant in Eppendorf, ohne danach eine Woche lang nur Spaghetti mit Ketchup essen zu müssen.
»Aber ich habe doch den Fitnesstest bestanden.«
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Der karge, weiß gestrichene, Raum begann sich zu drehen. Was ist los mit mir? Kreislauf? Ich hätte doch heute Morgen zu dem Kaffee etwas essen sollen. Der Raum drehte sich immer schneller und schneller. Krampfhaft versuchte sich Stine auf das Gespräch zu konzentrieren.
»Das haben Sie tatsächlich, Frau Janssen.« Der Mann warf einen kurzen Blick auf die Liste vor sich. »Sogar mit hervorragender Leistung. Aber leider haben wir ein Problem wegen der Planstellen.«
»Planstellen? Das verstehe ich nicht. Die Stelle beim Personenschutz war doch ausgeschrieben und müsste dementsprechend eingeplant sein?«
Das blau-weiß karierte Hemd ihres Gegenübers nahm langsam eine graue Farbe an und in Stines Ohren begann es leise, tief zu brummen.
»Um die Stelle geht es auch nicht, sondern um Ihre derzeitige beim LKA1.«
Er holte ein Taschentuch aus der Hose und wischte sich über die Stirn. Dieser Mann wird wahrscheinlich keinen Fitnesstest überstehen. Fraglich, ob er überhaupt jemals im aktiven Dienst war. Aber so, wie es mir gerade geht und der Raum sich dreht, sieht es für mich auch nicht gut aus. Was passiert mit mir? Stine umklammerte die Tischplatte.
»Können Sie mir das bitte genauer erklären?«
Sie versuchte ruhig zu bleiben, obwohl das Brummen in ihren Ohren immer lauter wurde und ihr Kopf sich anfühlte, als wäre er aus Watte.
»Sie sind derzeit beim LKA1, der Abteilung für Regionale Kriminalitätsbekämpfung, tätig. Wenn Sie zum Personenschutz wechseln, sind Sie nicht mehr dem Landeskriminalamt zugeordnet, sondern der Schutzpolizei.«
»Ja, das weiß ich. Aber wo liegt das Problem?«
»Ihre Planstelle beim LKA würde dann an die Schutzpolizei fallen. Das wäre für uns ein Problem, da wir dann Ihre Stelle nicht nachbesetzen können. Und das bei unserem Personalmangel.«
»Aber es war doch bekannt, dass ich mich für die Stelle als Personenschützerin bewerbe. Jeder wusste, dass es dazu kommen würde, wenn ich die Aufnahmetests bestehe.«
Ihr Gegenüber begann unter ihrem Blick nervös auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Erneut wischte er sich über die Stirn.
In diesem Moment wurde es Stine klar. Die haben es von Anfang an gewusst. Sie haben gehofft, dass ich die Prüfungen nicht bestehe, um dieses Gespräch heute zu vermeiden. Was für Schweine. Sie merkte, wie Übelkeit in ihr aufstieg. Der ganze Raum war auf einmal farblos, als wäre sie in einem alten Schwarz-Weiß-Film gefangen.
»Frau Janssen? Hören Sie mir zu? Ihr Chef, Hauptkommissar Meier, und ich möchten unser Bedauern ausdrücken. Auch wegen des Aufwandes, den Sie hatten, als Sie sich auf die Prüfung vorbereitet haben. Aber versuchen Sie es mal so zu sehen: Der nächste Fitnesstest ist dann quasi schon bestanden, oder nicht?« Ein dröhnendes Lachen kam aus seinem Mund und erschütterte den Bauch, der sich über seinen Stuhl wölbte.
Stine spürte kleine Schweißperlen auf ihrer Oberlippe und den nassen Film, der ihren Rücken herunterlief.
Ich muss hier raus. Etwas Saures stieg ihre Speiseröhre hoch. Sie schob den Stuhl zurück und stand auf. Überrascht schaute er sie an.
»Ich denke, ich gehe jetzt.« Sie ging in Richtung Tür. Im Türrahmen musste sie sich kurz festhalten. Das Aufstehen und die Drehung hatten genügt, um den Raum in ein Karussell zu verwandeln. Was ist nur mit mir los? Bekomme ich gerade einen Infarkt? Stines Herz fing an zu rasen.
Sie steuerte rechts den Gang hinunter auf die nächste Toilette zu. Mehrmals stieß sie dabei wie betrunken gegen die Wände, zum Glück unbemerkt von den Kollegen, die größtenteils bereits in der Mittagspause waren. Als sie den fensterlosen Raum mit dem zerkratzten Waschbecken betrat, vergewisserte sie sich, dass keine der Kabinen besetzt war. Sie stützte ihre Hände auf das Becken und versuchte, ihr Spiegelbild zu fixieren. Es gelang ihr nicht. Alles drehte sich. Schneller und schneller. Mit letzter Kraft öffnete sie eine der Kabinen und erbrach sich in die Kloschüssel.
Die nächste Stunde verbrachte Stine zusammengekauert auf den kalten Fliesen. Jedes Mal, wenn sie versuchte aufzustehen, musste sie erneut spucken. Zu ihrer Überraschung kam in dieser Zeit niemand herein. Sie wusste nicht, ob sie dankbar dafür sein sollte, dass niemand sie in diesem elenden Zustand sah, oder ob sie doch Hilfe brauchte.
Irgendwann gelang es ihr endlich aufzustehen. Das Gefühl von Watte im Kopf war immer noch da und auch das tieffrequente Brummen hatte nicht nachgelassen. Aber zumindest rumorte ihr Magen nur noch leise. Wieder ging sie zum Waschbecken, um sich etwas zu erfrischen.
