Tod am Hexenwasser - Alexandra Scherer - E-Book

Tod am Hexenwasser E-Book

Alexandra Scherer

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Beschreibung

Leni Sonnbichler bereut ihre Rückkehr ins Allgäu schnell. Selbst nach zwanzig Jahren verfolgt sie der Ruf einer kauzigen Esoterik-Spinnerin. Als sie an einem alten Kultplatz auch noch eine Leiche findet, steht für die Einheimischen fest, dass Leni eine Mörderin ist, die mit ihren empathischen Fähigkeiten nur auf Profit abzielt. Sogar die Kriminalbeamten zweifeln ihre Aussagen an. Leni entschließt sich, ihre Unschuld zu beweisen, indem sie eigene Ermittlungen anstellt. Doch dadurch gerät sie ins Visier des wahren Mörders. Und dieser würde erneut töten, um sein Ziel zu erreichen ...

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Tod am Hexenwasser – ein Fall für Magdalena Sonnbichler
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Allerseelen
Personen
Impressum
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Das Leniversum
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Über die Autorin
Schatzsuche - Die Sache mit den Fehlern

 

Tod am Hexenwasser – ein Fall für Magdalena Sonnbichler

Magdalena Sonnbichler ist gerade erst auf den ererbten Hof im Allgäu eingezogen, da stolpert sie schon über eine Leiche.

Ihr Ruf als verschrobene Heilpraktikerin und Esoterik-Tussi macht sie schnell zur Verdächtigen.

Aus reinem Selbsterhaltungstrieb beginnt Leni ihre eigenen Nachforschungen.

Ein Allgäu-Krimi

 

 

Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

Die in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.

Sommer

Es ist heiß. Nur ab und zu, wenn ein leichter Windhauch seinen Weg vom Flusstal findet, bewegen sich die Äste,. In der Stille ist das Plätschern eines Baches zu hören. Der Warnschrei eines Eichelhähers weckt eine wachende Präsenz im Wald. Die Stille ist greifbar.

Es raschelt. Äste brechen. Lachen.

Ein Mann und eine Frau auf dem Wanderweg. Händchen haltend.

Wie zufällig biegen sie vom Hauptweg ab und folgen einem fast unsichtbaren Pfad. Kurz darauf stehen sie auf einer Lichtung, durch die sich ein kleiner Bach seinen Weg bahnt. Der Bach gurgelt über einen steilen Abhang hinunter in das Flusstal.

Der Anblick der Alpen am Horizont jenseits des Steilhanges verschlägt dem Paar die Sprache. Die junge Frau findet ihre Stimme zuerst wieder. »Wenn ich die Hand ausstrecke, dann kann ich die Berggipfel greifen.«

»Föhn«, erklärt der Mann.

Sie boxt ihn spielerisch in die Schulter. »Alter Spielverderber, sei nicht so nüchtern. Das ist reine Magie. Der Ort hier. Schau mal, der Stein da, schaut der nicht aus wie ein riesiger Altar? Ich bin sicher, hier wurden früher Rituale abgehalten.«

Er nimmt sie in die Arme. »Meine kleine Hexe, wenn du mich so ansiehst, dann glaube ich alles, was du sagst.«

Sie küssen sich. Während sie sich immer inniger küssen, beginnt sie, an seiner Kleidung zu nesteln. »Komm, hilf mir mal. Zeit, dass wir hier unseren eigenen Ritus abhalten.«

»Nicht doch. Wenn jemand vorbeikommt.«

»Wer sollte vorbeikommen? Deine Frau? Komm, da drüben ist es schön moosig. Das ist unser Platz, es ist zu heiß, alle Leute sind in den Schwimmbädern. Sei kein Spießer. Das ist doch ein passendes Geburtstagsgeschenk. Pack mich aus.«

 

Herbst

Sie wartet. Ihr Herz schlägt schnell. Endlich. Heute verlässt er sie. Kein Verstecken mehr. Liebevoll streichelt sie über ihren Bauch. Lächelt. Sie nimmt ihr Handy aus der Tasche und liest noch einmal die SMS.

Liebes. Bald. Komm zu unserem Platz. Ich habe eine Überraschung für dich. Fünfzehn Uhr.

Sie hat zu Hause alles vorbereitet. Zu Hause. »Es ist nur für den Übergang, bald ziehen wir in was Richtiges. Aber da hat alles angefangen, ein guter Platz für uns, erst mal«, verspricht sie ihrem Bauch. »Er weiß noch gar nicht, dass ich auch eine Überraschung für ihn habe.«

Sie setzt sich auf einen Stein am Bach und betrachtet die Berge, als sie den Schrei eines Bussards hört und in den blauen Himmel blickt. Hoch oben kann sie ihn gerade noch erkennen. Plötzlich: Aufruhr am Himmel. Ein Schwarm Krähen stürzt sich auf den Raubvogel.

Der Radau ist ohrenbetäubend. Die Frau spürt, dass sie nicht allein ist und dreht sich erwartungsvoll lächelnd um.

 

 

 

30. September, Hieronymus

»Von Michael und Hieronymus zieh aufs Weihnachtswetter Schluss.« Bauernregel

 

Kriminalhauptkommissar Johannes Maier nippte an seinem Kaffee. Kaffee ohne Zucker war genauso wenig nach seinem Geschmack, wie diese morgendliche Besprechung.

»Haben wir schon den Namen der Toten?« Dabei schmeckte er bittere Galle, als er an den Tatort vom Vorabend dachte.

Christine Grabherr, Hannes neue Assistentin, schüttelte den Kopf. »Leider nein. Die Fingerabdrücke sind nicht im System. DNA-Auswertung läuft. Dauert aber, wie immer. Es gibt auch keine Vermisstenanzeigen, die passen würden. Die Rechtsmedizin wird noch ein bisschen dauern. Dr. Bayerlein sagt, er meldet sich.«

Hannes Maier nahm seine Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel. »Gut. Schauen wir mal, was wir wissen. Jürgen?«

Jürgen Wagner zückte sein Notepad und dozierte: »Gegen 18:15 Uhr ging gestern Abend ein Notruf über Handy ein. Eine Frau Magdalena Sonnbichler meldete den Fund einer Leiche. Sie gab genaue Anweisungen in Bezug auf Fundort und geografische Besonderheiten. Die Kollegen fanden die Leiche einer jungen Frau vor, wie von dieser Sonnbichler beschrieben. Anschließend verständigten die Kollegen dann die Kripo.«

Der Kommissar nickte. »Damit war mein schöner Feierabend am Arsch. Ein Flurstück, Hexenwald, Gemarkung Wilder Wald, bei Wangen. Ich hab kurz mit Frau Sonnbichler und Schorsch Ansbach gesprochen und sie dann heimgeschickt. Die zwei waren durchgefroren. Schorsch ist ein guter Freund von mir, für den kann ich mich verbürgen, aber diese Sonnbichler, was wissen wir über sie?«

Jürgens Gesicht verzog sich abschätzig. »So 'ne Esoteriktussi. Kommt hier aus der Gegend. Da war mal ein Bruder, aber der ist vor einer Ewigkeit bei einem Unfall ums Leben gekommen. Die Eltern sind auch tot. Sie ist Alleinerbin.

Da ist einiges an Kohle da. Scheint überhaupt ein glückliches Händchen zu haben mit dem Erben.«

Christine schnaubte. »Du hast ja nur Vorurteile, weil deine Ex bei der Scheidung die Hälfte des Vermögens eingestrichen hat. Ich finde es echt nervig, wie du über andere Menschen so abfällig redest.«

Beim Betrachten der Kollegin fiel ihrem Vorgesetzten auf, dass sie eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Rassepferd hatte, vor allem weil ihr zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar auf und ab wippte. Im Stillen gab er Christine recht. Seit der Scheidung war Jürgen zynisch geworden.

Erwartungsgemäß plusterte sich Jürgen auf und strich sich über seinen Mark-Spitz-Bart.

