Mahl und Kanon - Matthias Klinghardt - E-Book

Mahl und Kanon E-Book

Matthias Klinghardt

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Beschreibung

Matthias Klinghardts gesammelte Aufsätze zum Thema "Mahl" sind wegweisende Beiträge zu den historischen und ritualgeschichtlichen Hintergründen des christlichen Abendmahls. Sie eröffnen völlig neue Deutungsansätze und eine adäquate kontextuelle Einordnung der sogenannten "Einsetzungsworte" im Neuen Testament. Die unter dem Stichwort "Kanon" zusammengestellten Aufsätze bieten eine neue Perspektive auf die Literaturgeschichte des frühen Christentums und stellen alte Überzeugungen in Frage.

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Matthias Klinghardt

Mahl und Kanon

Gesammelte Aufsätze zum 65. Geburtstag

herausgegeben von Jan Heilmann und Kevin Künzl

DOI: https://doi.org/10.24053/9783772057793

 

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0939-5199

ISBN 978-3-7720-8779-0 (Print)

ISBN 978-3-7720-0219-9 (ePub)

Inhalt

Matthias Klinghardt zu seinem ...Akademischer WerdegangMahl und KanonMahlKanonEinheit und Vielfalt1 Frühchristliche Mahlfeiern: Einheit der Praxis – Vielfalt der Deutungen2 Das Neue Testament: Einheit des Kanons – Vielfalt der Schriften und ihrer Rezeption3 Vergleichende und übergreifende GesichtspunkteIm Anfang war – alles ein wenig anders1. Methodologie – Quellen und Kohärenz2. Historizität – Nähe und Distanz3. Autorität – Macht und LegitimationCodaKlinghardts Begriff der Echtheitsfiktion, Dr. Watsons Sherlock Holmes und die Struktur des Ersten JohannesbriefesOuvertureCappricioMenuettPassepiedSarabandePolonaiseGigueMahlThe Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations1QS as a Statute of an AssociationThe Yachad as a Synagogue CommunityReferencesSünde und Gericht von Christen bei PaulusI.II.III.IV.„Nehmt und eßt, das ist mein Leib!“ Mahl und Mahldeutung im frühen ChristentumAntike Vereinsmähler und der Ursprung des christlichen MahlsPagane und christliche Deutungen des GemeinschaftsmahlsEinsetzungsberichteTanz und Offenbarung1. Zur Fragestellung2. Sympotischer Gottesdienst und Tanz3. Tanz, Gebet und Inspiration4. Einige ErgebnisseLiteraturGemeindeleib und Mahlritual1. Das Mahlritual und seine Probleme2. Die Mahlteilnehmer als Ein Leib3. Mein Leib für euch4. Die Unverfügbarkeit der Gemeinschaft im RitualLiteraturverzeichnisBund und Sündenvergebung1 Das Mahl in ritueller Praxis und narrativem Diskurs2 „Trinkt alle daraus!“: Die rituelle Funktion des Gemeinschaftsbechers3 „Dies ist mein Bundesblut“4 „Zur Vergebung der Sünden“5 Mahlpraxis und Mahldiskurs: Einige ErgebnisseLiteraturDer vergossene BecherI. Eine Fehlübersetzung und ihre GründeII. Das Vergießen des Bechers: Ritual und RitualanalyseIII. Lk 22,20b als Deutung der LibationKanonBoot und BrotI. Zur Kompositionsanalyse im MarkusevangeliumII. BootIII. BrotIV. SchlussZusammenfassung„Gesetz“ bei Markion und LukasIIIIIINatürlich, eine alte Handschrift! Die Briefe des Apostels Paulus im Codex Boernerianus1 Einleitung2 Beschreibung3 Geschichte der Handschrift4 Die Glossen des Boernerianus5 Die Familie des Boernerianus: D F G6 Zweisprachige Bibelausgabe7 Worttrennung8 AusblickLiteraturLegionsschweine in GerasaI. FragestellungII. GerasaΙΙΙ. Ertrinkende SchweineIV. Das Profil der ErzählungErlesenes Verstehen1. Wie Lesen bildet2. Explizite Leser als Hörer Jesu: Mt3. Implizites Lesen und Verstehen: Mk4. Metaphernspiel und Konsistenzbildung: Leseleistungen5. Kanonisches Lesen und VerstehenDas Aposteldekret als kanonischer IntegrationstextI. Der historische Ort des AposteldekretsII. Die kanonische Dimension des AposteldekretsIII. Das Aposteldekret als kanonischer IntegrationstextLiteraturInspiration und FälschungI. Evidenz und Plausibilität: Zur Rationalität der InspirationII. Kanon und TranszendenzIII. Inspiration und redaktionelles KonzeptIV. Redaktionelles Konzept und literarische FälschungV. Das Transzendenznarrativ der Kanonischen Ausgabe: Einige KonsequenzenDie Schrift und die hellen Gründe der textkritischen VernunftI. Textkritik: Woher kommen die Varianten?II. Sekundäre Entstehung der Varianten? Die „Western Non-Interpolations“ als TestfallIII. Analogie von Text- und Überlieferungsgeschichte: Eine vereinheitlichende RedaktionIV. Der älteste Text oder der Text des Neuen TestamentsV. Auf dem Weg zu einer textgeschichtlichen TheorieAbraham als Element der Kanonischen Redaktion1 Abraham in der Marcionitischen und in der Kanonischen Ausgabe2 Abrahamskindschaft3 Abrahams Glaube und seine Werke der Gerechtigkeit4 Einige ErgebnisseLiteraturÜberlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien1 Die These2 Die Mcn-Priorität vor Lk3 Die Mcn-Priorität und die Überlieferungsgeschichte der Evangelien4 Einige SchlussfolgerungenBibelstellenregisterAltes TestamentNeues Testament