Ein nicht mehr ganz junges Gesicht mit Sommersprossen, grau-blauen Augen und einer praktischen Kurzhaarfrisur sah sie an. Die Bräune, die sie in den letzten Wochen durch ihre Wochenendarbeit im Beachclub bekommen hatte, war verschwunden. Blass und abgekämpft sah sie aus. Im Moment wirkte sie nicht wie Mitte dreißig. Scharfe Falten hatten sich um ihren Mund gebildet und die Zornesfalte zwischen ihren Augen glich einem zerklüfteten Canyon. Was passiert, wenn ich mich heute krankmelde? Ich sollte versuchen, einen Termin beim Arzt zu bekommen und mich krankschreiben zu lassen. Innerlich sträubte sich alles in ihr. Jeder wird denken, ich tue das nur, weil ich den Job nicht bekommen habe. Abermals schaute sie sich im Spiegel an. Nein, so wie ich gerade aussehe, wird niemand glauben, dass ich simuliere. Und wenn, ist es auch egal.
Zwanzig Minuten später saß sie in der um diese Zeit leeren U1 und fuhr die eine Station zu sich nach Hause. Es war heiß in Hamburg. Die schmalen Klappfenster in der U-Bahn waren alle auf Kipp gestellt, dennoch hätte man die Luft schneiden können. Das lag sicher auch daran, dass die U-Bahn zwischen Norderstedt und Kellinghusenstraße ganz entgegen ihrem Namen eben nicht unterirdisch fuhr, sondern in der prallen Sonne verkehrte.
Gott sei Dank steige ich gleich aus. Mir wird schon wieder schwindelig. Noch auf dem Weg zur U-Bahn war es ihr gelungen, ihren Hausarzt zu erreichen. Leider hatte man sie sofort abgewürgt und ihr gesagt, so ein Schwindel sei etwas für den Halsnasenohrenarzt. Erstaunt stellte sie fest, dass ihr Schwindel beim Spezialisten durchaus ernst genommen wurde und sie sofort zur Notfallsprechstunde erscheinen sollte.
Als Stine über den Marktplatz zum Arzt ging, blieb sie wie immer bei Marius, dem Verkäufer der Obdachlosenzeitung, stehen. Seitdem er ihr nach einem Fahrradsturz direkt vor ihm wieder auf die Beine geholfen und sie mit Wasser zum Abspülen der Wunde versorgt hatte, verging keine Woche, in der sie ihm nicht mehrmals Geld und manchmal auch Lebensmittel zusteckte.
Sie kramte einen Fünf-Euro-Schein aus ihrem Portemonnaie.
»Vielen Dank und eine schöne Woche«, wünschte ihr Marius mit leiser Stimme. Er stockte. »Geht es Ihnen gut?«
»Alles gut.«
Stine versuchte sich an einem Lächeln. Ihr kam es nicht richtig vor, Marius mit ihren Problemen zu belasten. Das musste sich für einen Obdachlosen doch nach Hohn anhören.
Kaum zwei Stunden später war sie wieder zu Hause und nicht wirklich schlauer als zuvor. In der Praxis hatten sie ein paar Tests mit ihr gemacht, die alle negativ ausgefallen waren. Das tiefe Brummen war verschwunden, die Ursache für ihren Schwindel nicht geklärt. Als nächstes hieß es jetzt, eine Kopf-MRT zu machen.
»Nur um auszuschließen, dass es sich um einen Tumor handelt«, hatte der Arzt ihr gesagt und sie dabei beruhigend angelächelt. »Ich denke aber, es ist eine Durchblutungsstörung oder eine Virusinfektion. Hatten Sie in letzter Zeit Stress?«
Als sie nickte, meinte er nur: »Das wird es sicher sein. Oder hatte jemand in Ihrer näheren Verwandtschaft auch Schwindel? Es gäbe noch andere Ursachen, aber ich möchte Sie zu diesem Zeitpunkt nicht beunruhigen. Wir warten einfach die MRT ab. Und solange versuchen Sie zur Ruhe zu kommen und Stress zu vermeiden. Ich schreibe Sie erst einmal diese und die nächste Woche krank. Dann sehen wir weiter.«
Jetzt saß sie auf einem Strandlaken auf ihrem Balkon, im Rücken ein dickes Sofakissen, neben sich einen großen Becher Eis, der langsam in der Sonne vor sich hinschmolz. Ihre Hände fegten über das Smartphone, auf der Suche nach den Ursachen für Schwindel. Spätestens nach der dritten Online-Medizin-Seite verstand sie, warum ihr Arzt die Möglichkeiten nicht weiter ausgeführt, sondern auf die MRT verwiesen hatte. Neben einem Tumor wurde auch Morbus Menière als mögliche Ursache aufgeführt. Dazu würde passen, dass sie ein tiefes Brummen bei dem Anfall wahrgenommen hatte. Das, was Stine über diese Krankheit las, war mehr als beunruhigend. Es hieße, dass sie sich dann mit den Schwindelattacken abfinden musste und im schlimmsten Fall den Führerschein verlieren würde. Was das für Auswirkungen auf ihren Beruf haben würde, wollte sie gar nicht wissen. Wahrscheinlich bedeutete das nur noch Schreibtischarbeit, keine Außeneinsätze mehr.