»Nö. Fakt. Die Sonnbichler war verheiratet. Aus der Ehe gibt es zwei erwachsene Söhne. Jedenfalls hat sie damals einen guten Fang gemacht. Der Mann stammte aus einer sehr reichen Familie. Sein Tod machte sie zu einer wohlhabenden Witwe. Sie musste nie wieder arbeiten.« Jürgens Grinsen wurde anzüglich. »Hat sich dann dem ganzen Esoterikquatsch zugewandt und war lange mit so einem halbseidenen Kerl liiert.«

Hannes blickte in seinen leeren Kaffeebecher, als würde er dort Erleuchtung erwarten. Unwillig schob er den Becher weit von sich und blickte seinem Untergebenen direkt in die Augen. »Sprich deutlich und in ganzen Sätzen. Was willst mir saga?«

»Die Frau, die gestern den Notruf abgesetzt hat, ist in Stuttgart als medial begabte Heilpraktikerin tätig gewesen und hat den Leichtgläubigen das Geld aus der Tasche gezogen. Ihr Manager …« Jürgen legte seine ganze Abscheu in das Wort: »Theodor Brück, mit dem sie auch ein Verhältnis hatte, ist einschlägig bekannt als Trickbetrüger, der reichen alten Damen den Kopf verdreht und auf ihre Kosten ein gutes Leben führt. Ein totaler Blender.«

»Ich bezweifle, dass du objektiv bist. Esoterik heißt nicht gleich Betrug«, stichelte Christine.

Jürgen setzte ein überlegenes Grinsen auf. »Schätzchen, bist du wirklich so blöd, wie du blond bist? Sag jetzt nur noch, dass du an den Quatsch glaubst.«

Hannes beschloss einzugreifen, bevor Christine, deren Gesicht rot anlief, ihren Sheepworld-Kaffeebecher als Wurfinstrument einsetzte.

»Jürgen. Lass mal deine persönlichen Befindlichkeiten außen vor. Nichts gegen Gesundbeter und Heilpraktiker. Meine Großmutter hat den Brand weg beten können. Irgendwas ist schon dran. Hast du was Konkretes, das gegen die Frau spricht?«

Jürgen schüttelte den Kopf. »Nein. Nur Gerüchte.« Er klang frustriert. »Ich hab gestern noch einen meiner Spezis in Stuttgart angerufen. Er ist jetzt bei der Kriminalinspektion drei: Wirtschaftskriminalität, Amtsdelikte, Korruption, Umweltdelikte. Theodor Brück ist aktenkundig. Diese Magdalena nicht. Aber vor einem Jahr gab es da einen Skandal. Sie hat Knall auf Fall ihre Praxis aufgelöst, war dann einige Monate nicht aufzufinden.« Der jüngere Polizeibeamte verzog hämisch sein Gesicht. »Da kann mir keiner sagen, dass die Tusse hier nicht ihre Finger im Spiel hat. Plötzlich ist sie in Wangen und findet dann auch gleich eine Leiche. Ich fresse 'nen Besen, wenn diese Schabracke die junge Frau nicht selber um die Ecke gebracht hat und nun daraus noch Vorteile ziehen will mit einer groß angelegten Öffentlichkeitskampagne.«

Hannes Maier beendete das Geplänkel, bevor Christine und Jürgen handgreiflich wurden.

Viel fehlte jedenfalls nicht mehr, so wie seine junge Assistentin den Kaffeebecher umklammerte.

»Lasst Eure Berichte da, ich schau sie noch durch und werd dann zum Sonnbichlerhof fahren und mit der Frau reden. Jürgen, du besorgst mir noch ne topografische Karte von der Gegend. Größtmöglicher Maßstab. Ich will genau sehen, wo dieses Hexenwasser liegt, wo der Wanderweg verläuft und wo die einzelnen Gehöfte stehen. Halt …« bremste er seinen Assistenten, der seine Jacke anzog. »Danach will ich, dass du dich hinsetzt und alles rausfindest, was es über Magdalena Sonnbichler und Theo Brück gibt. Aber Fakten, keine wilden Vermutungen. Solange wir den Namen der Toten nicht kennen, ist das unser einziger Ansatzpunkt. Und du, Mädle«, wandte er sich an Christine, die aufbegehren wollte, »recherchierst, wer sonst noch in der Nähe vom Tatort wohnt. Versuche, entlastendes Material zu finden, mit dem du Jürgen überzeugen könntest, dass Frau Sonnbichler wirklich nichts mit der Leich zu tun hat.«

 

2

29. September, Michael und Gabriel.

»Liebe ist Qual, Lieblosigkeit ist der Tod.« Marie von Ebner-Eschenbach

 

Leni Sonnbichler fror. Bibbernd lag sie unter der Bettdecke, ihre Füße Eisklötze. Konfuse Träume hatten sie während der unruhigen und viel zu kurzen Nacht mehrmals aufgeschreckt. Blut. Angst. Kälte. Wut. Leni hatte noch immer eine Gänsehaut. Krähen, die ihr die Augen aushackten, wirres Zeug über Schlangen, Skalpelle und ein weinendes Kind.

»So ein Schmarrn. Saublöde Träumerei und was soll mir das jetzt sagen?« Laut ausgesprochen verjagten die Worte letzte vage Erinnerungen.

Die Konturen im Zimmer wurden deutlicher, als das morgendliche, kalte Herbstlicht durch die Fenster ins Zimmer sickerte. Die Jugendzimmermöbel aus den 1980ern verbreiteten in ihrer verwohnten Schäbigkeit lähmendes Verzagen. Es wäre besser gewesen, ein Hotelzimmer zu nehmen. Aber warum gutes Geld ausgeben, wenn der Hof so oder so leer stand und ihr gehörte?

Vor fünf Jahren, zur Beerdigung der Mutter, hatte sie einige Tage hier gewohnt, danach den Sonnbichlerhof und alles, was damit zusammenhing,

In eine Rumpelkammer ihres Gedächtnisses gestopft, die Tür zugemacht und verbarrikadiert.

Seitdem war das Haus unbewohnt und das sah man ihm an.

Leni seufzte.

 —Genug in Selbstmitleid gebadet. Zeit aufzustehen.— 

Mit einem Ruck schlug sie die Decke zurück und sprang aus dem Bett, zog schnell die klammen Sachen vom Vortag über und fischte aus einem der herumstehenden Umzugskartons ein Paar dicke Wollsocken für ihre eiskalten Füße.

Für Anfang Oktober waren die Tage noch mild, doch im Haus merkte man wenig davon.

Jetzt was Warmes zu trinken!

Sie füllte den Wasserkocher. Während sie darauf wartete, dass das Wasser zu sprudeln begann, schaltete sie die zwei elektrischen Heizkörper ein, die sie letzte Nacht in der Küche aufgestellt hatte.

 —Wenn du nicht schnell herausfindest, wie die Heizung funktioniert, kannst du dem Stromversorger gleich dein ganzes Vermögen überweisen —, meldete sich Lenisinnere Stimme.

Leni blickte nachdenklich auf den Beistellherd.

Außer an den heißesten Tagen im Jahr hatte die Mutter darauf gekocht. Der elektrische Herd war selten zum Einsatz gekommen.

»Wozu teuren Strom benutzen, wenn ich das Holz umsonst hab?«, hatte Lenis Mutter argumentiert.

So war die Küche das Herz des Hauses, in dessen Zentrum immer ein Feuer brannte.

Für Außenstehende war Josef, ihr Vater, der Herr im Haus. Doch Maria Sonnbichler zog die Fäden im Hintergrund. Selten sind Entscheidungen im Hause Sonnbichler gegen ihren Wunsch durchgesetzt worden.

Christian und ich haben es nur nicht gemerkt. Vater war so von sich eingenommen, dass er wirklich dachte, alles wäre auf seinem Mist gewachsen.

Leni erinnerte sich an den bitter-würzigen Geruch des brennenden Holzes, das Knacken, die angenehme Wärme, das Gefühl der Geborgenheit.

Sollte sie es wagen? Was, wenn der Kamin in Brand gerät? Lieber nicht.

Der Wasserkocher schaltete sich ab. Leni löffelte löslichen Kaffee, der noch aus der Zeit ihrer Mutter stammte, in einen Becher und goss Wasser auf. Das heiße Getränk würde ihr guttun.

