Magdalene und die Saaleweiber - Christina Auerswald - E-Book

Magdalene und die Saaleweiber E-Book

Christina Auerswald

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Beschreibung

Wenn Aberglaube droht, eine Liebe zu zerstören Halle an der Saale im Jahr 1693. Else lügt, doch alle denken, dass sie die Wahrheit sagt! Die Altmagd tut, als ob sie Visionen hätte. Sogar Magdalenes Mann hängt an Elses Lippen. Sieht er nicht, dass alles nur ein Schauspiel aus Berechnung ist? Wie kann er glauben, dass Magdalene zu den Saaleweibern gehört, den zauberkräftigen Frauen, die sich abends am Flussufer treffen und ihre magischen Kräfte aus Tieropfern ziehen? Magdalene kann das Lügenwerk und seine Folgen nicht hinnehmen. Doch dann steht sie in Flammen. Und bald zieht das Geschehen größere Kreise …

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

Sieben Sagen von Saaleweibern

Auswahl historisch belegter Personen in diesem Buch

Zur Autorin

Leseprobe aus »Das Saturei-Medaillon«

Ebenfalls im Mitteldeutschen Verlag erschienen

Abbildungsnachweis

Impressum

1. KAPITEL

Eine Stimme zerschnitt die warme Küchenluft. »Else!« Niemand antwortete. Im Haus »Zu den Drei Rössern« blieb es still.

»Else, komm endlich in die Küche!«

Die Altmagd Else bewegte sich nicht. Sie stand sechs Ellen von ihrer Hausherrin entfernt reglos im Korridor zwischen Küche und Laden. Ihren Rücken hielt sie gerade wie eine junge Pappel, obwohl sie an die fünfzig war und viele Frauen in ihrem Alter längst einen Buckel besaßen. Else würde nie einen Buckel bekommen. Die weiße Haut ihres Gesichts war zart wie die einer Dreißigjährigen. Sie liebte es, ihren Leib mit einem engen Mieder zu betonen, und an diesem Tag trug sie unter ihrem grauen Arbeitskleid eine Bluse mit bauschigen Ärmeln aus hellem Leinen. Das war eine Aufmachung, als hätte sie etwas Besonderes vor und nicht bloß gewöhnliche Küchenarbeit. Eine Fliege summte an ihrem Kopf vorbei, Else hob lässig die Hand. Die Brauen über ihren blauen Augen zogen sich in einem spitzen Winkel zusammen, der Schönheitsfleck auf ihrem Jochbein zitterte. Die Fliege verschwand.

Magdalene Rehnikel, die Hausherrin, ließ die Hände von der eigenen Arbeit sinken und drehte sich zu ihrer Altmagd um. Sie folgte Elses Blick in den Laden, wo der Geselle Lichtenberg und ihr Mann, der Meister Rehnikel, standen und sich über eine Spezerei beugten. Die Türen zwischen der Küche, dem Treppenhaus und dem Laden standen weit offen. Das Geschäft war ein Spezereienhandel, der einzige in Halle. Else war versunken in die Betrachtung der beiden Männer, ihr Gesicht bewegte sich so wenig wie das einer Puppe. Der Geselle schüttete vorsichtig Körner aus einem Säckchen auf eine Schale der Waage, der Meister hielt seine Nase darüber und murmelte. Seine Worte waren kaum zu verstehen, etwas von »in trockenem Zustand annehmen, da die Beeren sonst schimmeln …«, und Lichtenberg nickte.

»Else!«, rief Magdalene ein drittes Mal.

Else drehte sich nicht um. Stattdessen faltete sie die Hände, wie um mitten im Korridor zu beten, und hob sie theatralisch vor die Brust. Solche Posen liebte Else. Sie tat, als würde sie in einer Andacht versinken, damit ihre Herrin auf eine Zurechtweisung verzichtete. Sie wusste, dass die beiden jungen Mägde im gleichen Moment Mangold wuschen und zupften, eine mühselige Arbeit, bei der ihre Hilfe gebraucht wurde.

Else seufzte.

Georg Rehnikel richtete sich auf. Er zog sein Wams über dem runden Bauch gerade und steckte die Börse fester in den Gürtel. Dann legte er dem Gesellen die Hand auf die Schulter und verließ den Laden mit großen Schritten. Er ging an Else vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und blieb vor Magdalene stehen.

»Ich gehe die Apotheken ab, Lenchen«, sagte er. »Zum Abendessen bin ich wieder da.« Er lächelte, strich ihr über die Wange und beugte sich für einen trockenen Kuss hinüber. Im Gehen hob er grüßend die Hand.

Die Apotheken abgehen, das hieß die fälligen Rechnungen zu kassieren. Georg Rehnikel tat das jede Woche. Er lieferte viele Spezereien an Herrn Becker und Herrn Rudolph, die beiden Apotheker der Stadt. Das war ein zuverlässiges Geschäft. Kranke gibt es immer, in schlechten Zeiten sowieso, erst recht in guten Zeiten, da sich die Leute mehr um sich selbst kümmern können. Die guten Zeiten hatten noch nicht angefangen, obwohl man hier die größten Hoffnungen hegte, seit Halle 1680 zum Kurfürstentum Brandenburg gekommen war. Man schrieb mittlerweile den 15. September 1693. Obwohl der ersehnte Reichtum der Stadt auf sich warten ließ, hatte sich in den letzten Jahren manches getan. Seit einigen Tagen gab es eine dritte Apotheke in der Stadt, und Herr Hoffstadt, der pfälzische Apotheker, hatte schon ein paar Mineralien und Öle im Spezereienhandel bestellt. Vielleicht war das ein Beweis, dass es aufwärtsging.

Die Tür klappte hinter Georg Rehnikel, Else löste sich aus ihrer Erstarrung.

»Komm endlich in die Küche«, rief Magdalene. »Deine Arbeit wartet.«

Else antwortete nicht. Für den Bruchteil eines Augenblicks flatterten ihre Lider. Magdalene, im Vertrauen darauf, dass die Magd ihre Arbeit aufnehmen würde, streifte die klobigen Holzschuhe über und verließ das Haus durch die Hoftür. Sie holte den Rest des Mangolds aus dem Garten, der hinter dem Haus im tieferen Teil des Grundstückes lag. Er stand dort noch in seinem Beet, gut gewachsen, mit dicken Blättern. Dieses Jahr war weniger verregnet als die vergangenen und verwöhnte die Menschen mit Sonnenstrahlen. Das hatte Früchte und Gemüse im Garten gut wachsen lassen.

Magdalene legte gerade den dritten Arm Mangold in den Erntekorb, da kam die Magd Rosina atemlos aus dem Haus gelaufen. Rosina war auf einer Seite lahm, sie hinkte sonst; jetzt war sie so schnell, dass ihr verkrüppelter Fuß kaum den Boden berührte. Zehn Schritte von ihrer Herrin entfernt hob sie den Arm und winkte. In ihrem puterroten Gesicht standen die Augen groß.

»Frau Meisterin, kommt schnell«, rief sie, »mit Else stimmt etwas nicht!«

Magdalene stellte den Korb auf dem Gartenweg ab, schlüpfte aus den Holzpantinen und eilte hinter Rosina ins Haus.

Else saß in der Küche am Tisch. Im ersten Moment konnte Magdalene nichts Ungewöhnliches entdecken. Der Spülstein war blank geputzt, der Suppentopf stand auf dem Herd, das Feuer im Ofenloch knisterte. Else trug noch dasselbe Arbeitskleid mit der Schürze darüber, die hellen Ärmel aufgekrempelt. Die Kleinmagd Gertrud, die atemlose Rosina und Lichtenberg, der Geselle, umringten sie. Ihnen standen die Mäuler offen. Else hatte, wie Magdalene im Näherkommen sah, weit aufgerissene Augen und einen starren Blick zum Fenster hinaus. Die Hände hielt sie erhoben wie ein Priester bei der Segnung. Sie gab merkwürdige Töne von sich, die dem Knurren eines Hundes glichen. Rosina fröstelte. Magdalene sah den Schauder, der über die nackten Unterarme ging und die Härchen auf ihrer Haut steil aufrichtete.