Sie startete das Messenger-Programm und stellte fest, dass mehrere Nachrichten ihrer Freundinnen dort warteten. Sie alle hatten die letzten Wochen mitgefiebert und genau wie Stine heute ein positives Ergebnis erwartet. Sollte sie ihnen schon Bescheid geben? Keine war online. Kein Kunststück, es ist ja auch gerade kurz nach 15 Uhr an einem Dienstag. Ute, Svenja und Kirsten müssen arbeiten. Wie ich ja eigentlich auch. Nur ein grünes Lämpchen zeigte die Anwesenheit einer ihrer Kontakte im Messenger an. Henri, ihr Lieblingsonkel, schien online zu sein. Schon fingen ihre Finger an, ihm eine Nachricht zu tippen, aber nach den ersten Worten hielt sie inne. Er kam mit dem Messenger nicht gut zurecht. Es wäre sicher besser, ihn anzurufen. Normalerweise saß er um diese Zeit bei seiner Cousine Helga im Café in Holtenau und las die Tageszeitung. Aber Helga war vor einem Monat gestorben und es war noch nicht klar, was jetzt aus dem Café, das in dem Fachwerkhaus direkt an der Schleusenstraße untergebracht war, werden sollte. Henri hatte das Café mit Helga geführt und haderte seitdem damit. Er war mehr der stille Teilhaber im Hintergrund gewesen, niemand, der gerne hinter der Theke stand oder sich um sonstige Belange des Cafés kümmerte. Im Moment war sein Plan, das Haus zu vermieten und möglichst auch gleich das Café an den Mieter zu verpachten. Aber es war gar nicht so einfach, jemanden passenden zu finden, der sich in dem kleinen Holtenau eine neue Zukunft aufbauen wollte. Sie stutzte. Ein Gedanke stieg in ihr auf. Wieso eigentlich nicht? Ich soll doch Stress vermeiden. Ihre Hand wischte über das Telefon, als sie Henris Nummer heraussuchte.
Ist nicht wahr! Du hast was?« Svenja starrte Stine ungläubig an, eine Gabel mit Kaiserschmarrn vor ihrer Nase balancierend.
»Ich habe meinen Chef, Hauptkommissar Meier, gefragt, ob ich eine längere Auszeit nehmen kann. Mein Arzt hat mir geraten, vorerst Stress zu vermeiden.«
»Dein Arzt? Geht es dir nicht gut?« Ute hörte auf, den Schaum ihres Latte macchiato zu löffeln. »Mir ist schon aufgefallen, dass du einen Minztee bestellt hast, statt deinem üblichen Latte macchiato. Bist du krank?«
»Es ist nichts Schlimmes. Aber ich pass im Moment ein bisschen auf, was ich esse und trinke.« Sie berichtete ihren Freundinnen von dem Schwindelanfall vor ein paar Tagen.
»Warum hast du uns nicht angerufen? Wir hätten doch die letzte Woche für dich eingekauft und hätten im Wechsel bei dir geschlafen, falls dir wieder schlecht wird.«
Utes Angebot folgte das zustimmende Nicken von Kirsten und Svenja. Stine war gerührt.
»Es ist wohl nur eine Entzündung im Gleichgewichtsorgan«, versuchte sie, ihre Freundinnen zu beruhigen.
»Hast du schon eine MRT gehabt? Gibt es Schwindel in deiner Familie?« Kirsten schob ihre Brille hoch und musterte Stine.
»Der Termin ist nächste Woche. Es wird schon nichts sein.«
»Eine Freundin von mir hatte ähnliche Probleme. Es stellte sich heraus, dass es an den Kristallen im Ohr lag«, ergänzte Svenja mit vollem Mund. »Es fing nach dem Rugbytraining an. Der Arzt hat wilde Drehungen mit ihr gemacht, bis die Kristalle wieder an Ort und Stelle waren.«
»Das ist es leider nicht. Und bevor du fragst: Es hat auch nichts mit meiner Halswirbelsäulenverletzung vor ein paar Jahren beim Training zu tun.«
»Dann hoffen wir mal, dass dein Arzt recht hat, meine Liebe. Aber wenn du wieder eine Schwindelattacke bekommst, dann ruf uns an. Du weißt ja, wie es in dem Lied heißt: ›Gemeinsam ist man nicht allein.‹«
»Genau, das Lied von den ›Fabelhaften Vier‹«, machte sich Ute über Kirstens beschränktes Wissen der deutschen Rap-Kultur lustig.
»Das ist doch nun wirklich nebensächlich. Was ich nur sagen wollte: Auch wenn es nachts ist, eine von uns ist spätestens eine halbe Stunde nach einem Anruf bei dir.«
»Hmm, das wird etwas schwierig.« Stine legte den Kopf schief und schaute ihre Freundinnen an.
»Jetzt kommen wir zu dem Teil mit der Auszeit«, schlussfolgerte Kirsten.
»Genau. Die erste Idee meines Chefs war, dass ich in einem Jahr ein Sabbatical machen könnte, wenn ich bis dahin auf einen Teil meines Gehalts verzichte.«
»Bei deinem Gehalt, das sowieso nicht reicht?« Ute verschluckte sich fast.
»Genau das habe ich ihm auch gesagt. Wie er sich das vorstelle, dass ich mit einem reduzierten Kommissarinnen-Gehalt das Jahr über die Runden komme. Außerdem bräuchte ich jetzt den Abstand und die Ruhe.«
»Und was hat er dazu gesagt?« Svenja hatte sich nur scheinbar dem großzügig vom Frühstücksbuffet des Clubs gefüllten Teller gewidmet.
»Zuerst hat er ziemlich rumgedruckst. Nach dem Motto: ›Wir haben doch Personalnotstand.‹ Aber ihm ist schon bewusst, dass sie mich mit dieser Stelle bei der Schutzpolizei ziemlich verarscht haben. Kurz dachte ich, er bietet mir eine Beförderung zur Oberkommissarin an …«
»… die ja mehr als überfällig ist. Du schmeißt den Laden doch quasi im Alleingang!« Wie immer hielt Ute mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg.
»Aber das hat er nicht?« Kirsten rückte ihre Brille zurecht und musterte Stine mit ihrem Psychologinnenblick durchdringend.
»Nein, natürlich nicht. Hätte ich mir auch denken können. Er hat die letzte Oberkommissarstelle mit seinem Kumpel besetzt, der noch nicht einmal halb so viele Dienstjahre hat wie ich.«
»Was für ein Schwein!« Stines Mädels waren sich einig.
