Magdalena Sonnbichler - Alexandra Scherer - E-Book

Magdalena Sonnbichler E-Book

Alexandra Scherer

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Beschreibung

Ein durch Unterkühlung verstorbener Landstreicher, ein vergiftetes Getränk am Martinimarkt und kunstvoll beschriebene Zettel mit rätselhaftem Inhalt. Inmitten von Fasnachtstraditionen und weihnachtlichen Vorbereitungen treibt ein fanatischer Mörder sein Unwesen. Magdalena Sonnbichler ahnt, dass etwas Größeres dahintersteckt, doch ihre Neugier stößt nicht überall auf Gegenliebe. Wer ist die junge Obdachlose? Wovor hat sie Angst? Und woher kommen Lenis Alpträume, in denen ein Teufel und ein Engel die Hauptrollen spielen? Ein eiskalter Krimi im winterlichen Allgäu.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

12/2020

 

Magdalena Sonnbichler – Eiskalter Tod

 

© by Alexandra Scherer

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2020 by Creativ Work Design, Homburg

Lektorat: Paul Lung, Anna Lena Diel

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Lena Widmann

Autorenfoto: privat

 

Coverbild ›Ekstase‹

© 2019 by Hygin Graphix

Coverbild ›Tote lesen keine Krimis‹

© 2017 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Richter und die Schande der Familie‹

© 2020 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Pleiten, Pech und Leichen‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

 

ISBN 978-3-96741-064-8

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

Printed in Germany

 

 

Alexandra Scherer

 

Magdalena Sonnbichler

-

Eiskalter Tod

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Allgäu-Krimi

 

 

 

 

 

 

 

Auch wenn viele Schauplätze in diesem Roman real sind, Figuren und Namen von Personen sind frei erfunden. Jede Übereinstimmung wäre rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

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28.

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30.

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81.

82.

83.

84.

85.

86.

87.

88.

89.

Nachwort

Danksagung

DIE AUTORIN

Hybrid Verlag …

 

Prolog

 

Ein Wagen hielt neben dem Mann, der mit hoch bepacktem Rucksack die Landstraße entlangging.

»Wo musst denn hin?«

»Nach Wanga zum Markt. Beim Aufbau helfa.«

Der Fahrer schüttelte den Kopf. »Soweit komm i net, aber a Stückle kann i di scho mitneama. Komm steig ei. S’isch saukalt. Leg dein Rucksack auf da Rücksitz.« Er entriegelte die Beifahrertür und ließ den Wanderer einsteigen.

Der Vagabund tat wie geheißen und setzte sich neben seinen Wohltäter. Der betrachtete seinen Passagier von oben bis unten. Eine schwarze Wollmütze hielt den Kopf warm. Trotzdem leuchtete im hageren Gesicht eine bläulich—rot angelaufene Nase. Parka und Hosen stammten, ebenso wie die fingerlosen Handschuhe, aus alten Bundeswehrbeständen.

»Hunger?«, fragte er den Mann, der ob der genauen Musterung den Blick auf seine Hände senkte und diese wie zum Gebet verschränkte.

»Scho«, murmelte er

»Hinta. In meiner Tasch.« Der Fahrer deutete vage auf den Rücksitz, während er den Wagen wieder auf die Straße lenkte.

In einer altgedienten Ledertasche fand der Vagabund ein dick belegtes Vesperbrot, eine Isolierkanne und eine Flasche Hochprozentigen.

Der Fahrer blickte kurz zur Thermoskanne, bevor er sich wieder auf die kurvenreiche Landstraße konzentrierte. »Kaffee. Trink nur. Und wenn du magst, kannsch den Schnaps gern mitnehmen. Selbstgebrannter Birnenschnaps. Ich experimentier grad a bissle.«

»Vergelt’s Gott.«

Eine Weile herrschte Schweigen, während der eine aß und trank und der andere sich auf die enge Landstraße konzentrierte. Der Duft nach Kaffee, kombiniert mit der Wärme in der Fahrerkabine und dem gleichmäßigen Brummen des Motors ließen die Augenlider des Passagiers schwer werden. Während die Wiesen in der Novemberdämmerung versanken, versank auch er in Schlaf. Plötzliche Stille ließ ihn hochfahren.

»So, hier musch raus.« Sein Chauffeur hielt auf einem Wanderparkplatz im Wald an.

Der Wanderer kletterte aus dem Auto, das sofort weiter fuhr. Eine Weile stand er ratlos mitten im Nirgendwo. Dann zuckte er mit den Schultern und schloss fröstelnd seinen Parka gegen die eindringende Kälte. Manche Leute hatten komische Ideen, was helfen bedeutete. Er sah sich um: Neben dem von Wald umgebenen offen Platz machte er in der schnell zunehmenden Dunkelheit einen Holzschuppen aus. Bei näherer Betrachtung erkannte er, dass drei Seiten des Gebäudes geschlossen waren. Die vierte Wand der Hütte endete auf halber Höhe, um einerseits Schutz vor der Witterung, andererseits auch Zugang zu gewähren. An dieser Holzwand prangte eine große Wanderkarte. Der Vagabund ging über den knirschenden Kies auf das Gebäude zu und musterte die Karte im Schein einer kleinen Taschenlampe. Wangen wäre heute nicht mehr zu schaffen.

Aber er hatte schon an schlechteren Plätzen übernachtet, als in so einer Schutzhütte und wenigstens war ein Essen für ihn herausgesprungen. Kurz darauf lag er eingemummelt in seinen Schlafsack in einer Ecke des Verschlages und streichelte liebevoll über die Flasche Selbstgebrannten, bevor er den ersten Schluck nahm. Der Schnaps schmeckte rauchig bitter. Heute Nacht würde er gut schlafen.

 

1.

 

»Ich komm ja schon!« Leni eilte schimpfend zum laut schrillenden Telefon, das in der Eingangshalle ihres Hauses stand. »Das Gebimmel kann ja Tote aufwecken.« Sie nahm den Hörer in die Hand und blaffte: »Sonnbichler.« Ihre Laune wurde noch schlechter, als die Kälte des gefliesten Bodens durch die zu dünnen Hausschuhsohlen drang.

—Wahrscheinlich wieder so ein Call—Center, irgendwo in Neu Dehli oder Thüringen.—

»Hallo meine Liebe. Ich wollt fragen, ob du mit mir auf den Martinimarkt gehst?«

Soviel zum Thema siebter Sinn. Hätte sie gewusst, dass ihre Jugendliebe Schorsch am Apparat war, hätte sie dem Reflex widerstanden, das Gespräch anzunehmen. Sie wollte sich nicht mit dem Thema Schorsch auseinandersetzen.

