Magie der Dunkelheit - Jürgen Schonarth - E-Book

Magie der Dunkelheit E-Book

Jürgen Schonarth

4,8

Beschreibung

In der Welt der Schönen und Reichen umgab Kokain immer noch ein Hauch von Glanz und Glamour. Domenico galt in der Kulturszene Antwerpens als ein gefeierter Klaviervirtuose. Bei einer seiner "Einkaufstouren" wurde er Zeuge eines Mordes. Das setzte eine Kette von Ereignissen in Gang, auf die er nicht vorbereitet war. Die aparte Giulia war dabei, ein Starmodel der Haute-Couture zu werden. Giulia und Vanessa fanden sich auf einer After-Show-Party im Hotel Meurice auf Anhieb sympathisch. Und schon bald wurde in der Parischer Modewelt die Beziehung der beiden Frauen als ein "seltener Fall von Harmonie" bezeichnet. Vanessa früher selbst ein gefeiertes Model, war Chefin einer Antwerpener Modelagentur. Rund um den Grote-Markt feierte Antwerpen im Juli seine Feste. Im "The Croft", der guten Stube der Promis und Nachtschwärmer, lernten Giulia und Domenico sich kennen und verliebten sich. Als Vanessa von der "Amour fou" erfuhr, witterte sie Untreue und Verrat. Sie drohte Giulia unverhohlen mit Rache.

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Wohin du auch gehst,

geh mit deinem ganzen Herzen.

Konfuzius

Die Handlung dieses Buches ist frei erfunden. Etwaige Übereinstimmungen mit Orten des Geschehens, tatsächlichen Begebenheiten oder Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären rein zufällig.

Der Autor

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil

1. Kapitel – Domenico und Lorenzo

2. Kapitel – Das Verhör

3. Kapitel – Giulia und Vanessa

4. Kapitel – Ankunft am Airport Brüssel-Zaventem

5. Kapitel – Streit wegen Carlos

6. Kapitel – Der Unbekannte aus dem „Jolly-Joker“

7. Kapitel – Domenico und Lorenzo bekommen Besuch

8. Kapitel – Außergewöhnliche Gäste in „The Croft“

9. Kapitel – Eine zufällige Begegnung

10. Kapitel – Ein Anruf aus den USA

11. Kapitel – Domenico und Kommissar Mertens

12. Kapitel – In Segafredo’s Coffee-Shop

13. Kapitel – Die Beichte im „Ristorante Classico“

14. Kapitel – Giulias Besuch in der Klinik

15. Kapitel – Ein Ausflug ans Meer

16. Kapitel – Der Morgen danach

17. Kapitel – Ein Geständnis mit Folgen

18. Kapitel – Die Wahrsagerin von Molenbeek

19. Kapitel – Der Traum von immerwährender Harmonie

20. Kapitel – Diamanten zum Geburtstag

21. Kapitel – Vanessas Agentur gerät ins Schlingern

Teil

22. Kapitel – Amélie und An Ma

23. Kapitel – Ein böses Erwachen

24. Kapitel – Alexandre und Justine

25. Kapitel – Betty und die Kinder

26. Kapitel – David nimmt mit Domenico Kontakt auf

27. Kapitel – Einbruch bei Domenico

28. Kapitel – In Sachen Lorenzo

29. Kapitel – Domenico im Krankenhaus

30. Kapitel – Domenico erwacht aus dem Koma

31. Kapitel – Eine vorläufige Festnahme

32. Kapitel – Eine Affäre mit Folgen

33. Kapitel – Eine grauenhafte Entdeckung

34. Kapitel – In letzter Sekunde

35. Kapitel – Giulia zur Nachsorge in der Uniklinik

36. Kapitel – Die „Wallonische Bruderschaft“

37. Kapitel – Die Auswertung des Geständnisses

38. Kapitel – Amélie und David

39. Kapitel – Das Ritual

40. Kapitel – Taribo und die Wolter-Brüder

41. Kapitel – „Operation Schmetterling“

42. Kapitel – Glücklich vereint

43. Kapitel – Das Urteil

44. Kapitel – Ein wohl behütetes Geheimnis

45. Kapitel – Ein Wiedersehen mit Vanessa

Prolog

Manchmal fragen wir uns, wie es kommt, dass die Dinge so sind wie sie sind. Eine Kette von Ereignissen, A führt zu B, B führt zu C und so weiter bis zum Z. Das Leben scheint aus wenig großen Entscheidungen zu bestehen, aber jeder Tag besteht aus tausend kleinen Entscheidungen. Welches Hemd man anzieht, auf welcher Straßenseite man geht, was man zu Mittag isst - und jede dieser scheinbar zusammenhanglosen Entscheidungen kann unser Leben von heute auf morgen für immer verändern. Oft sehen wir die Dinge nicht wie sie wirklich sind, sondern wie wir sind. Das ist das Problem. Und wer kann schon mit dieser Verantwortung umgehen? Niemand kann vorhersagen, ob wir den richtigen oder falschen Weg gewählt haben. Also muss man seinem Instinkt vertrauen, dem, was die Griechen als „Charakter“ bezeichnen.

I. Teil

1. Kapitel – Domenico und Lorenzo

Domenico dachte, er wäre ein Mann von Charakter, gutem Charakter - bis er einen Fehler machte. Einen schwerwiegenden Fehler, der sein ganzes Leben verändern sollte. Und so kam es, wie es kommen musste, als er auf dem Weg in eine Bar war, um sich seinen „Stoff“ zu besorgen. Mit Kokain komprimierte die Zeit. Wenn er „weg gedröhnt“ war, gab es keine Vergangenheit und keine Zukunft - nur ein Hier und Jetzt. Und bevor er an jenem Abend mit seiner „Bonbontüte“ nach Hause ging, passierte etwas völlig Unerwartetes. Er hatte etwas Gutes getan. Eine gute Tat, wie er glaubte, die eine Kette von Ereignissen in Gang setzte, auf die er nicht vorbereitet war. Und so war er in diese Geschichte geraten, die ihn eigentlich nichts anging.

„Hallo, blinder Mann, was darf es heute sein, die übliche Menge?“, fragte die vertraute Stimme.

Domenico schob einen Stuhl zur Seite und setzte sich neben den Dealer - seinen Dealer.

„Ja, wie immer, zwanzig Kugeln“, sagte er und kramte in seinen Taschen.

„Und wie immer in harter Währung, bitte!“, forderte der Dealer.

Es fiel Domenico nicht schwer, einen unbeteiligten Eindruck zu machen. Seine blinden Augen schauten gelangweilt umher, während unter dem Tisch eine Plastiktüte den Besitzer wechselte. Seine gierigen Finger hatten die Ware schneller gezählt, als der Dealer die zerknautschten US-Dollarscheine. Das Geschäft war abgewickelt. Alles schien in Ordnung zu sein. Domenico war aufgestanden und ging zum Tresen, um sich noch einen Jack Daniels zu genehmigen. Eine Kellnerin kreuzte seinen Weg, wich ihm geschickt aus und bestellte lauthals: „Noch einmal fünf Bier!“

An den Nachbartischen entbrannte plötzlich ein heftiger Streit. Gäste sprangen auf, Tische und Stühle wurden gerückt, Flaschen und Gläser machten sich selbständig. Inmitten des Durcheinanders hörte Domenico ein Geräusch, das er eindeutig als das Klicken eines Revolvers registrierte.

Für das, was dann geschah, gab es nur ein Wort: Mord. Er hatte noch nie erlebt, dass auf einen Menschen geschossen wurde. Und schon gar nicht auf jemanden, der nur wenige Meter neben ihm stand. Das hatte ihn allerdings nicht so fertig gemacht, wie er gedacht hatte. Es gibt zwei Arten von Gefahr: der einen setzt man sich aus, der anderen ist man ausgeliefert. Domenico dachte sich:

„Wer am Boden liegt, kann nicht mehr tief fallen. Was habe ich schon zu verlieren?“

Klick, Klack, blitzartig schnellte Domenicos Teleskop-Blindenstock zur Seite und war in Sekundenbruchteilen zu seinem verlängerten Arm geworden. Noch bevor ein zweiter Schuss abgefeuert wurde, war es ihm gelungen, dem Täter die Waffe aus der Hand zu schlagen. Drei mutige Männer stürzten sich auf den Schützen. Es folgte eine kurze und ruppige Rangelei, bei der der Täter überwältigt wurde. Zuerst Schreie, dann lähmendes Entsetzen. Einige der Gäste zogen bestürzt den Kopf ein, andere standen wie angewurzelt und waren unfähig, sich zu bewegen. Eine neugierige Menschentraube drängte sich um das schwer verletzte Opfer.

„Schnell, man muss einen Arzt rufen!“, schrie eine junge Frau geistesgegenwärtig.

Emotionen waren am Überkochen. Der Schock saß tief. Die Ängstlichen flüchteten schreiend auf die Straße, ein junger Medizinstudent sprang herbei und leistete dem Opfer erste Hilfe.

„Jemand wurde angeschossen“, meldete sich der Geschäftsführer der Bar bei der Rettungsleitstelle.

„Kommen Sie schnell - bitte!“

Der Diensthabende in der Funkleitstelle fragte mit einer Ruhe, die dem Hilfesuchenden wie beißender Hohn erscheinen mochte:

„Wie ist Ihr Name? Wer wurde angeschossen? Wohin sollen wir kommen?“

Zehn Minuten später rief der Geschäftsführer noch einmal an.

„Verdammt, es ist dringend, wo bleibt nur der Rettungswagen? Der Mann stirbt uns unter den Händen!“

Um Domenico kümmerte sich niemand. Mit dem Blindenstock in seiner Hand tastete er sich in kleinen Schritten vorsichtig voran, bis er die Körpermasse des Verletzten direkt vor seinen Füßen spürte. Er schob sich an einem Menschenknäuel vorbei, geradewegs dem Ausgang zu. Es drängte ihn an die frische Luft. Möglichst unauffällig wollte er sich aus dem Staub machen. Domenico bemühte sich um eine lockere Atmosphäre, als die Kellnerin Kitty ihn berührte und ihm anerkennend auf die Schulter klopfte.