»Vielleicht ist es besser so. Solange ich nicht weiß, wie es mit dem Schwindel weitergeht, wäre eine Beförderung sowieso nicht ideal.«
»Nenn mir einen Mann, der so denken würde. Aber ich sehe es ähnlich.« Ute tätschelte Stines Hand. »Eine Beförderung würde deinen Stress nur erhöhen.«
»Wir haben aber eine Lösung gefunden. Mit einem Blick in meine Akte – ich habe fast 500 Überstunden und außerdem noch 25 Tage Resturlaub – haben wir uns geeinigt. Dazu hänge ich noch unbezahlten Urlaub ran und am Ende werde ich drei Monate nicht arbeiten.«
Auf der Terrasse des Klubs an der Alster herrschte Stille. Drei weit aufgerissene Augenpaare fixierten Stine.
Ute fand als erste ihre Sprache wieder. »Das ist nicht dein Ernst?«
»Doch! Mein voller Ernst. Nach drei Monaten sieht die Welt dann vielleicht wieder anders aus.«
»Geht es jetzt auf Weltreise?« Svenja hatte sich mit ihrem Freund Falk vor kurzem einen Camper angeschafft und war jetzt »voll auf dem Reisetrip«, wie ihre Freundinnen es nannten.
»Das wird leider nicht gehen. Zum einen möchte ich so einen Schwindelanfall, wie ich hatte, nicht allein irgendwo im Ausland haben. Zum anderen sind meine Finanzen nicht gerade üppig. Aber ich brauche unbedingt Abstand von der Arbeit, um mir über einiges klarzuwerden.«
»Aber was willst du denn in der Zeit machen? Als private Ermittlerin arbeiten, um etwas Geld zu verdienen?« Ute war ein großer Fan von Vorabend-Krimiserien.
»Nein, so etwas kommt für mich nicht infrage. Ich brauche wirklich Abstand von allem, was mit Kriminalität zu tun hat.«
»Du hast wohl schon einen Plan.« Kirsten schob erneut ihre Brille hoch und musterte Stine eindringlich.
»Ja, habe ich.«
Bewusst hielt sie inne, um ihre Freundinnen noch ein bisschen auf die Folter zu spannen. Sie sah zum Steg des Ruderclubs, wo gerade ein Vierer ohne Steuermann startete. Der einzige Haken an ihrer spontanen Entscheidung war, dass es schwieriger sein würde, ihre monatliche Frühstücksrunde an der Alster aufrechtzuerhalten. Aber ganz aus der Welt war sie ja nicht.
Sie drehte sich wieder zu den Dreien: »Habe ich euch von Tante Helgas Tod erzählt?«
»War das die mit dem Café in Holtenau? Wo wir vor Jahren mal Kaffee getrunken hatten, nachdem wir in der Ostsee gebadet haben? Das war schön.« Svenja ließ den Blick verträumt über die in der Mittagssonne schimmernde Alster schweifen.
Wahrscheinlich sieht sie gerade die großen Obstkuchen von Helga vor sich, für die das Café berühmt war. Svenja liebte Kuchen und hatte ihr Essverhalten, das sie sich in den Jahren als erste Reihe im Sturm von St. Pauli Rugby angewöhnt hatte, bis heute nicht abgelegt. Das hatte eine Hummeltaille zur Folge, die Svenja entspannt zur Schau stellte. Diäten oder Einschränkungen beim Essen kamen für sie nicht infrage.
»Ja, genau die«, bestätigte Stine. »Sie hat meinem Onkel Henri ihr Haus hinterlassen. Da ihm aber schon das Nachbarhaus gehört und er darin glücklich ist, wollte er das Haus mit dem Café vermieten.« Stine machte eine Pause und nahm einen großen Schluck Minztee. Selbst Svenja hatte es mittlerweile aufgegeben, sich den Köstlichkeiten auf ihrem Teller zu widmen, sondern fixierte sie sichtlich neugierig.
Kirsten war am schnellsten in ihrer Auffassungsgabe. »Sag jetzt nicht, du hast …?«
Stine nickte. »Doch, das habe ich.«
»Was hat sie?« Ute schaute ratlos von Stine zu Kirsten und wieder zurück.
»Ich vermiete meine Wohnung hier in Hamburg für drei Monate und gehe nach Holtenau.«
Komm erst mal rein, min Deern.« Henri nahm Stine ihre große Sporttasche aus der Hand, die sie als Erstes aus ihrem Wagen geholt hatte. Er schaute über ihre Schulter in Richtung Auto.
»Das ist alles, was du mitgebracht hast?« Er deutete auf die drei Kartons und im offenen Kofferraum.
Stine nickte. »Fast. Auf der Rückbank liegt noch ein großer Koffer. In meiner Wohnung habe ich ein paar Sachen umgeräumt und die wertvollsten Dinge im Arbeitszimmer eingeschlossen. Dann habe ich mir über das Nachbarschaftsforum online einen Untermieter gesucht. Nur den Nachsendeantrag habe ich vergessen. Ich muss meinen neuen Untermieter bitten, mir Bescheid zu geben, wenn Post kommt.« Stine dachte an den Bericht von der MRT, der noch ausstand.
»Online? Nachbarschaftsforum? Was soll das sein?« Henri schüttelte mit dem Kopf. »Was ihr jungen Leute heute so macht. Früher haben wir einfach einen Aushang ans Schwarze Brett der Uni geheftet: ›Untermieter gesucht‹.«
»Ja, heutzutage führt wohl kein Weg mehr am Computer oder Smartphone vorbei. Aber das hat auch seine Vorteile.« Stine dachte daran, wie lange es wohl gedauert hätte, einen Untermieter über einen Aushang zu finden. Gab es das überhaupt noch? Die Studenten erledigten doch heutzutage auch alles elektronisch.