—Gib’s zu, du bist nur sauer wegen der Leiche.—

Leni verzog das Gesicht.

Warum musste er auch gerade an dem Tag bei mir aus heiterem Himmel aufzukreuzen? Überhaupt, wer macht denn sowas: Ich zieh grad ein und da steht er einfach vor meiner Haustür und verursacht mir nach all den Jahren Herzklopfen.

—Wirklich unsensibel von ihm.— Lenis innere Stimme war der Sarkasmus anzuhören. —Er konnte ja nicht wissen, dass du erst deine Familienprobleme verarbeiten wolltest. Andererseits, wenn der Mann warten würde, bis du da durch bist, wäre er neunzig.—

Pff… und dann machen wir diesen Spaziergang im Hexenwald.

—Den du vorgeschlagen hast, weil du ihn aus dem Haus haben wolltest.—

Und ich stolpere über diese Leiche, und die Polizei hält mich für verdächtig.

Noch im Nachhinein schüttelte Leni ungläubig den Kopf.

—Was regst dich denn so auf? Schließlich hast du entscheidend zur Lösung des Falles beigetragen.—

Aus reiner Selbstverteidigung, sonst würde ich wahrscheinlich jetzt im Gefängnis sitzen.

Leni hatte im Zuge der Ereignisse um den Tod am Hexenwasser lernen müssen, zu ihren Fähigkeiten zu stehen, auch wenn es viele Menschen gab, die empathisch veranlagten Personen skeptisch gegenüber standen.

Schorsch, der am anderen Ende der Telefonleitung von Lenis innerem Streitgespräch nichts mitbekam, fuhr fort: »Ich weiß, du wolltest etwas Abstand haben und ich werd dich auch nicht weiter belästigen. Aber ich dachte, du würdest gerne den Martinimarkt besuchen. Es ist schon ewig her. Erinnerst dich noch? Du, ich und Christian sind immer gegangen. Früher warst du total begeistert.«

Täuschte Leni sich, oder klang die Stimme ihres Jungendfreundes Georg Ansbach unsicher? Ihr Herz schlug schneller. Die barsche Antwort für den Call-Centeranrufer blieb ihr im Rachen stecken.

—Komm, jetzt gib dem Mann ‘ne Chance—, meldete sich ihre innere Stimme.—Du magst ihn doch.Mach es ihm nicht so schwer. Ist doch nur ein Tag auf dem Rummel.—

Verräter! Du hättest mich ruhig warnen können, wer da anruft.

—Damit du dich drücken kannst? Kommt gar nicht in Frage.—

Leni knirschte mit den Zähnen.

»Leni? Bist du noch dran?«

»Sorry. Hatte grade einen Frosch im Hals.« Sie räusperte sich übertrieben, um ihrer kleinen Lüge etwas mehr Glaubhaftigkeit zu verpassen.

—Wohl eher eine Kröte verschluckt.—

»Und, was sagst? Nur ein bisschen bummeln. Ganz und gar ohne Hintergedanken.«

—Ein paar Hintergedanken wären nicht schlecht—, brummelte es in Lenis Kopf und diverse Bilder inniger Zweisamkeit blitzten auf einer inneren Kinoleinwand auf.

»Also von mir aus«, seufzte sie und legte auf, bevor Schorsch noch etwas sagen konnte. Leni wusste selbst, dass sie pampig klang, konnte das aber nicht ändern.

Kurz darauf stand sie wieder in ihrer Wohnküche und blickte aus dem Fenster auf die inzwischen kahlen Obstbäume.

»Für eine Frau in deinem Alter benimmst du dich ganz schön zickig«, tadelte sie ihr Spiegelbild, das sich schemenhaft in der Fensterscheibe abzeichnete und streckte sich selbst die Zunge heraus.

Ein für ihr Alter doch kindisches Verhalten, aber: »Was heißt schon, Frau in meinem Alter? Ich bin noch viel zu jung, um mir das mit dem würdevoll anzutun.« So laut ausgesprochen klang es lächerlich. Vor fünfundzwanzig Jahren, kurz nach dem Abitur, da hatte sie sehr auf ihre Würde und wie sie nach außen wirkte geachtet.

—Das war mit ein Grund, warum das mit dem Schorsch damals schiefging—, mischte sich ihre innere Stimme ein.

Leni musste ihr — zumindest teilweise — recht geben.

Er macht es mir aber nicht gerade leicht. Taucht da plötzlich auf und macht mir den Hof. Ich versuche, mir darüber klar zu werden, wie ich mein zukünftiges Leben gestalten will.

Dazu gehörte unter anderem auch, herauszufinden, ob und inwieweit Georg Ansbach ein Teil dieses Lebens sein sollte.

Ich hab schließlich nicht gerade die Beziehung zu Theo beendet, um dann gleich in die nächste zu rutschen.

—Na ja, ob man das mit Theo als Beziehung bezeichnen kann?— Ihre Kopfstimme klang skeptisch. —Er hat dich nach Strich und Faden ausgenutzt und du hast es nicht mal gemerkt.—

Leni verzog das Gesicht. Die Wahrheit tat weh. Warum genau sie auf Theo Brück hereingefallen war und fast fünf Jahre lang, teilweise wider besseres Wissen, ihre Wünsche seinen untergeordnet hatte, konnte sie im Nachhinein auch nicht begreifen. Wut stieg in ihr auf, weniger auf Theo als auf sich selbst. Als Heilpraktikerin sollte sie doch in der Lage gewesen sein, den gesunden Menschenverstand, den ihre Patienten so schätzten, auch bei sich selber einzusetzen. Leni ballte die Fäuste, unwillkürlich entfuhr ihr ein Knurren. Sie war so dumm gewesen. Die Zeichen waren da gewesen, ihre innere Stimme hatte sie mehrmals versucht zu warnen, aber Leni hatte sie ignoriert.

—Wohl auch, weil du deiner Intuition und deiner speziellen empathischen Begabung dein Leben lang misstraut hast. Kein Wunder, bei deinem Vater. Aber trotzdem: Man kann vor seinen Problemen nicht davonlaufen. Die warten geduldig. Und je länger du sie ignorierst, desto mehr Zeit haben sie, sich gigantisch aufzubauschen. Jetzt hör auf, dich hier auf dem Einsiedlerhof zu vergraben. Raus mit dir, mach einen Spaziergang!—

Leni gab nach. Vielleicht gar keine schlechte Idee, durch den Wald zu streifen und sich den Frust von der Seele zu schreien. Sie zog sich ihre Lieblingsjacke über, eine dieser Wachsjacken, die vor Jahren in Großbritannien so beliebt waren, schlüpfte in festes Schuhwerk und ging los. Kurze Zeit später befand sie sich auf dem Wiesenweg, der sie in den Hexenwald bringen würde. Der Novembertag verhielt sich trüb, auch gegen Mittag war es noch recht dunkel, über den Wiesen waberte leichter Bodennebel. Leni atmete tief ein, der Geruch nach feuchtem Laub beruhigte sie. In den kahlen Ästen der Bäume, die aus dem Nebel herausragten, saßen Krähen, die laut krächzend auf sich aufmerksam machten. Sie hielt inne und betrachtete die Krähenschwärme nachdenklich. Sie mochte die Rabenvögel. Trotzdem zögerte sie kurz.