„Hallo“, sagte sie. „Hey, Mann, das war ganz schön cool eben. Der eigentliche Held in meinen Augen bist du, scheinst ja verdammt gute Nerven zu haben.“ Kittys Augen leuchteten voller Bewunderung.

„Ach was - nur nicht übertreiben. Ich hatte pure Angst. Schau’ her, meine Hände zittern immer noch.“

„Aber wie konntest du dem Mann die Waffe aus der Hand schlagen, du bist doch blind?“

„Es war ja nur ein Reflex - ein reiner Glückstreffer“, sagte Domenico bescheiden.

„Mann, du wirst bald Hilfe brauchen.“

Und in leisem Ton flüsterte sie ihm ins Ohr: „Ich bin Kitty, an Wochenenden helfe ich hier aus. Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst.“

„Danke, das ist gut zu wissen.“

„Wie war doch gleich dein Name?“, fragte Kitty.

„Ich heiße Domenico.“

„Eigenartig, Domenico, mir ist, als hätte ich dich schon einmal gesehen, ich kenne dich, aber ich weiß nicht woher.“

„Kann sein, ich bin aber kein Stammgast.“

„Darf ich dir einen Rat geben, Domenico?“

„Nur zu!“

„Verschwinde, bevor die Polizei eintrifft, wenn dein Name erst mal in den Akten steht, ist dein Leben nicht mehr viel wert.“

„Danke für den Tipp, du hörst von mir.“

Mit Blaulicht und Martinshorn näherten sich Polizei und Ambulanz. Domenico wollte auf keinen Fall als Held gefeiert werden und schon gar nicht als solcher sterben. Er verspürte auch keine Lust, sich peinlichen Verhören auszusetzen, die seinem Ansehen und seiner Popularität geschadet hätten. Seine „Einkaufstouren“ waren bisher immer diskret abgelaufen. Er war überzeugt, dass es höchste Zeit war zu verschwinden. Er drückte Kitty ein Trinkgeld in die Hand und verließ überstürzt die Bar. Nur allmählich löste sich die Anspannung. Eigentlich hätte es Domenico besser gehen müssen, nachdem er den Täter außer Gefecht gesetzt hatte. Dem war aber nicht so. Auf dem Nachhauseweg wurde ihm übel und er musste sich übergeben.

Domenico sagte sich:

„Heute Nacht werde ich mich nicht zudröhnen.“

Er hätte genau so gut sagen können: „Heute Nacht werde ich nicht atmen.“

Also tat er das, was er nicht lassen konnte: kaum zuhause angekommen, versetzte er sich in den üblichen Rauschzustand. Unwiderruflich befand er sich auf dem Weg ins Paradies und fühlte sich wie ein Alkoholiker in einer Wodka-Bar.

Die Sonne brauchte einige Zeit, bis sie die Morgennebel verdrängt hatte. Auf dem gelblich schimmernden Kalkstein der Balkonbrüstung erwärmte sich eine Katze, die dem Treiben der Singvögel uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenkte. Erst gegen Mittag gab Domenico die ersten Lebenszeichen von sich. Es war schwierig, die vielen Bilder, Emotionen, Sinneseindrücke und Gefühle zu beschreiben, wenn die Wirkung der Droge nachgelassen hatte.

Mühsam drehte Domenico seinen Körper zur Seite. Er befand sich in einem Zustand, wo er zwischen Rausch und Wirklichkeit nicht unterscheiden konnte. In seinem Schädel dröhnte und hämmerte es. Er hatte nicht den leisesten Schimmer, wo er sich befand, er wusste nicht einmal, was für ein Tag es war und schon gar nicht, in welcher Stadt er lebte. Domenico war einfach nur müde und erschöpft. Er wusste nicht, was er glauben sollte, als ihn die vertraute Stimme seines Freundes Lorenzo unsanft aus den Träumen riss:

„Guten Morgen allerseits! Was ist mit dir, Mann? Eine Lichtallergie scheidet aus, das kann es nicht sein, sage mir also, was dir fehlt? Ich sehe schon, du stehst mal wieder knietief in der Scheiße. Ich habe gedacht, du hast aufgehört mit dem Dreck. Ach Domenico, du bist ja mal wieder zugedröhnt bis obenhin. Drogen sind der letzte Scheiß - du zerstörst nur dein Leben. Wann endlich begreifst du das? Mann, so kann es doch nicht weitergehen, so kannst du nur krepieren.“

Mit einer flüchtigen Handbewegung wollte Domenico den Wortschwall seines Freundes wie Unrat beiseite schieben, aber eine wirkliche Chance hatte er nicht. Er kannte schließlich die Hartnäckigkeit seines Freundes.

„Wann hast du endlich ausgeschlafen?“, fragte Lorenzo. „Wir haben Blue Sky in Antwerpen. Carpe diem! Raus aus den Federn! Steh auf, Junge! Steh endlich auf! Hm, was ist mit dir? Du reagierst ja auf gar nichts. Wo hast du dich die Nacht nur wieder rumgetrieben? Man kann dich einfach nicht aus den Augen lassen!“

„Komm, Lorenzo, spiel nicht den Moralisten, du Arschgeige! Hey, wo bin ich?“

„Es gibt Tage, da sollte man lieber im Bett bleiben“, dachte Domenico und stülpte sich das Kissen über den Kopf, wie es normalerweise nur Sehende tun, wenn sie sich weigern, ihre verschlafenen Augen dem grellen Tageslicht auszusetzen. Nicht nur wegen der fehlenden visuellen Wahrnehmung war Domenico völlig orientierungslos. Schwach und hundeelend fühlte er sich. Es verging einige Zeit bis er endgültig wach war und etwas mehr Zeit, bis er einigermaßen klar denken konnte.

„Hey Mann, es reicht nicht, dass du aufstehst, du musst auch wach werden“, spöttelte Lorenzo. Mit dem Handrücken seiner linken Hand klopfte er dabei demonstrativ auf die Titelseite der Morgenpost in der Hoffnung, Domenico damit aufrütteln zu können.

„Schau’ her, Junge! Hier habe ich es schwarz auf weiß, Mann, du bist eine Berühmtheit, du bist in der Zeitung. Die Bullen haben eine ausgezeichnete Beschreibung von dir. Jeder Taxifahrer und jeder Busfahrer kennt jetzt dein Gesicht. Mann, sie suchen dringend Zeugen. In was hast du dich da verstrickt? Wolltest du mal wieder den Helden spielen? Warum mischst du dich in so etwas ein? Hast du überhaupt einen blassen Schimmer, was da alles auf dich zukommen kann?“

„Bist du vielleicht ätzend! Verdammt, rede doch nicht so viel, das hält ja mein Kopf nicht aus. Mann, ich hasse dich. Ich werde dich mit einem Fluch belegen: Jede Nacht werde ich dir im Traum erscheinen und von Aussatz und Pestilenz sollen alle deine Nachkommen befallen werden.“

„Mein Gott, was für ein entsetzlicher Gedanke“, sagte Lorenzo und schüttelte sich, als wäre er gerade einem arktischen Gewässer entstiegen.

Vermutlich verhinderte das Vakuum in seinem Kopf die ersten Stehversuche. Auch die Fähigkeit zum Denken wollte ihm nicht so recht gelingen. So verging eine weitere Stunde, bis er wieder einigermaßen funktionierte. Nur allmählich kamen bruchstückhafte Erinnerungen an den gestrigen Abend zurück.

Lorenzo drückte Domenico ein Wasserglas in die Hand.

„Hier, nimm, du Klugscheißer, runter mit dem Zeug! Ich denke, du hast jetzt ein paar Aspirin nötig.“

Domenico ignorierte den Inhalt und stellte das Glas auf den Tisch, um sich anderen Dingen zu widmen. Er wusste nicht mehr, wo er die restlichen Päckchen seiner nächtlichen Einkaufstour abgelegt hatte. Das bereitete ihm zusätzliche Kopfschmerzen. Er versuchte, seine Aktionen zu kaschieren und tastete wahllos mit seinen Händen über den Tisch. Eine reine Übersprungshandlung, die sich in Konfliktsituationen automatisch bei ihm einstellte. Vordergründig ein Verhaltensmuster, das keinem unmittelbaren Zweck zu dienen schien.

Lorenzo witterte den Braten und wehrte ab: „Halt, halt, mein Freund, was machst du gerade? Nein, nein, zuerst das Aspirin. Ich muss noch einige Telefonate machen, dann kümmere ich mich um dich.“

„Lorenzo, jetzt sag mir doch endlich etwas zu dem Zeitungsartikel!“, drängte Domenico.

Eine Antwort bekam er nicht, aber was danach folgte, hätte man ohne weiteres als „Expedition ins Tierreich“ bezeichnen können. Lorenzo brachte ein ganzes Potpourri von Melodien pfeifend und tirilierend zu Gehör, dass Domenico glaubte, sich in die Nähe einer Voliere verirrt zu haben.

„Mann, du treibst mich noch zur Verzweiflung, hier ist doch kein Refugium für Singvögel. Das hat gerade noch gefehlt. Was du machst, ist ein Akt purer Feindseligkeit!“

Lorenzo konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.

„Du machst deinem Namen mal wieder alle Ehren“, verhöhnte ihn Domenico.

„Wieso?“

„Weißt du eigentlich, dass Beluga-Wale als die ‚Kanarienvögel’ der Meere bezeichnet werden?“, sagte Domenico und entlockte Lorenzo ein hinterhältiges Grinsen.

„Aber ehrlich, wie kann man morgens schon so guter Laune sein?“, fragte sich Domenico.

Er hatte eingesehen, dass er gegen dieses Gute-Laune-Bündel Lorenzo im Grunde genommen chancenlos war. Widerwillig war er aufgestanden und verschwand fluchend unter die Dusche.