»Else, was treibst du für einen Unsinn«, fuhr Magdalene sie an. Else zuckte nicht, sie stieß weiterhin seltsame Töne aus. Ihre Herrin stemmte die Hände in die Seiten und versuchte es erneut. »Du hast uns lange genug von der Arbeit abgehalten. Steh auf und kümmere dich um die Suppe!«

Nichts geschah. Else brummte höher im Ton. Rosina und Gertrud zitterten. »Ich glaube, sie ist krank«, flüsterte Gertrud furchtsam.

»Ach was!«, winkte Magdalene ab. »Nicht so krank, dass es nicht mit einem Eimer kalten Wassers behoben werden könnte! Rosina, hol Wasser!« Rosina nickte und wollte den ersten Schritt tun, da fing Else an zu schreien.

Die Schreie klangen wie die eines verletzten Tieres. Sie dauerten einen Moment an und brachen unvermittelt ab.

Dann redete Else. Sie benutzte klare Worte, aber ihre Stimme klang wie die einer anderen Person, fremd und unheimlich. Ihr Blick ging über Magdalenes Kopf hinweg in unbestimmte Ferne. Sie zwinkerte nicht. Rosina war stehen geblieben und hörte mit offenem Mund zu, wie Else mit tiefer Stimme redete. »Siehe, der Herr wird kommen! Aus dem Mund seiner unschuldigen Dienerin wird er zu Euch sprechen, damit Ihr gewarnt werdet – vor Sodom und Gomorrha, vor Sünde und Bosheit.«

Else hob ihre Hände höher, reckte sich und fuhr in erhöhter Tonlage fort: »Der Herr wird mit allen sein, die sich ihm ergeben! Er spricht: Wehe denen, die nicht an mich glauben, die heucheln und Götzen dienen! Elisabeth Bauer, gehe hin und verkünde allen, die fest auf Gott vertrauen, dass der Herr nah ist! Und denen, die in Aberglauben leben, verkünde die Vergebung des Herrn, wenn sie umkehren und den rechten Weg beschreiten! Sonst wird es ein schlimmes Ende nehmen mit allen Gottlosen und denen, die ihnen Glauben schenken!«

Magdalene wurde es zu bunt. Ihr Gesinde stand verwirrt um die Altmagd herum und tat nichts. Sie musste selbst tun, was nötig war. Sie lief, so schnell der Zorn sie trieb, nach draußen und griff den vollen Wassereimer, der an der Zisterne stand. Else redete noch immer, als sie zurückkam, und Magdalene hörte wieder etwas von Aberglauben. Das eiskalte Wasser aus dem Eimer ging zusammen mit ihrer restlichen Wut über Elses Schädel nieder.

Else fuhr mit einem Schrei von ihrem Platz auf. Jetzt sah sie wieder aus wie die Altmagd Else, verkniffen und mit zorniger Stimme kreischend, nur, dass sie pudelnass in einer Pfütze stand. Die Haube lag platt auf ihrem Kopf, und die vormals geplusterten Ärmel hingen mit dem Kleid wie ein Sack an ihr herunter. Sie zwinkerte mit den nassen Wimpern und schüttelte sich wie die Hunde nach dem Bad. Magdalene war die Erste im Raum, die ihre Fassung wiederfand. Sie begann zu lachen, laut und herzhaft.

Die jungen Mägde und Lichtenberg stimmten ein. Ohne das Vorbild ihrer Herrin hätten sie das nicht gewagt, aber Magdalene konnte nicht an sich halten. Elses Anblick war zu komisch, um nicht lauthals zu lachen.

Else hörte zu kreischen auf und ließ die Hände sinken. Sie richtete ihren Blick auf Magdalene und sagte mit süßlichem Schmalz in der Stimme: »Frau Meisterin, etwas Wunderbares ist geschehen! Gott, der Herr, hat zu mir gesprochen! Ich habe sein Licht gesehen!« Sie lächelte verzückt.

Gertrud in ihrer sechzehnjährigen Schlichtheit fragte: »Was hast du mit dem Aberglauben gemeint?«

»Welcher Aberglauben?«, fragte Else und sah so verwundert aus, dass Magdalene beinahe selbst darauf hereingefallen wäre.

»Das, wovon du geredet hast«, forderte Gertrud.

Rosina fügte hinzu: »Dass der Herr durch deinen Mund spricht. Außerdem hast du gesagt, er habe Elisabeth Bauer seine Stimme gegeben. Das bist du selbst, Else, nicht wahr?«

»Ja, das bin ich«, erwiderte Else mit großer Freundlichkeit. Ein dicker Wassertropfen hing an ihrer Nasenspitze. Magdalene sprang die Heuchelei aus ihrem Lächeln entgegen, alle anderen schienen es nicht zu bemerken. »Was habe ich noch gesagt?«, fragte sie mit honigsüßer Stimme.

»Dass der Herr allen zur Umkehr rät, die in Aberglauben leben, dass er vor Gottlosen warnt und denen, die ihnen glauben, und dann hast du noch von Sünde und Nachlässigkeit gesprochen!« Gertrud schnaufte atemlos von dieser langen Rede, länger als alle Sätze, die sie bisher von sich gegeben hatte.

Else ergänzte: »Von Sodom und Gomorrha.«

Sanft entgegnete Magdalene: »Sieh an, du warst gar nicht entrückt. Du weißt genau, was du gesagt hast.«

Elses glückselige Grübchen in den Mundwinkeln verschwanden. Sie gab keine Antwort.

Magdalene zuckte die Schultern. »Genug der Schwatzerei. Else, zieh dir trockene Sachen an und gehe an deine Arbeit. Du bist spät dran.«

Die Morgensuppe wurde am Abend vorher zubereitet. Es war Elses Aufgabe, sie zu kochen, damit sie am Morgen bloß noch aufgewärmt werden musste. Draußen sank die Dämmerung, Kerzen und Öllichter waren teuer und sollten nur benutzt werden, wenn es dringend nötig war.

Die Mädchen protestierten. »Aber Frau Meisterin«, fing Gertrud an zu lamentieren, und Rosina fragte: »Was war das eben? Hatte Else eine Offenbarung? Offenbarungen sind dasselbe, als wenn Gott aus einem spricht. Gott, der Herr! Hier, in unserem Haus, vor unseren Ohren!«

Der Else legten sich zwei vergnügte Grübchen in die Mundwinkel.

»Der Herr war diesem dummen Gerede so fern wie ein Kalb dem Mond«, fuhr Magdalene die jungen Mägde an. Sie sah den Protest in ihren Augen flackern, aber die beiden Mädchen sagten keinen Ton mehr und gingen an ihre Arbeit. Berge von Mangold türmten sich auf dem Tisch. Gertrud und Rosina begannen wieder mit dem Grünzeug zu arbeiten.

Else tat gar nichts. Sie blieb stehen und lächelte Magdalene lammfromm an. »Ihr werdet entschuldigen, Frau Meisterin, ich empfinde in diesem Augenblick große Sehnsucht nach Gott. Ich muss in die Marktkirche gehen und ein Gebet verrichten, um dem Herrn für seine Wohltat zu danken.«

Die Altmagd setzte sich in Bewegung und verließ das Haus, ehe irgendjemand ein Wort zur Erwiderung gefunden hatte. Magdalene war so verblüfft, dass sie die Magd nicht, wie sie um ihrer Autorität willen verpflichtet gewesen wäre, zurückholte und zurechtwies. Stattdessen sank sie auf die Küchenbank und verstummte.

Lange passierte nichts. Rosina brachte den Eimer nach draußen, Gertrud wischte schweigend die Wasserlache vom Boden auf, dann arbeiteten die jungen Mägde weiter am Mangold. In der Küche lag das Schweigen wie Blei, nur vom Ratschen der Mangoldblätter unterbrochen. Magdalene sah aus dem Fenster zum Hof. Sie starrte auf die Wand des Stallgebäudes, die Hände lagen im Schoß, sie hielt die Finger ineinander geklammert.

Nach einer Weile schwenkte sie den Blick zum Herd. Sie wies Rosina an, sich um die Suppe zu kümmern, und sah zu, wie die Magd das Hafermehl anrührte. Gertrud stand auf, räumte die Reste des Gemüses zusammen und verschwand mit dem Abfall zum Hühnerfüttern nach draußen.