—Feigling.— Der innere Kommentator klang amüsiert. —Nur weil das letzte Mal die Krähen dir von der Leiche berichteten, muss heute keine rumliegen. Die Vögel haben auch ein Recht darauf, einfach da zu sein, ohne dass Frau Sonnbichler sie gleich als Omen sieht.—

Leni gab ihrer inneren Stimme recht. Eine Schwalbe machte noch keinen Sommer und ein Krähenschwarm musste nicht unbedingt immer gleich eine Leiche nach sich ziehen. Sich im Haus einigeln und trüben Gedanken nachhängen tat ihr nicht gut. Zügig schritt sie den Weg entlang und bog kurz darauf in den Hexenwald ein. Sie atmete tief ein und wurde gleich ruhiger. Der leicht modrig-erdige Geruch der nassen Walderde stieg ihr in die Nase. Kurz überlegte sie, ob sie im unter den Bäumen liegenden Laub noch ein paar Pilze finden würde. Verwarf dann den Gedanken, ebenso wie die Idee, ein paar Ebereschenäste zu pflücken für einen Herbststrauß.

Über die Jahrzehnte hatte sich der Wald deutlich verändert, fand Leni. Dort, wo zu ihrer Jugendzeit noch Fichten alles in Düsternis hüllten, wuchs heutzutage Mischwald und nur noch vereinzelt ragten Nadelbäume gen Himmel.

Ich weiß noch, wie ich als Kind immer Angst hatte, weil alles so bedrückend wirkte und der Boden so mit Fichtennadeln bedeckt war, dass nichts anderes mehr drauf wachsen konnte. Da finde ich das Unterholz jetzt doch deutlich lebendiger.

Wie von selbst führten sie ihre Schritte gut eine Stunde später auf den Huberhof.

Bei den Hubers konnte sie sich eines Willkommens immer sicher sein, meist begleitet von einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen.

Lenis Erwartung wurde nicht enttäuscht. Käthe Huber öffnete. »Grüß dich, Leni.« Lächelnd hielt sie die blau bemalte Holztür weiter auf. Käthes blondes Haar war teilweise aus ihrem französischen Zopf entkommen und bildete im Gegenlicht eine Art Heiligenschein.

Wie ein Rauschgoldengel.

»Komm rein und leiste mir Gesellschaft. Der Kilian ist im Wald, Holz schlagen, und die Huber-Oma besucht ein paar Bekannte im Altenheim. Ich hab gerade Kaffee gemacht.«

In der großen Wohnküche fiel Lenis Blick auf den runden Tisch, der sie immer an König Artus’ Tafelrunde denken ließ. Dort breitete sich ein buntes Durcheinander von Laternenpapier, Klebestiften und anderem Bastelmaterial aus. Im Hintergrund spielte ein Radiosender Popmusik. Nach dem Spaziergang durch den Novemberwald umfing Leni die Wärme des Kachelofens wie eine Umarmung. Es roch nach frischem Kaffee und Hefegebäck. Sie deutete lächelnd auf Käthes rundes Bäuchlein. »Riecht gut, aber sag mal, bist du mit Laternenbasteln nicht etwas vorschnell? Dein Kind kommt frühestens in drei Jahren in den Kindergarten.«

Käthe schenkte Leni Kaffee ein und schnitt ein Stück Kuchen ab. »Schau mal, ob dir das schmeckt. Friesischer Streuselkuchen. Das Rezept hab ich noch von meiner Großmutter.« Anschließend schob sie Leni Material für eine Laterne zu. »Probier’s mal. Es macht Spaß. Esme hat mich drauf gebracht.«

Leni rührte lange in ihrer Kaffeetasse. Esme war Schorschs Tochter. Immer wenn es um Esme ging, bekam sie mentale Zahnschmerzen.

Außerdem dachte ich, dass Käthe meine Freundin ist. Jetzt ist Esme auch schwanger. Da kann ich nicht mehr mithalten. Käthe und Esme sind im Alter näher beieinander. Schade.

»Ich dachte mir«, fuhr Käthe fort, »ich lade Frau Makaschek und ihre vier Kinder zum Laternenumzug in der Fachklinik ein. Der Umzug ist ja öffentlich. Esme kommt auch mit ihrer Kleinen. Hast du Lust? Anschließend gibt es Martinsgänse und Kakao.« Käthe rollte das R in Martinsgans, wie nur ein Nordlicht es konnte.

»Mal sehen«, wich Leni aus und konzentrierte sich auf ihre Laterne. Das —Feigling— in ihrem Kopf überhörte sie geflissentlich.

Mehrere Tassen Kaffee und einige Stückchen Kuchen später, begab sie sich auf den Heimweg.

»Es ist schon zu dunkel, durch den Wald zu gehen«, äußerte Käthe ihre Bedenken. »Soll ich dich heimfahren?«

Leni winkte ab. »Nein. Lass gut sein. Ich geh über die Landstraße zurück. Das ist die Gelegenheit, meine Laterne auszuprobieren.«

Sie ließ sich von Käthe ein Teelicht geben und anzünden.

»Bist du sicher, dass ich dich nicht fahren soll?«, bohrte Käthe nach.

Hätte Käthe nicht nochmal gefragt, wäre sie wahrscheinlich schwach geworden und hätte sich heimkutschieren lassen, schließlich war es schon recht kühl und der verdrückte Kuchen machte sie schläfrig. Aber so fühlte sie sich verpflichtet, keine Schwäche zu zeigen.

»Passt scho. Der Spaziergang wird mir gut tun. Pfiat di.«

—Und helfen, dass du nicht frühzeitig an Herzverfettung stirbst.—

Ihre innere Stimme klang belustigt.

Kurz darauf lief Leni zügigen Schrittes die dunkle Landstraße entlang, die sie nach einigen Kilometern nach Unterweiler bringen würde. Von dort war es nur noch ein Katzensprung zum Sonnbichlerhof.

—Katzensprung ist gut, alles in allem läufst du da schon noch ‘ne gute Stunde.—

Wer hat gemeint, ich soll raus und laufen?