Domenicos Gedanken drehten sich im Kreis:

„Im Leben ist alles eine Frage der Perspektive. Das ist etwas, was man im Laufe eines Lebens lernt. Ein Mann mit Wundbrand denkt, er hat Glück, wenn er nur einen Finger verliert und nicht seinen Arm. Das heißt, wenn dein Leben im Grunde o. k. ist, du dich aber plötzlich mit jemand wiederfindest, der aussieht wie ein abgehalfterter Heavy-Metal Rocker, könnte man denken, dass es ein schlechter Tag wird. Andererseits, wenn du einen guten Whiskey zur Hand hast, einen süßen Rausch hinter dich gebracht und einen wirklich guten Freund wie Lorenzo an deiner Seite hast, könnte man sich zufrieden zurücklehnen und sagen:

„Was soll die ganze Scheiße, es geht mir ja richtig gut.“

Lorenzo war geradezu ein Glücksfall für Domenico. Ihre Freundschaft war alles andere als gewöhnlich. Im Laufe der Jahre wusste man, wie man miteinander umzugehen hatte. Lorenzo war einer, der nur nachts aus dem Hause ging. Im langen Ledermantel ziellos durch leere Straßen zog, um früh morgens nach getaner Arbeit, wenn die Dämmerung noch hinter Jalousien lauerte, sein Nachtwerk reflektierte, bis er endlich eingeschlafen war.

Die Zeit, um ein gutes Buch zu lesen fand er nicht, er wartete lieber bis es verfilmt wurde. Für ihn war das Besondere ganz normal. Er war ein harter Typ mit Herz, den so schnell nichts umwerfen konnte. Meistens war er gut gelaunt und zu Scherzen aufgelegt. Sah man ihn nicht, hörte man ihn. Irgendeinen Gassenhauer trällerte er vor sich hin und hatte meistens einen lockeren Spruch auf den Lippen. Seine riesigen Hände sahen aus, als könnte er einen Schädel wie eine reife Tomate zerquetschen. Mit seiner Körpergröße von 2,06 m und Schuhgröße 60 war klar, dass sowohl seine Körperfülle, als auch seine Füße nur in Maßanfertigungen passten. Mild und gütig war er im Aussehen. Mit freundlicher Miene kam er seinen Mitmenschen zuvorkommend entgegen. Zugegeben, er war manchmal schwer zu durchschauen, aber die Tür zu seinem Herzen stand immer offen.

Der raue Charme des belgischen Kohlenpotts hatte sein Wesen von Kindheit an geprägt. Seine pubertären Diätneurosen hatte er längst hinter sich. Wohl wegen seiner stattlichen Größe und seiner enormen Körperfülle nannten ihn seine Freunde aus der Bikerszene liebevoll „Beluga-Wal“. Schon als Jugendlicher entdeckte Lorenzo das Nachtleben und seine ersten künstlerischen Ambitionen. Er benutzte die Spraydose als symbolische Waffe gegen Gesellschaft und Establishment. Als Graffiti-Sprayer machte er die Dunkelheit zu seinem Verbündeten. Die Polizei war weitestgehend machtlos. Das Spiel mit der Gefahr, entdeckt zu werden, wurde für ihn zur Mutprobe und zum Zeitvertreib. Und schon bald avancierte er zum Meister der örtlichen Graffiti-Szene. Die Polizei suchte ihn bislang vergeblich, waren doch Eisenbahnwaggons, Busbahnhöfe, Bahnhofshallen und Autobahnbrücken im Blickpunkt seines Interesses. Illegal seine Bilder zu hinterlassen, quasi als Geschenk für die Öffentlichkeit, hatte eine besondere Note und einen prekären Reiz.

Mittlerweile verdiente Lorenzo mit seinem Künstlernamen tagsüber hoch gelobt und ganz legal gutes Geld, wofür er nachts hätte eingesperrt werden können. Über die Trennung von seiner Frau und den beiden Kindern war er nie hinweggekommen, trotzdem führte er an der Seite von Domenico ein lockeres Junggesellenleben. Nächtelang streifte er durch Bars und Pubs und erzählte wildfremden Menschen seine Lebensgeschichte. Immer häufiger wurde das Motorrad seine große Leidenschaft. Nicht ein gewöhnliches Motorrad, nein, einer chromblitzenden Harley galten fortan seine Treueschwüre. Eine fahrbare Musikanlage, die ihn gut gelaunt durch den Tag brachte. An Wochenenden, während der Sommermonate, gab es für ihn nichts Schöneres, als mit seiner Harley durch die grünen Reviere von Flandern zu brausen. Die wilden Jahre hatte er längst hinter sich gelassen. In den Kneipen hocken, um Frauen aufzureißen, das lag ihm nicht. Er hatte auch keine Übung darin, denn er besaß gerade mal den Flirtfaktor eines Heranwachsenden, der zwar unverbindliche Konversation machen konnte, aber total verunsicherte, sobald körperliche Nähe mit ins Spiel kam. Also sagte er sich:

„Ich tue das, was mir Freude macht und niemand redet mir rein.“

Er spürte auch nicht das Verlangen nach einer zweiten Enttäuschung, denn er trauerte immer noch der großen Liebe seines Lebens nach. Der Gedanke an seine beiden Kinder stimmte ihn an manchen Tagen traurig, weil ihm von Rechts wegen nur ein eingeschränktes Besuchsrecht zugestanden wurde. Er war aber nicht bereit, diesen Zustand dauerhaft hinzunehmen. Mit Hilfe seines Anwalts plante er bei dem zuständigen Familiengericht eine neue Offensive.

Anfangs war seine Freundschaft mit Domenico nur eine reine Thekenbekanntschaft, die im Laufe der Jahre immer fester und enger wurde. Es gab Zeiten, in denen sie in ihrem Lieblings-Pub in der Altstadt bis spät in die Nacht tranken, diskutierten, lachten und scherzten. Eine wahre Männerfreundschaft, die von den Gegensätzen lebte, aber in den grundlegenden Fragen des täglichen Lebens harmonisch war. Manche Leute hielten sie unberechtigter Weise für ein Liebespaar.

Lorenzos Sympathie für Domenico entsprang nicht einer aufgesetzten Höflichkeit einem Blinden gegenüber, sondern sie kam aus dem tiefsten Innern seines Herzens. Lorenzo, dieser prächtige, heitere Bursche wartete an manchen Tagen stundenlang auf Domenico, so dass der Besitzer der Bar mit einem Augenzwinkern fragte, ob er arbeitslos wäre und nicht doch lieber bei ihm arbeiten möchte. Schon bald machten die beiden Freunde aus der Not eine Tugend und waren kurz entschlossen in ein geräumiges Appartement gezogen. Im Zentrum Antwerpens teilte man sich eine komfortable 4-Zimmerwohnung mit herrlicher Aussicht auf den Grothe-Markt. Die Freunde führten ein sorgenfreies Leben in einer wunderschönen Stadt. Natürlich gab es auch Streit zwischen ihnen, aber am Ende fanden sie immer eine verträgliche Lösung.

Im alltäglichen Zusammenleben packte Lorenzo tatkräftig an. Er plante und organisierte den Haushalt. Auf Life-Konzerte brauchte Domenico nicht verzichten, sie schwammen um die Wette und an Sonntagen flanierten sie gerne an den Ufern der Schelde. Stundenlang diskutierten und philosophierten sie auf Augenhöhe. Selbst zu den regionalen Biker-Treffen reiste Lorenzo nicht ohne Domenico. Bis auf die in Mode gekommenen Tattoos trug Domenico bei derartigen Anlässen sämtliche Statussymbole eines Bikers: gespiegelte Sonnenbrille, schwarzes T-Shirt, schwarze Lederhose, Gürtel und Lederstiefel. Von einem echten Biker war er auf den ersten Blick nicht zu unterscheiden.

Die Bewältigung seiner Sehbehinderung war für Domenico allerdings ein langwieriger und steiniger Weg. Lorenzo zeigte ihm, dass das Leben auch Spaß machen kann. In seinem

„Schlepptau“ fühlte sich Domenico sicher und geborgen, gewann er doch durch ihn eine ganz andere Lebensqualität, die ihm normalerweise verborgen geblieben wäre.

Es war zum Haare raufen. Wenn Domenico etwas aus tiefstem Herzen hasste, dann war es Lorenzos Affinität zur Country-Musik. Bereits morgens in aller Frühe weckte ihn John Denver, der meinte, er sei gerade auf der Landstraße in seine Heimat West Virginia und wolle ihm von den Blue Ridge Mountains und vom Shenandoah River berichten. Auch Tony Christie meldete sich und fragte, ob dies der rechte Weg nach Amarillo sei. Etwas später musste er erfahren, dass Jonny Cash in einen Ring aus Feuer gefallen war. Domenico konnte sich nicht immer diesem „penetranten Gedudel“ entziehen. An manchen Tagen begann es morgens schon um Punkt neun und endete abends um elf. Dazwischen immer und immerwieder die Best-of-Western-Platte in Heavy Rotation: Country Roads, Take Me Home, Amarillo und Ring of Fires.

Nachdem es Lorenzo gelungen war, Domenicos Neugierde für den Artikel der Morgenpost zu wecken, versuchte er ihn mit einem wohlriechenden Kaffee endgültig ins Leben zurückzuholen. Lorenzo musste ihm die Schlagzeilen gleich zweimal vorlesen. Erst danach war Domenico bereit, mit ihm ins „Jolly-Joker“ zu fahren.

Bars und Pub’s gibt es zwar viele in Antwerpen, aber das „Jolly-Joker“ war eben etwas Besonderes. Eine wahre Kultstätte für Biker - einfach ein Lebensgefühl. Menschen aller Altersgruppen und aus allen Berufen waren hier in geselliger Runde anzutreffen. Eben alles, was den Mythos Harley ausmachte.

Wenn Gleichgesinnte miteinander fachsimpelten, war so mancher Dialog für Laien nicht immer verständlich. Aber jeder kannte jeden, einer half dem anderen, halt wie in einer großen Familie. Bei Country-Rock, Kartenspielen, kühlem Bier, knackigen Salaten, deftigen Rinder-Steaks und sexy Bräuten, gab es an den Tresen und Tischen des „Jolly-Joker“ immer etwas zu erzählen.