Sie stand mit ihrem Kaffeebecher am schmutzigen Küchenfenster und sah auf die graue unfreundliche Landschaft hinaus, die ihre eigene Stimmung wiedergab. Ganz in Gedanken rührte sie das dunkle Gebräu um.

Leni nahm ihr schemenhaftes Spiegelbild in der Fensterscheibe wahr. Geisterhaft zeichnete sich ihr Gesicht vor den Bäumen auf der nebligen Obstwiese ab. Ein Schwarm Krähen flog auf. Sie nahm einen Schluck Kaffee, zog eine Grimasse und stampfte mit dem Fuß auf.

»Was mach ich eigentlich hier?«, fragte sie laut das Universum. »Hab ich nicht genug damit zu tun, Stuttgart und den ganzen Mist mit Theo zu verarbeiten? Wieso bin ich so deppert und komm hierher zurück?«

Wie üblich blieb das Universum stumm.

Leni graute es, in dem ausgekühlten, lange unbewohnten Haus den Winter zu verbringen. Zwischen dem Staub und den Spinnweben hatten sich viele ungute Erinnerungen verfangen:

Die Engstirnigkeit und die permanent schlechte Laune des Vaters. Fast spürte sie, wie sie hilflos auf der Eckbank gesessen hatte, verängstigt den Schimpftiraden ihres Vaters ausgeliefert. Der Streit, als Leni die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium schaffte. Christians Beerdigung. Die Verunsicherung, als ihre empathischen Fähigkeiten sich immer häufiger bemerkbar machten. Die abfälligen Bemerkungen des Vaters über hysterische Weiber, eingebildete Talente und Hexen, die verbrannt gehörten. Die Bestrafungen, wenn sie es wagte, aufzumucken.

Damals begann sie, innere Dialoge zu führen. Wer auch immer ihre inneren Gesprächspartner gewesen waren, sie ließen sie wenigstens ausreden. Wenn auch nicht ohne Widerspruch.

»Wenn du nicht bald die Kurve kriegst, versinkst du in einem schwarzen Loch aus Selbstmitleid und Depression und der Vater hat gewonnen«, tadelte sie sich selbst laut.

Beim Gedanken, was alles auf sie zukam, fühlte sie Tränen aufsteigen.

Typisch. Erst bringt ihr mich mit spontanen Eingebungen in Schwierigkeiten, aber dann nicht antworten!

Leni empfand die Stille des Hauses als abwartend und zuhörend. Trotzig und gleichzeitig um Verständnis heischend wandte sie sich wieder laut an das Universum.

»Es war eine Schnapsidee! Das Haus hat zu lange leer gestanden. Die Erinnerungen sind zu stark, das alles erdrückt mich. Da ist wahnsinnig viel zu tun. Ich kann das nicht! Und dann muss ich auch noch diesen blöden Kaffee trinken! Der schmeckt widerlich.«

 —Selber Schuld, was trinkst auch so einen Scheiß? Hättest dir halt einen Bohnenkaffee gekauft, als du in der Stadt warst. —

Leni war nicht bereit, ihrer inneren Stimme der Vernunft zuzuhören. Sie genoss ihr Bad in Selbstmitleid.

Gerade wollte sie es sich in ihrem emotionalen Tief bequem machen, als das Telefon klingelte. Irritiert zuckte sie zusammen. Sie war davon ausgegangen, dass der Anschluss seit dem Tod der Mutter stillgelegt war. Kurzes hektisches Suchen führte zu einer Kommode im Vorraum. Dort stand der altmodische Apparat mit runder Wählscheibe aus ihrer Kindheit. Sie hob ab.

Der Hörer lag schwer in ihrer Hand. »Sonnbichler«, meldete sie sich abweisend.

Am anderen Ende der Leitung atmete jemand tief ein.

 —Was soll das denn jetzt? So ein Perverser, der ins Telefon schnauft?— 

»Leni, bist du das? Ich bin's, der Ansbach Schorsch. Sag jetzt nicht, dass du dich nicht mehr an mich erinnerst. Das wäre peinlich.«

Die Stimme klang tiefer und reifer.

 —Nein. Nicht vergessen. Verdrängt!— 

Nach all den Jahren brachte der Klang seiner Stimme die Schmetterlinge in ihrem Bauch immer noch zum Flattern. Lenis Sprachzentrum sprang auf Autopilot, während ihr Hirn noch mit verschiedenen Satzformulierungen beschäftigt war, die höfliche, aber bestimmte Ablehnung bedeuten sollten.

»Hallo Georg.« Wenigstens benutzte sie seinen Taufnamen und signalisierte somit Distanz. Lenis Herz schien davon nichts wissen zu wollen, denn es schlug heftig. »Woher weißt du denn, dass ich hier bin?«

»Du, das war komisch. Gestern hatte ich eine Erscheinung. Ich dachte, ich hätte dich auf dem Wochenmarkt in Wangen gesehen. Es ist fast dreißig Jahre her, deshalb war ich mir nicht sicher. Ich wollte mich nicht blamieren, indem ich eine wildfremde Frau anspreche und mir dann vielleicht noch a Watschen einfange. Bis ich Mut gefasst hatte, genauer zu schauen, warst du verschwunden. Ich wollte das Ganze schon abtun, als ich im Fidelisbäck den Kilian vom Huberhof getroffen habe. Der erzählte, dass sein Knecht jemanden auf dem Sonnbichlerhof gesehen hätte. Ich dachte dann heute Morgen, guck mal, ob der Telefonanschluss noch geht. Wie du siehst: Dem Tapferen winkt das Glück. Ich freue mich, dass du da bist. Über die Jahre hab ich immer wieder an dich denken müssen. Deine Eltern waren nicht die Gesprächigsten und dein Vater wollte mit mir eh nie reden. Nach der Sache damals.«

Leni schluckte.

Die Sache damals.

Plötzlich war alles wieder da. Das Gefühl des Verlassenseins, das Nichtverstehen, die Trauer und die Tränen.

Ihr Wunsch, zwischen sich und diese Stimme aus der Vergangenheit Distanz zu bringen, wirkte wie eine kalte Dusche auf die Schmetterlinge im Bauch.

Mist! Schorsch bedeutet Probleme. Ich sollte sofort auflegen.

Ihre anerzogene Höflichkeit verhinderte, dass sie das Gespräch abrupt beendete.

Sie griff zu allgemein üblichen Floskeln. »Das hat mich doch gefreut, dass du dich nach all den Jahren noch erinnert hast. Wir müssen uns mal zu einem Kaffee treffen und über die alten Zeiten plaudern. Melde dich, wenn du Zeit hast, damit wir Termine abgleichen können.«

… und wenn du denkst, ich würde dich treffen, dann bist du dümmer, als ich dich in Erinnerung hab.

Leni gratulierte sich, dass sie dem Problem so diplomatisch aus dem Weg gegangen war.

Georg Ansbach schien sich nicht nur an Lenis Aussehen zu erinnern, sondern auch an ihre Ausweichstrategien.

»Das trifft sich gut, ich hab heute grade Zeit. Wie wär`s? Sollen wir uns treffen? Wo magst hin? Zum Walfisch oder lieber ins frühere Café Knabe? Das heißt jetzt Pâtisserie de Pierre und hat total leckeren Schokokuchen«, anscheinend erinnerte sich Schorsch Ansbach auch an Lenis Vorlieben in Bezug auf Kuchen.

Erwischt! Sie hatte vergessen, wie spontan die Allgäuer sein konnten und wie gekonnt zarte Andeutungen überhört wurden, wenn es in den Kram passte.

Leni beschloss, schwerere Geschütze aufzufahren, auch wenn das mit dem Schokokuchen durchaus verlockend klang. »Du, das passt grade schlecht. Ich bin erst seit Kurzem da. Es ist noch gar nichts aufgeräumt, das ganze Haus ist staubig und muss dringend geputzt werden. Damit wollte ich heute anfangen und schauen, was ich brauche, wenn ich hier überwintere. Später gerne, aber grade heute …« Sie ließ die Stimme leicht bedauernd klingen, damit die Absage weniger schroff schien.