Magdalene blieb reglos auf der Bank am Küchentisch sitzen. Sie fragte sich, was Else im Schilde führte, denn es gab keinen Zweifel, dass irgendetwas hinter ihrem Auftritt steckte. Es war nichts Gutes, das wusste Magdalene. Ihr Blick war wieder auf den kümmerlichen Ausblick gerichtet, als könnte sie dort ein Mittel finden, um Else in eine freundliche, gutmütige Frau zu verwandeln.

2. KAPITEL

Rosina sah Gertrud nach, die draußen das Hühnergatter öffnete. Sie rührte im Suppentopf, fuhr mit dem hölzernen Löffel einmal ringsum, zog ihn heraus und musterte ihn. Magdalene konnte erkennen, wie die Magd mit sich rang, ob sie den Löffel ablecken durfte. Deshalb warf sie ihr einen Blick zu, dass sie es lassen sollte, und Rosina verstand. Sie legte den Löffel beiseite und den Deckel auf den Topf.

Meister Georg Rehnikel trat in die Küche, verschwitzt von seinem Gang zum Markt und dort von einer zur anderen Apotheke. Bewegungen bereiteten ihm Mühe; er liebte es viel mehr, in seinem Lager zu sitzen und mit dem Vergrößerungsglas Pflanzen anzuschauen. Der Gang zu den Apotheken musste sein, denn der brachte das Geld, von dem sie lebten. Georg Rehnikel knöpfte sein schwarzes Wams auf, zog es aus und legte es über die Stuhllehne. Dann streckte er die Arme lang und gähnte.

»Ist etwas passiert, Lenchen?«, fragte er. »Gertrud hat sich quer über den Hof davongemacht, als ich reinkam. Das hat ausgesehen, als ob sie nicht mit mir reden wollte. Rosina sagt auch kein Wort.«

Rosina stand unübersehbar am Herd, und er redete über sie. Magdalene wusste, dass er das nicht aus Bosheit tat. Nein, er nahm die Magd nicht wahr. Er sah nur Magdalene an, die am Tisch saß. Seit sie verheiratet waren, seit drei Jahren, konnte sie sicher sein, dass sie im Mittelpunkt all seiner Gedanken stand. Trotzdem musste er sich anständig benehmen; sie wollte nicht, dass das Gesinde ihren Mann wegen seiner Zuneigung für einen Trottel hielt. Unter normalen Umständen hätte sie ihm ein paar Takte gesagt, aber das Erlebnis mit Else lenkte sie von allem anderen ab. Sie antwortete missmutig: »Nichts, worüber sich zu reden lohnt. Else hat uns eine Posse vorgeführt und die Mädchen glauben gleich an ein Wunder.«

»Eine Posse? Was für eine Posse? Erzähl mir davon!«

Rosina verließ die Küche, und Magdalene atmete auf. Sie konnte freier reden, wenn niemand vom Gesinde in der Nähe war. Außerdem musste sie ihren Groll gegen Else sorgfältig verbergen, und das war schwer, wenn jemand wie Rosina dabei war, die genau zuhörte.

Dass Else ihre junge Herrin nicht leiden konnte, wusste Magdalene seit dem Tag nach ihrer Hochzeit. Im gleichen Augenblick, als Else an jenem Tag ins Erkerzimmer getreten war, das Schlüsselbund in der Hand, mit dem sie die Herrschaft über den Haushalt abgab, war ihr der Hass zum ersten Mal so deutlich aus dem Blick gestiegen, dass Magdalene ihn wie einen Feuerblitz spürte. Jeder im Haus hatte die Anspannung mitbekommen, die zwischen den beiden Frauen herrschte, nur Georg Rehnikel hatte sie nicht bemerkt.

Magdalene gab wieder, was sie von Elses Posse gesehen hatte. Am Ende ihrer Erzählung hielt sie einen Moment inne und sah ihrem Mann in die Augen. »Ich weiß, was Else bezweckt. Sie will vor den Mädchen schlau dastehen und ihnen Angst einjagen.«

Georg schlug den Blick nieder und sagte nichts.

Magdalene stellte das Brett mit dem Brotlaib und dem Schinken auf den Tisch, schnitt ihrem Mann eine dicke Scheibe von beidem ab und setzte sich neben ihn. Sie sah zu, wie er abbiss und kaute.

Erst dann raffte er sich zu einer Erwiderung auf. »Diese Sache darfst du nicht ohne Weiteres abtun, Lenchen«, antwortete er mit vollem Mund. »Wer weiß, vielleicht war es wirklich eine Offenbarung. So etwas soll es geben.«

»Du meinst die extraordinären Weiber.«

Eifrig nickte er, kaute, schluckte, redete wieder deutlich. »Manche Menschen besitzen eine Gabe, sie können beim Gebet in Verzückung geraten, meistens Weiber. Sie haben vielleicht das zartere Gemüt? Wir haben in unserem Zirkel darüber geredet, was die Ursache der Verzückung sein kann. Wir halten es für möglich, dass tatsächlich die Stimme Gottes aus ihnen spricht.«

»Das ist Unsinn. Wieso sollte Gott seine Stimme ausgerechnet Mägden leihen?«

»Warum nicht? Schließlich ist Gott auch in Jesu Gestalt unter die Armen gegangen und hat sich erniedrigt.«

Magdalene seufzte. Georgs nächste pathetische Rede war nicht mehr aufzuhalten. Erst am Abend zuvor hatte ihr Mann beim Essen aus seinem Pietistenzirkel berichtet, langatmig und mit jeder denkbaren Ausschmückung. Seine Stimme hatte vor Begeisterung vibriert. Es war um Adelheid Schwartz gegangen, eines der extraordinären Weiber. Er hatte geredet, als ob er die Frau selbst erlebt hätte, und hörte gar nicht wieder damit auf.

»Georg, das hier ist etwas anderes«, beschwor sie ihn. »Else war nicht bei sich. Du hättest sie sehen sollen.«

»Gerade das ist ein guter Beweis! Außerdem ist es nicht unsere Aufgabe, die Erleuchtung zu begutachten. Das können gelehrte Männer übernehmen.«

»Glaube mir, Weiber wissen, was anderen Weibern im Kopf herumgeht.«

»Weiber sind ihresgleichen gegenüber härter im Urteil als Männer.«

Sein Tonfall war schärfer geworden. Das hieß, er wollte sich von seiner Frau nicht dreinreden lassen. Selten redete er in diesem Befehlston mit ihr.

Magdalene wusste, dass ihr Mann freundlich war, freundlicher als die meisten anderen, aber sie durfte es nicht übertreiben. Anderswo gab es Schläge und unfreundliche Worte für Ehefrau, Gesinde und Kinder. Hier nicht, hier war der Ton des Hausherrn liebevoll, außer wenn jemand versuchte, ihm bei seinen Glaubenssachen ins Handwerk zu pfuschen. Darin fühlte er sich im Haus als Einziger zum Lehrer berufen.

Magdalene lenkte ein. »Ich glaube, die Extraordinären lügen nicht absichtlich. Sie glauben, was sie sagen.«

»Natürlich tun sie das. Sogar Pfarrer Francke glaubt ihnen.«

»Der Pfarrer aus Glaucha?«

»Du weißt doch, der Neue. Er ist kaum ein paar Monate im Amt, da hat er sich schon Feinde gemacht. Man nimmt ihm den Kontakt zu Adelheid Schwartz übel, weil die sich nicht an die Regeln des Kirchenlebens hält. Es ist wirklich schwer zu unterscheiden, ob die Weiber tiefgläubig oder Scharlatane sind. Stell dir vor, im Harz gibt es welche, die raten davon ab, den Gottesdienst zu besuchen und am Abendmahl teilzunehmen.«

»Warum? Geben sie einen Grund an?«

»Sie sagen, es würde davon ablenken, ein echtes Glaubensbekenntnis abzugeben.«

»Da siehst du, mit welchen Vorstellungen diese Weiber daherkommen. Vielleicht wollen sie damit etwas bezwecken? Wenn man Else für ihresgleichen hält, kann sie dir eine Menge Ärger einbrocken.«

Das hätte Magdalene nicht sagen dürfen. Georg runzelte die Stirn und wandte seinen Blick in die andere Ecke der Küche. »Ich sehe, du sprichst in Vorurteilen.«

Er sagte kein Wort mehr. In der Küche war es still, man hörte nur die leisen Geräusche des Essens, sein Kauen und das Scharren seines Messers auf dem Brett. Als er mit dem Abendbrot fertig war, erhob er sich von seinem Platz am Tisch, durchquerte den Korridor und stiefelte die Treppe hinauf. Er ging jeden Abend einmal durch alle Zimmer bis zu ihrem Sohn Hans, der schon im Bett lag. Magdalene, das Licht in der Hand, folgte ihrem Mann hinauf und ging ins Schlafzimmer vor, zog ihre Kleider aus und machte sich zum Schlafen bereit. Sie rollte sich unter dem dicken Deckbett ein und wartete auf ihren Mann.