Matthias Klinghardt zu seinem 65. Geburtstag als Dank für sein außergewöhnliches Werk und seine inspirierende Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses

© TUD, Jana Hartmann

Akademischer Werdegang

1957

geboren in Waldshut/Hochrhein (Baden);

verheiratet, drei Kinder

1976 bis 1982

Studium der Evangelischen Theologie in Wuppertal, Tübingen und Heidelberg;

Erste Kirchliche Dienstprüfung bei der Evangelischen Landeskirche in Baden

1986

Promotion an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Heidelberg bei Klaus Berger mit einem Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes

1988 bis 1989

Assistant Professor am Deptartment of Religious Studies der Rice University, Houston, TX

1989 bis 1998

Wissenschaftlicher Assistent und Oberassistent in Augsburg am Lehrstuhl für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Biblische Theologie

1994

Habilitation an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Heidelberg für das Fach ‚Neues Testament‘

seit 1998

Professor für Biblische Theologie am Institut für Evangelische Theologie der TU Dresden

Mahl und Kanon

Jan Heilmann / Kevin Künzl

Der vorliegende Sammelband dient der Würdigung von Matthias Klinghardt und seines Beitrages für die Neutestamentliche Wissenschaft zu seinem 65. Geburtstag. Er vereint unter der Überschrift ‚Mahl und Kanon‘ 17 Aufsätze des Jubilars, die zwischen 1994 und 2019 erschienen sind. ‚Mahl und Kanon‘ benennen gewiss die beiden Hauptsäulen des Werkes von Matthias Klinghardt, auch wenn es sich freilich nicht in diesen beiden Themenbereichen erschöpft. Wichtige Aufsätze zu Sexualität und Geschlechtlichkeit im frühen Christentum,1 zur Zeitdeutung der Apokalypse,2 zur Auferstehung bei Paulus3 und zu weiteren zentralen Fragen der biblischen Exegese bleiben wegen der bewusst gewählten thematischen Zuspitzung dieses Bandes außen vor, obgleich ihnen die gleiche Ehre eines Wiederabdrucks gebühren würde. Zwei Publikationen zum Themenkomplex ‚Mahl‘ konnten aufgrund von erheblichen Lizenzgebührforderungen durch Springer Nature ebenfalls nicht aufgenommen werden.4

Im Zuge des Wiederabdrucks wurden möglichst wenige Veränderungen an den Beiträgen vorgenommen. Die Seitenangaben der Ursprungspublikation werden jeweils in eckigen Klammern im Text angeführt. Sind Druckfehler während der Durchsicht aufgefallen, wurden diese stillschweigend korrigiert. Trotz aller Sorgfalt besteht jedoch die Gefahr, dass bei der Formatierung der Beiträge für den vorliegenden Sammelband neue Fehler entstanden sind und bei den Korrekturarbeiten übersehen wurden. Diese liegen in der Verantwortung der Herausgeber.