Hoffentlich ist der Wink mit dem Zaunpfahl jetzt endlich deutlich genug, oder muss ich dem Schorsch den

Prügel über den Schädel hauen, damit er merkt, dass ich kein Treffen will?

Georg Ansbach hatte ein dickes Fell. »Das ist super, ich langweile mich gerade total. Weißt was? Ich besorge uns a gescheite Brotzeit und komm vorbei und helfe dir beim Aufräumen. In einer Stunde bin ich bei dir. Bis gleich!« Er legte auf, bevor Leni Gelegenheit hatte, Luft zu holen und ein deutliches NEIN! zu formulieren.

Leni knallte den Hörer auf die Gabel und musste dann doch grinsen. Typisch Schorsch.

Das Schicksal in Form von Georg Ansbach hatte beschlossen, dass es Zeit war, aus dem Selbstmitleid aufzutauchen. Sie stellte sich der Herausforderung, wenn auch der Form halber leise vor sich hin grummelnd.

Sie würde in der Wohnküche beginnen, dort Ordnung schaffen. Kurz danach sah sie sich zufrieden im Raum um.

Eigentlich ist es ja gut so. Wenn ich den Winter über auf dem Sonnbichlerhof bleibe, muss ich anfangen, mich häuslich einzurichten. Was mach ich jetzt, bis der Kerl auftaucht?

»Na los, ihr habt mir das eingebrockt, jetzt brauch ich ein bisschen Unterstützung«, forderte sie laut von ihren unsichtbaren Gesprächspartnern.

Leni stand im großen Vorraum, von dem alle Räume und die Treppe in die oberen Stockwerke abging, und sah sich um. Das ganze Haus benötigte dringend eine Reinigung und dies nicht nur auf stofflicher Ebene. Die Mauern hatten über die Jahre viel zu viele lähmende Erinnerungen und Emotionen der Bewohner gespeichert. Staub und Dreck waren leichter zu entfernen und wirkten sich nicht so subtil auf ihre Stimmung aus. Wo sie vor einer halben Stunde noch am Verzweifeln war, fühlte sie nun Zuversicht und Tatkraft.

Leni schloss die Augen, um sich besser auf ihr inneres Zentrum konzentrieren zu können.

Sobald sie ihren Ruhepunkt gefunden hatte, steuerte sie wie zufällig diverse Umzugskartons an, die in der Eingangshalle standen.

Über einen stolperte sie. »Hergottsakrament. Des gibt an blauen Zehen! Wär es nicht sanfter gegangen?«

Die Stimme in Lenis Kopf klang belustigt: —Mach halt die Augen auf. Du bist doch diejenige, die wie ein vergeistigtes Medium mit geschlossenen Augen durch die Gegend latscht.— 

Leni wollte sich nicht mit ihrer inneren Stimme streiten, also öffnete sie den Karton und inspizierte den Inhalt.

»Genau das, was jetzt nötig ist. Ich räuchere erst mal den ganzen Mist aus. Hausputz kann warten.« Sie grinste. »Hoffentlich hat der Schorsch keine Hausstauballergie«.

 

3

29. September, Michael und Gabriel.

»Mit der wahren Liebe verhält es sich wie mit Geistererscheinungen: alle Welt redet davon, aber nur wenige haben sie gesehen.« Francois de la Rochefoukald

 

Leni hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ihr blieb, bis Schorsch Ansbach vor der Tür stehen würde. So entschied sie sich für eine Schnellversion des

Räucherns.

Sie packte die Utensilien aus dem Karton und legte sie der Reihe nach auf den Küchentisch: Räucherschale, Kohle, Kerze, diverse Räuchermischungen und -stäbchen.

Leni zündete die Kerze an, brachte die Räucher-

kohle zum Glühen und legte sie in die mit Sand gefüllte Schale. Anschließend gab sie die vorbereitete Krärutemischung auf die Kohle und atmete den würzigen Rauch ein. Still ein Gebet und einen Segen sprechend, schritt sie einmal rund um die Küche und stellte die Schale mit der vor sich hin schwelenden Mischung in die Eingangshalle mitten auf den Boden. Dann verteilte sie glimmende Räucherstäbchen in jedem Zimmer des Hauses. Sie beschloss, Keller und Dachboden auszulassen. Es würde mehrere Durchgänge erfordern, bis sie den ganzen alten Mief vertrieben hätte.

Vor dem Schlafzimmer der Eltern zögerte sie, mit der Hand auf dem Türgriff. Schließlich drückte sie ihn energisch nach unten und stellte glimmende Stäbchen auf die Spiegelkommode ihrer Mutter. Maria Sonnbichler hatte das Schlafzimmer mit in die Ehe gebracht. Dafür hatte sie sich ihre Rentenansprüche auszahlen lassen.

»Das Schlafzimmer war meine Mitgift. Ich wollte nicht, dass meine Schwiegerleut mir nachsagen konnten, ich hätte bettelarm auf den reichen Hof eingeheiratet. Und die Rente? — Ich hab deinen Vater geheiratet. Wieso sollte ich dann eine eigene Rente brauchen? Es heißt: In guten wie in schlechten Zeiten.« Die Geschichte hatte Maria ihrer Tochter oft erzählt, wenn sie gemeinsam die Matratzen ausgeklopft und die Betten frisch bezogen hatten. Dabei strich ihre Mutter mit rauen Händen über das helle glatte Holz der Nachtschränkchen.

Ein Zimmer betrat Leni nicht.

Christians Zimmer, das schaff ich nicht. Da brauch ich mehr Ruhe.

Sie zögerte, holte ein Seelenlicht aus dem Karton, der auch die Räucherwaren enthielt, und stellte es zusammen mit einigen Räucherstäbchen vor die verschlossene Zimmertür ihres Bruders.

Zum Zeichen der Versöhnung brachte sie ein weiteres brennendes ewiges Licht in das Elternschlafzimmer.

Abschließend öffnete sie die Fenster, damit der frische Herbstwind die alte verbrauchte Luft aus dem Haus pusten konnte. Der graue Hochnebel wurde von der strahlenden Herbstsonne vertrieben, ähnlich wie die Rauchschwaden die dunklen Schatten aus dem Haus verscheucht hatten.

Ein Auto bog in den Hof ein.

Schnell wusch sie sich Hände und Gesicht und kämmte mit ihren noch feuchten Fingern ihr zerzaustes Haar. Auf dem Weg zur Haustür band sie sich ihren Pferdeschwanz frisch. Gerade als Schorsch Ansbach die Klingel drücken wollte, öffnete Leni die Tür.

Vor Leni stand ein Mann, circa 1,90 groß, nicht mager, nicht fett. Ein leichter Bauchansatz zeichnete sich unter dem T-Shirt ab. Ergrautes struppiges Haar umrahmte ein von vielen Fältchen durchfurchtes Gesicht.

 —Die letzten dreißig Jahre haben bei ihm ihre Spuren hinterlassen. Aber mei! Die Augen sind immer noch so toll, da könnt ich stundenlang einfach so reinschauen. Ob der noch so super küsst? Es ist lang her, dass du mal so richtig gut durchgeküsst wurdest.— 

Die erwachsene Leni mischte sich sofort ein, ob dieser unkeuschen Gedanken: Hör mit dem Blödsinn auf, benimm dich nicht wie ein verliebter Teenie.

Sie bemühte sich um einen unverbindlich höflichen Gesichtsausdruck.

Schorsch Ansbach grinste. »Hallo Leni, schön, dass du dich fast nicht verändert hast. A bissle mehr bist geworden, des steht dir aber gut. Nur einen geraden Scheitel kannst immer noch nicht ziehen.«

Er hielt Leni einen großen Geschenkkorb entgegen.

Unverschämtheit, mich als dick zu bezeichnen! Ich sollte ihm den Korb an den Kopf schmeißen! Was hat er jetzt vor?