Georg kam nicht.

Sie hörte ihn in seinem Kontor rumoren. Das war der Raum neben dem Schlafzimmer. Er hatte seine Öllampe auf dem Pult stehen, ihr warmer Schein leuchtete, da die Tür einen Spalt offenstand, bis an den Rand des Bettes. Die Türen des Bücherschranks klappten, die Schublade unterm Pult wurde herausgezogen und hineingeschoben, die Feder kratzte.

Magdalene schlief ein.

Sie hörte nicht, wie ihr Mann zurückging und die Treppe hinabstieg. Er schlurfte durch den Laden ins Lager, wo er sich am liebsten aufhielt, wenn er mit niemandem reden wollte. Er kramte herum, putzte den Destillierapparat und murmelte vor sich hin. Sie hörte auch nicht, dass Else die Treppe aus dem obersten Stock herunterkam, leise, so leise, wie man mit Holzschuhen gehen konnte.

Magdalene träumte in dieser Nacht von Else. Es war ein merkwürdiger Traum, einer, in dem Else eine junge Frau war, was man sich nicht vorstellen kann, wenn man selbst jung ist und die anderen alt. In diesem Traum lachte Else, sie sah so fröhlich und gelöst aus, wie es ihre Herrin in Wirklichkeit noch nie gesehen hatte.

Als Magdalene Rehnikel am Morgen aufstand, war ihr unwohl. Es fühlte sich an, als hätte sie sich den Magen verdorben oder als wäre mit der Luft in der Stube etwas nicht in Ordnung. Sie sah sich um, als sie das Schlafzimmer verließ. Alles sah aus wie immer, die dicken Federbetten lagen aufgeschüttelt an ihrem Platz, die Truhe, der Schrank, die leere Wiege standen an derselben Stelle wie jeden Morgen, seit sie hier wohnte. Georg war schon vor ihr aufgestanden. Er hielt sich an seinem Pult im Kontor fest, die Nase über dem Buch mit den Eintragungen und die Feder in der Hand.

Magdalene ging nach unten und fand auch in der Küche alles wie gewohnt. Else stand am Herd und wärmte die Suppe auf, die jungen Mägde hielten den Mund und senkten die Köpfe, solange die Meisterin im Zimmer war. Magdalene trug Rosina auf, sich um den kleinen Hans zu kümmern, verzichtete auf die Morgensuppe und ging hinaus.

Sie brauchte frische Luft, um das Unwohlsein zu vertreiben. Auf dem Markt sollte eine Komödie gegeben werden, die Ankündigung hing seit Tagen aus. Eine Abwechslung war jetzt genau das Richtige, Magdalene würde die erste Vorstellung des Tages besuchen. Sie zog ihr leichtes Mantelet über, das Mäntelchen, das nur bis über die Schultern reichte, hängte den Korb an den Arm und verließ das Haus.

Es war Septembermarkt.

Jedes Jahr im September fand in Halle der größte Markt des Jahres statt. Alle Bewohner der Stadt kamen dorthin, die Bauern aus den Dörfern ringsum, die Leute von den Gütern und Domänen der Umgebung. Es war der Markt, der den Bauern ihr wichtigstes Einkommen verschaffte, der Markt, auf dem jeder die Vorräte für den langen Winter kaufte. Es war der Beweis von Gottes Gnade, das große Aufatmen, die Freude über Ernte und Gewinn nach der langen Mühsal des Frühjahrs und Sommers. Was bis jetzt nicht für die dürren Zeiten vorbereitet war, schuf man in diesem Jahr nicht mehr.

Ein Markttag liebt die Sonne. Die Früchte strahlen bunter, die Stoffe leuchten heller, die Käufer sind besserer Laune, wenn die Sonne scheint. An diesem Tag tauchte sie den Platz in ein goldgelbes Licht. Der Markplatz, zwischen dem Rathaus, dem roten Turm und der viertürmigen Marktkirche gelegen, war voller Männer, Frauen und Kinder, voller Körbe, Kiepen, Wagen, Buden und Stände. Zum Septembermarkt zogen die Verkäufer nicht nur in die hölzernen Buden rings um den Roten Turm und unter den Arkaden der Marktkirche, sondern sie standen über den ganzen Platz verteilt hinter Bündeln und Kisten.

Magdalene liebte den Septembermarkt, wo alles auf einem Fleck zusammenkam, was die Ackerkrume den Menschen nach diesem warmen Sommer schenkte. Den Korb am Arm, schlenderte sie über den Platz, auf dem sich die Ernten der umliegenden Gärten und Felder versammelt hatten. Da gab es Rettiche und Bohnen in großen Körben und feinen Mangold, solchen wie den, vor dem daheim Gertrud ein weiteres Mal saß. Auf dem Boden standen Säcke mit frischem Getreide, Weizen und Hafer, Gerste und Roggen, fertig gemahlenes weißes und braunes Mehl. Für das Kleinvieh der Stadt verkauften die Bauern Klee und Luzerne. Frisch gefangene Fische zappelten in den Auslagen, Karpfen und Zander, Hechte und Aale. Es gab Geflügel, das in Käfigen gackerte. Kohl war aufgetürmt, rote und weiße Bälle auf Haufen wie Kanonenkugeln. Proben von Linsen und Erbsen lagen in flachen Schalen, Rapünzchen und Pilze wurden feilgeboten. Es gab Honig und Milch, Käse und Butter, Rüben und Zwiebeln. Bäcker verkauften Brote und Weckmänner, süße Kringel und Salzgebäck. An der Nordostecke standen die Töpfer und Krämer, Scherenschleifer und Schuhmacher, und an der Westseite des Marktes gab es viele Sorten Obst.

Die ersten blauen Pflaumen waren im Angebot. Das Wasser lief Magdalene bei der Vorstellung von frischem Pflaumenmus im Mund zusammen. Sie ließ sich von einer drallen Bäuerin eine saftige Pflaume geben und kostete. Einen Augenblick lang überlegte sie, einen Korb voll mitzunehmen, aber das würde mindestens sechs Pfennige kosten. Das war zu teuer. Magdalene war in der Lage, mit ihrem Geld hauszuhalten. Noch während die Bäuerin einen neuen Preis nannte, wandte sich Magdalene ab. Ihre Aufmerksamkeit wurde von einer anderen Person angezogen.

Vor einem Korb mit Äpfeln stand eine zierliche Frau in einem abgetragenen blauseidenen Kleid, das an mehreren Stellen sorgsam geflickt war. Es war Isabeau Baret, ihre Freundin aus der französischen Kolonie. Die junge Frau hob den Kopf und erkannte Magdalene. Ihre dunklen Locken quollen unter der Haube hervor, die rabenschwarzen Augen lachten.

»Madeleine, comment ça va?« Sie winkte und zog Magdalene für einen Wangenkuss an sich.

»Was macht das Kleine?«, fragte Magdalene der Höflichkeit halber, obwohl sie sich diese Frage lieber verkniffen hätte. Es war Neid, gestand sie sich ein. Purer Neid beherrschte ihr klopfendes Herz. Isabeau konnte nichts dafür. Sie war gutherzig und leichtgläubig, und das war nichts, was Magdalene ihr vorwerfen durfte, ihre Schwangerschaft erst recht nicht.