Die Biker-Jungs tauschten sich mit Vorliebe über ihre Maschinen und die neuesten Trends aus. Eigentlich war es wie immer, wenn sie zusammen waren. Natürlich spielte auch das Ereignis der vergangenen Nacht eine Rolle. Lorenzo hörte Domenicos Geschichte gebannt zu. Jedes noch so kleine Detail schien bedeutsam zu sein. Raucher-Pausen gab es hier nicht. Lorenzo waren die Zigaretten ausgegangen, er knitterte das leere Päckchen zusammen und begab sich in Richtung Automat - ein mühevolles Unterfangen. Nur langsam kam er voran.

„Hey, Beluga!“, hörte man allenthalben.

Ein aufmunterndes Schulterklopfen begleitete den sympathischen Kerl von Tisch zu Tisch. Lorenzo war mit seinem unverwechselbaren Charme für die meisten Biker bereits eine lebende Legende. Liebevoll und mit einem Augenzwinkern unterstellten sie, er könne zentnerschwere Bahnschienen zu einem Herzen verbiegen. Lorenzo amüsierte das und quittierte es gerne mit einem Lächeln in seinen Augen.

Aus der Music-Box schallte der unverwüstliche Klassiker „Like a Rolling Stone“ von Bob Dylan. Neben „Blowin’ in the wind“ eines der Lieblingslieder aus seinem Repertoire. Der Ausnahmekünstler Dylan bedeutet für die Popmusik das gleiche wie Einstein für die Physik. Die Poesie seiner Texte und die Lyrik seiner Lieder sind für immer in die amerikanische Kultur eingegangen. Bob Dylons scharfe Beobachtungsgabe und sein politisches Verständnis machten ihn zum Sprachrohr einer ganzen Generation. Er galt als das politische Gewissen seiner Zeit. Mit ihm fühlte sich eine ganze Generation verbunden und die Biker-Jungs im Jolly-Joker sowieso.

Wegen des spärlichen Platzangebotes fühlte sich Domenico buchstäblich wie ein blinder Passagier in der „Economy-Class.“ Seine Rückenmuskulatur machte ihm zu schaffen. Er dehnte und reckte sich, um einer Verspannung entgegenzuwirken, als ihn plötzlich eine unbekannte Stimme über die Schulter ansprach. Domenico fühlte die Nähe des Mannes, dann kam dieser mit seinem Gesicht so nah, dass Domenico seinen Atem spüren konnte. Eine unangenehme Begleiterscheinung schien die mangelnde Körperpflege zu sein - für Domenico eine denkbar schlechte Visitenkarte für einen Mann.

„Domenico Escudero?“

„Wer will das wissen?“, fragte Domenico.

„Ich lese Zeitung und höre Nachrichten. Genügt Ihnen das?“

„Nein, was möchten Sie von mir?“

„Na ja, es hatte mich interessiert. Sie haben mich in der vergangenen Nacht dermaßen beeindruckt, dass ich Sie unbedingt kennen lernen wollte. Man hat mir dieses Lokal empfohlen – es besteht also kein Grund zur Sorge.“

„Haben Sie denn ein bisschen Zeit?“, fragte der Fremde.

„Nein, heute nicht, vielleicht ein anderes Mal.“

„Trinken Sie wenigstens einen Road-Killer mit mir, ich lade Sie gerne ein?“

„Nein, danke“, sagte Domenico.

„Hunger?“

„Nein, hab’ ich nicht.“

Domenico wurde ungeduldig: „Mann, reden Sie doch nicht um den heißen Brei. Was wollen Sie von mir?“

„Nichts. Ich meine…, ich möchte nur eine gute Zeit haben, vielleicht eine Kleinigkeit mit Ihnen essen, nett unterhalten - sonst nichts.“

Als der Fremde bei Domenico nicht wie gewünscht vorankam, gab er seine Zurückhaltung auf und brachte sein Anliegen auf den Punkt.

„Ist denn ihr Pillenschrank noch gut gefüllt?“, sagte er beiläufig.

Es entstand eine Pause, Domenico atmete tief durch. Darauf bedacht, einer Auseinandersetzung vor allen Leuten aus dem Weg zu gehen, versuchte er sich zurück zu halten und seine Überraschung zu verbergen.

„Sie haben sich ja gut informiert. Wollen Sie etwa mein Dealer sein?“, fragte Domenico zurück.

„Warum nicht? Sie haben ja Ihren gestern Abend verloren - und dabei haben Sie noch so viele beschissene Tage vor sich. Nicht wahr? Jammerschade.“

„Aha, noch so ein Schwadroneur und Klugscheißer“, dachte Domenico.

„Haben Sie doch ein wenig Vertrauen, ich bin schließlich kein eingeschleuster Polizeispitzel, wie das Opfer von gestern. Wenn Sie mal irgendwas brauchen, Anruf genügt, O.K? Ganz egal, was. Und denken Sie daran, ich bin Ihr Freund.“

Domenico wiegelte ab und schüttelte zweifelnd den Kopf.

„Hey, machen Sie hier nicht einen auf Freundschaft, ich kenne Sie überhaupt nicht und komme auch ganz gut ohne Ihre Wohltätigkeit aus.“

Der Fremde beugte sich nach vorn.

Es bereitete Domenico Unbehagen, als der Fremde ihn an seiner Jacke berührte.

„Ihr Dealer, dieser Polizeispitzel, ist übrigens heute Morgen an seinen Verletzungen gestorben, wussten Sie das?“, sagte er leise in Domenico’s Ohr.

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“

„Ich meine es ernst, mein Freund“, sagte der Fremde.

„Das glaub’ ich Ihnen, aber meine Freunde suche ich mir immer noch selber aus. Was soll der ganze Scheiß? Machen Sie den Abflug und bleiben Sie mir gefälligst von meiner Jacke!“, zischte ihn Domenico an.

„Mann, Sie gehen mir mit Ihrem Gequatsche auf den Senkel. Außerdem riechen Sie wie ein wandelnder Gully, Sie sollten sich besser um eine fundamentale Körperhygiene bemühen!“

Der Fremde ignorierte Domenicos Bemerkung.

„Wir werden uns noch kennen lernen, denken Sie an mich! Für den Fall, dass Sie Ihre Meinung ändern und es sich anders überlegen“ sagte er und steckte Domenico eine Karte mit seiner Telefonnummer in die Jackentasche und war verschwunden.

„Wer war die Flöte, die dich eben belästigt hat?“, drängte Lorenzo, als er zu Domenico zurückgekehrt war.

„Niemand, den du kennst!“

„Kennst du ihn denn wenigstens?“, fragte Lorenzo.

„Kennen nein, noch nie ‚gesehen’ kann ich ja nicht sagen.“

Domenico war sicher, dass es sich bei dieser Begegnung nicht um einen unabwendbaren Zufall gehandelt hatte. Die Gegenwart des Mannes empfand er auf jeden Fall als äußerst unangenehm. Dieser Mann schien einiges zu wissen, auch von ihm - vielleicht zu viel. Domenico war nicht gerade ein ängstlicher Typ, aber irgendwie beschlich ihn an diesem Tag ein ungutes Gefühl. Er ärgerte sich darüber, dass das Gespräch mit dem Fremden ausgerechnet während Lorenzos Abwesenheit stattgefunden hatte. Als Domenico ausgiebig erzählte, ging Lorenzo sofort der Sache auf den Grund und befragte die Kumpels an den Nachbartischen. Aber niemand sah sich in der Lage, eine halbwegs verwertbare Beschreibung des Mannes abzugeben. „Noch nie gesehen“, sagten die Kumpels einhellig.

Im „Jolly-Joker“ duftete es nicht gerade wie in einem Speisesaal eines Nonnenklosters. Das intensive Aftershave des Fremden konkurrierte immer noch mit dem Gemisch von Benzin und Nikotin, das wie ein unsichtbarer Schleier über ihnen zu schweben schien. Lorenzo war der Meinung, dass der unbekannte Mann aus der Biker-Szene stammen musste, andernfalls wäre er den anderen Gästen aufgefallen.

„Möglicherweise wollte er ganz bewusst unauffällig bleiben und hat sich deshalb wie ein Biker angezogen.“

„Alles deutet darauf hin, dass dieser Mann genau wusste, was in der Bar gestern Abend am Grotemarkt abgelaufen war. Und nicht nur das, er wusste auch, wo er mich finden kann. Ist das nicht eigenartig?“, fragte Domenico.

Lorenzo stimmte zu:

„Zugegeben, das ist schon sonderbar. Er hat dich zudem wissen lassen, dass er deine Drogenprobleme kennt. Außerdem hat er dich mit einem konkreten Angebot angefüttert. Die überlassenen Informationen sollten die Köder am Angelhaken dieses Wohltäters sein. Unklar ist, ob er auf eigene Rechnung handelt oder als Gewährsmann im Auftrag eines anderen arbeitet.“

„Ich werde das Gefühl nicht los, dieser Mann hat etwas…“

„Ja, er hat bestimmt Dreck am Stecken“, ergänzte Lorenzo.

„Komm, mein Freund, mach dir nicht so viele Gedanken. Ein Schritt nach dem anderen, das hast du doch in der Selbsthilfegruppe der Blindenschule gelernt, nicht wahr? Morgen werden wir ihn anrufen, dann wissen wir bestimmt mehr.“

Domenico spielte bereits mit dem Gedanken, zur Polizei zu gehen, um eine Aussage zu den Vorfällen des gestrigen Abends zu machen. Er hielt es für wahrscheinlich, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis seine Identität den ermittelnden Behörden bekannt sein würde.

Lorenzo war allerdings anderer Meinung. Er gab zu bedenken, dass sie nicht die Interessenlage der Polizei kennen und nicht abschätzen könnten, wer und was hinter diesem Anschlag von gestern steckte. Und der Umstand, dass der Tote Dealer und gleichzeitig Undercover der Polizei sein sollte, kompliziere die Sache nur noch zusätzlich. Lorenzo riet Domenico davon ab, zur Polizei zu gehen, weil der Behördenapparat nicht effizient arbeite und Unfähigkeit und Schlamperei an der Tagesordnung seien. Und am Ende stünde Domenico mutterseelenallein und schutzlos zwischen den Fronten. So dachten beide in verschiedene Richtungen, aber am Ende blieb doch alles nur reine Spekulation.