Schorsch Ansbach stellte sich in Positur, zog ein Stück Papier heraus, hielt es auf Armeslänge, kniff die Augen zusammen und las vor: »Liebe Magdalena Sonnbichler, zum Einzug wünsche ich dir Glück und Zufriedenheit und habe hier zwei Gaben bereit. Das Brot:- Es gehe niemals aus«, er zeigte auf die feinen Seelen im Geschenkkorb, »und Salz, das würze jeden Schmaus und halte alles Böse raus! Solang du in diesem Hause weilst und Brot mit deinen Freunden teilst, solang hast Brot und Salz zu Haus und Not und Böses bleiben draus.« Schorsch sah verlegen aus: »Ich freu’ mich sehr, dass du wieder da bist. Ich dachte, dass der Brot-und-Salz Segen dir gefallen könnte. Du hattest früher ein Faible für solche Traditionen.

Verstohlen zwinkerte Leni eine Träne aus den Augenwinkeln und bedankte sich mit typisch allgäuerischem Überschwang: »Ich dank recht schee! Des hätt's jetzt nicht gebraucht.« Die beabsichtigte dämpfende Wirkung wurde durch das strahlende Lächeln ihrer

Augen neutralisiert. »Wenn du schon da bist, dann komm halt rein.«

Schorsch folgte ihr in die Wohnküche und blieb im Türrahmen stehen. Leni wiederholte ihre Einladung. »Ich weiß, es ist nicht aufgeräumt, aber ich hab dich gewarnt. Mach die Tür zu, es ist kalt!«

»Ich hab gerade gedacht, es schaut noch genau so aus, wie damals, als ich manchmal bei euch zum Essen eingeladen war. Fast könnt man meinen, der Christian käm' gleich vom Stall her mit deinem Vater.«

»Ja, das ist lang her, dass der Christian seinen Unfall hatte.« Ein schmerzliches Thema, das es zu vermeiden galt. Sie inspizierte die Leckereien im Korb. »Sag einmal, spinnst du?«, rief sie entsetzt. »Das muss ein Vermögen gekostet haben! Die Seelen, der Kaffee, der Käse und das teure Rauchfleisch! Du bist wahnsinnig!«

Schorsch lachte: »Hätte ich einen Strauß rote Rosen mitbringen sollen?«

»Den hätte ich dir um die Ohren gehauen. Des

woisch aber gwies! Zwei Stück Kuchen hätten gereicht.«

Schenk mir nie Rosen, wenn du es nicht ernst meinst, Kerle, des hast schon mal gemacht. Ich glaub, das könnt ich nicht ertragen.

»Eben. Eine Kirchenmaus bin ich nun auch nicht. Es kommt nicht alle Tage vor, dass eine Freundin nach langer Zeit wieder da ist. Da darf man wohl aus dem Vollen schöpfen. Ich verspreche, ich werde es nicht zur Gewohnheit werden lassen.«

Lenis Sinn fürs Praktische mischte sich ein: —Jetzt mach kein Theater: Schau, da ist Kaffee und er hat sogar an Milch gedacht. Wenn es auch nur Kaffeesahne ist.— 

»Ja, dann machen wir jetzt erst einmal zünftig Brotzeit. Hilf mit, den Tisch zu decken, du weißt, wo das Geschirr ist. Musst es kurz abspülen. Ist noch alles staubig.«

Während Schorsch den Tisch deckte, machte Leni sich ans Kaffeekochen.

»Echter Bohnenkaffee. Der Kaffee riecht toll, ich hoffe, du hast keine Probleme, mit Satz in der Tasse. Ich hab keine Filterblätter und brühe den auf die altmodische Art auf.«

»Nein, des passt schon. Woisch no? Deine Mutter hat den immer so gemacht.«

»Ja und dann hat sie gewitzelt wegen dem Kaffeesatz am Boden: Da hont ihr was zum Lesen.«

Leni saß am Kopfende des Tisches, Schorsch gegenüber, die Ellbogen aufgestützt, den Kaffeebecher mit beiden Händen umschlungen. Sie atmete den Duft des frisch aufgebrühten Bohnenkaffees ein und seufzte zufrieden.

»Ich hatte vergessen, richtigen Kaffee zu kaufen, und musste heute Morgen ein Gebräu aus altem

Pulverkaffee trinken. Das Glas stammt noch aus Mutters Beständen.«

Mit einem kleinen Lächeln bedankte sie sich bei Denen, die ihr zu dem dringend benötigten und leckeren Gebräu verholfen hatten.

Obwohl: Eine Lösung ohne Schorsch Ansbach hätte sie bevorzugt.

»Siehste, ich bin die Antwort auf deine Gebete.«

Leni prustete in ihren Kaffee, sodass die Flüssigkeit heraus spritzte. »Träum weiter. Gib die Butter rüber, ich möchte mir eine Seele schmieren«, verlangte sie,

während sie sich mit einer Serviette trocken tupfte. »Es ist lang her, dass ich eine hatte.«

»Als seelenlos würde ich dich nicht bezeichnen.« Georg Ansbach reichte ihr die Butter.

»Sag Leni. Was hast denn all die Jahre gemacht? Hast geheiratet? Hast Kinder? Wie alt? Wo warst?«

Leni wischte sich umständlich die Lachtränen aus den Augen und beschmierte eines der langen Dinkelbrote mit Butter, dann belegte sie die Seele mit Rauchfleisch. Die Zeit nutzte sie, um eine Antwort zu formulieren.

 —Du willst ihm wohl nicht innerhalb von fünfzehn Minuten deine Lebensgeschichte auftischen?— 

»Ich versuch die Kurzfassung: Ich hab jung geheiratet.«

Wenn ich ehrlich bin, um dir, mir und dem Vater zu zeigen, dass auch andre Männer an mir interessiert waren und um von hier wegzukommen.

»Mein Mann war viel im Ausland tätig. Deshalb sind wir viel gereist. Henry ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, da waren meine Söhne fünf und drei.«

Dass seine schwangere Geliebte mit umkam, geht dich einen Dreck an!

»Ein paar Jahre sah es nicht so rosig aus, finanziell und so …« Leni schluckte und hielt kurz inne. »Ich musste mit den Kindern eine Weile auf dem Hof bei meinen Eltern wohnen. Kannst dir vorstellen, war nicht lustig. Gerade als es anfing, schlimm zu werden, erfuhr ich, dass Henry aus reichem Haus stammte.«

Ich frag mich heute noch, wie blöd ich war, ihm all die Jahre zu glauben, dass er keine Familie mehr hätte.

»Plötzlich war ich finanziell unabhängig und verließ den Sonnbichlerhof zum zweiten Mal.«

»Und dann? Hast du das Leben einer reichen Frau in Luxus und Nichtstun geführt? Erzähl.«

»So in der Art.« Leni wiegelte ab.

Es geht dich eigentlich absolut nichts an, was ich die letzten fünfundzwanzig Jahre so gemacht hab. Theo und das Theater in Stuttgart erst recht nicht.

»Aber das ist nicht weiter interessant. Erzähl lieber, wie ist es dir ergangen? Du hast ja damals relativ überstürzt geheiratet.«

Und mich ohne Erklärung sitzen gelassen.

Leni bemühte sich, ihre Stimme emotionslos klingen zu lassen. »Wie geht's Karin?«

Schorsch blickte auf den Grund seines Kaffeebechers. »Das Letzte was ich gehört hab, gut. Sie lebt in Spanien. Wir sind geschieden. Die Ehe hat nicht lang gehalten.«

 —Da schau an.— 

Schorsch drehte den Becher in seinen Händen hin und her, schien sich einen Ruck zu geben, blickte hoch, direkt in Lenis Augen. »Du, Leni … Weißt …« Sein Handy klingelte.

Er sah sie entschuldigend an. »Der Fluch des ›Immer-erreichbar-Seins‹. Ist es okay, wenn ich ran gehe? Ich kann auch wegdrücken.«

»Passt scho. Wir sind eh fertig mit Essen. Ich räume derweil ab.«

»Griaß di, Kilian. … Ich bin ganz in deiner Nähe. Bei der Leni Sonnbichler. Magst mit ihr reden? … Ah okay. Wart mal … Der Kilian Huber lässt fragen, ob wir nicht zum Kaffee vorbeikommen wollen. Seine Frau würde sich sehr freuen. Was meinst? Hast Lust?«

Sie wollte doch ihre Ruhe. »Eigentlich sollte ich endlich mit dem Aufräumen anfangen.«

»Komm, das läuft dir nicht weg.