Neben diesem Editorial sind den gesammelten Aufsätzen drei einleitende Beiträge vorangestellt, die das Klinghardtsche Werk zu Mahl und Kanon in je unterschiedlicher Perspektive in den Blick nehmen und dessen Implikationen nicht nur für die Exegese, sondern auch für die Theologie insgesamt aufzeigen. Günter Röhser erschließt unter dem Titel Einheit und Vielfalt. Historische und hermeneutische Prozesse am Anfang des Christentums und ihre aktuelle Bedeutung die Grundstrukturen des Werkes des Jubilars, indem er die wiederabgedruckten Aufsätze zu den drei großen Monographien als Ausgangs‑ und Kristallisationspunkte in Beziehung setzt. Christian Schwarke betrachtet unter dem Titel Im Anfang war – alles ein wenig anders zentrale Aspekte des Werkes von Matthias Klinghardt aus systematisch-theologischer Perspektive, führt aus, warum die Thesen Klinghardts im fachwissenschaftlichen Diskurs nur zögerlich aufgenommen werden, und ordnet die Bedeutung der Thesen für die Theologie im Gesamten ein. Der Beitrag von David Trobisch knüpft unter dem Titel Klinghardts Begriff der Echtheitsfiktion, Dr. Watsons Sherlock Holmes und die Struktur des Ersten Johannesbriefes inhaltlich an die Überlegungen des Jubilars zum Metanarrativ der ‚Kanonischen Ausgabe‘ des NT an und arbeitet anhand der johanneischen Schriften unterschiedliche Ebenen literarischer Fiktion heraus. Seine Analysen münden in einem pointierten Fazit dazu, wer für die Herausgabe der editio princeps des NT im 2. Jh. verantwortlich sein könnte – und sie zeigen, was das Vorgehen der Herausgeber des NT mit Dr. Watson und Arthur Conan Doyle gemeinsam hat.

Mahl

In seinem ersten Aufsatz zum Mahl The Manual of Discipline in the Light of Statues of Hellenistic Associations, der noch vor der Habilitationsschrift „Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft“1 erschien, zeigt der Jubilar an Hand von Parallelen zwischen der Gemeinderegel (1QS) und den Statuten hellenistischer Vereine, dass die Gruppe im Hintergrund dieses Textes als antiker Verein zu verstehen sei; die These unterschiedlicher organisationaler Strukturen zwischen antiken Vereinen und der Gruppe hinter 1QS kann unter Berücksichtigung einer breiteren Quellenbasis zu antiken Vereinen nicht aufrecht erhalten werden. Daraus folgt: Statt als ‚Sekte‘ mit koinobitischer Lebensweise, die erst deutlich später in den Quellen fassbar wird, ist die Gruppe im Hintergrund von 1QS als Synagogengemeinde im palästinischen Raum zu verstehen.

Bei Sünde und Gericht von Christen bei Paulus ist der Bezug zum Mahl zwar nicht unmittelbar ersichtlich, die große Bedeutung der Gerichtsthematik in 1Kor 111Kor11, die im Rahmen dieses Aufsatzes thematisiert wird, macht aber die Relevanz des Aufsatzes für den Themenkomplex deutlich. Der Aufsatz adressiert das Problem, wie sich mögliche Sünden von Christen bei Paulus einerseits zur Rechtfertigung und andererseits zu Gerichtsvorstellungen verhalten. Der Jubilar setzt sich hier kritisch mit zwei Modellen auseinander, die dieses Problem zu lösen versuchen: einer Sündlosigkeitstheorie, die von einer „faktischen Abwesenheit von Sünden bei Christen“ (57/93) ausgeht, und der lutherischen Position des simul iustus et peccator. Wie Klinghardt zeigt, werden beide Modelle dem Textbefund nicht gerecht. Anhand der Auslegung des Zusammenhangs von Verfehlungen von Christen einerseits und ihrem Gerichtet-Werden andererseits in 1Kor 3,5–151Kor3,5–15, 1Kor 51Kor5 und 1Kor 111Kor11 wird aufgezeigt, dass Paulus zwei Gerichtsinstanzen unterscheidet: das Endgericht mit der Funktion der Verurteilung, das bis auf Apostaten nur die Heiden betrifft, und das Züchtigungsgericht mit erzieherischer Funktion für Juden und Christen, das durch „die Bestrafung in der Zeit vor der endgültigen Vernichtung im Endgericht“ (64/100) schützt. Eine ausführliche traditionsgeschichtliche Analyse, welche die Vorstellung eines Züchtigungsgerichtes nachweist und es erlaubt, Zorngericht und eschatologische Rettung zu harmonisieren, unterstützt diese Deutung.