»Hauptsache, du hast jemand Nettes gefunden. Möchtest du gleich rübergehen oder hier noch einen Kaffee trinken?«
»Wenn du nichts dagegen hast, würde ich mir das Haus ansehen. Und ich habe mir sagen lassen, dass im Café eine richtig edle Espressomaschine steht.« Stine lachte. »Wenn du willst, kann ich uns dort einen Latte macchiato zaubern.«
Seitdem Stine sich entschieden hatte, erst einmal nicht ins Polizeipräsidium zurückzukehren, hatte sie keinen schweren Schwindelanfall mehr gehabt. Der Schwindel hatte sich zwar als leichtes Unwohlsein im Hintergrund eingenistet, aber das versuchte sie zu ignorieren.
»Ich habe mir schon gedacht, dass du das vorschlägst, und den Schlüssel eingesteckt. Gestern war meine Hilfe drüben bei Helga im Haus und hat geputzt. Das kann ich ja leider nicht mehr.«
»Das wäre ja noch schöner, wenn du für mich putzen würdest.« Stine nahm Henri in den Arm. Trotz seines Alters, das ihn etwas gebeugt gehen ließ, überragte er sie um fast einen Kopf.
Er lachte leise. »Ich freue mich so, dass du hier einziehst, auch wenn es nur für ein paar Monate ist. Manchmal ist es schon einsam.«
»Aber du hast doch sicher viele Freunde hier?«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht viele, eher eine Handvoll. Mit dem ein oder anderen habe ich mich morgens immer im Café zum Schnacken getroffen, aber seitdem das ›Achter de Slüüs‹ geschlossen ist, bleibt nur noch der morgendliche und abendliche gemeinsame Gang mit unseren Hunden.«
»Das wird sich jetzt ändern!« Stine hakte sich bei ihm unter. Gemeinsam gingen sie die vier Meter bis zur Pforte des kleinen mintfarbenen Holzzaunes, der den mit Kopfsteinpflaster belegten Innenhof ihres neuen Zuhauses von der Straße abgrenzte. Der Duft von Rosensträuchern, die Helga im Hof gepflanzt hatte, wehte herüber und vermischte sich mit dem Salz der Ostsee. Ein paar Deckchairs luden zum Sonnenbaden mit Blick auf die große Schleuse und das Treiben unten am Tiessenkai ein. Die beiden großen halbrunden grünen Flügeltüren, hinter denen Helga vor Jahren eine Fensterfront hatte einbauen lassen, standen offen und gewährten Einblick auf die Tische und Stühle des Cafés. Mit wenigen Handgriffen war es möglich, die Fenster beiseite zu schieben und so im Sommer einen großzügigen und luftigen Café-Eingang zu schaffen.
»Möchtest du?« Henri reichte ihr einen kleinen Schlüsselbund mit einem Affenfaust-Anhänger. Stine erinnerte sich daran, dass er diesen dekorativen Knoten für Helga geknüpft hatte. Sie schluckte. Ihr Verhältnis zu Helga war nie so eng gewesen wie zu Henri, dennoch war es traurig, dass die alte Dame nicht mehr da war.
Als Stine den Schlüssel ins Schloss der kleinen Eingangstür rechts neben den Fenstern steckte, hörte sie hinter sich Stimmen. Ein älteres Paar war auf den Hof gekommen und beobachtete neugierig, was sie da tat.
»Öffnen Sie das Café? Wir hätten gerne einen Becher Filterkaffee und einen Espresso macchiato.« Bevor Stine etwas sagen konnte, schob sich die alte Dame an ihr vorbei und steuerte zielstrebig auf den Tisch links von der großen Fensterfront zu. Hilfesuchend schaute Stine zu Henri hinüber, der das Schauspiel mit einem verhaltenen Lächeln beobachtete. Kannte er die beiden? Die Frau passte so gar nicht in das beschauliche Holtenau: Sie trug einen engen fliederfarbenen Pulli, eine weiß-fliederfarben karierte Marlene-Hose und pinkfarbene Sneakers. Die Haare waren raspelkurz, zartrosa gefärbt und auf ihrer linken, mit Permanent-Make-up gezeichneten Augenbraue klebte ein pinkfarbener kleiner Schmetterling. Der Mann neben ihr machte dagegen einen sehr durchschnittlichen Eindruck: Über einem hellen Polohemd trug er eine beigefarbene Weste, dazu eine passende Hose. Seine Augen hinter der randlosen Brille musterten Stine.
»Sie müssen Henris Nichte Stine sein. Er hat erzählt, dass Sie eine Zeit lang in Helgas Haus einziehen. Öffnen Sie auch das Café? Das ist ja großartig. Ich hoffe, wir sind nicht zu früh?« Er deutete eine leichte Verbeugung an. »Darf ich mich kurz vorstellen? Ich bin Leonhard Anders und das ist meine Schwester Lilly.«
Stine überlegte kurz, ob sie das Geschwisterpaar wieder aus dem Café komplimentieren sollte. Dann fiel ihr Blick auf die große Kaffeemühle, die noch zur Hälfte mit dunkelbraunen Bohnen gefüllt war. Direkt daneben glänzte die große italienische Espressomaschine. Das gleiche Modell, das sie die letzten Monate beim Jobben in dem Café in Winterhude bedient hatte. Sie zuckte mit den Schultern. Wieso eigentlich nicht?
»Wenn Sie anstatt eines Filterkaffees auch mit einem Caffè Americano zufrieden sind? Kuchen oder ähnliches kann ich Ihnen aber heute nicht anbieten.«
Die beiden nickten. Stine ging hinter den kleinen Tresen und schnappte sich die schwarze Schürze, die dort an einem Haken hing. Henri schaute sie kurz mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann lachte er und öffnete die großen Flügelfenster. Er schob zwei Tische mit Stühlen nach draußen.