—Dass du immer gleich so übertreiben musst.—

Lenis Mundwinkel zuckten. Sie genoss es, mit sich selber zu streiten.

Eine Weile lief sie schweigend durch die stetig schattenhafter werdende Landschaft und konzentrierte sich auf das warme Licht, das von ihrer bunten Laterne ausging. Wie von selbst tauchten Lieder aus längst vergangener Kinderzeit in ihrem Kopf auf.

Sie sang laut und schräg: »Ich gehe mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir.« Der altmodische Einkaufskorb, von Käthe mit allerlei Leckereien gefüllt, schwang im Takt mit. »Rabimmel, rabammel, rabumm.«

—Dir ist schon klar, dass du dich kindisch benimmst?— Ihre innere Stimme klang genervt, aber Leni ließ sich die gute Laune nicht verderben. Stattdessen sang sie: »Wo man singt, da lass dich ruhig nieder. Böse Menschen kennen keine Lieder.«

—Dann lieber das mit der Laterne.—

Ach komm. Sei doch nicht so miesepetrig. Nach so einem perfekten Tag.

—Stimmt schon, Käthe macht gute Kuchen.—

Nun, kurz vor der Abzweigung nach Unterweiler, der kleinen Ansammlung von Häusern, die die Sackstraße zum Sonnbichlerhof bewachte, sang Leni lauthals.

»Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne.« Vielleicht wäre es doch lustig, beim Laternenumzug mitzulaufen …

Sie blickte nach oben in den sternenklaren Novemberhimmel. Dort blinkten Myriaden von Sternen, hier unten … Sie blinzelte, ihr Schritt verlangsamte sich. Weiter vorn blinkte neben der Straße etwas bläulich zwischen den Bäumen.

—Ein Unfall?—

Lenis Herzschlag beschleunigte sich. Sie querte die Straße, um die Einfahrt zum Wanderparkplatz zu erreichen. Vielleicht könnte sie helfen.

»Halt, junge Frau. Wo wollen Sie denn hin?« Ein Polizeibeamter, dessen Wagen den Zugang zum Parkplatz versperrte, trat ihr entgegen.

—Junge Frau ist gut, schließlich winkt die Zahl mit der Fünf vornedran schon sehr heftig.— Ihr Kommentator klang amüsiert, während Leni die Augen zusammenkniff, um die massive Gestalt besser sehen zu können. Der entspricht auch nicht unbedingt dem Image des fitten Polizeibeamten. Eindeutig viel zu hoher Body-Maß-Index.

»Ich wollte gucken …«, begann Leni und sah ihn unsicher an.

»Dees homma gern.« Der Polizist leuchtete seine Taschenlampe direkt in Lenis Augen. Während seine Stimme bedrohlich laut wurde. »Sogar hier draußen tauchen die Gaffer schneller auf als der Rettungsdienst. Schämen Sie sich!« Er deutete mit der Taschenlampe Richtung Straße.

»Ich bin doch kein Gaffer«, empörte sie sich. »Ich wollte schauen, ob ich helfen kann.«

»Frau Sonnbichler, wenn ich mich recht erinner.«

»Kennen wir uns?« Sie blinzelte gegen das Licht der Taschenlampe. Der Tonfall des Polizisten ließ nichts Gutes vermuten.

»Ich war damals dabei, als Sie die Leiche am Hexenwasser gemeldet haben. Irgendwie scho komisch, dass Sie alleweil umanander sind, wenn die Leit was passiert.« Er räusperte sich und spuckte aus.

—Eindeutig kein Fan von dir.—

Lenis Magen zog sich zusammen. »Nicht schon wieder ein Mord?«

Der Beamte schüttelte den Kopf. »Ein Landstreicher. Hat hier im Unterstand übernachtet und gesoffen.«

Sie blickte dem abfahrenden Rettungswagen nach. »Kein Blaulicht. Er hat’s wohl nicht geschafft.« Ihr Magen fühlte sich plötzlich an, als hätte ihr jemand einen Faustschlag versetzt.

»Lassen Sie uns unsere Arbeit tun. Gehen Sie nach Hause. Hier gibt es für Sie nichts zu sehen.«

Der unfreundliche Ton des Beamten löste Widerstand in ihr aus. »Ich nehme an, Sie sind ein Freund von Kriminalkommissar Jürgen Wagner.«

»Das tut nichts zur Sache. Gehen Sie jetzt bitte weiter.«

—Sie behindern den Verkehr—, spöttelte Lenis innerer Kommentator. —Schon komisch, wie die Antipathie eines Vorgesetzten gleich dazu führt, dass die Streifenpolizisten nachziehen. Und hast du gesehen, wie er deine Laterne beäugte? Dem sollte man glatt noch eins auswischen.—

»Grüßen Sie den Herrn Wagner von mir und natürlich auch den Hauptkommissar Maier und erinnern Sie ihn bitte an das Essen nächste Woche bei mir. Ich mach extra sein Lieblingsgericht.« Leni grinste den Mann in Uniform an, bevor sie sich umwandte und weiterging.

Sobald sie ihren Weg fortsetzte, erlosch ihr Grinsen.

—Schäm dich! Einfach ‘ne Essenseinladung zu erfinden. Es wäre nicht nötig gewesen, dem Mann unter die Nase zu reiben, dass du mit seinem Vorgesetzten befreundet bist.—

Schweigend legte sie den restlichen Weg nach Hause zurück. Auf dem letzten Kilometer fühlten sich ihre Füße bleischwer an. Die bunte Laterne erinnerte sie an eines der Seelenlichter, wie sie zu Allerheiligen auf das Grab ihrer Eltern und ihres Bruders standen. Sie zitterte. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Metallisch bitterer Geschmack lag ihr auf der Zunge.

 

2.

 

»Wieso kann die Frau Sonnbichler nicht einfach verschwinden?« Kriminalkommissar Jürgen Wagner trat gegen den Papierkorb in seinem Büro und knallte eine Akte auf seinen Schreibtisch.

»Ein Antiaggressionstraining würde dir nicht schaden.« Christine richtete sich auf und schaute über den Wall aus Zimmerpflanzen, der die Grenzlinie zwischen ihrem und Jürgens Schreibtisch markierte.«

»Halt du dich da raus. Die Frau nervt einfach.« Er wedelte mit den Händen, als wollte er eine lästige Mücke vertreiben.

»Was ist denn los?« Christine klickte mit der Maus auf ‚Datei speichern’ und unterdrückte einen Seufzer.