Nehmt und eßt, dies ist mein Leib verdeutlicht, dass das christliche Mahl seinen Ursprung nicht in einem einmaligen Stiftungsakt Jesu hat oder einfach die Mahlpraxis Jesu fortsetzt, sondern im Rahmen der antiken hellenistisch-römischen Mahlkultur zu verorten ist. Das antike Gemeinschaftsmahl war die einzig mögliche Sozialform, um sich als Gruppe zu treffen – auch im Judentum des hellenistischen Kulturraums. Der Beitrag skizziert die herausragenden Charakteristika der antiken Gemeinschaftsmahlpraxis: den besonderen Raum mit Liegen, die zumeist als Triklinium angeordnet waren; die Möglichkeit der Erweiterung des Mahles bei größeren Gruppen durch die Hinzufügung weiterer Triklinien; die distinkte dreiteilige Form bestehend aus Mahl (Deipnon), religiös aufgeladener Übergangszeremonie (Libation) und anschließendem Gelage bei Wein mit Unterhaltung und Gespräch (Symposion); die mit dem Gemeinschaftsmahl verknüpften Werte (Friede, Eintracht, Freundschaft, Gleichheit), die es zu einer ‚konkreten Utopie‘ machten. Am Ende folgt eine knappe Interpretation der sog. ‚Einsetzungsworte‘ als Deuteworte des frühchristlichen Gemeinschaftsmahles, die in zwei weiteren Aufsätzen elaboriert wird (s. u.).

In Tanz und Offenbarung plausibilisiert der Jubilar die Praxis des Tanzens im Kontext der frühchristlichen Mahlpraxis und weist die These eines späteren Eindringens des Tanzes in das Christentum zurück, der „mit dem Deprivationsschema vom reinen Ursprung hin zur Kontamination durch pagane Bräuche ein erkennbar unhistorisches Geschichtsbild“ (10/149) zugrundeliegt. Als wichtige Evidenz wertet er neben den Quellen zu antiken Symposien die bei Philo beschriebene Praxis des gottesdienstlich-sympotischen Tanzes der Therapeuten aus, die rezeptionsgeschichtlich von Euseb als christlich identifiziert wird, und die Johannesakten, die den engen Bezug von Hymnodie und Tanz bezeugen. Die besondere Bedeutung des Tanzes ist darin zu sehen, dass er „religiöse Erfahrung in besonderer Weise vermittelt und so Inspiration und Offenbarung bewirkt.“ (30/170)

Die drei Aufsätze Gemeindeleib und Mahlritual, Bund und Sündenvergebung und Der vergossene Becher vertiefen und modifizieren die Deutung der sog. ‚Einsetzungsworte‘ und zeigen, dass deren unterschiedliche Fassungen innerhalb des NT nicht jeweils einfach das Gleiche mit leicht veränderten Worten aussagen, sondern in ihrem literarischen Kontext je ganz unterschiedlich zu verstehen sind.