»Wenn du möchtest, kann ich schauen, ob Helga noch ein paar ihrer Torten eingefroren in der Kühltruhe hat. Ist zwar nicht das Gleiche, aber dann kannst du zumindest heute Nachmittag etwas anbieten«, schlug er vor. Dankbar nickte Stine, während sie den mit Wasser verlängerten Espresso zubereitete. Zu ihrer Freude funktionierten sowohl die Kaffeemühle als auch die Espressomaschine ohne Probleme.
»Kann ich noch ein Wasser haben? Aber bitte nicht zu kalt«, rief Lilly. Mehr hängend als sitzend hatte sie sich auf einem der dunkelrot gepolsterten Stühle niedergelassen, im Rücken die olivfarbene Motivtapete mit Dschungelszene. Lillys sorgfältig manikürten Hände spielten mit ihrem Portemonnaie.
»Ich weiß nicht, ob wir noch Wasser haben. Bitte geben Sie mir ein paar Minuten, ich schaue gleich nach.«
Henri tauchte wieder auf, in seiner Hand zwei Torten balancierend. »Wir haben Glück, es sind auch noch Macarons dort unten. Bei der Wärme heute taut das bestimmt im Nu auf. Soll ich den Kühlschrank mit Kaltgetränken bestücken? Helga hat im Keller noch ein paar Kisten stehen.«
Eine Viertelstunde später war die Kuchenauslage mit Torten und den Macarons gefüllt und mit einem Schild »Torten ab 15 Uhr« versehen. Der Kühlschrank brummte leise vor sich hin und bot den Gästen eine gute Auswahl an Getränken. Zusätzlich hatte Henri einen Anruf in der örtlichen Bäckerei getätigt. Demnächst würden Croissants und Bagels geliefert werden, die Stine mit Helgas selbst gemachter Marmelade als süßes Frühstück anbieten wollte.
Ein weiteres älteres Paar kam herein. Diese entsprachen mehr Stines Bild von den Rentnern, die sie hier in Holtenau erwartete. Die Frau in ihrer weiten altrosafarbenen Bluse und der sandfarbenen Hose schob vorsichtig ihren Rollator vor sich her. Sie steuerte in Richtung Tresen, wo sie kritisch die Kuchenauslage in Augenschein nahm. Der alte Mann ging zu Henri, der mittlerweile an seinem Tisch mit einer Zeitung und einem großen Milchkaffee vor sich Platz genommen hatte.
»Moin Henri, wieso hast du uns nicht erzählt, dass du das Café wieder öffnest? Ist die bezaubernde junge Dame hinter dem Tresen deine Nichte?«
»Vielen Dank für das ›jung‹«, rief Stine als Antwort hinüber. »Was kann ich Ihnen bringen?«
Als sie kurz hinaus aus dem Fenster auf die Ostsee schaute, stand zum ersten Mal seit fast zwei Wochen ihre Welt still.
Die untergehende Sonne malte Glitzerlichter auf das Wasser. Stine streckte ihre Füße von sich. Sie lag auf einer der neuen geschwungenen Holzbänke, die die Gemeinde an der alten Brücke zur Schleuseninsel aufgestellt hatte. Hierher verirrten sich um diese Zeit selten Touristen. Auch die kleine Fähre »Adler 1«, die den Kieler Stadtteil Wik mit Holtenau verband, fuhr jetzt in einem niedrigeren Takt, sodass nur wenige Passagiere auf ihrem Weg in Richtung Tiessenkai vorbeikamen. Reste eines Holzpontons lagen in dem linken Seitenarm des Kanals, der den Anleger für kleinere Jachten beherbergte. Ein paar Schwäne suchten mit ihren langen Hälsen auf dem Grund nach Essbarem. Ab und zu erklang der schrille Schrei einer jungen Mantelmöwe, die versuchte, bei den Altvögeln Futter zu erbetteln. Ansonsten war es ruhig. Hier an dieser Stelle war kaum Wind und die See kräuselte sich nur leicht. Ganz anders als hinter dem Leuchtturm auf der Holtenauer Reede, wo Stine zuerst nach einem Platz für ihren Sundowner gesucht hatte. Dort fegte der Wind und die Wellen schlugen gegen das Ufer. Dagegen war dieser Platz perfekt. Er hatte noch einen weiteren Vorzug: Auf dem Jachtanleger befanden sich Toiletten für die Segler, die nicht versperrt und sehr sauber waren. So musste Stine nicht frühzeitig den Weg nach Hause antreten. Perfekt, um mit Svenja, Ute oder Kirsten einen Cider oder zwei zu genießen, überlegte sie. Aber dann müssen wir auf dem Weg zur Toilette aufpassen. Der Steg, der zum Damenwaschraum führt, ist doch ziemlich schmal. Ein Cider zu viel und gerade Kirsten mit ihrer eingeschränkten Sicht könnte Bekanntschaft mit der Ostsee machen.
Ein älteres Ehepaar ging langsam die Kanalstraße entlang und blieb kurz vor Stines Liegebank stehen. Die ältere Dame deutete auf die zweite, noch freie Liege, aber ihr Mann schüttelte den Kopf.
»Das macht mein Rücken nicht mit. Wenn ich mich darauf setze, kriegst du mich nachher nicht mehr hoch. Lass uns lieber die Bank da vorne nehmen und diese Liegewiese den jungen Leuten überlassen.« Er zwinkerte Stine kurz zu und schob dann seine Frau in Richtung der kleinen Bank neben der Informationstafel zum Nordostseekanal.