Das Wetter ist schön und der Spaziergang zum

Huberhof täte uns beiden gut. Gib deinem Herzen einen Ruck.«

Der Spaziergang wäre eine Möglichkeit, Schorsch hinterher höflich und bestimmt zu verabschieden.

»Also gut. Lass mich schnell mit dem Kilian reden.« Leni nahm Schorschs Handy entgegen. »Servus Kilian. … Ja, ich bin's wirklich. Was muss ich da hören? Dich hat endlich eine geheiratet? Wer ist die Tapfere? … So, Käthe heißt sie? Da bin ich aber gespannt. Sie weiß, dass du mir versprochen warst?«, sagte Leni und lachte.

»Gut. … In circa einer Stunde. Passt das? … Schön. Sag mal, lebt deine Mutter noch? … Toll. Sag ihr liebe Grüße, ich hab oft an sie denken müssen. Sie hat mir damals sehr geholfen. … Ja, klar, ich sehe sie nachher. Gut. Bis dann. Tschüss. Ich geb' dir den Schorsch noch mal. Wart kurz.«

»Ich bin oben, mich umziehen, bis gleich.« Leni gab das Handy zurück und ging nach oben.

 

4

29. September, Michael und Gabriel.

 

»Viele leben zu sehr in der Vergangenheit. Die Vergangenheit soll ein Sprungbrett sein, aber kein Sofa.« Harold McMillan

 

Ich bin gespannt, wer sich den Kilian geschnappt hat. Der schien mir der ewige Junggeselle. Ob die alte Huberin ihre Schwiegertochter mag?

Schnell schlüpfte Leni aus ihrer Kleidung. Sie rümpfte die Nase. Ihre Achseln rochen stark nach Leni.

 —Mädle, du stinkst, so kannst nicht aus dem Haus. Zeit für eine Dusche! Schorsch hin oder her.— 

Das heiße Wasser prasselte über ihre Schultern und entspannte die Muskulatur. Zügig seifte sie sich ein und genoss anschließend den Wasserstrahl auf ihrem Körper.

Ob der Schorsch sie attraktiv finden würde? An ihren Brüsten war jedenfalls nichts auszusetzen. Sie strich sich über ihren nach vorne gewölbten Bauch. »Du könntest ruhig ein bisschen weniger vorwitzig sein, mein Lieber.« Schnell duschte sie kalt nach und trocknete sich vor dem Spiegel ab.

Hübsches weiches Haar mit leichter Naturwelle, schöne Brüste. Damit lässt sich was anfangen. Aber der Bauch und der Arsch … zu fett. Und mein Gesicht. Langweilig, rund und nichtssagend. Die nette Frau von nebenan mit Doppelkinnansatz.

 —Definitiv kein Gesicht oder Körper, der einen Krieg auslösen würde.— 

Leni musste lachen, während sie in frische Klamotten schlüpfte, und merkte laut an: »Mit Helena von Troja will ich mich nicht vergleichen. Auch nicht mit Karin oder Nastja.«

 —Dann sind wir uns ja einig—, murmelte es selbstzufrieden in Lenis Kopf.

Aber Leni war noch nicht überzeugt. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs feuchte Haar.

Verflucht. Was mach ich eigentlich? Da taucht Schorsch Ansbach nach fast dreißig Jahren auf. Ohne ein Wort der Erklärung hat er mich damals sitzen lassen. Und anstatt dass ich ihm sag, er soll sich zum Teufel scheren,

spiel ich die nette Gastgeberin, trink mit ihm Kaffee und überlege mir, ob er mich körperlich attraktiv findet. Ich muss es nötig haben.

»Nein! So geht das nicht! Ich hab auch meinen Stolz.« Sie stampfte mit dem Fuß auf.

Nach dem Spaziergang würde sie ihn freundlich verabschieden und ihm deutlich machen, dass sie keinen Wert darauf legte, weiterhin seine Bekanntschaft zu pflegen.

»Ganz damenhaft und würdevoll, kein Gezeter, keine Tränen und kein Theater.« Entschlossen ging sie die Treppe hinunter und ignorierte das lapidare  —Na dann ist ja alles in bester Ordnung.— , ihrer inneren Stimme.

Schorsch stand vor dem Beistellherd in der Küche mit einem Stück Holz in der Hand. »Das ging schnell. Die meisten Frauen, die ich kenne, sind für zwei Stunden unauffindbar, wenn sie kurz verschwinden, um sich fein zu machen.«

Wenn man nur Zuckerpüppchen kennt.

Leni trat einen Schritt vor und nahm Schorsch das Holz ab.

»Lass dass. Ich will nicht, dass du den Ofen anmachst. Die Kamine sind seit Jahren nicht gekehrt worden. Bis jetzt ging es noch ohne Heizen.«

Es wird Zeit, dem Herrn ein paar Grenzen zu setzen, sonst endet das so, wie mit Theo.

Schorsch sah überrascht aus. »Entschuldige. Ich werd in Zukunft fragen. Sollen wir jetzt los?«

 —Sei doch nicht so gereizt. Gib dem Kerl ne Chance.— 

Leni schluckte ihren Unmut hinunter.

Aber entschuldigen werd ich mich nicht.

Sie nickte Schorsch zu. »Das passt. Ich nehme noch einen Beutel und ein Messer mit. Die Pilzsaison ist noch nicht ganz vorbei.«

Sie traten vor die Haustür und wandten sich einem Pfad zu, der sie, vorbei an einigen abgemähten Streuobstwiesen, zum Waldrand führte.

Die Herbstsonne strahlte auf die Wiesen. Leni blieb spontan stehen, holte tief Luft und schloss die Augen. Die Wärme und die Ruhe des Herbsttages drangen Schicht für Schicht, einem wohltuenden Vollbad gleich, in ihren Körper ein. Ihre Füße schienen verwurzelt mit dem Boden, der sich weich unter den Sohlen anfühlte. Erdiger Geruch vermischt mit dem Duft von feuchtem Laub drang in ihre Nase. Die Anspannung fiel von ihr ab.

Am Rande ihrer Wahrnehmung hörte sie Krächzen. Leni schrak aus ihrer Trance hoch. Direkt vor ihr saß eine Krähe und sah sie aus dunklen Knopfaugen an.

Leni lächelte. Hallo Schöne.

»Diese Viecher werden von Jahr zu Jahr frecher«, brachte sich Schorsch in Erinnerung.

Leni drehte sich zu Schorsch, immer noch lächelnd. »Findest? Weißt du, dass ich im indianischen Horoskop eine Krähe bin?«

»Bist du nicht Sternzeichen Jungfrau?«

»Es gibt Horoskope in anderen Kulturkreisen, im indianischen bin ich Krähe.«

»Wenn ich dich so angucke, mit dem zerzausten Haar, dann kommst mir wie eine Sturmkrähe vor«, neckte er.

»… oder wie eine Wetterhexe. Kannst du auch Warzen besprechen?«

»Nein kann ich nicht.« Leni ging automatisch in Abwehrstellung.

 

»Aber ich kenne ein oder zwei, die können das Wasser abdrehen. Willst es auf einen Versuch ankommen lassen?«

»Muss ich jetzt Angst kriegen?«

»Woher soll ich das wissen? Gibt es jemanden, dem du untreu bist, der vielleicht auf Rache sinnt und sich an eine Hexe wendet, damit du massive Potenzprobleme kriegst?«

Schorsch lachte. »Ich bin seit Jahren Single, soweit ich weiß, gibt es keine Frau, die mir böse ist.«

Das würde ich so nicht unterschreiben.

 —Warum fragst du nicht einfach:»Schorsch, warum bist du damals ohne ein Wort verschwunden? Ich hab erst ein paar Wochen später aus der Zeitung erfahren, dass du Karin geheiratet hast.« Aber nein, Madame hält lieber den Mund und bruddelt vor sich hin—, tadelte Lenis innere Stimme.

»Du hast Recht, eigentlich sind es tolle Viecher«, lenkte Schorsch das Gespräch in eine andere Richtung.