Gemeindeleib und Mahlritual plausibilisiert die ekklesiologische Deutung von τὸ σῶμα (Leib) in 1Kor 10f.1Kor10f. „Dies ist mein Leib“ referenziert nicht den Leib des Gekreuzigten, sondern bezieht sich auf die Austeilung des als Besteck dienenden Brotes nach dem einleitenden Mahlgebet. Mit τὸ σῶμα wird in diesem Zusammenhang die Gemeinschaft der Mahlteilnemer als ‚Leib Christi‘ gedeutet. Diese Deutung liegt einerseits nahe in Bezug auf das argumentative Gefälle in 1Kor 11, in dem das soziale Problem von Spaltungen in der Mahlgemeinschaft im Zentrum steht. Andererseits wird ‚Leib‘ auch sonst im 1Kor häufig ekklesiologisch verwendet (s. insb. 1Kor 121Kor12, aber auch in 1Kor 101Kor10). 

Bund und Sündenvergebung widmet sich dem matthäischen Becherwort (Mt 26,27–29Mt26,27–29), das als Teil des Mahldiskurses zu verstehen sei, nicht als Teil des Rituals selbst, und interpretiert dessen einzelne Konstitutenten. Die Aufforderung „Trinkt alle daraus!“ zeigt laut Klinghardt, dass das matthäische Becherwort einen in sympotischem Rahmen getrunkenen Gemeinschaftsbecher deutet. Konkret handelt es sich um eine besondere Form des in den Quellen breit bezeugten Proposis-Rituals, das üblicherweise aus mehreren Bechern, zur besonderen Betonung der Gemeinschaft, aber gelegentlich auch aus einem einzigen Becher getrunken werden konnte. Das Blut steht im matthäischen Becherwort (wie auch bei den anderen neutestamentlichen Deuteworten über dem Becher) nicht metonymisch für den Wein, sondern ist in Bezug auf Ex 24,8Ex24,8 zu verstehen: „Mein Blut des Bundes“ meint, dass Jesus seinen Bund analog zum Sinaibund schließt. „So, wie die Besprengung mit Blut die Israeliten zu Bundespartnern macht und sie als ein Volk konstituiert, so konstituiert das gemeinsame Trinken der Proposis eine Beziehung zwischen den Jüngern.“ (178/205, Herv. im Original). Das Partizip ἐκχυννόμενον referenziert nicht den gewaltsamen Tod Jesu, sondern meint das Ausschenken des Bechers durch den matthäischen Jesus, wobei περὶ πολλῶν/„für viele“ als ein Hinweis zu verstehen ist, „der die erzählte Zeit übersteigt und auf die Zeitebene der impliziten Leser verweist: Noch viele andere können dazukommen.“ (179/207). „Zur Vergebung der Sünden“ bedeutet entsprechend des matthäischen Konzeptes von Sündenvergebung als Vollmacht, die durch den Menschensohn von Gott zu den Menschen verlagert wird, die Vergebung der Sünden der Mahlteilnehmer untereinander. Der Proposis-Becher konstituiert dementsprechend eine „Sündenvergebungsgemeinschaft“.

Der vergossene Becher untersucht das Becherwort im lukanischen Mahlbericht. Der Beitrag nimmt Beobachtungen zur Fehlübersetzung des Partizips ἐκχυννόμενον zum Ausgangspunkt, das sich, anders als zumeist angenommen wird, nicht auf das Blut bezieht, sondern grammatisch eindeutig auf den Becher. Vor dem Hintergrund ritualgeschichtlicher Analogien wird deutlich, dass im lukanischen Becherwort tatsächlich der Becher ausgegossen wird. Dies steht sowohl in struktureller Kongruenz zum Ablauf des antiken Gemeinschaftmahles als auch in thematischer Kongruenz zum Inhalt des Textes. Denn die Libation war in der Antike ein zentrales Vertragsabschlussritual.

Kanon

Im ersten Beitrag der Rubrik ‚Kanon‘ mit dem Titel Boot und Brot zeichnet der Jubilar zwei prominente Erzähllinien innerhalb des MkEv anhand der beiden titelgebenden Leitbegriffe nach. Für beide Leitbegriffe werden weitere, symbolische Konnotationen neben der eigentlichen denotativen Bedeutung plausibel gemacht: ‚Boot‘ steht in Mk 3,7–8,21Mk3,7–8,21 einerseits für den Rückzug von der Menge und die exklusive Gemeinschaft der Jünger mit Jesus, andererseits ist es mit Gefährdung konnotiert, die das Ergebnis des – tatsächlichen wie sprichwörtlichen – Aufbruchs zu neuen Ufern ist. ‚Brot‘ dient demgegenüber als Metapher für die Lehre Jesu sowie als Bild für soziale Einheit. Obwohl ‚Boot und Brot‘ kein Aufsatz zum Thema ‚Kanon‘ im eigentlichen Sinn ist, steht er exemplarisch für Klinghardts Ansatz, die neutestamentlichen Texte als bewusst und kunstvoll komponierte Literatur ernst zu nehmen: ein Ansatz, der gerade auch für seine Perspektive auf das Neue Testament als ‚Kanonische Ausgabe‘ bestimmend ist.