2. Kapitel – Das Verhör

Obwohl Lorenzo die Parole ausgegeben hatte: „Ruhig bleiben, noch ist alles im grünen Bereich“, war er doch ernsthaft um Domenico besorgt. Gerade in Punkto Sicherheit wollte Lorenzo kein Risiko eingehen. Und so waren beide übereingekommen, dass es unter den gegeben Umständen sinnvoll erscheinen würde, geeignete Vorsichtsmaßnahmen zu treffen und die weitere Entwicklung vorerst abzuwarten. Er hatte Domenico geraten, die nächsten Tage nicht ohne seine Begleitung das Haus zu verlassen, aber auch die Türen abzuschließen und auch niemandem vertrauen, der nicht vorher angemeldet war.

Aber kaum waren sie zuhause, klingelte es bereits an der Haustür. Die Anwesenheit von zwei uniformierten Polizisten versprach nicht gerade einen harmonischen Verlauf für den Rest des Tages. Sie wollten Domenico zum Präsidium mitnehmen. „Eine reine Routineangelegenheit“, wurde ihnen über die Sprechanlage versichert. Domenico fühlte sich unbehaglich, er war keineswegs darüber erfreut, der Polizei Folge zu leisten. Lorenzo konnte sich den Spott nicht verkneifen:

„Tja, Kumpel, irgendwann erwischt es jeden. Es ist besser, wenn du vorher noch etwas isst, die Gefängniskost soll ja recht kärglich sein.“ Seiner Schadenfreude schickte er noch ein hämisches Grinsen hinterher.

„Mein Sympathiewert für dich dümpelt gerade mal bei kargen zehn Prozent“, verhöhnte ihn Lorenzo.

Die überraschende Aufforderung der Gesetzeshüter, ihnen Folge zu leisten, war Domenico buchstäblich in die Glieder gefahren und zu irgendwelchen Späßen war er in diesem Augenblick nicht aufgelegt. Sein schlechtes Gewissen war plötzlich größer als die anfängliche Neugierde. Unterwegs zum Präsidium schien Domenico irgendwie erleichtert. Er wollte es endlich hinter sich bringen, er wusste eh’ nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Die Polizisten hatten gegen Lorenzos Begleitung keine Einwände - im Gegenteil, sie begrüßten ausdrücklich seine angebotene Hilfsbereitschaft.

Nachdem die Personalien von Domenico und Lorenzo überprüft waren, wurden ihre Ausweise für die Dauer des Aufenthaltes im Präsidium einbehalten. Bereits beim ersten Kontakt mit dem vernehmenden Beamten war das Gesprächsklima vergiftet. Domenicos getönte Brille störte den Beamten. Er hatte sein Gegenüber fest ins Auge gefasst.

„Ist es Ihnen vielleicht zu hell hier, haben Sie eine Sehschwäche oder ein Augenleiden?“

„Ich bin blind, einfach nur blind“, wiederholte Domenico.

„Ah ha.“

„Und wie haben Sie es bis zu mir geschafft?“

„Ich bin in Begleitung meines Freundes hier und bei der Fahrt zum Präsidium wurde ich von zwei Ihrer Kollegen begleitet.“

Domenico sah sich schon gleich zu Anfang mit allen möglichen Vorwürfen konfrontiert. Kein einziges Wort des Lobes kam über die Lippen des Beamten. Mut, Zivilcourage oder so etwas Ähnliches hätte er schon gerne gehört. Er hielt das Ganze sowieso für einen schlechten Scherz. Domenico war über sich selbst verärgert, dass er überhaupt mit dem Gedanken gespielt hatte, sich den Behörden freiwillig für die Aufklärung des Verbrechens zur Verfügung zu stellen.

Als hätte er Domenicos Gedanken lesen können, sagte der protokollierende Beamte:

„Sie wissen, Herr Escudero, das hätte auch anders ausgehen können. Was Sie gemacht haben, war nicht mutig, das war leichtsinnig und verantwortungslos. Machen Sie so etwas nie wieder! Überlassen Sie solche Sachen in Zukunft der Polizei - Leuten, die dafür ausgebildet wurden.“

Der Hauptvorwurf des Gesetzeshüters bestand darin, dass Domenico sich nach der Tat nicht am Ort des Verbrechens zur Verfügung gehalten hatte und damit die Polizeiarbeit unnötig erschwert und behindert hätte. Auch der dringende Zeugenaufruf in den Medien hätte ihn nicht dazu bewegen können, sich wie ein verantwortungsbewusster Staatsbürger zu verhalten.

„Bin ich hier Zeuge oder Beschuldigter? Warum dieser Aufwand? Warum sollte meine Aussage für Sie von Bedeutung sein? Ich bin nicht gerade das, was man einen idealen Augenzeugen nennt. Ich bin so blind, wie man es nur sein kann. Verstehen Sie?“, erregt sich Domenico.

„Bemerkenswert, bemerkenswert, Sie sind ja richtig scharfsinnig. Sie sind aber nicht in der Situation, Fragen zu stellen. Sie können sich nicht im Geringsten vorstellen, was hier im Hause vorgeht. Wir sind ausreichend mit Ermittlungsaufgaben eingedeckt, im Augenblick haben wir keinen Feierabend und kein Wochenende, aber wir machen schon unsere Arbeit. Und im Übrigen, passen Sie auf, dass der Schuss nicht nach hinten losgeht, denn wir könnten Sie jederzeit einbuchten, wenn wir das wollten.“

„Und weshalb wollen Sie mich hoppnehmen, wenn ich fragen darf?“

„Ganz einfach, weil Sie schon einige Straftaten begangen haben.“

„Straftaten - und welche bitte?“, fragte Domenico entrüstet.

„Nun… zum Beispiel wegen Behinderung polizeilicher Ermittlungen oder Unterschlagung von Beweismaterial oder Anstiftung zu rechtswidrigen Handlungen. Oder was halten Sie von der Beschaffung illegaler Narkotika, die unter das strenge Betäubungsmittelgesetz fallen? Sie können es sich aussuchen. Ich finde jederzeit einen Staatsanwalt, der mir das unterschreibt. Ist das bei Ihnen angekommen?“

Domenico fühlte sich in die Enge getrieben.

„Was Sie da sagen, ist ungeheuerlich. Ihre Anschuldigungen sind einfach böswillig und zutiefst unverschämt. Außerdem lassen Sie jedwedes Fingerspitzengefühl vermissen. Wenn ich geahnt hätte, was mich hier erwartet, wäre es sinnvoller gewesen, einen Anwalt mitzubringen.“

„Bei der erdrückenden Beweislage wäre das sicherlich für Sie von Vorteil gewesen. Schließlich waren Sie der Letzte, der mit dem Opfer geredet hat und derjenige, der in unmittelbarer Nähe des Täters gestanden hatte. Wir haben glaubhafte Aussagen, die Sie belasten können. Ein zuverlässiger Informant hat uns einen interessanten Hinweis gegeben. Was halten Sie denn von einer richterlich angeordneten Hausdurchsuchung? Wenn Ihnen das alles nicht gefällt, geben wir Ihnen gerne einen Einblick in den praktischen Strafvollzug. Sie haben mich doch jetzt genau verstanden, Herr Escudero oder etwa nicht?“

Domenico war verunsichert, aber er hatte verstanden. Die Antwort blieb ihm im Halse stecken. Er überlegte, ob er überhaupt weitere Aussagen machen sollte. Ein breites Grinsen konnte er sich dennoch nicht verkneifen. Der Beamte tat sich schwer, seine Mimik und Gestik richtig einzuschätzen. Domenicos Arroganz und seine versteckte Häme bereiteten ihm offensichtlich erhebliche Schwierigkeiten.

„Warum grinsen Sie so? Würden Sie mir das erklären? Wenn mir jemand ins Gesicht lacht, und ich mir den Grund dafür nicht erklären kann, werde ich ziemlich ungemütlich.“

Domenico bemühte sich, seine Gesichtszüge besser unter Kontrolle zu halten. Seine Situation wollte er auf keinen Fall verschlechtern. Und am Ende war er heilfroh, als der Beamte ihm eine Brücke baute und sagte:

„Aber lassen wir das jetzt, Sie sind ja nur ein Zeuge und kein Beschuldigter oder gar Tatverdächtiger.“

Domenico atmete erleichtert auf.

Jetzt war auch seitens des Vernehmungsbeamten ein besonnenes Vorgehen gefordert, falls er von Domenico mehr erfahren wollte. Domenico wurde ungeduldig, er war nahe dran, jede weitere Aussage zu verweigern.

Ein großer, drahtiger Mann, um die Vierzig, den man eher als Sommelier in einem Sternerestaurant vermutet hätte, betrat plötzlich den Befragungsraum. Er hatte die bisherige Vernehmung hinter der verspiegelten Glasscheibe mitverfolgt und hatte die Situation richtig eingeschätzt. Stillschweigend hatte er sich zu der Zeugeneinvernahme hinzugesellt. Er blätterte in der aktuellen Fall-Akte, überflog einige Passagen, unterstrich gerichtsverwertbare Beweise und machte farbige Randnotizen. Der Kommissar genoss den Ruf eines Unbestechlichen, ein hochanständiger Ermittler, der korrupten Politikern, Geheimdienstlern, Gangstern und Sensationsjournalisten die Stirn bot und gelegentlich auch die Leviten las. Seine Ermittlungsmethoden waren geprägt von stiller Beharrlichkeit, sie waren gradlinig, zielgerichtet, von psychologischem Spürsinn, aber auch von einer unerschütterlichen Hartnäckigkeit.