Leni betrachtete die Krähe. Kurz blitzten die Traumbilder vom frühen Morgen vor ihrem inneren Auge auf. Sie fröstelte. »Wer weiß? Die Mutter mochte sie nicht, die Rabenviecher. Sie meinte, sie würden den Tod ankündigen. Wenn sie eine Krähe oder eine

Elster sah, hat sie immer versucht, sie zu vertreiben.«

»Landwirte sind allgemein nicht gut auf die Vögel zu sprechen. Ich kann es verstehen. Wie oft picken die Viecher die Siloballen an und das Futter verdirbt? Wenn ich ein Landwirt wäre, würde ich auch toben.«

 —Warum muss denn das Fressen auch in so komische Plastikfolien verpackt in der Landschaft rumliegen? Ist doch ne Einladung zur Selbstbedienung.—, brummelte es rebellisch in Lenis Kopf.

Leni ignorierte das innerliche Aufbegehren und meinte: »Ich mag sie. Ich bin froh, dass sie geschützt sind. Schau doch. Ist das nicht großartig, diese Schwärme zu sehen, wie sie über die Wiesen fliegen?«

Wie auf Stichwort flog die Krähe mit lautem Krächzen auf und mischte sich unter ihre Artgenossen, die über den Obstbäumen auf der Wiese Sturzflüge vollzogen.

»Hoffentlich hat deine Mutter nicht recht, mit den Unglücksboten. Sonst müsste ich jetzt Panik schieben.«

Leni nickte geistesabwesend.

Wollte die Krähe mich warnen? Hmm … Wenn das ein Hinweis sein sollte, dann war der arg mager. Ginge es etwas deutlicher?

Lenis Einstellung zu ihrer magisch-intuitiven Seite war bodenständig und wenig gezeichnet von der in esoterischen Schriften üblichen Ehrfurcht. Respekt ja. Spirituelle Arschkriecherei? Nein! Eins wusste sie aus Erfahrung: Über kurz oder lang würde das Universum weitere Hinweise liefern.

 —Sei halt nicht so überkandidelt. Nimm es als naheliegenden Ratschlag. Du hast mit Schorsch noch etwas zu klären. Frag halt endlich! Scheiß drauf! Sag's einfach und gut ist.— 

Leni blieb stehen, öffnete ihren Mund, um die Frage, die ihr seit gut dreißig Jahren nachhing, endlich zu stellen. Schorsch schien ähnliche Gedankengänge verfolgt zu haben. Plötzlich knurrte er, berührte sie am Arm und stand vor ihr. »Leni, ich weiß, es ist ewig her. Wahrscheinlich ist es gar nicht wichtig, aber ich möchte reinen Tisch machen. Ich glaube, ich bin dir eine Erklärung schuldig.«

Aha!

In Leni kochte Wut hoch, von der sie gedacht hatte, sie wäre längst erloschen. »Ach komm. Es ist doch klar, was damals ablief. Ich war einfach dumm und naiv. Was willst da noch groß erklären? Als du mit mir gehen wolltest, da habe ich dich gefragt, ob es eine Andre gibt. Ich wusste, dass du zuvor mit Karin zusammen warst. War ja nicht zu übersehen, so wie sie dir immer um den Hals hing. Du hast mir hundert Eide geschworen, dass das mit Karin vorbei sei. Sie hätte Schluss gemacht und einen Andren. Nach sechs Wochen, da hör ich keinen Pieps mehr von dir. Das Nächste, was ich mitkriege, ist eine Heiratsannonce im Tagblatt. Nach dreißig Jahren rufst du so mir nichts dir nichts an, lädst dich bei mir zum Kaffee ein. Mir geht‘s beschissen. Ich will nichts hören!«

Sie riss sich los und stürmte tränenüberströmt Richtung Wald.

Einfach weg.

»Leni, wart!« Schorsch rannte hinter ihr her, bekam sie am Arm zu fassen. Seine Stimme klang brüchig. »Komm, da vorne ist eine Bank. Setzen wir uns. Ich hab die ganze Zeit einen Einstieg gesucht, das zu klären. Ich dachte mir schon, dass ich nicht nach dreißig Jahren einfach auf deiner Türschwelle auftauchen kann, ohne zumindest um Entschuldigung zu bitten. «

 —Und wo ist die Entschuldigung? Bis jetzt hab ich noch nichts davon gehört.— 

Unwillig, doch auf eine Erklärung hoffend, die ihr helfen würde, die alte Verletzung endlich abheilen zu lassen, folgte sie ihm. Ihre Nase lief.

Natürlich. Kein Taschentuch. Ich hasse es, dass ich so nah am Wasser gebaut hab!

Schorsch begann mit seiner Erklärung,verstummte immer wieder, als würde er sich jeden Satz zurechtlegen: »Karin hatte mit mir Schluss gemacht. Das ist wahr. Sie war schneller als ich. Ich hatte ein Auge auf dich geworfen und zwischen ihr und mir, das passte schon eine Weile nicht mehr. Viel später hab ich erfahren, da gab es einen Studenten in Tübingen. Der hat sie wohl abserviert und ein paar Jahre danach eine Krankenschwester geheiratet.«

»Was hat das mit dir zu tun oder mit uns?«

 —Sicher hat die schöne Helena nicht wie ein Elefant mit Knoten im Rüssel geklungen, wenn ihre Nase vom Heulen verstopft war.

Komm, reiß dich zusammen. Was heulst denn? Das Ganze ist ewig her. — 

»Ich bin in die klassische Falle getappt.« Schorsch lächelte. Leni fand, es sah eher wie Zähnefletschen aus.

»Karin kam zu mir und hat gesagt, sie sei von mir schwanger. Abtreiben wollte sie nicht. Also haben wir geheiratet.«

»Und war sie?«

 —Nie im Leben!— 

»Schwanger? Keine Ahnung. Kurz nach der Hochzeit hat sie behauptet, sie habe eine Fehlgeburt erlitten. Zwei Jahre später kam dann unser Kind auf die Welt.«

»Eine Tochter?«

»Ja. Karin hatte schon immer einen etwas schwülstigen Geschmack. Da wir damals in Spanien wohnten, wurde es Esmeralda. Du, ich bin Großvater.« Umständlich zog er seine Brieftasche aus der Jacke, zeigte Leni Bilder seiner Tochter und seiner Enkelin.

Leni betrachtete pflichtschuldig die Fotos. Eine junge Frau mit langem blonden Haar, perfekt geschminkt, mit einem zurechtgemachten kleinem Mädchen im Arm, das wie ein Püppchen wirkte.

»Hübsch.«

 —Kannst du nicht etwas mehr Begeisterung in das Wort legen?— 

Wieso? Ich steh nicht so auf dieses Püppchendings.

»Gell. Gott sei Dank kommt mein Edelstein äußerlich mehr nach ihrer Mutter.«

 —Ich hoffe, sie hat nur das Aussehen von Karin geerbt—, murmelte Lenis innere Stimme.

Leni erinnerte sich gut an Karin Müller:

Zierlich, blond und zickig. Beliebt bei den Jungs. Weniger bei den Mädchen. Karin Müller hatte in der Schule die Jungs um ihren kleinen Finger gewickelt, und mit dieser Methode meist das bekommen, was sie wollte. Auf Kosten anderer.

»Unsere Tochter war so ziemlich das einzige Gute in der Ehe.«

»Woran lag es?«

Er zuckte die Schultern. »Die Grundvoraussetzungen stimmten nicht.«

Das kann ich mir denken. Leni knirschte mit den Zähnen.

»Ich hab Journalistik studiert, war dann für internationale Zeitungen als Auslandskorrespondent tätig und weltweit unterwegs, wenig daheim. Es hat halt nicht gepasst. Sie fühlte sich alleingelassen mit unserer Tochter. Es gab dann noch ein paar andere Probleme. Nach fünf Jahren war der Spuk vorbei. Karin lebt jetzt in Spanien und ist verheiratet. Zum dritten Mal.«

»Und was geschah dann?«, wollte Leni wissen.