„Gesetz“ bei Markion und Lukas ist der erste Aufsatz des vorliegenden Bandes, in dem der Jubilar explizit für die Priorität des für Marcion bezeugten Evangeliums gegenüber dem LkEv argumentiert. Der Beitrag stellt heraus, dass die klassischerweise für Marcion angenommene ‚antinomistische‘ Redaktion von Lk inkohärent ist: Auch im für Marcion bezeugten Evangelium finden sich positive Referenzen auf das Gesetz. Im LkEv sind die Hinweise auf ‚Gesetz und Propheten‘ allerdings zahlreicher. Zudem zeigen die zusätzlichen Stellen in Lk ein einheitliches Profil, das in auffälliger Weise mit der Apg kongruiert. Auf dieser Grundlage argumentiert Klinghardt, dass das für Marcion bezeugte Evangelium gerade nicht per se ‚antinomistisch‘ ist, das lukanische Doppelwerk dagegen sehr wohl ‚antimarcionitisch‘. Eine marcionitische Rezension des LkEv sei folglich deutlich unwahrscheinlicher als die umgekehrte Annahme einer lukanischen Rezension des für Marcion bezeugten Evangeliums.

In Natürlich, eine alte Handschrift widmet der Jubilar sich einer der außergewöhnlichsten Handschriften in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden: dem Codex Boernerianus (G 012). Auf prägnante Art referiert der Beitrag die wechselvolle Geschichte dieser Paulusbriefehandschrift, die überraschend viele Anekdoten bereithält. Aus der Perspektive von Klinghardts Forschungen zum Komplex ‚Kanon‘ ist der Codex Boernerianus besonders deshalb interessant, weil er einen der herausragenden Repräsentanten des sog. ‚Westlichen Textes‘ des NT darstellt (nach seinem Hauptzeugen auch ‚D-Text‘ genannt). Diese Textform, so eine These, die Klinghardt anderswo ausführlich darlegt,1 bewahre besonders viele ‚vorkanonische‘ Textvarianten, d. h. Lesarten, die vor die Entstehung der editio princeps des NT im 2. Jh. datieren.

Auch der nächste Beitrag Legionsschweine in Gerasa befasst sich nicht unmittelbar mit dem Thema ‚Kanon‘. Vielmehr bietet der Artikel eine Auslegung des ‚auffälligen‘ Exorzismus des Geraseners in Mk 5,1–20Mk5,1–20, dessen wildem, ‚Legion‘ genannten Dämon von Jesus bekanntlich gestattet wird, in eine Schweineherde zu fahren, die sich daraufhin spontan im See ertränkt. Klinghardt deutet diese Erzählung als Reflex auf die Truppenpräsenz der Legio X Fretensis in und um Gerasa, die wahrscheinlich für die späten 80er Jahre n. Chr. anzunehmen ist. In seiner Argumentation skizziert er, dass die LegioX Fretensis neben dem bekannten Legionseber auch diverse maritime Symbolik in Anspruch nahm, was den Bezug zu Mk 5,1–20Mk5,1–20 zusätzlich plausibilisiert. Hinsichtlich Klinghardts Arbeit zum neutestamentlichen Kanon – insbesondere zur Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien – ist wichtig, dass die Austreibung des Legionsdämons in Gerasa auch im für Marcion bezeugten Evangelium enthalten ist (*8,26–37Lk8,26–37). Im Rahmen seines überlieferungsgeschichtlichen Modells dient die Truppenpräsenz der X Fretensis in den späten 80er Jahre n. Chr. damit als terminus post quem der Entstehung des für Marcion bezeugten Evangeliums – und damit zugleich als terminus post quem für das Einsetzen jenes Überlieferungsprozesses, der im kanonischen Vier-Evangelien-Buch mündet.2