In das Gesicht der Freundin zauberte diese Frage ein entzücktes Lächeln. Sie legte die Hand auf ihren vorgewölbten Bauch. »Es bewegt sich munter wie ein Fisch im Wasser, am meisten, wenn ich schlafen will.« Sie sah sich um und rief mahnend: »Marthe!« Die pausbäckige Marthe auf ihren kurzen Beinen sah zu ihrer Mutter auf.

»Und bei dir?«, fragte Isabeau. »Immer noch kein Geschwisterchen für Hans unterwegs?«

Das war die Frage, die Magdalene erwartet und befürchtet hatte. Obwohl Isabeau diese Frage jedes Mal stellte, wenn sie sich trafen, tat Magdalenes Herz einen schmerzenden Schlag. Isabeau meinte es nicht böse. Sie sprach aus, was alle Leute dachten. Georg Rehnikel hatte Magdalene Bertram vor drei Jahren geheiratet, und langsam wurde es Zeit für Nachwuchs. Die Leute in der Stadt glaubten, der kleine Hans wäre Georg Rehnikels Sohn, der erste der Geschwisterreihe, die folgen würde. Die einzigen Menschen, die wussten, dass nicht Georg ihn gezeugt hatte, waren Magdalene, ihr Onkel Conrad und Georg Rehnikel selbst. Ein weiteres Kind wäre der Beweis ihrer guten Ehe, nicht nur den anderen Leuten gegenüber. Sie war zwar zweimal schwanger gewesen, aber sie hatte beide Kinder verloren, einmal nach vier Monaten, das andere Mal kaum, dass sie die Schwangerschaft bemerkt hatte. Ihrer Freundin davon zu erzählen, schämte sie sich.

Magdalene schüttelte den Kopf.

»Nein, noch kein Geschwisterchen für Hans. Und dein Mann«, wechselte sie eilig das Thema, und es war gemein, dass sie jetzt den Kummer ihrer Freundin anschnitt, aber es war nur der gerechte Ausgleich, »hat Frédéric inzwischen Arbeit?«

Isabeau seufzte. »Die Walkmühle an der Saale wird einfach nicht fertig. Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass die Manufaktur auf die Beine kommt. Keiner will Tuch von uns Franzosen kaufen.«

Magdalene legte ihr die Hand auf den Arm. »Ihr werdet euch eines Tages hier wohlfühlen, das weiß ich.«

Isabeau senkte den Blick. »Es ist eine Stadt voller Lutheraner.« Sie verfiel in die französische Sprache, wenn ihr etwas naheging.

Wenn sie so traurig redete, antwortete Magdalene auf Französisch, um sie zu trösten. Magdalene sprach flüssig Französisch, und sie tat es gern. Die Dinge wurden dann klarer, vielleicht, weil sie, wenn sie nach dem richtigen Wort suchte, auf eine gründlichere Weise nachdenken musste. »Ich bin auch lutherisch. Es sind nicht alle feindlich gegen euch. Sieh mich an. Ich zähle mich zu den Pietisten, und die sind von allen Lutheranern die mit dem tiefsten Glauben.«

Isabeau zuckte die Schultern. »Wodurch sollten sie auserwählt sein, eure Pietisten?«

»Sie haben herausgefunden, dass man die Liebe Gottes weitertragen muss«, erklärte Magdalene nachsichtig. »Barmherzigkeit ist eine der Aufgaben, die mir mein Glauben stellt. Ich bringe denjenigen von euch Brot, die sich keins leisten können.«

Isabeau seufzte und die kleine Marthe an ihrem Rockzipfel fuchtelte unruhig mit der freien Hand. »Frédéric sagt, dass die Pietisterei schädlich ist. Sie legen die Bibel allein aus, ohne einen Priester.« Sie gab Marthe, die nach den Äpfeln in den Verkaufskörben grapschte, einen Klaps und hielt die Kleine an der Hand fest. Als sie wieder in Magdalenes Gesicht sah, war ihr Blick verdunkelt, hellte sich aber beim Anblick der Freundin auf. »Schlechte Menschen könnt ihr Pietisten aber nicht sein, wenn ihr uns Brot bringt.«

Die beiden Frauen wandten ihre Aufmerksamkeit Marthe zu, die am Kleid ihrer Mutter zerrte. Isabeau gab ihrer Tochter einen erneuten Klaps und hob ihren Blick zu Magdalene. »Du musst die Liebe Gottes auch in deiner eigenen Familie weitertragen. Es wird Zeit, dass du ein zweites Kind bekommst. Wieso dauert das bei dir so lange?«

Isabeau meinte es gut. Magdalene wusste das, sie kannte ihre Freundin. Es quälte sie, dass Isabeau nichts über die Sache mit Hans wissen durfte. Vielleicht konnte Magdalene ein Geheimnis mit einem anderen gutmachen, wenn sie über das Amulett unter ihrem Hemd redete. Sie trug es auf der bloßen Haut, seit sie ein kleines Mädchen war. Ihre Amme Anna hatte es ihr vor vielen Jahren geschenkt; Magdalene hielt es sonst sorgfältig verborgen.

»Dies hier«, sie zog an der Lederschnur und nestelte das Schmuckstück heraus, »wird mir helfen. Es hilft mir immer, wenn ich mir etwas dringend wünsche.« Das Amulett war ein Oval aus Silber und Elfenbein, ein wertvolles Stück, das Wertvollste, was Anna je besessen hatte. »Das ist das Schutzzeichen der Guten Lubbe.« Sie öffnete den winzigen Verschluss und klappte das Deckelchen auf. Kleine weiße Knochenstücke lagen darin.

Isabeau ließ den Mund offenstehen und berührte mit der Fingerspitze einen der Splitter. »Was ist das?«

Magdalene klappte das Amulett zu und steckte es zurück an seinen Platz unter ihrem Hemd. »Es sind Knochen. Als ich klein war, hat meine Amme der Guten Lubbe ein Huhn geopfert. An den Knochen hat sie das Zeichen der Lubbe erkannt, dass ich mein Leben lang geschützt sein werde und dass die Lubbe mir in jeder Not beistehen wird.«

»Das ist Aberglauben«, flüsterte Isabeau.

»Das ist kein Aberglauben. Man kann nicht gleichzeitig an Gott glauben und abergläubisch sein. Das mit meinem Amulett ist etwas anderes als Aberglauben. Die Gute Lubbe gibt es wirklich. Sie hat mir immer geholfen und wird es auch dieses Mal tun. Sie wird dafür sorgen, dass ich noch mehr Kinder bekomme.«

Isabeau schüttelte zweifelnd den Kopf. »Gebete werden dir helfen. Gott wird dir ein Mittel schicken, das gegen Kinderlosigkeit hilft. Wer weiß, warum die erste Frau Rehnikel unfruchtbar war. Vielleicht ist sie auch so abergläubisch gewesen und das war ihre Strafe.«

Nicht immer war Magdalene klug genug, um vor dem Reden zu denken. »Wer sagt denn, dass es an der Unfruchtbarkeit der verstorbenen Frau Rehnikel gelegen hat? Die Ursache kann genauso mein Mann sein.« Sie bemerkte ihren Fehler, hob die Hand und fügte eilig hinzu: »Ich meine, bevor Hans da war, könnte man das vermutet haben, nicht wahr?«

Was für eine Dummheit war ihr entschlüpft! Mit einem Lächeln wollte Magdalene von ihrem unbedachten Geplapper ablenken.

Isabeau winkte ab und lächelte verschwörerisch zurück. »An deinem Mann liegt es nicht, der kann zeugen. Das weiß spätestens seit der Sache mit der Magd jeder. Das hat sich sogar bis zu uns herumgesprochen!«

Magdalenes Lächeln verschwand aus ihren Mundwinkeln. »Welche Sache mit welcher Magd?« Innerhalb eines einzigen Augenblicks war die Luft auf dem Markt stickig geworden. Ihr brannte die Kehle, als würde Galle hinablaufen.