Domenico kam ins Schwitzen. Wegen des zahlenmäßigen Ungleichgewichts hielt er es für richtig, in die Offensive zu gehen. „Angriff ist die beste Verteidigung“, dachte er sich. „Ich mag es nicht, wenn sich jemand hinter meinem Rücken bewegt und mich nicht anspricht. Und Ihren Scheinwerfer über mir, können Sie gerne auf Sparflamme zurückdrehen, ich sehe sowieso nichts.“

„Entschuldigen Sie, es lag nicht in meiner Absicht…. - übrigens, ich bin Kriminalhauptkommissar Stéphane Mertens. Entschuldigen Sie die ärgerliche Bürokratie in unserem Haus. Niemand macht Ihnen hier Vorwürfe oder beschuldigt Sie, Herr Escudero. Wir haben uns an Sie gewandt, weil Sie unmittelbar am Geschehen beteiligt waren und uns eine weitaus objektivere Sichtweise vermitteln können, als manch ein anderer Zeuge. Gibt es darüber hinaus noch irgendwelche Probleme?“

„Nein, Herr Kriminalhauptkommissar, ich erwarte nur, dass ich in diesem Haus ernst genommen und respektvoll behandelt werde.“

Ein Handzeichen des Kommissars veranlasste den Vernehmungsbeamten, sich zurückzuziehen.

„Das ist ihr gutes Recht, Herr Escudero.“

„Sagen Sie Herr Kriminalhauptkommissar, warum haben Sie mich einbestellt?

Ist das eine offizielle Vernehmung oder was?“

„Sagen wir mal so, es ist eine polizeiliche Anhörung in einem Mordfall. Und sagen Sie bitte nur meinen Namen - das genügt.“

„Um eines klarzustellen, Herr Kommissar“, holte Domenico aus, „ich begehe keine Verbrechen, ich bin auch noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten, ich bin ein Bürger ohne Vorstrafen. Zugegeben, ich habe ein Drogenproblem. Ich konsumiere Kokain und LSD, bin aber auf dem besten Wege, von dem Zeug wegzukommen. Ich habe den festen Willen, und das meine ich ganz ehrlich, bei der nächsten Gelegenheit auf Entzug zu gehen. Ein Therapieplatz ist mir bereits in Aussicht gestellt.“

„Wissen ist Macht und weiß ist der Schnee“, dachte der schnauzbärtige Kommissar und grinste ungeniert vor sich hin, als wollte er Domenicos Äußerung nicht ganz ernst nehmen. Er schob die aktuelle Ermittlungsakte demonstrativ über den Tisch, direkt in Domenicos Hände. Dann fuhr er fort:

„In dieser Akte, Herr Escudero, sind ein halbes Dutzend Vergehen aufgeführt, nur damit Sie wissen, wie es tatsächlich um Ihre Gesetzestreue bestellt ist. Im Moment verzichten wir jedoch auf eine Strafverfolgung aus rein polizeitaktischen Gründen, wir erwarten aber von Ihnen, dass sie sich uns gegenüber kooperativ verhalten.“

Domenico verstummte, er holte tief Luft und schob die Akte von sich.

„Sie scheinen ja eine Menge über mich zu wissen, so prall gefüllt ist ihre Sammlung.“

Die Augen des blinden Domenico blieben dem Kommissar durch die dunkel getönte Brille verborgen. Der Anblick war auch für den Kommissar ungewöhnlich, er vermied es, Domenico direkt in die Augen zu sehen. Obwohl in Fragen der Neurolinguistik geschult, stieß der Kommissar bei Domenico an seine Grenzen. Normalerweise konnte er an Hand der Körpersprache des Befragten erkennen, ob jemand lügt oder die Wahrheit sagt. Aber bei Domenico funktionierte das nicht. Eine Erklärung hatte er dafür nicht, wahrscheinlich lag es an dem fehlenden Augenkontakt.

„Herr Escudero, Sie sind ein ‚angesehener Bürger’ unserer Stadt, wie man so schön sagt. Wir möchten Ihnen helfen. Eigentlich haben Sie ein Luxusproblem: Sie sind einige Millionen schwer und verfügen über genügend Mittel, um sich die besten Anwälte und die allerbesten Apotheken leisten zu können. Und Sie können sich jeden Stoff kaufen, der auf dem Markt zu haben ist. Aber wir können Ihnen exakt sagen, welche Drogen Sie sich in dem letzten halben Jahr beschafft haben. Wir verfügen über Verfahren, die Ihren Konsum exakt nachweisen. Haare sind wie Archive, mittels Haaranalyse sind wir heute sogar in der Lage, illegale Drogen und die Einnahme von Medikamenten nachzuweisen. Wir haben verlässliche Erkenntnisse darüber, dass Sie in der Drogenszene kein Unbekannter sind. Sie sind genauestens über die Aktivitäten informiert. Was sagen Sie dazu?“

„Insider ja, Konsument ja, aber kein Dealer, wenn Sie das meinen.“

„Wie gesagt, Herr Escudero, Ihre persönliche Situation ist uns hinreichend bekannt. Wir werden das bei unserer Bewertung berücksichtigen. Unseres Wissens konsumieren Sie Kokain, Amphetamin und Morphine. Ist das korrekt?“

„Stimmt nicht, gegenwärtig nehme ich nur Kokain und Ecstasy.“

Domenico verschwieg bewusst die gelegentliche Einnahme von synthetischen Drogen. Er wollte herausfinden, über welchen Kenntnisstand der Kommissar tatsächlich verfügte. Auch Kommissar Mertens hielt sich bedeckt, er ließ sich durch Domenico nicht aus der Reserve locken.

„Im Übrigen, Herr Kommissar, die Branche ist überschaubarer geworden. Die Claims sind abgesteckt, es gibt nur noch wenige, die sich den Markt aufteilen. Würden Ihre Leute effektiver arbeiten, wäre Ihnen das nicht entgangen.“

„Ich werde Ihnen jetzt einmal ein paar Dinge sagen und Sie dabei ins Vertrauen ziehen, Herr Escudero? Wir machen das, was wir können. Unsere Gerichte sind überlastet und die Gefängnisse überfüllt. Wenn der Drogenhandel weniger attraktiv wäre, könnten wir ihn besser in den Griff bekommen. Wenn es uns gelänge, das Risiko für den Handel zu erhöhen, wäre das schon ein kleiner Fortschritt. Wenn wir aber den Handel überhaupt nicht kontrollieren, würde alles außer Kontrolle geraten. Völlig unterbinden können wir ihn nicht. Es ist wie ein Katze-Maus-Spiel. Wir laufen den Großen immer hinterher und haben oft das Nachsehen.“

Domenico bemühte sich um ein besseres Gesprächsklima. Er zeigte sich aufgeschlossen und verständnisvoll.

„Aber woher haben die Fahnder ihre Motivation, wenn sie die kleinen Dealer verhaften und nach erkennungsdienstlichen Maßnahmen immer wieder frei lassen, bis es zur Gerichtsverhandlung kommt?“

„Machen Sie sich keine Gedanken, auch wir haben unsere Erfolge, manchmal können Sie das der einschlägigen Presse entnehmen - aber das sollte jetzt nicht Gegenstand unserer Unterhaltung sein. Unsere Aufklärungsquote ist auf jeden Fall besser, als sie annehmen.“

„Herr Escudero, Sie zählen zu den beliebtesten und bekanntesten Künstlern unserer Stadt. Wie man hört, haben Sie sogar beste Beziehungen zu unserer Regierung. Sie sollten Ihr gutes Image nicht leichtfertig verspielen. Sie sind auf jeden Fall gut beraten, mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten. Das Einzige, was Ihnen in Ihrer Situation helfen kann, ist, wenn Sie uns helfen.“

Domenico nickte zustimmend, er wirkte erschöpft, verlangte eine Pause und bat um eine Tasse Kaffee.

„Und bitte, für meinen Freund Lorenzo da draußen auch einen Kaffee.“

„Gerne, kein Problem“, sagte Inspektor Mertens, der an der behutsamen Behandlung seines Zeugen ein aufrichtiges Interesse zeigte.

„Ihr Freund kommt mir übrigens bekannt vor.“

„Sprechen Sie ihn doch einfach an, er freut sich bestimmt, wenn Sie ihm das sagen.“

Nach einer guten halben Stunde setzte der Kommissar die Befragung fort.

„Herr Escudero, sagt Ihnen der Name „Eric de Winter“ etwas?“

„Ja, dieser Kerl steckt hinter der neuen Rauschgiftwelle in der Stadt. Er soll Inhaber einer Import-Export Firma sein, drüben beim Hafen. Er ist ein Emporkömmling in der Branche, er hat ein paar fiese Schläger, Bordelle und Spielhallen und den Ruf eines Schwerstkriminellen. Er soll vorher in Charleroi gelebt haben, bis ihm der Boden dort zu heiß wurde.“

„Hatten Sie schon einmal Kontakt zu ihm?“

„Warum sollte ich? Nein, bisher hatte ich noch nicht das Vergnügen, aber der Name geistert überall rum.“

Domenico sah das Gespräch auf einem guten Weg, die ehrliche Antwort von Kommissar Mertens stimmte ihn versöhnlich.

Das Telefon läutete.

„Chef, ein Anruf für Sie.“

„Jetzt nicht.“

„Herr Escudero, schildern Sie uns den Verlauf des gestrigen Abends aus Ihrer Sicht und gehen Sie dabei detailliert auf die Umstände des Tathergangs ein. Natürlich aus Ihrer speziellen Wahrnehmung heraus, bisher haben wir völlig unterschiedliche Zeugenaussagen vorliegen. Wir suchen nach Kontakten des Opfers, aus denen sich vielleicht ein Tatmotiv ergeben könnte. Sie sind mit der Drogenszene bestens vertraut und deshalb für uns, trotz ihres fehlenden Augenlichts, ein äußerst wertvoller Zeuge. Sie könnten uns mit Ihren persönlichen Wahrnehmungen wertvolle sachdienliche Hinweise geben, dabei können die kleinsten Anhaltspunkte von Bedeutung sein. Gerade blinde Menschen sehen in solchen Dingen weitaus mehr als Sehende, wenn Sie mir diesen Vergleich gestatten.“

Nachdem Domenico seine Aussagen zum Verlauf des Tatgeschehens gemacht hatte, fragte er, ob für derartige Fälle nicht ein staatliches Zeugenschutzprogramm in Frage käme. In seiner jetzigen Situation empfinde er ein starkes Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit.