»Ich hab Karriere gemacht. Bin viel herum gekommen. War ein interessantes Leben, aber man wird älter und findet es nicht mehr so prickelnd, aus dem Koffer zu leben. Es zieht einen heim nach Wangen, dich, wie’s scheint, auch.« Er stupste sie lächelnd an. »Vor ein paar Jahren bin ich wieder hierher gezogen. Ich arbeite jetzt freiberuflich als Schriftsteller und Journalist. Dass ich keine Gelegenheit hatte, es dir zu erklären, hab ich immer bereut. Als ich dich dann auf dem Markt sah, da wusste ich, ich muss versuchen, mit dir ins Reine zu kommen.«

»Warum hast du es mir damals nicht gesagt?«

»Leni, glaub mir, ich hab es versucht. Ich hab dir Briefe geschrieben, die kamen ungeöffnet zurück. Da musste ich glauben, dass du so wütend auf mich warst, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben wolltest. Wenn ich angerufen hab, sagten deine Eltern, du wolltest mich nicht sprechen. Christian konnte ich nicht mehr bitten, zu helfen, und dann hab ich gehört, du wärst weggezogen.«

Leni setzte sich gerade hin. Ihr Magen krampfte sich zusammen, wie nach einem Faustschlag.

 —Jetzt wird so Einiges klar. So ein Arschloch!— 

»Ich habe nie einen Brief zu Gesicht bekommen.« Die alte Wut und Hilflosigkeit, die sie als Teenager gegenüber manchen Aktionen ihres Vaters empfunden hatte, spülte hoch. Ihr wurde speiübel.

Hätte ich mir denken können, der Vater hat dauernd drüber gesprochen, was der Kilian für 'ne tolle Partie wäre. Aber dass die Mutter ihn unterstützte …

»Ich glaub, mein Vater hat die zurückgehen lassen. Weißt ja, wie mein Vater war.«

»Ein alter Grantler, wenn du mir den Ausdruck verzeihst.«

 —Ich hätte da noch ein paar andere, nicht druckreife—, grummelte es in Lenis Kopf.

»Er hat an nichts und niemandem ein gutes Haar lassen können. Ich hab mich oft gefragt, wie ihr das ausgehalten habt, deine Mutter, du und Christian.«

»Die Mutter hat dem Vater schon Kontra gegeben.« Leni verzog leicht das Gesicht. »Sie hatte ihre eigene Art, ihren Willen durchzusetzen. Früher dachte ich, ich müsste sie in Schutz nehmen, aber sie wusste genau, was sie tat. Der Christian … das weißt ja selber.«

Schorsch nickte, sein Blick verdüsterte sich. Leni lächelte ihn an. Sie fühlte sich trotz verstopfter Nase und verquollener Augen sehr viel besser.

Eine Zeit lang saßen die zwei gemeinsam auf der Bank. Schorsch legte den Arm um Leni, ihr Kopf ruhte leicht an seiner Schulter und sie schwiegen einvernehmlich. Jeder hing seinen Gedanken nach.

Schließlich räusperte er sich. »Meinst, wir könnten weiter? Der Kilian und die Käthe werden sich noch wundern, wo wir abgeblieben sind. Geht's dir gut?«

»Danke. Es tut noch weh, aber jetzt kann ich abschließen. Also, lass uns weiter gehen. Mir wird kalt.«

 

5

30. September, Hieronymus.

»Was mich erschreckt... ist die Zerstörungskraft, die aus dem Herzen kommt.« A.Einstein

 

Hannes Maier rieb sich die Augen. Der bittere Geschmack in seinem Mund war stärker geworden. In der Zwischenzeit hatte er mit dem Gerichtsmediziner telefoniert und einen vorläufigen Bericht erhalten. Die Tote war eine junge Frau, circa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt. Doktor Bayerlein schätzte, anhand des Verwesungsgrades, dass die Frau schon mehrere Tage im Wald gelegen hatte.

»Ich denke, so circa zwischen fünf oder sieben Tage. Die Aasvögel haben ganze Arbeit geleistet. Wundert mich eigentlich, dass die Füchse und Ratten noch nicht an ihr genagt haben.« Bayerleins Stimme klang fast bewundernd, ob der Gründlichkeit von Mutter Natur.

Hannes war froh, dass der Gerichtsmediziner weit weg in seinem Labor saß und durch das Telefon nicht mitbekam, wie ihm, dem erfahrenen Kriminaler, übel wurde.

»Ich kann noch nicht sagen, welche Verletzungen von der Tatwaffe stammen und welche von den Vögeln«, fuhr der Pathologe fort. »Mindestens fünfzig Stiche. Mein Assistent zählt grad noch mal. Die Stiche sind unterschiedlich tief.

Da hat sich jemand wirklich ausgetobt. Auch im Gesicht.«,

Im Landkreis Ravensburg waren die Leute sicherlich nicht gesetzestreuer als im restlichen Ländle. Es gab jedes Jahr Tötungsdelikte. Aber Hannes konnte sich nicht erinnern, dass er in seiner ganzen Dienstzeit jemals mit einem Fall zu tun gehabt hatte, in der die Leiche so brutal zugerichtet worden war.

»Da war doch eine Stofftasche mit einem Küchenmesser, das die Spurensicherung gefunden hat. Könnte das die Tatwaffe sein?« Hannes konnte sich zwar nicht vorstellen, warum der Täter die Leiche unbekleidet zurücklssen würde, um dann die Tatwaffe in einem Stoffbeutel liegen zu lassen, aber wer verstand schon das Hirn eines Mörders? Er sicherlich nicht. Seine Hilde war ihm vor zehn Jahren genommen worden. Der Schuldige nie gefasst.

»Ich denke nicht. Das Messer ist recht stumpf. Vom Verletzungsmuster her vermute ich eine Art Teppichmesser oder Skalpell. Sehr scharf und kurze Klinge. Wir untersuchen das Messer gerade auf Blutspuren. Sicher ist sicher. Meinen vollständigen Bericht bekommen Sie spätestens heute Nachmittag … zumindest, alles, was ich bis dahin sicher ermitteln kann.«

Hannes bedankte sich für die Vorabinformationen und beendete das Telefonat. Er legte seine Hände auf den Schreibtisch, fühlte die Kühle der splittrigen Resopalplatte, während sein Hirn die bisher erhaltenen Informationen sortierte. Die erhoffte Erleuchtung blieb aus.

»Christine, hast du was Neues?« Die Assistentin war während des Telefonats eingetreten und saß an ihrem Schreibtisch. Er konnte hinter der Barrikade aus Topfpflanzen, die als Grenze zu Jürgens Arbeitsplatz diente, gerade noch ihren Kopf erahnen.

Christine rollte mit ihrem Bürostuhl an den Rand ihres Schreibtisches, damit sie ihren Chef sehen konnte. »Ich war bei der Familie Huber. Kilian Huber hat gestern die Kollegen zum Hexenwasser gebracht. Er besitzt einen großen Bauernhof und ist Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr, wie die meisten von diesen Landbewohnern.« Christine konsultierte ihr Notizbuch, dessen Außenseite mit einem großen gelben Pokémon verziert war. »Er ist fünfundvierzig Jahre alt, seit Mai 2008 verheiratet mit Käthe Huber, geborene Störtebecker. Die ist dreißig. Dann gibt es noch Maria Huber, neunundsechzig, Witwe. Die zwei Huberfrauen vermieten neben der Landwirtschaft noch Ferienwohnungen.«

»Gibt es da zur Zeit Gäste? Wird jemand vermisst?« Hannes Maier setzte sich auf. Mit etwas Glück war der Fall doch schneller gelöst, als gedacht.

Christine schüttelte den Kopf. »Nein. Laut Käthe Huber wohnt ein Ehepaar Schmied in einer der Wohnungen. Ich hab sie nicht angetroffen. Ich hab eine Visitenkarte an die Tür geheftet, dass sie sich bei uns melden sollen.«

»Wie schätzt du die Hubers ein? Könnte es sein, dass er eine Geliebte hatte und entweder er oder seine eifersüchtige Frau was mit der Tat zu tun haben?« Hannes wusste, unter dem harmlosen Rosa-Girlie-Gehabe von Christine verbarg sich ein wacher Verstand.

Die Polizistin zuckte mit den Schultern. »Möglich ist alles. Es würde mich wundern, wenn da ein Eifersuchtsdrama abliefe.

---ENDE DER LESEPROBE---