Isabeau sah das erstarrte Gesicht der Freundin und zögerte. Ihre dunklen Augen blinzelten. »Du weißt nichts davon?« Sie zupfte befangen an Marthes Kleid und fuhr fort: »Die Leute sagen, dein Mann hätte einer Magd ein Kind gemacht. Es soll lange her sein, lange vor eurer Hochzeit. Man sagt auch, er hätte das Kind nach der Geburt beseitigt, aber das glaube ich nicht. Das haben die Leute hinzugefügt, damit sie wieder eine Schauergeschichte haben. Sonst wäre dein Mann doch vors Gericht gekommen.«

Magdalene brannten die Wangen rot. »Wann soll das gewesen sein?«

»Keine Ahnung.« Isabeau zwinkerte verlegen und ergänzte: »Auf jeden Fall ist es lange her. Es war schon längst passiert, als wir vor sechs Jahren in die Stadt gekommen sind.« Sie streichelte Magdalenes Arm und beschäftigte sich mit Marthe. Ihr war anzusehen, dass sie sich für ihr Geplauder am liebsten selbst geohrfeigt hätte. Isabeau zwinkerte nervös und verabschiedete sich Augenblicke später.

Ein Wind fuhr über den Platz. In einer Vorahnung von Herbst zog er an den Röcken und wirbelte Schmutz auf, der kurz in die Höhe flog und sich wieder auf das Pflaster senkte. Magdalene sah Isabeau nach, die mit Marthe auf dem Arm zwischen den Verkaufsständen verschwand. Sie atmete tief ein.

Als wäre Elses Aufsässigkeit nicht genug, worüber sie sich ärgern musste, setzte sich dieses dumme Gerücht wie Fliegen im Sommer auf ihren Gedanken nieder. Georg und ein Kind umbringen! Unfassbar, was für blödsinniges Geschwätz mancher breittratschte!

Von der anderen Seite des Platzes waren lautes Pfeifen und Beifall zu hören. Der erinnerte sie an die Komödie, wegen der sie auf den Markt gegangen war. Die Aufheiterung hatte sie dringend nötig. Magdalene wischte sich den Staub aus den Augen und schlenderte zu den Komödianten. Rings um eine Stelle seitlich des Corps du Garde, des Wachhauses der Soldaten neben dem Roten Turm, drängte die dichte Menge der Zuschauer. Seit Tagen erzählten die Leute über den Aushang der Schauspieler, ein auf grobes Papier gedrucktes Pamphlet, in dem sie die »Moritat von der Schwartzin und was ihr gar furchtbar widerfahren« ankündigten. In einer Stadt am Rand des großen Kurfürstentums Brandenburg gab es wenig Abwechslung. Aus diesem Grund war die Neuigkeit schnell durch die Gassen gelaufen und hatte viele Leute angezogen. Das Spiel wurde direkt vor dem Wagen der Schauspieler, einem hölzernen Fuhrwerk mit einer geflickten Plane, aufgeführt. Der Wagen musste für alles herhalten, als Bühne, Garderobe und Schlafplatz. Der magere Gaul stand in seinem Geschirr, weil die Komödianten nach der Aufführung den Platz bis zur nächsten Vorstellung räumen würden. Eine Menge Gaffer aus allen Teilen der Stadt und den Vorstädten hatte sich eingefunden, Kinder saßen auf dem staubigen Boden. Das Pfeifen zeigte, dass die Komödie schon im Gang war.

Magdalene näherte sich und ein paar Leute von niederem Rang machten ihr Platz. Sie gelangte nach vorn in die Nähe des Wagens, zwischen eine Fleischersfrau aus der Kuhgasse und einen fremden Burschen mit fransigem Haar. Vor ihren Füßen saßen ein paar vor Schmutz starrende Kinder. Die Komödianten waren zu dritt, einer von ihnen hatte sich als Frau verkleidet. Sein Gesicht war mit roten Apfelbäckchen und einem riesigen Mund bemalt. »Ja«, schrie er gerade mit einer verstellten hohen Stimme, »habt Ihr es denn nicht vernommen, den Lichtstrahl hab’ ich abbekommen!«

Ein zweiter Schauspieler, ein grellbuntes Wams am Leib und eine zerzauste Perücke auf dem Kopf, verbeugte sich. »Gute Frau, wer seid denn Ihr?«

»Die allererleuchtetste Frau bin ich hier! Adelheid Schwartz, das ist mein Name. Ich selbst bin eine große Dame.«

Hinter ihr tauchte ein Lichtkranz auf, ein an einer Stange befestigtes bemaltes Holz, das der dritte Schauspieler trug. Die Leute johlten, Gelächter wogte durch die wachsende Menschenmenge.

»Ich sprech’ selbst mit dem Höchsten Herrn. Er salbt und segnet mich sehr gern.«

Der bunte Mann hockte sich vor die Frau und gaffte sie mit aufgerissenen Augen an. »Und wie, sagt an, kommt er Euch nah?«

Sie hob ihre Hände hoch und sah gegen den Himmel. »’s ist nicht lang her, dass ich ihn sah!« Danach murmelte sie ein Kauderwelsch, das an Latein erinnerte. Sie wurde schriller und schrie alle Augenblicke »Puh!«, worauf der hockende Mann Schreckensrufe von sich gab und umfiel.

Schon johlten und lachten die Leute wieder. Die Frau säuselte: »Er sagt, ein Apfel täte mir sehr gut!«

Der Buntgekleidete stand auf und zog einen grünen Apfel aus seiner Rocktasche. Er ließ die Frau einige Male danach schnappen, bis sie ihn griff, so tat, als ob sie hineinbiss und das Gesicht zu einer Grimasse verzog.

Die Leute lachten.

»Den Herrn verspotten ist Übermut«, kreischte die bemalte Person.

»Nein, nein, ich dachte an das Paradies.« Der Mann wandte sich an das Publikum. »Nicht dass sie mich jetzt Schlange hieß!«

Die Leute klatschten vor Begeisterung.

»Die Schlange will ich anders reichen!«, kreischte die Frau und versohlte ihm mit einem Strick aus ihrer Tasche den Hintern. Das Johlen der Leute hörte gar nicht auf, sie bogen sich vor Lachen. »Wenn ich das will, gibt Gott ein Zeichen!« Sie hob die Hände hoch und zeigte ihre Handflächen, von denen auf einmal rote Farbe lief.

Abrupt brach das Lärmen ab, das Lachen erstarb. Noch ein paar Pfiffe tauchten aus dem Raunen, dann war es still. In den Gesichtern rings um Magdalene stand erschrockenes Blinzeln.

Die beiden Männer auf dem freien Platz hielten inne und tauschten einen verunsicherten Blick. Magdalene begriff, dass sie keine Ahnung von Anna Maria Schuchardt hatten und nicht wussten, was mit ihr in Halle passiert war.

Der Bursche neben Magdalene, ein Nichtsnutz von Mitte zwanzig, schaute genauso verständnislos wie die Schauspieler. Sein zotteliges, schief und schräg geschnittenes rotbraunes Haar fiel in den Blick. Das geflickte Wams musste früher in reicheren Händen gewesen sein; man konnte noch die Stellen an Ärmeln und Kragen sehen, an denen der Spitzenbesatz abgeschnitten worden war. Die blaue Farbe seiner Kleider war verblichen, am stärksten auf den Schultern. Risse ließen das grobe Hemd darunter hervorlugen.

Dieser Nichtsnutz war ein Bettler, und solchen war alles zuzutrauen. Magdalene legte die Hand auf ihren Gürtel, unter dem der Geldbeutel steckte, und trat nach hinten, bis er zu der Fleischersfrau rückte. Sie sah ihn die großen grauen Augen aufschlagen. »Was meinen die?«, fragte er die Fleischerin. Er kam nicht von hier, sonst hätte er über solche Frauen wie die Schuchardt Bescheid gewusst. Jeder hier wusste von der Angelegenheit.

»Habt Ihr noch nie von den hysterischen Weibern gehört?«

Der Nichtsnutz schüttelte den Kopf.