Welche jungen Leute? In Hamburg würde mich kaum jemand als jung bezeichnen. Das war schon das zweite Mal, dass man sie in Holtenau so nannte. Aber es passte hierher. Das Altersgefüge war älter, wie Stine tagtäglich an den Stammgästen im Café bemerkte. Da gab es Henri und seine Freunde, zu denen im weitesten Sinne auch die exzentrische Lilly und ihr Bruder gehörten. Dieser war erst vor kurzem aus dem Ausland in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Er hatte sich aber, auch dank seiner Schwester, schnell in die »Rentnergang«, wie Henri sie nannte, eingefügt. Natürlich kamen auch die Touristen oder Segler, die über den Nordostseekanal zur Ostsee reisten, gerne in das gemütliche kleine Café. Aber Einwohner in Stines Alter verirrten sich eher selten dahin. Als Kind hatte sie Henri und Helga oft in den Ferien besucht und die ein oder andere Freundschaft mit Nachbarskindern geschlossen. Aber diese alten Spielkameraden waren im Laufe der Jahre verschwunden. Stine vermisste ihre Hamburger Freundinnen. Der Abstand zu ihrer Arbeit als Polizistin tat ihr gut, daran bestand kein Zweifel. Zwar machte sich ihr Schwindel noch bei abrupten Bewegungen, wenn sie im Café schnell zwischen Theke, Kaffeemühle und Espressomaschine hin und her fegte, bemerkbar. Aber es war kein Vergleich mit der völligen Hilflosigkeit, als sie auf den kalten Fliesen gelegen hatte und ihre gesamte Welt sich angefühlt hatte, als würde sie einstürzen. Eigentlich sollte sie hier in Holtenau glücklich sein. Aber abends kamen die Leere und Einsamkeit, die auch ihr lieber Onkel mit seiner Fürsorge nicht füllen konnte. Ihre Mädels fehlten ihr. Dazu wartete sie immer noch auf die Ergebnisse der MRT, die leider auf sich warten ließen. Ihr Handy klingelte. Kirsten. Sie nahm ab.
»Das muss Gedankenübertragung sein! Gerade habe ich an euch gedacht.«
»Svenja und ich sitzen direkt neben Störtebeker in der HafenCity und trinken Cider. Da dachten wir, wir müssen dich anrufen. Was machst du so?«
»Ich schaue gerade auf die Förde und trinke eine Rhabarberschorle.«
»Sag nicht, bei euch gibt es keinen anständigen Cider?«
Stine konnte Svenja fast vor sich sehen, die großen braunen Augen angesichts dieser Möglichkeit vor Entsetzen weit aufgerissen.
»Doch, doch. Wir haben sogar extra das Kaltgetränke-Angebot im Café dahingehend erweitert«, beruhigte Stine sie. »Aber irgendwie war mir mehr nach Schorle. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich ohne euch hier sitze.«
Ein lang gezogenes, einstimmiges »Ohhh« war die Antwort.
»Meine Liebe, geht es dir gut?« Kirsten klang besorgt. »Ist es vielleicht doch zu viel Stress, dass du jetzt ein Café schmeißt, anstatt auszuspannen? Was macht der Schwindel?«
»Alles gut. Keine Schwindelanfälle. Nur wenn ich über Kopfsteinpflaster gehe oder mich schnell drehe, schwankt es ein bisschen.« Stine versuchte ihrer Stimme einen fröhlichen Klang zu geben, obwohl gerade ein Kloß in ihrem Hals wuchs. Wie gerne wäre sie jetzt bei den beiden. »Ich bin nur heute etwas müde. Es war viel zu tun im Café.«
»Aber es tut dir nicht leid, dass du nach Holtenau gegangen bist, oder?« Kirsten ließ nicht locker.
»Nein, nein. Ich genieße es jeden Tag, das Café aufzuschließen und Gäste zu empfangen. Auch Henri tut es gut. Er kümmert sich um den Einkauf und organisiert alles. Schließlich hat er so etwas früher im Beruf auch gemacht.«
»Ich dachte, er war beim Militär?«
»War er auch. Aber da war er für die Beschaffung zuständig. Wer wäre also besser für den Einkauf geeignet als er? Er hat sämtliche alten Zulieferer von Helga kontaktiert und teilweise noch bessere Verträge ausgehandelt als vorher. Es ist einfach großartig! Bestimmt wird es unter den Umständen für ihn leicht sein, einen neuen Pächter zu finden, sobald ich wieder in Hamburg bin.«
»Aber irgendetwas bedrückt dich doch, oder?« Kirstens Berufskrankheit, das »Bohrer-Syndrom«, wie ihre Freundinnen es nannten, kam wieder durch.
Stine seufzte: »Ja, erwischt. Es ist albern, aber ich fühle mich wie damals, als ich nach dem Studium nach Hamburg kam. Es war so schwer, Anschluss zu finden. Hier in Holtenau sind lauter feste Strukturen und für Neue in meinem Alter scheint da wenig Platz. Selbst der örtliche Sportverein bietet vor allem Kurse für Ältere an. Ich habe mir gerade den Aushang angeschaut. Ich hätte die Wahl zwischen Sitzyoga, Bauch-Beine-Po oder CardioFit. Oder ich schließe mich dem Tanzkurs für Senioren an. Die suchen anscheinend noch dringend Mittänzer.«
»Warst du nicht früher oft die ganzen Sommerferien da? Vielleicht triffst du irgendwann Bekannte aus der Zeit.«
»Wieso seid ihr eigentlich nur zu zweit?«, überging Stine Svenjas Vorschlag. »Wo treibt Ute sich rum?«
»Rumtreiben ist eine gute Bezeichnung.« Kirsten lachte. »Sie hat über eine Dating-App einen Kerl kennengelernt und trifft sich heute Abend mit ihm.«
Sofort erwachte Stines innere Polizistin: »Was weiß sie denn über den Typen? Trifft sie sich an einem öffentlichen Ort? Wisst ihr, wo sie ist, und habt ihr mit ihr einen Zeitpunkt zur Prüfung vereinbart, ob alles okay ist?«
»Ja, Frau Polizistin. Haben wir alles brav gemacht. Was glaubst du, warum Svenja und ich hier am Magdeburger Hafen sitzen? Ute ist mit ihrem Date gegenüber in einem der neuen Restaurants an den Elb-Arkaden. Wir haben sie die ganze Zeit fest im Blick.«
»Sagen wir besser, ich habe sie im Blick. Kirstens Sehstärke ist ja nicht die beste, wie allgemein bekannt ist.« Svenja kicherte.