»Die Kollegen von der Streife wurden gestern gerufen, weil Wanderer einen Toten gefunden haben.« Er fuhr sich mit den Fingern durch sein pomadegetränktes Haar.»Dreimal darfst du raten, wo.«

Christine vergaß ihre Absicht, deeskalierend zu wirken. »Ich kombiniere, dass der Fundort auf dem Sonnbichlerhof liegt und du denkst jetzt, die Frau Sonnbichler hat jemanden um die Ecke gebracht.« Sie setzte sich aufrechter hin, um Jürgen besser sehen zu können. Es fiel ihr schwer, die Mundwinkel neutral zu halten. Christine fand, dass ihr Kollege mit seiner Vorliebe für karierte Hemden und auffälligen Gürtelschnallen wie ein Cowboy aus Fünfziger-Jahre Filmen wirkte, dabei waren er und sie gleich alt.

»Schön wär’s Dann könnte ich sie einsperren und hätte meine Ruhe.« Ihr Kollege fuhr sich mit einem Finger in den Hemdkragen, als wäre ihm dieser plötzlich zu eng. »Nein, es handelte sich um einen Landstreicher in einem Unterstand, in der Nähe von Unterweiler. Du erinnerst dich, da gibt es diesen Wanderparkplatz. Wahrscheinlich war der Mann besoffen und ist erfroren.«

Christine legte den Kopf schief, während sie Jürgen weiter beobachtete. »Klingt nach Routine. Also, wo ist das Problem?«

»Das Problem?« Jürgen presste seine Worte durch zusammengebissene Zähne. »Der Alois Weber hat mir erzählt, die Sonnbichler taucht auf, gerade, als der Notarzt den Tod feststellt, und will ihre fette Nase reinstecken.« Der Bleistift in seinen Händen zerbrach. »So, wie der Alois das schilderte, ist die alte Schachtel doch tatsächlich wie ein Rotkäppchenverschnitt, eine Martinilaterne schwingend, auf der Landstraße dahergewackelt gekommen. Die kann man doch nicht ernst nehmen!« Er warf die zerbrochenen Bleistiftstücke in den Papierkorb. »Als der Kollege sie darauf hinwies, dass sie Land gewinnen soll, hat sie gleich die Ich—kenn—den—Chef—Karte ausgespielt.« Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und rieb gedankenverloren seinen Ringfinger. »Ich sag dir, die ist nicht ganz dicht.«

Christine schüttelte den Kopf. »Irgendwie klingt das gar nicht nach Frau Sonnbichler. Das mit dem auf der Landstraße Lieder singen schon — aber der Rest?«

»Ich lass es nicht drauf ankommen. Nicht, dass sie dem Chef beim sonntäglichen Essen Flausen in den Kopf setzt, ich würde nicht gründlich arbeiten. Die alte Schabracke hat es auf mich abgesehen.«

Christine schüttelte ihren Kopf so heftig, dass ihr zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar wild hin und her schwenkte. »Du klingst paranoid. Die Frau Sonnbichler ist echt nett. Nur ein wenig verschroben. Ich versteh nicht, was du gegen sie hast.«

»Die verkauft Leute für dumm mit ihrem esoterischen Quatsch. Meine Kollegen in Stuttgart —«

»Ach komm, nicht schon wieder das Gequake. Das war ihr damaliger Freund, dieser Theo — wie hieß er doch gleich noch? — Nicht die Frau Sonnbichler, und das weißt du auch.« Christine klopfte mit der Faust auf den Schreibtisch.

»Nur weil sie sich da rausgewunden hat und immer alle auf sie reinfallen.« Jürgen bleckte die Zähne.

»Ich lass mir von der Sonnbichler jedenfalls nicht schlampiges Arbeiten unterstellen. Ich hab den Pathologen angewiesen, bei dem Landstreicher eine gründliche Obduktion durchzuführen. Volles Programm. Nicht, dass die Frau nachher noch behauptet, ihr sei der Geist des Typen erschienen und hätte ihr exklusiv mitgeteilt, er sei vergiftet worden.«

 

3.

 

—Manche Dinge ändern sich nie. Das war schon immer ein Theater, bis man am Martinimarkt einen Parkplatz kriegt. Du hättest beim Universum vorbestellen sollen.—

Es dauerte eine gute Viertelstunde, bevor Leni auf dem großen Parkplatz am Einkaufszentrum eine freie Lücke fand.

Sie zog den Reißverschluss ihres Anoraks bis unters Kinn und versenkte die Hände tief in den Jackentaschen, während sie in den grauen Himmel blickte. Hochnebel, vermutete sie, denn als sie vom Sonnbichlerhof losgefahren war, schien noch die Sonne.

—Würde man hier glauben, dass nicht weit weg, ein blauer Himmel herrscht? Mit Sonne wäre das ein wirklich toller Markttag.—

Zügig schritt sie zur Fußgängerbrücke, die in die Altstadt führte. Außer den vielen Menschen, die in die gleiche Richtung strebten, konnte sie hier noch nichts von Wangens größtem Jahrmarkt entdecken.

Als sie den Fußgängersteg überquerte, blickte sie zur Seite. Dort spannte sich, einige Meter höher parallel zu ihrer eigenen, die Gallusbrücke. Leni fielen die Landstreicher auf, die unter der Überführung kampierten.

Die Landstreicher ziehen wenigstens einen Nutzen aus dem blöden Ding.Mal sehen, wie lange die da bleiben dürfen. Komisch, dass die sich Hunde halten. Wie können sie die Tiere mit durchfüttern? Die haben doch selber nicht viel. Leni seufzte. So ein Hund hätte schon was.

—Schöne Tiere. Deutlich gepflegter als ihre Besitzer.—

Ob sich Fräulein Mikesch mit Hunden verträgt? Sie würde Schorsch nachher gleich fragen. Das wäre ein unverfängliches Thema. Seine Katze wohnte zurzeit auf dem Sonnbichlerhof. Er hatte sie dort gelassen, als eine Art Brückenkopf, wie Leni vermutete.

Sie fühlte sich unsicher. Sie hatte ihren Freund nach den Ereignissen am Hexenwasser im Oktober nicht mehr gesehen. Nur noch mit ihm telefoniert.

Sie bog in die Schmiedstraße ein, wo die ersten Marktstände mit ihren Waren lockten. Leni verlangsamte ihren Schritt und schielte im Vorbeigehen auf die Auslagen.

Später! Sind eh hauptsächlich Klamotten. Zuerst das Treffen mit Schorsch.