»Hier in Halle hatten wir eins, die Schuchardt. Manche sagen hysterische Weiber zu ihnen, andere, die es gut meinen, nennen sie extraordinäre Weiber.« Der junge Mann sah sie fragend an, und sie fügte bissig hinzu: »Die Schuchardt haben sie letzten Winter aus Halle verjagt, aber die Leute waren uneins wegen ihr. Wenn Ihr mich fragt, ich halte sie für eine gewöhnliche Magd. Die ist nichts Besonderes, die spielt sich bloß auf. Die ist schon aus Erfurt ausgewiesen worden und hat gedacht, in Halle würde es ihr besser gehen. Raffiniert ist sie aber schon. Zuerst versenkt sie sich ins Gebet, als Nächstes wird sie starr, als ob sie entrückt wäre, und danach soll sie singen. Die Leute reden von Visionen, richtigen Prophezeiungen, aber das ist Blödsinn. Die Wahrsagungen treten nämlich nie ein oder sind allgemeiner Kram. Aber eine Sache gibt es, wegen der wissen wir alle nicht so recht, ob es mit der Schuchardt nicht doch stimmt. Im Haus des Sekretärs Ringhammer hat eine Andacht stattgefunden, da ist der Frau, ohne dass sie verletzt war, blutiger Schweiß von ihren Händen gelaufen. Es sieht aus, als wollten sich die Schauspieler da vorn über die Schuchardt lustig machen.«

Ehe der Mann etwas erwidern konnte, hatten sich die Komödianten gefasst und versuchten das Theaterstück wieder aufzunehmen. Der mit der roten Farbe an den Händen schrie: »Na, willst du endlich für mich springen und mir schöne Speisen bringen!« Und den Leuten zugewandt: »Ich würde einen Besen fressen, brächt er mir jetzt nicht feines Essen.« Der Buntgekleidete kniete sich auf den Boden und tat, als würde er beten.

Nur noch wenige Leute lachten. Einige hatten die Brauen verärgert zusammengezogen, andere die Arme in die Hüften gestemmt. Ein dunkel gekleideter, flaumbärtiger Student drängte sich nach vorn. »Was ist das für eine Schmierenkomödie?«, rief er mit dünner Stimme den Schauspielern entgegen.

»Jawohl, jawohl«, hörte Magdalene rings um sich, wo die Leute eben noch gejohlt hatten.

»Ihr seid in Halle. Das ist keine gewöhnliche Stadt, wenn es um die Stimme unseres Herrn geht. Hier hat Gott aus dem Mund von Menschen gesprochen. Die extraordinären Weiber mögen über Euren Horizont steigen, über sie spotten dürft Ihr deshalb noch lange nicht.«

Die Schauspieler unterbrachen ihr Spiel zum zweiten Mal. Die lachend nach oben geschminkten Lippen des als Weib Angezogenen standen in einem grotesken Gegensatz zu seinen fragend erhobenen Augenbrauen.

»Ach was«, tönte es vor Magdalene, »lasst sie weiterspielen und stört den Spaß nicht.« Die Fleischerin schob sich nach vorn zu dem Studenten. »Es war richtig, dass man die Schuchardt aus der Stadt geworfen hat. Die konnte genauso gut schauspielern wie die Komödianten hier. Ich würde gern wissen, wie sie das mit den blutigen Malen auf den Händen angestellt hat. Ihr glaubt wohl an diesen Spuk?«

Der Student reckte sich zu seiner ganzen Größe auf. »Ich verkehre im Haus des königlich-schwedischen Legations-Sekretärs Ringhammer.« Zwischen den Leuten setzte vorsichtiges Gemurmel ein. »Während ihrer Ekstase hat die Schuchardt Hochdeutsch geredet, wo sie sonst Thüringisch spricht. Das war keine Komödie, die Frau war verwandelt. Ich habe es selbst gesehen.«

Die Fleischerin stemmte die Hände in die Seiten und maß den Studenten mit Blicken. »Wenn es um die Qualitäten der Schuchardt geht, da weiß ich mehr. Ich habe sie auch selbst erlebt. Sie hat sich jeden Tag im Leben so angenehm wie möglich zu machen versucht. Mit Arbeit hatte die nicht viel am Hut. Eine Menge Leute findet es richtig vom Salzgrafen, sie aus der Stadt zu weisen.«

Der Student trotzte. »Das ist doch der Beweis für den göttlichen Ursprung der Geschehnisse. Der Allmächtige hat den Charakter dieses Weibs verwandelt. Wisst Ihr überhaupt, was seitdem passiert ist? Noch mehr Frauen haben Visionen, die Tochter des Sekretärs Ringhammer und zwei Töchter des Herrn von Wolff, Christiane und Sophie. Sie sind bei Herrn Francke im katechetischen Unterricht. Der glaubt ihren Entzückungen.«

Die Fleischerin winkte ab. »Mir ist der Spaß sowieso verdorben. Die reichen Weiber können mir gestohlen bleiben.«

Der Student nickte zufrieden. Er drehte sich zum Publikum und hob die Hände. »Geht nach Hause, liebe Leute! Die Komödie ist zu Ende. Wir kommen wieder, wenn es etwas Gescheiteres zu sehen gibt als Spott über Gottes Gnade.«

Das Raunen wurde stärker. Unentschlossen standen die Komödianten auf dem freien Platz, flüsterten miteinander und verschwanden einer nach dem anderen in ihrem Wagen. Der Nichtsnutz vor Magdalene nickte. »Die haben Erfahrung, die wissen Bescheid, wann sie besser unsichtbar werden.« Er drehte sich um und drängte durch die Leute nach hinten. Die Menschentraube, die sich um den Wagen gebildet hatte, löste sich auf, einer nach dem anderen ging fort.

Magdalene blieb stehen. Um sie herum strebten alle vom Platz weg, bald rollte auch der Wagen der Komödianten in Richtung Rannisches Tor. Sie stand einsam an der eben noch bevölkerten Stelle beim Corps du Garde. Spätestens morgen würde die ganze Stadt wissen, dass die Komödianten in diesem Jahr mit ihrem schlechten Schauspiel am tiefen Glauben der Hiesigen gescheitert waren. Das war für die Truppe Grund genug, die Vorstellungen abzubrechen und an einen anderen Ort zu ziehen. In solchen Dingen waren sich die Leute schneller einig, als Fremden lieb sein konnte.

Neue Nachrichten durchliefen die Stadt nach der Art eines Feuers im frischen Herbstwind. Kaum etwas konnte man vor anderen geheim halten. Ein Wunder, dass man den Rehnikels die Geschichte von Georgs Vaterschaft am kleinen Hans abgenommen hatte! Vielleicht hatten die Leute sie nur ernst genommen, weil sie einen wunderbaren Tratsch abgab. Ohne sich zu bewegen, stand Magdalene auf dem leeren Platz. Der Wind blähte ihre Röcke, bis die Vorbeigehenden sie aus den Augenwinkeln musterten.

»Ist Euch nicht gut?«, eine alte Frau blieb stehen und wollte ihr die Hand auf den Arm legen. Mit einem Kopfschütteln wehrte Magdalene sie ab.

Es gab noch eine andere Schicht von Gerede. Es war eine, die wie klebriger Honig unter dem Geplätscher aus den Mäulern der Bürgerinnen lag. Es war das Gespräch zwischen den Mägden, die abergläubischer redeten und weniger belehrbar waren, wenn es um die Möglichkeit und Unmöglichkeit von Geschehnissen ging. Die Gerüchte unter Bürgerinnen und Mägden vermischten sich nicht immer; derjenige, der ein Wunder bezeugen kann, lässt sich das ungern von einem Neunmalklugen ausreden. Dieser Abstand war es, der Gerüchte unter den Mägden bewahrte, wenn sie unter den Bürgerinnen längst zu Staub zerfallen waren. Aberglauben und Dummheit waren der Grund. Georg war Opfer eines dummen Geredes geworden. Magdalene ärgerte sich, dass Isabeau einem Gerücht auf den Leim gegangen war. Gleich darauf ärgerte sie sich darüber, dass sie sich überhaupt ärgerte. Ihre Schritte klopften wütend auf das Pflaster, als sie heimging.

3. KAPITEL

Magdalene war zur Mittagszeit zu Hause. Das Haus der Rehnikels stand dreihundert Schritte vom Markt entfernt am Saaleufer, dicht bei der Halle, wo die Salzkoten rauchten. Im Haus hatte alles seine beruhigende Ordnung. Die beiden jungen Mägde schenkten ihr einen Knicks und ein angemessenes Lächeln. Vor dem Verkaufstisch des Gesellen Lichtenberg stand ein schwergewichtiger Bürger im gefütterten Mantel, ein Innungsmeister der Wollkrämer. Der Geselle erklärte etwas zu dem roten und braunen Pulver, das vor ihm in zwei tönernen Schalen glitzerte, gemahlene Metalle, als gute Farbe für Wolle zu verwenden. Lichtenberg verbeugte sich, als er Magdalene im Hausflur erkannte.