Der Kommissar quittierte die Frage mit Kopfschütteln und meinte:

„Nur langsam…Adler fressen keine Fliegen! Ich habe im Moment nicht den Eindruck, dass Ihr Leben in Gefahr ist. Hören Sie, Herr Escudero, ursprünglich wollten Sie kein Zeuge sein und jetzt möchten Sie das Zeugenschutzprogramm für sich in Anspruch nehmen. Wie vereinbart sich das?“

Domenico war irritiert, weil der Kommissar wieder in seinen Ermittler-Modus verfiel.

„Ich bin zwar blind, aber ich kann trotzdem Eins und Eins zusammenzählen.“

„Zugegeben, wir sollten vorsichtig sein, aber nicht gleich übertreiben. Bedenken Sie, Herr Escudero, bei dem Zeugenschutzprogramm müssen Sie sich von allem trennen, was früher war. Ihr ganzes Leben wird sich von heute auf morgen ändern. Es gibt einfach kein gutes Zeugenschutzprogramm. Ständig müssen wir uns mit gefährdeten Zeugen, ehemaligen Gaunern und Schlitzohren herumärgern, die sich nicht an die Regeln des Programms halten. Dadurch setzen sie meist nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Beschützer aufs Spiel. Und Sie sind blind, Mann, wie stellen Sie sich das vor? Nein, das ist in Ihrem Fall unmöglich, das kommt nicht in Frage. Das müssen Sie einsehen, Herr Escudero! Wir sollten gemeinsam eine andere Lösung suchen. Wenn es etwas gibt, was Ihnen helfen kann, werde ich mich dafür einsetzen. Aber im Moment können wir leider nichts für Sie tun.“

„Das ist äußerst wenig, was Sie mir anbieten, aber immerhin…“, sagte Domenico enttäuscht.

Der Inspektor sah zwar wegen Domenicos Blindheit eine besondere Fürsorgepflicht, aber er machte ihm auch unmissverständlich klar, dass er im Moment keine Notwendigkeit sehe, eine derartige Präventiv-Maßnahme zu ergreifen. Zu gegebener Zeit wolle er andere Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Bei akuter Lebensgefahr könne man Domenico für eine gewisse Zeit in Schutzhaft nehmen, aber versprechen wollte er ihm allerdings nichts.

„Aber, Moment mal, ich hätte da vielleicht doch eine Idee. Sie sagten doch anfangs, ein Therapieplatz wäre Ihnen so gut wie sicher. Was halten Sie denn davon, wenn wir Ihre Therapiemaßnahme bevorzugt behandeln? Wir haben schließlich gute Kontakte, wir könnten notfalls Ihre Unterbringung gerichtlich anordnen. Es gibt ein psychiatrisches Krankenhaus mit besonders strengen Sicherheitsvorkehrungen. Ich sehe darin eine ernsthafte Möglichkeit, Ihrem Sicherheitsbedürfnis gerecht zu werden. Wir könnten so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Was halten Sie von diesem Vorschlag, Herr Escudero?“

„Ja, ich denke, das ist vernünftig, das sollten wir auf jeden Fall im Auge behalten.“

Mit diesem Vorschlag gab sich Domenico vorerst zufrieden.

„Übrigens, Herr Escudero, wie konnten Sie wissen, wo der Täter stand, als Sie ihn mit Ihrem Blindenstock entwaffnet haben?“

Domenico wusch sich den Schweiß von der Stirn und versuchte, milde zu lächeln.

„Eigenartig, jeder stellt mir diese Frage. Niemand kann sich das erklären. Es ist so, meine Wahrnehmungsmöglichkeiten verteilen sich zwangsläufig auf andere Sinnesorgane. Ich habe gelernt, meine Umwelt ohne meine Augen wahrzunehmen. So habe ich ein ausgeprägtes Gefühl für Gerüche, Stimmen, Geräusche, Distanz und Entfernung, das ist alles. Der Rest war reine Glückssache. Ich weiß selber nicht, was für ein Teufel mich geritten hat, als ich zum Schlag ausholte. Aber wie gesagt, es war wirklich nur ein Glückstreffer.“

„Herr Escudero, Sie müssen uns alles sagen, was Sie wissen, das ist auch in Ihrem Interesse! War da vielleicht noch etwas, was Sie uns hätten sagen müssen, aber bisher verschwiegen haben?“

„Würden Sie bitte Klartext reden, ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen!“

„Nun, haben Sie nach dem Schuss in der Bar noch irgendetwas Auffälliges bemerkt? Überlegen Sie! Lassen Sie sich Zeit!“

„Nein, wie Sie wissen, bin ich gleich nach Hause gegangen.“

„Können Sie uns etwas über den Verbleib der Tatwaffe und des Projektils sagen?“

„Nein, mir scheint aber, dass Sie ein Problem haben, Herr Kommissar.“

Der Kommissar schwieg eine Weile, dann fuhr er fort:

„Sie haben doch bestimmt gehört, wie die Waffe auf den Boden fiel?“

„Ja, das ist korrekt.“

„Haben Sie oder eine andere Person vielleicht die Waffe aufgehoben und eingesteckt? Sagen Sie die Wahrheit! Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass das Zurückhalten von Beweismitteln strafbar ist.“

„Ja, das ist mir bekannt. Ich fürchte, Herr Kommissar, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich weiß nicht, wo die Waffe abgeblieben ist. Wie stellen Sie sich das vor, hätte ich mich bei dem ganzen Durcheinander auf die Knie legen und den Fußboden nach der Waffe absuchen sollen? Oder halten Sie mich für einen Zauberer, der die Waffe so mir nichts dir nichts mit seinem Zauberstab und mit Abrakadabra in seinen Taschen verschwinden lässt? Klingt doch etwas unwahrscheinlich, nicht wahr, Herr Kommissar? Haben Sie in Erwägung gezogen, dass der Täter vielleicht einen Komplizen hatte? Und im Übrigen, ein gezielter Kopfschuss gibt noch keinen Hinweis auf das persönliche Umfeld des Täters.“

„Das haben wir bereits in Betracht gezogen. Sie haben Sinn für Einzelheiten, Sie hätten zur Polizei gehen sollen! Entschuldigen Sie, das war nicht gut“, sagte der Kommissar im Hinblick auf Domenicos fehlendes Sehvermögen.

„Kein Problem, Sie scheinen die ältere Dienstmarke zu haben, Herr Kommissar, ganz ehrlich, ich weiß nicht, wie ich Ihnen in diesem Punkt weiterhelfen könnte.“

„Es ist für uns wichtig, an die Hintermänner heranzukommen. Im Moment sind wir noch auf Zeugenaussagen angewiesen. Wir ermitteln in alle Richtungen, wir gehen dabei auch an die Öffentlichkeit. Zahlreiche Beamte sind damit beschäftigt, die Gäste des Lokals zu befragen. Aber wir finden die Wahrheit schon heraus, denn wenn es um Mord eines Kollegen geht, können wir äußerst dreckig und hartnäckig sein.“

Nachdem Domenicos Aussage keine weiteren Erkenntnisse brachte, nahm der Kommissar mit dem protokollierenden Beamten Blickkontakt auf und gab ihm ein Zeichen. Zu Domenico gewandt, verabschiedete er sich mit den Worten:

„Herr Escudero, ich hoffe, meine Offenheit hat Sie nicht verletzt, Sie sollten aber aus unserer Unterhaltung die richtigen Schlüsse ziehen. Damit wir uns richtig verstehen, Sie sollten Ihr Drogenproblem nicht klein reden oder gar verharmlosen. Wir wollen Ihnen dabei helfen, dass Ihre Therapie ein Erfolg wird.“

„Tja, aber auch nur, wenn ich mit Ihnen kooperiere. Trotzdem vielen Dank, Herr Kommissar, ich habe ihr ehrliches Angebot verstanden.“

In seinem Dienstzimmer klingelte das Telefon, Kommissar Mertens verließ eilig den Befragungsraum. Im Rausgehen sagte er zu Domenico:

„Wir bleiben in Kontakt, Herr Escudero.“

Domenico hatte seine Zurückhaltung aufgegeben. Er sah sich durch die Begegnung mit dem sympathischen Kommissar gestärkt. Mit dem Protokollführer hatte er allerdings noch eine Rechnung offen, die es zu begleichen galt.

„Ich glaube nicht, dass es weiterer Fragen bedarf“, sagte der Beamte.

Domenico solle sich weiterhin zur Verfügung halten. Die Auswertung seiner Aussage würde einige Zeit in Anspruch nehmen, schließlich gäbe es noch andere Fälle abzuarbeiten, ließ er Domenico wissen. Domenico reagierte mit einer gehörigen Portion Zynismus:

„Die Arbeit der Justiz ist ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft. Ganz besonders bedanke ich mich für die Einführung in die Arbeitsweise der Polizei.“

Domenico erntete für seine Bemerkung nicht nur böse Blicke, der Beamte machte auch aus seiner persönlichen Abneigung gegen ihn keinen Hehl, als er sagte:

„Ich glaube, Sie werden nie ein guter Staatsbürger.“

„Und Sie vermutlich kein guter Polizist“, konterte Domenico.

Und als Domenico die Frage stellte:

„Könnte es sein, dass Sie noch irgendwelche erkennungsdienstliche Merkmale von mir benötigen?“, schnaubte der Beamte daraufhin vor Wut.

„Nein, schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht. Wenn es Sie beruhigt, wir haben bereits Ihre Fingerabdrücke und Ihre DNA. Wir brechen die Befragung an dieser Stelle ab.“

Damit hatte Domenico nicht gerechnet. Hatte er den Beamten doch zu sehr provoziert?

Der Protokollführer entnahm das Vernehmungsprotokoll seiner überalterten Schreibmaschine und verließ genervt seinen Arbeitsplatz. Bei der Türe zu dem Befragungsraum blieb er stehen.