Sie lenkte ihre Schritte in die kleine Seitengasse des Fachwerkhauses, dort, wo die Eingangstüre zum Wohnbereich war. Wie alle Häuser in der Schmiedstraße befanden sich im Erdgeschoss Läden. Die Architekten hatten teilweise recht kreativ werden müssen, damit die Wohnungen in den oberen Stockwerken zugänglich blieben, ohne dass Besucher durch die Läden tapsen mussten. Lenis Herz schlug schneller, als sie klingelte. Kurz darauf knisterte es in der Gegensprechanlage. Leni räusperte sich zweimal, bevor ihre Stimme Kraft fand.

»Hallo Schorsch. Ich bin’s.«

Die elektronische Türverriegelung summte und sie drückte gegen den schwarzen quadratischen Türknauf der Milchglastür.

Ihr Magen zog sich zu einem harten kalten Klumpen zusammen. Kein Hallo?

Oben am Treppenabsatz ragte Georg Ansbach mit seinen fast zwei Metern und hielt ein Telefon ans Ohr.

Er bedeutete ihr mit einer Geste, heraufzukommen.

Leni fühlte, wie sich Tränen in den Augenwinkeln sammelten und sich in ihrem Hals ein dicker Kloß bildete.

—Was hast denn erwartet? Eine stürmische Begrüßung? Du hast ihm doch erst vor ein paar Wochen gesagt, dass du Zeit brauchst, alles zu sortieren. Dass es dir einfach zu schnell ging. Wie er’s macht, macht er’s falsch.—

Gedanklich zog Leni einen Flunsch. Sie hasste es, wenn ihre innere Stimme den Finger genau auf den Knackpunkt legte.

Schorsch fuhr mit seinem Telefonat fort und winkte ihr zu, um seine Augen bildeten sich Lachfältchen.

Während sie sich die steile Steintreppe hocharbeitete und dabei leicht außer Atem geriet, schwärmte ihr innerer Kommentator: —Mit der Stimme sollte er Fernsehmoderator werden.—

Leni knurrte und hielt sich am Geländer fest, nicht dass sie auf den hellen Steinstufen ausrutschte. Ein Schwarm für jede Frau. Ich werd mich nicht in die Schlange einreihen. Schorsch stand derweil oben am Treppenabsatz und winkte ihr, sich zu beeilen.

»Ich weiß nicht. Ob die mitmachen?« Er fuhr sich mit der einen Hand durch die kurzen grauen Haare. »Die sind doch froh, ihre Erfahrungen hinter sich zu lassen. Das alles noch mal aufrühren? … Sie haben recht, es gäbe eine tolle Serie. Ich bereite ein Konzept vor und melde mich die Tage.« Er beendete das Gespräch, gerade als sie, leicht außer Atem, oben am Treppenabsatz ankam.

Er umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Griaß di Mädle. Schön, dass du da bist. Ich habe noch nicht mit dir gerechnet. Bist ja schon wieder ganz zerzaust.« Zärtlich lächelte er sie an.

Diese Augen … Lenis Knie wurden weich, als sie sein Rasierwasser erschnupperte. Sandelholz und blaue Augen wie das Meer. Sie hielt gerade noch einen wohligen Seufzer zurück und grummelte: »I kann ja ganga, wenn’s dir it passt.« Dabei kuschelte sie sich an seine Brust. Sie liebte rot karierte Flanellhemden.

»Passt scho. Drüben in der Küche steht Kaffee. Nimm dir einen. Ich muss mir noch schnell ein paar Sachen aufschreiben. Ich habe einen Auftrag.« Er drehte sie Richtung Kaffeemaschine und gab ihr einen Klaps aufs Hinterteil.

Der Klumpen im Magen löste sich auf.

—So schlimm war das gar nicht. Er mag dich doch noch.—

Zufrieden mit der Begrüßung, aber aus Prinzip halblaut protestierend, schenkte sie sich einen Kaffee ein. Sie stellte sich mit ihrem Becher in den Rahmen zu Schorschs Arbeitszimmer und sah ihm zu, wie er verschiedene Papiere abheftete und sich Notizen machte. Der Raum wirkte durch die vielen Möbel klein. An jeder verfügbaren Wand stand entweder ein Regal oder ein Schrank. Bücher und Leitzordner drängten sich bis unter die Decke und ließen sie an eine Kolonie von Pinguinen auf einem kargen steilen Felsen denken. Immer wenn er irgendwo einen Ordner reinschiebt, fällt wo anders einer raus.

Die Türen der meisten Schränke schlossen nicht ganz.

—Wenn die Möbel aus dunklem Holz wären, dann käme man sich wie in einer Höhle vor. So wirkt es eher, wie eine Werbung für dieses schwedische Möbelhaus.—

Unter dem einzigen Fenster stand ein heller Esstisch aus massivem Holz, der als Schreibtisch Dienst tat. Leni vermutete Zirbel. Auf der Tischplatte konnte sie gerade noch Schorschs metallisch blauen Laptop erkennen, der halb vergraben unter losen Blättern, Zeitungsausschnitten und einigen Aktenordnern lag.

—Ich frage mich, wie er es schafft, dass hier nicht alles staubig ist.—

»Ich soll eine Artikelserie über Menschen schreiben, die eine Haftstrafe abgesessen haben und nun wieder draußen sind.« Ihr Freund hielt einen der Ordner in der Hand und schob ihn anscheinend willkürlich in eine Lücke des Regales, das die gesamte linke Wand des kleinen Raumes einnahm.

»Wieso dass denn? Ich glaube nicht, dass jemand, der aus dem Gefängnis rauskommt, drüber noch breit in der Öffentlichkeit berichten will. Ich stell mir das mit dem Sich—wieder—Integrieren eh schon schwer vor.« Leni dachte an ihre eigene Vergangenheit, Theos Betrügereien, die Umstände, die den Tod ihres Ehemanns umgaben und konnte sich nicht vorstellen, darüber einem breiten Publikum zu berichten. »Außerdem, dein Käsblättle agiert doch lokal. So viele interessante Verbrecher wird’s gar nicht geben.«

Schorsch lachte. »Und das aus deinem Munde. Wer hat grad vor ein paar Wochen geholfen, eine Mörderin zu überführen?«

»Die kam aber aus Ravensburg, it aus Wanga.«

»Komm Leni, gib zu, dass du jetzt Blech schwätzsch. Du willst mir doch nicht weismachen, dass hier im idyllischen Städtchen keine Verbrechen passieren?« Schorsch blickte seine Freundin mit übertrieben aufgerissenen Augen an.

—Hat er dich erwischt. Manchmal läufst du schon mit Scheuklappen rum.—

Nur weil ich nicht immer gleich das Schlechte in den Menschen sehe.