Georg Rehnikel bezog seine Handelswaren von weither. Es gab niemanden sonst im Umkreis von vielen Meilen, der arabischen Gummi, Teer oder Indigo anbieten konnte. Die französischen Moden brachten dem Geschäft einen sanften Aufwind, und Gottes Gnade hatte den modernen Luxus und die Spezereien miteinander verknüpft. Der protestantische Glaube ließ wenig Luxus zu, aber das Wenige konnte einen deutlichen Unterschied ausmachen: Locken in Weiberhaaren, neue Farben für die Wolle, ein besonderes Siegelwachs, ein Tässchen Kakao am Sonntagnachmittag. Je verrückter es war, umso mehr Gewinn warf es ab. Rehnikels verkauften wunderliche, exotische Sachen. Wenn die Leute mit ihrem Wohlstand protzen oder die Handwerker etwas Besonderes machen wollten, brauchten sie Zutaten aus dem Spezereienhandel.

Das Geschäft bestand aus drei Teilen. Erstens gab es den kleinen Handel im Laden, zweitens den Großhandel mit bedeutenden Mengen an Hölzern, Fasern und speziellen Waren im Austausch mit Händlern und Handwerkern und drittens die Herstellung von einfachen Waren, Ölen zum Beispiel, die aus exotischen Früchten gepresst wurden. Rehnikels mussten sich mit den Apotheken gut stellen, damit man sie dort nicht als Konkurrenz ansah. Die Apotheker waren ihre wichtigsten Kunden, ihnen lieferte Georg Rehnikel viele Waren, vor allem solche, die auf langen und verschlungenen Wegen nach Halle kamen. Magdalene nickte dem Wollkrämer und dem Gesellen Lichtenberg höflich zu, als sie an der offenen Ladentür vorbeiging, und betrat die Küche.

Die Familie aß zu Mittag ein paar kalte Häppchen in der Küche. Gekocht wurde nur für den Morgen und die Festtage, weil es teures Holz verbrauchte. Manchmal gab es abends zusätzlich einen Eintopf, ein Luxus, den sich arme Leute nicht leisten konnten. Magdalene hatte Mühe, ihre alberne Einbildung von der stickigen Luft zu verdrängen. Sie stellte den Schmalztopf und das Brotbrett auf den Tisch und bereitete ein paar Scheiben Brot für alle vor. Die Mägde, der kleine Hans und Lichtenberg griffen zu, auch Georg kam vorbei und nahm sich ein Stück. Else ließ ihrer Herrin durch die jungen Mägde ausrichten, sie käme später.

Das wäre Magdalene gleich gewesen, solange Else ihre Arbeit tat. Aber so war es nicht. Magdalene vermisste sie eine Stunde nach dem Mittag immer noch. Sie sagte sich, dass Abwesenheit allein keinen Tadel wert war, weil es genügend harmlose Gründe gab, sich zu entfernen. Aber Elses Hände fehlten, Magdalene musste sich selbst sich an den Tisch stellen und das Fleisch für das Pökeln vorbereiten. Gertrud scheuerte emsig die Schüsseln, die sie dafür brauchte. Magdalene schickte sie ins Lager, um die Säckchen mit dem Salz zu holen und gleichzeitig Ausschau nach Else zu halten.

Gertrud, ein dünnes Geschöpf mit Haaren von der Farbe nassen Strohs, ließ ihren Mund zwischen den blassen Lippen offenstehen. »Suchen soll ich die Else?«, fragte sie. Flüsternd setzte sie fort: »Man hat letztens Wassergeister gesehen. Sie holen Menschen, bei helllichtem Tage! Vielleicht hat ein Wassergeist die Else …«

Magdalene brauchte nur die Miene zu verziehen, dann wusste Gertrud Bescheid. Sie duckte sich, nickte und sagte: »Ich geh schon, Frau Rehnikel.«

Wäre Else halb so folgsam, hätte Magdalene zufrieden sein wollen. Gertrud lief im Haus herum, Magdalene hörte ihre Holzpantinen über den oberen Gang klappern. Nach einiger Zeit tauchte sie auf, murmelte kläglich: »Ich habe sie nicht gefunden« und schlug sich erschrocken mit der Hand auf den Mund. »Das Salz! Das habe ich vergessen!«

In der Zwischenzeit wendete Magdalene das Obst, das zum Dörren über dem Herd auf einer Platte lag, und fing an, Kraut zu schneiden. Gertrud kam mit den leinenen Säckchen zurück. Magdalene schüttete eine dicke Schicht Salz in die Schüsseln, bis das Fleisch darunter verschwunden war.

Als Else nach einer weiteren Stunde noch nicht aufgetaucht war, wurde es Magdalene zu bunt. Sie stieg selbst nach oben und sah sich um. Am Ende der schmalen und steilen Treppe stand die Tür zum Erkerzimmer offen.

Else hatte dicht am Fenster in Magdalenes schönem Armlehnstuhl gesessen. Sie war beim Klang der Schritte auf den Treppenstufen aufgesprungen und strich sich die Röcke glatt, aber man sah im ledernen Polster noch die Delle von ihrem Hintern. Sie trug ihr wollenes Mägdekleid mit grauer Schürze, darüber in eigenwilliger Zusammenstellung eine Haube aus zartem Leinen mit einer Spitzenkante, wie die Kleiderordnung sie vielleicht für eine Bürgerin, aber bestimmt nicht für eine Magd zuließ.

Elses Blick heftete sich feindlich und unerschrocken auf ihre junge Herrin. Sie kniff die Lippen zusammen und sagte keinen Ton.

»Seit wann wirst du fürs Faulenzen bezahlt?«, warf Magdalene ihr entgegen. Else zog die Mundwinkel nach unten und wollte sich wortlos an ihr vorbeidrücken, da packte Magdalene die Magd am Ärmel. »Scher dich in die Küche und kümmere dich um die Suppe. Wenn ich dich noch mal beim Faulenzen erwische, sorge ich dafür, dass mein Mann dich hinauswirft!«

Elses Mundwinkel schoben sich nach oben. Es entstand ein unverschämtes Grinsen. »Versucht’s ruhig!«, antwortete sie und polterte in ihren Holzschuhen die Treppe hinunter.

Magdalene ballte ihre Hände zu Fäusten und blieb tief atmend stehen. Ihr Gesicht war dunkelrot geworden, sie musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Langsam ging sie zum Tisch, legte ihre Schürze ab und faltete sie drei Mal so sorgfältig wie sonst. Von nebenan hörte sie ihren kleinen Sohn rufen, der in seinem Zimmer spielte, von Rosina behütet.

Hänschen war eine Insel des Glücks, ein kleiner Engel. Er war drei Jahre und vier Monate alt und brauchte eine ständige Begleiterin, weil er unentwegt kletterte, hinauslief und alles probierte, was ihm vor die Nase kam. Vor etwas über einem Jahr hatte Georg Rehnikel auf Magdalenes Wunsch Rosina ins Haus geholt, um auf ihn aufzupassen. Rosina hatte sich bei ihrem früheren Dienstherrn in der Kinderbetreuung bewährt, ein gescheites, etwas vorlautes Ding, das fleißig seine Arbeit tat. Sie war gerade zwanzig, nur wenig jünger als Magdalene selbst, und in den sechs Jahren, bevor sie zu Rehnikels kam, bei verschiedenen Handwerkern und Stadtbürgern im Dienst gewesen. Magdalene öffnete die Tür von Hänschens Zimmer und trat ein. Rosina saß auf einem Stuhl am Fenster, über eine Flickarbeit gebeugt, und hob beim Geräusch der Tür den Blick ihrer braunen Augen. Eine Locke ihres Haars war ihr in die Stirn gerutscht. Hans lief auf seine Mutter zu, einen Knopf in der Hand, den er ihr stolz entgegenstreckte.