»Ach, ist das so? Dann erzähle Stine mal, wer von uns beiden gemerkt hat, dass die beiden schon unter dem Tisch füßeln«, trumpfte Kirsten auf.
»Unsere Ute, nicht zu stoppen!« Stine musste lachen. »Dann hoffen wir mal, dass es diesmal was Längerfristiges wird.«
»Sie schaut sich wenigstens um. Wie lange ist es denn bei dir her, dass du ein Date hattest?«
»Eine gefühlte Ewigkeit«, gab Stine zu. »Vielleicht sollte ich auch mal auf eine Dating-App zurückgreifen. Obwohl mir das ja widerstrebt.«
»Fang doch wieder an, Rugby zu spielen«, schlug Svenja vor. »Bei mir hat es doch auch geklappt. Mein Liebster ist einfach nur perfekt.«
»So einen wie deinen Liebsten gibt es bestimmt kein zweites Mal.«
Svenjas Freund spielte beim FC St. Pauli Rugby in der ersten Reihe Sturm und war ein echter Schatz. Svenja betonte gerne, dass sie sich einen Mann ausgesucht hatte, der sie mit ihren 90 Kilo auf Händen tragen konnte.
»Nein, einen wie ihn bekommst du wahrscheinlich nicht. Zu dir würde aber auch eher ein Wing oder Fullback passen, die sind so schön schnittig.« Svenja lachte laut. »Weißt du noch, wie du vor zehn Jahren für den Captain der Springboks geschwärmt hast? Oder diesen Fullback der Iren? Wie hieß der noch?«
»Lass mal, über so eine Schwärmerei bin ich schon lange hinweg.«
»Bist du. Aber sag nicht, dass du einem knackigen Rugbyspieler abgeneigt wärst«, neckte jetzt auch Kirsten.
»Jaja, ich gebe es ja zu. Aber lasst euch wegen meines nicht vorhandenen Liebeslebens nicht von eurer Aufgabe ablenken, Ute zu beobachten« mahnte Stine.
»Da sieht es ganz harmonisch aus. Ich glaube, sie haben gerade die nächste Runde beim Kellner bestellt. Zumindest von weitem macht der Typ einen netten Eindruck. Ist angeblich ein Chirurg am UKE.«
»Der hat bestimmt sehr feinfühlige Hände.« Svenja lachte dreckig.
»Dann wollen wir mal hoffen, dass Ute nicht auf die Idee kommt, das heute noch auszuprobieren. Nie Sex beim ersten Date!«, meldete sich Kirstens Stimme der Vernunft.
»Zumindest nicht, wenn man etwas Festes will«, steuerte auch Svenja eine der typischen Single-Frauen-Weisheiten bei.
»Wie lange hat es denn bei deinem Männe und dir gedauert?«, wollte Stine wissen, obwohl sie die Antwort schon kannte.
»Ach, bei uns war es etwas anderes. Besondere Umstände und viel Alkohol bei der Aufstiegsparty für seine Mannschaft. Da sind wir uns halt näher gekommen …«
»… und gleich am ersten Abend in der Kiste gelandet«, vollendete Kirsten den Satz. »Aber nicht jede von uns hat so ein Glück. Bei mir waren die Typen nach einem One-Night-Stand am nächsten Tag immer weg. Und Stine schießt doch schon jeden ab, bevor es in Richtung Horizontale geht.«
»Ich bin halt vorsichtig«, rechtfertigte sich Stine. »Wenn ihr wüsstet, was alles passieren kann. Gut, dass ihr auf Ute aufpasst.«
»Apropos: Wir müssen jetzt einen Standortwechsel machen. Die beiden haben doch nichts bestellt, sondern bezahlt. Kirsten und ich machen uns an die Beschattung.«
Ohne weitere Worte unterbrach Svenja die Verbindung.
Stine saß noch eine ganze Weile auf der Liege und blickte in die zunehmende Dunkelheit. Der Seewind wurde langsam von der herannahenden Nacht verdrängt. Es war immer noch angenehm warm. Ein paar Möwen liefen vor ihr auf der kleinen Wiese und untersuchten, was die Spaziergänger am Tag hinterlassen hatten. Die Luft roch leicht salzig und ab und zu konnte Stine das Läuten hören, mit der die Öffnung und Schließung der großen Nordostseeschleuse angekündigt wurde. Diese war anders als die kleinen Schleusen in Hamburg 24 Stunden in Betrieb. Henri hatte erzählt, dass der Kanal eine der befahrensten Wasserstraßen der Welt war. Beim Anblick der großen Containerschiffe und der vielen Segler, die nur in den letzten zwei Stunden ein- und ausgeschleust waren, konnte sie sich das sehr gut vorstellen. Die abwechselnd roten, weißen und grünen Lichter des Leitsystems konnte sie auch noch abends von ihrem Schlafzimmer aus sehen. Ich muss jeden Tag dankbar sein, dass ich an so einem schönen Ort sein darf. Soll ich meine Mädels zu einem Wochenende hier oben einladen? Dann lässt vielleicht auch das Heimweh ein bisschen nach. Eine leicht gebückte, große Gestalt mit schlurfendem Gang kam die Kanalstraße herunter. Stine hörte Krallen über den sandigen Boden ratschen. Ein kleiner schwarz-weißer Kopf tauchte neben ihr auf und schnüffelte an ihrer Hand. Wieder erklang der Schrei einer jungen Möwe. Sofort suchten die schwarzen kleinen Augen den Uferbereich nach dem Verursacher des Schreis ab.