—Sei nicht so naiv.—

»Muss ich wohl zugeben«, gab sie ihrer inneren Stimme und Schorsch recht. »Des war echt blödes Gschwätz. Da fällt mir ein: Als ich fünfzehn war, gab es diesen Mord aus Leidenschaft. Eine Klassenkameradin wohnte schräg gegenüber von dem Ermordeten. Und eine aus meiner Parallelklasse, die starb ein oder zwei Jahre später an Drogen. Nur irgendwie …« Leni wusste nicht, wie sie es erklären sollte.

»… verdrängt man das ganz gerne«, beendete Schorsch ihren Satz, während er einen letzten Ordner in eine Lücke schob. »Ich hab das Konzept noch nicht ausgearbeitet. Ich muss da noch drüber brüten. Erzähl lieber: Hast schon was Interessantes auf dem Markt entdeckt?«

Leni schüttelte den Kopf. »Nein. Hauptsächlich Kleidung. Wieso kauft man eigentlich Klamotten auf den Märkten? Bei dem Überangebot im Internet und in den Läden? Jedenfalls ist da nichts dabei, was mich dazu verleiten könnte, mein Geld auszugeben.«

Ihr Freund zuckte die Schultern. »Die Leute meinen halt, es sei günstig und die Spontanität spielt sicher auch noch eine Rolle.«

»Günstig«, schnaubte sie. »Das Zeugs ist überteuert und wenn ich daheim feststelle, dass es beim ersten Waschen einläuft, kann ich nicht mal reklamieren. Weil der Händler schon wer weiß wo ist mit seinem Kruscht.«

»Gib zu, manchmal findet man auch interessante Sachen auf dem Markt«, verteidigte Schorsch die Institution. »Die ersten Mikrofasertücher hab ich damals auf dem Martinimarkt gekauft. Inzwischen benutzt sie jeder.«

Ich kann auf die Dinger verzichten. Was ist so schlecht an alten Lumpen und Wasser und Seife? Leni wechselte das Thema: »Du, sag mal, kommt deine Katze eigentlich mit Hunden aus?«

»Ist abhängig vom Hund. In der Regel ja. Willst du dir einen anschaffen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Nur so ein Gedanke.«

»Wie geht es Frau Mikesch? Vermisst sie mich?«

»Sie lässt dich grüßen, scheint sich aber momentan sehr wohl zu fühlen, wo sie ist.« Leni grinste ihn an.

»Typisch Frauen. Halten zusammen. Vermisst wenigstens du mich?« Er trat auf sie zu und Leni glaubte, in seinen Augen Verunsicherung zu sehen.

Musste die Frage sein? Plötzlich fühlte es sich so an, als wäre ihr Pullover drei Nummern zu klein. Sie war erst vor Kurzem wieder ins Allgäu zurückgekehrt, um Bilanz über ihr bisheriges Leben zu ziehen und sich neu zu orientieren. Für ihr Gefühl hatte die Affäre mit Schorsch viel zu schnell und zu heftig aufgelodert. Einerseits genoss sie die Vertrautheit mit ihm, andererseits engte sie der Gedanke ein, sich als Teil des Paares Leni und Schorsch zu präsentieren. Schorsch wiederum schien damit keinerlei Probleme zu haben.

—Gib’s zu, du begehrst ihn und willst hemmungslosen heißen Sex mit ihm.—

Schon. Aber deswegen gleich zusammenziehen? Mich nach ihm richten? Will ich das?

—Wer sagt denn, dass du das musst?—

Sie entschied sich, die innere Stimme zu ignorieren, und antwortete: »A bissle, scho. Aber bild dir da nichts drauf ein.« Sie linderte ihre Antwort ab, indem sie ihr Gesicht nach oben drehte und zum Kuss anbot. Schorsch machte intensiv von ihrem Angebot Gebrauch.

—Küssen kann er wirklich gut.—

Später lösten sich die zwei heftig atmend voneinander und er grinste frech auf sie herunter.

»Sollen wir uns in den Rummel stürzen?«

 

4.

 

Arm in Arm ließen sich Leni und Schorsch durch den Markt treiben. Die Sonne hatte sich aus dem Hochnebel gekämpft und vor den Ständen bildeten sich Menschentrauben.

Das gutgelaunte Gebrummel der Menschen, die sich durch die Straßen schoben, gab die Grundmelodie, das laute Rufen der Marktschreier, die ihre Waren anpriesen, den Kontrapunkt.

An der Ecke des alten Fachwerkhauses bei der Brotlaube blieben die zwei vor einem kleinen Stand stehen und lauschten mit anderen Schau- und Hörlustigen: »So schnell geht das. Meine Damen und Herren: Mit dem Wunderhobel hobeln sie nicht nur in kürzester Zeit genügend Gurkensalat für eine Hochzeitsgesellschaft. Nein, Sie raspeln auch den Käse für die Kässpatzen. Der Wunderhobel: nur zehn Euro, und ich lege den Supersparschäler noch drauf, das Ganze nicht für zwanzig, nicht für fünfzehn, nein, für lausige Zwölfeurofünfzig.« Dabei hobelte der Verkäufer gleichzeitig eine Karotte in Stifte. Auf dem Tisch reihten sich, farblich attraktiv sortiert, diverse gehobelte Gemüsesorten, um die Kunden zum Einkauf zu animieren.

Leni legte den Kopf schief. »Beim Ausmisten ist mir so ein Ding in die Hände gefallen. Den hat meine Mutter schon benutzt, da war ich noch ein Kind. Das Teil ist so was von scharf, hab mir fast die Fingerkuppen amputiert. Dafür braucht man eigentlich einen Waffenschein.«

»Sagte ich nicht, dass man auf dem Markt auch Sachen kriegt, die ewig halten?« Schorsch blickte grinsend auf Leni herunter, die ihn spielerisch in die Seite boxte, bevor sie weiterschlenderten.

Sie schnupperte. »Riech mal. Da wird man ganz Nase.«

»Jedenfalls schaust du aus wie ein verstrubbelter Hase, wenn du so die Luft einziehst. Lass uns auch noch etwas Sauerstoff.«

Leni ignorierte Schorschs Frotzeleien und ergab sich ganz dem Duftgenuss. Sie roch Sandelholz, Zeder, Salbei, Thymian und einige exotische Komponenten, die sie nicht zuordnen konnte.

Es riecht nach Urlaub auf Sardinien.

Ihr Blick strich über diverse Auslagen, dann fand sie, was sie suchte: Zwischen zwei Händlern, die diverse Kleidung anboten — von Jeansjacken über lange graue Unterhosen bis hin zu karierten Baumwollhemden — duckte sich ein kleiner Verkaufsstand.

Zielstrebig steuerte Leni auf den Stand mit allerlei ätherischen Ölen, Engelskerzen und Halbedelsteinen zu.