„Warten Sie unten am Eingangsportal, ich schicke Ihnen einen Wagen - unsere Bereitschaft wird Sie nach Hause bringen. Und denken Sie daran, Ihre hinterlegten Personalausweise mitzunehmen.“

„Danke, sehr freundlich von Ihnen. Würden Sie mir bitte helfen, ich habe bei der ganzen Aufregung vergessen, wo die Türe ist?“

„Aber ja doch.“

Sichtlich erleichtert entschwand der Protokollführer in den endlosen Korridoren des Polizeipräsidiums. Domenico war nachdenklich geworden. Erneut hatte man ihm deutlich gemacht, dass sich etwas in seinem Leben ändern musste. So konnte es nicht weitergehen. Er geriet in einen Zwiespalt, der ihn immer öfter verzweifeln ließ. Immer nur Erklärungen und Versprechen - das musste einmal aufhören. Er wollte diesen Kampf gegen die Drogen aufnehmen und gewinnen, aber vor allen Dingen wollte er seine Selbstachtung wieder zurückhaben. Er hasste diesen Makel, der ihn abstempelte und ständig zwang, anderen Leuten etwas vorzugaukeln.

Lorenzo war ein Zeuge, wie die Polizei ihn sich nicht besser hätte wünschen können. Seine anfängliche Zurückhaltung hatte er nach den ersten Tassen Kaffee aufgegeben. Die „inoffizielle“ Befragung erwies sich mehr und mehr als Plauderstunde. In lockerer Atmosphäre redete er mal wieder viel zu viel, was die Ermittler ein ums andere Mal verwunderte und neugierig machte. Lorenzo nutzte die Gelegenheit, seine Theorien und Hypothesen über die Hintergründe des Verbrechens aus seiner Sicht zu erläutern. Als ausgewiesener Kenner der Szene, wie er glaubhaft versicherte, war er davon überzeugt, dass es sich in der Bar um einen Auftragsmord gehandelt habe. Und dass bei solchen Dingen in der Regel immer viel Geld im Spiel sei. Normalerweise hatte er ein feines Gespür für Situationen, aber in diesem Fall hatte er sich, nach Domenicos Meinung, mehr als nötig aus dem Fenster gelehnt. Seine Hinweise waren in einigen Punkten sehr konkret - fast zu konkret. Lorenzo zog allerlei Rückschlüsse und stellte höchst spekulative Schlussfolgerungen auf und lieferte so der Polizei unbeabsichtigt einige wichtige Ermittlungsansätze. Nach Domenicos Meinung hätte er sich besser bedeckt gehalten.

Die Ermittler gaben sich anfangs noch amüsiert, aber dann hatten sie aufmerksam zugehört und zeigten sich von Lorenzos Ausführungen sehr angetan. Es schien mehr ein Ablenkungsmanöver zu sein, als sie sagten, dass es sich dabei um reine Vermutungen handele, und dass es dafür keinerlei Beweise gäbe. Hypothesen seien noch lange kein Ermittlungsgrund, versicherte man ihm. Es war aber nicht ausgeschlossen, dass die Polizei über Erkenntnisse verfügte, die mit Lorenzos Aussagen zumindest in einigen Punkten deckungsgleich waren, die sie verständlicherweise aber nicht bereit waren, preiszugeben.

Es schmeichelte Lorenzo, dass er die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Polizei für sich in Anspruch nehmen durfte. Er nährte den Verdacht, dass er weit mehr wisse, als das, was er vorgetragen hatte. Das war ein gefundenes Fressen für die ehrgeizigen Gesetzeshüter. Lorenzos Unbedarftheit sollte ihn teuer zu stehen kommen. Die Unterhaltung endete abrupt, weil die Polizei plötzlich einen Einsatz fahren musste. Lorenzo wurde gebeten, sich in den nächsten Tagen erneut im Polizeipräsidium einzufinden.

„Zu einem lockeren Informationsaustausch“, wie man ihm versicherte.

„Lorenzo, was hast du den Bullen nur für einen Scheiß erzählt?“, fragte Domenico.

Domenico machte Lorenzo Vorwürfe, dass er der Polizei schamlose Lügen aufgetischt hätte.

„Du hast mal wieder übertrieben! Wenn sie dahinter kommen, wirst du am Ende Schwierigkeiten bekommen.“

„Fantasie und Intuition!“ versicherte Lorenzo als würde das zu seinem Tagesgeschäft gehören. „Jetzt ist es zu spät, sie haben schon angebissen“, sagte er im Brustton der Überzeugung, als hätte er gerade ein neues Verwirrspiel erfunden.

Vor dem Präsidium warteten Domenico und Lorenzo auf den versprochenen Dienstwagen, der sie nach Hause bringen sollte.

„Mein Gott, wie kann doch frische Luft so wohltuend sein“, sagte Domenico erleichtert.

„Die Sonne versteckt sich gerade hinter den Wolken“, meinte Lorenzo.

„Warte ab, gleich wird es wieder regnen, ich spüre es.“

Lorenzo wurde nach einer Viertelstunde vergeblichen Wartens ungeduldig.

„Was ist los, die zugesagte Fahrbereitschaft der Polizei streikt wohl wieder?“

Domenico glaubte zu wissen, wem er diese Schikane zu verdanken hatte. Er dachte an eine Retourkutsche des protokollierenden Beamten. Er sollte mit seiner Vermutung Recht behalten, denn das Bereitschaftsfahrzeug der Polizei war in Wirklichkeit überhaupt nicht angefordert worden.

„Komm, Domenico, lass uns zu Fuß gehen, wir nehmen eine Abkürzung, dann müssen wir auch nicht zu viele Schadstoffe inhalieren.“

Kaum hatten sie die ersten Straßenkreuzungen überquert, begann es auch schon zu regnen. Lorenzo bat Domenico, stehenzubleiben, er bewegte sich hin zur Straßenmitte und hielt Ausschau nach einem freien Taxi. Aus einer Seitenstraße hörte Domenico ein heranbrausendes Leichtmotorrad. Lorenzo rief ihm etwas zu, was Domenico aber wegen des Motorenlärms nicht verstehen konnte. Er war sichtlich irritiert. Diese Straße war ihm nicht vertraut. Er wusste nicht, in welche Richtung er sich bewegen sollte. Er kannte keine Orientierungs- und Markierungspunkte, denen er sich hätte anvertrauen können. Das Motorengeräusch kam näher und näher und wurde immer intensiver. Stimmengewirr und das warnende Geschrei wildfremder Menschen hallten über die Straße. Hastig glitt Domenicos Blindenstock über den glatten Asphalt. Erst fühlte er eine Rinne und dann eine aufsteigende Bordsteinkante. Der Untergrund mit all seinen Unebenheiten drang bis in seine Fingerspitzen. Bei Angst erstarrt man und verliert die Kontrolle über sein Handeln. Domenico dagegen spürte instinktiv eine Art von Gefahr, die er noch nicht kannte. All‘ seine Sinne schlugen Alarm. Er hatte ein Gefühl, als ob er festkleben und der Boden unter seinen Füßen brennen würde. Für einen kurzen Augenblick war er völlig orientierungslos.

In seiner Lage sah er nur einen einzigen Ausweg. Beim Herannahen des Motorengeräusches setzte Domenico zu einem katzenhaften Sprung an. Wie der Torwart beim Elfmeter flog er mit einem halsbrecherischen Satz zur Seite. Dabei touchierte er mit dem Kopf die Schaufensterscheibe eines Juwelierladens. Sein Blindenstock flog durch die Luft und landete vor den Füssen eines Passanten. Das Letzte, an was er sich erinnern konnte war ein Riesenkrach und das laute Aufheulen einer Alarmanlage. Aber nicht Domenico hatte den Alarm ausgelöst, sondern ein herrenloses Motorrad, das mit hoher Geschwindigkeit die Schaufensterscheibe zertrümmert hatte. Von dem Fahrer fehlte allerdings jede Spur, er war in der Zuschauermenge untergetaucht und spurlos verschwunden. Lediglich eine kleine Blutlache war zurückgeblieben, die, wie sich später herausstellte, fälschlicherweise Domenico zugeordnet wurde.

Es verging einige Zeit, bis sich Domenico wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Lorenzo hatte alles mitverfolgt, ohne dass er helfend eingreifen konnte. Ohne weitere Zeit zu verlieren, hatte er Domenico in die Notaufnahme des nächst gelegenen Krankenhauses bringen lassen. Domenicos Gesichtsverletzungen, Schnittwunden und Quetschungen waren nicht zu übersehen.

Bei der Anamnese sagte der aufnehmende Arzt:

„Das sieht mir aber nicht nach einem Unfall aus, eher, als ob jemand Schulden bei Ihnen eintreiben wollte.“

Die Ergebnisse der durchgeführten Röntgenaufnahmen erfuhr Domenico erst bei der morgendlichen Visite. Der Arzt versuchte den Patienten zu beruhigen:

„Sie haben Glück, Herr Escudero, dass Sie nichts gebrochen haben. Mit einem leichten Schädel-Hirn-Trauma, Schürfwunden, Prellungen und einer Beule am Kopf sind Sie noch glimpflich davon gekommen. Mit den Prellungen, das dauert eine Weile. Schonen Sie sich! Unglücklicherweise müssen Sie mit den Schmerzen leben. Warum ich Ihnen bestimmte Medikamente nicht geben darf, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, das wissen Sie bestimmt?“

Domenico stellte sich ahnungslos und schüttelte den Kopf. Der Arzt nahm eine kleine Plastiktüte und hielt sie ihm direkt vor die Nase und sagte:

„Und das, was ich hier in meiner Hand halte, ist ihr Pausenbrot, nicht wahr? Mann, Sie scheinen ja ‚Speed’ einzuwerfen, wie andere Süßigkeiten. Und jede dieser Kugeln hier enthält 1 Gramm reines Kokain.“

Der Arzt bewegte mit seiner linken Hand das Plastiktütchen hin und her und machte Domenico darauf aufmerksam, dass er den Fund anzeigen werde.

„Außerdem haben wir diese bunten Pillen bei Ihnen gefunden, die haben Sie auch nicht auf Rezept bekommen - das sind eindeutig illegale Narkotika!“

Domenico fühlte sich wegen der Drogen entlarvt und kam sich deutlich schäbig vor.

Er beteuerte:

„Herr Doktor, ich habe mein Leben im Griff - machen Sie sich wegen mir keine Sorgen!“

„Ja, ja, das kenne ich schon zur genüge, das sagen die anderen auch immer und am Ende landen Sie in der Rechtsmedizin“, konterte der Arzt.