Schorschs Lachen überhörte sie geflissentlich, während ihre Augen versuchten, die ganze Pracht in sich aufzunehmen.

Ein leuchtend grüner Stein zog ihren Blick magisch an.

Sie nahm den Stein in die Hand. Er fühlte sich angenehm kühl an.

»Achat? Der ist gefärbt?«

Die Budenbesitzerin schüttelte den Kopf. »Könnte man meinen. Ist aber tatsächlich seine natürliche Farbe. Kennen Sie sich mit Edelsteinen aus?«

»Nur ein bisschen. Der da lacht mich richtig an. Was würde der kosten?«

Die Händlerin nannte einen Preis.

—Viel zu teuer,— empörte sich ihre allgäuerische Sparsamkeit.—Komm, lass dich da nicht drauf ein. Du hast schon genug Steine zu Hause.—

Der innere Kampf dauerte nur kurz. »Den nehme ich. Aber warten Sie, ich schau noch, ob es sonst noch was gibt, was ich will.«

Geraume Zeit später drückte sie voller Besitzerstolz eine schwere Tüte an die Brust.

Schorsch grinste.

»Was gugsch so?« Leni fühlte sich ertappt.

»Wenn du das wirklich nicht weißt, ist es mit deinen übersinnlichen Fähigkeiten nicht weit her«, neckte er sie.

»Ja griaß di, Leni.«

Leni drehte sich suchend um die eigene Achse. Hinter ihr stand die alte Huberin, Käthes Schwiegermutter

»Bisch au aufm Markt. Schee. I hon mi scho gfrogt, obs dir guat geht.« Die Mutter von Kilian Huber ergriff ihre Hand und schüttelte sie überschwänglich, gleichzeitig wandte sie sich dem Mann zu, der neben ihr stand.

»Sie miassat entschuldiga, Herr Gutman, darf i Ihna die Leni vorstella? Leni, des isch der Herr Gutman. Er und sei Frau und Tochter warat früher öfters mal bei uns Gäst.«

Der ältere Mann nickte Leni zur Begrüßung zu.Sie nickte zurück und dachte insgeheim: Den würde ich sicher nicht wiedererkennen, der wirkt so unscheinbar in seinem dunklen Lodenmantel mit der Mütze und den Handschuhen.

—Sogar seine Stimme klingt nichtssagend.—

»Das ist schon in Ordnung, Frau Huber, ich wollte mich eh verabschieden. Auf Wiedersehen.« Damit drehte er sich ohne Weiteres um und verschwand in der Menschenmenge.

Die Huberin seufzte und sprach mehr zu sich selbst als zu Leni: »So a Tragödie. Er hots net leicht. Erst die G’schicht mit der Tochter und jetzt isch au no sei Frau gstorba. Aber …«, und ihr Blick glitt zwischen Leni und Schorsch hin und her, »… es freit mi, dass es eich zwei guat geht.«

Schorsch grinste die alte Frau an. »So sieht man sich wieder. Wie geht’s denn der Käthe und dem Kili?«

»Die sind au do. Der Sepp und i, mir hont a paar Bsorgunga gmacht.« Die Huberin deutete durch eine Bewegung des Kopfes auf einen großen Stand hinter sich.

Dort herrschte ein reger Handel mit rosaroten Damenunterhemden, Wollsocken und Büstenhaltern, welche Leni für sich immer als Kampf—BHs bezeichnete.

»I komm jeden Martinimarkt und dua mi eidecka. Sowas krieagsch sonst nirgends.«

— Gottseidank. —

Leni unterdrückte ein Schaudern, als ihr die alte Frau stolz die diversen gekauften Dessous präsentierte.

»Vater und Mutter sind auch immer zum Socken kaufen auf den Markt gegangen. Ich hätte gedacht, dass heutzutage die Stände koi Geschäft me machat.« Jedenfalls nicht mit mir. Ich würde so etwas nicht anziehen und wenn man mir die Pistole auf die Brust setzte.

»Woisch. Dees isch zeitlos. Und grad bei die Unterhosa. Wo krieagsch denn no so a Qualität? Echte Baumwolle. Käthe hot mi mol mitgnomma in so an Lada. Elles an Dreck. I ka it verstanda, wia die junge Mädle solche synthetische Sache aziaht und dann no diese Arschgweih. Also echt!«

Baumwolle? Leni horchte auf. Das klang wiederum interessant. Vielleicht würde sie sich das doch genauer ansehen. Nur, so mit ihrem Freund im Schlepptau? Peinlich, wenn er sie beim Kauf von Blümchenunterhosen …

Schorsch stand neben den Frauen, sein Blick ging ins Leere, plötzlich kam Leben in ihn. »Huberin, Sie sind mir nicht bös, wenn ich mich mal kurz ausklinke, ich hab gerade mitgekriegt, da vorne gibt’s Taschenmesser. Wir sehen uns sicher noch mal. Leni, kommst du nach?«

Sie nickte, da eilte er schon mit schnellem Schritt davon.

»Huberin, ich wollt mir auch grad noch mal die Sachen an dem Stand angucken. Bleibst oder musst weiter?«

»I muss no a baar Bsorgunga macha, aber mir kenntet uns so in ner halba Stund vorne beim Rupp treffa. Do beim Stand mit de Fischwecka? Meine Leit werdat au do sei.«

Leni eilte zu den Auslagen. Vielleicht gab es sogar schwarze Schlüpfer mit Spitzen …

 

5.

 

Leni sah sich suchend um. Zu viele Menschen. Nirgends konnte sie Schorschs hellbraune Lammfelljacke entdecken.

Wo ist der denn hin? In dem Gewühl find’ ich ihn nie. Warum können Männer nie das tun, was sie sagen?

Sie wurde von hinten angerempelt und stolperte nach vorne.

»Entschuldigen Sie, das wollte ich nicht. Ist Ihnen was passiert?« Eine junge Frau, Anfang Zwanzig, stützte Leni fürsorglich am Ellbogen und klopfte ihr gleichzeitig beruhigend auf die Schulter.

Unwillig zuckte Leni zurück. Als wäre ich eine klapprige Rentnerin, die gleich umfällt, wenn man sie anstupst. Ich finde das echt übertrieben.

Die junge Frau wirkte müde und verfroren. Ihre saubere Kleidung schien für Mitte November nicht warm genug. Eine gestrickte Wollmütze verbarg das Haar des Mädchens und ein Wollschal sollte für zusätzliche Wärme sorgen. Die dunkelblauen Augen leuchteten riesengroß in dem mageren Gesicht.

Lenis beabsichtigter Anschnauzer fiel milde aus: »S'nächste Mal besser aufpassen.

---ENDE DER LESEPROBE---