In Erlesenes Verstehen fragt der Jubilar nach der „impliziten Didaktik“, mittels derer in den unterschiedlichen Evangelien bei den Lesern Verstehensprozesse angeregt und gesteuert werden sollen. Sein Hauptaugenmerk richtet Klinghardt auf die jeweiligen Konzepte von Mt und Mk: Während das MtEv auf Eindeutigkeit bedacht ist, die Autorität eines Jüngers (Matthäus) beansprucht und die Leser in eine „genau zugewiesene Hörerrolle“ (35/360) versetzt, gewährt das MkEv mit seinen Ambivalenzen und Unverständnisszenen deutlich mehr hermeneutischen Freiraum, verlangt aber auch mehr Kompetenz von seinen Lesern und ist auf mehrfache Lektüre hin angelegt. Da Mt und Mk handschriftlich indes durchweg als die ersten beiden Bücher des kanonischen Vier-Evangelien-Buchs überliefert sind, könnten, so Klinghardt, beide Konzepte allerdings erst im Gespräch miteinander angemessen gewürdigt werden. So zeige sich erst auf der Ebene der Lesersteurung der ‚Kanonischen Ausgabe‘ beispielsweise, dass der Geltungsanspruch und die Klarheit des MtEv „[…] als Propädeutik für die elitären Interpretationsaufgaben, die Mk den Lesern abverlangt,“ (35/360) dient.

In Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext beschreibt der Jubilar Apg 15Apg15 als Text mit einer besonderen hermeneutischen Funktion für die ‚Kanonische Ausgabe‘ des NT. Ausschließlich die Darstellung des ‚Apostelkonzils‘ sowie des zugehörigen Dekrets in Apg 15 mache es möglich, das Zerwürfnis zwischen Paulus und Petrus/Jakobus in Gal 2,11ff.Gal2,11ff. im kanonischen Rahmen lediglich als einen ‚Zwischenfall‘ zu deuten. Ohne die Apg bliebe die Spannung ungelöst. Einen spezifischen Gemeinsinn stifte das Dekret zudem nicht aufgrund seiner denkbar allgemein gehaltenen Forderungen an das christliche Sozialverhalten, sondern mittels seiner ausführlichen Begründungsstrukturen (Autorität der Apostel als historisch klar umrissene Größe; hermeneutische Funktion der Pneumatologie in Bezug auf das christologische Verständnis der jüdischen Schriften; Rekurs auf das Gesetz des Mose), die Klinghardt als dezidiert antimarcionitisch versteht. Demzufolge sei das Aposteldekret als ein Text der ‚Kanonischen Redaktion‘ des NT zu verstehen und datiere in die Mitte des 2. Jh.

Auch in Inspiration und Fälschung knüpft Klinghardt an die These einer editio princeps des NT im 2. Jh. an, indem er die Inspirationsaussagen in 2Tim 3,162Tim3,16 und 2Petr 1,20f.2Petr1,20f. als einen Teil des Metanarrativs dieser Ausgabe deutet. Dieses ziele nämlich nicht allein auf die Konstruktion einer Geschichte der Entstehung der frühesten Kirche im Zeitalter der Apostel ab: Da die Inspirationsaussagen sich in erster Linie auf die Schriften Israels beziehen und die ‚Kanonische Ausgabe‘ das Alte Testament als ihren ‚ersten Band‘ mit beinhaltete, werde das ‚katholische‘ Christentum vor allem in eine bereits bestehende, umfassende Heilsgeschichte eingeschrieben. Als einen zentralen Gewinn der Verortung der Inspirationsaussagen des NT auf der Ebene der ‚Kanonischen Redaktion‘ im 2 Jh. formuliert Klinghardt, dass ihre Entstehung erst auf diese Weise als Teil christlicher Identitätsbildung historisch greifbar wird.

In Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft setzt der Jubilar sich mit den oft impliziten text‑ und überlieferungsgeschichtlichen Prämissen der Textkritik auseinander. Besonders kritisiert wird das Fehler einer plausiblen Theorie zur Entstehung größerer, sinnverändernder Varianten. Das übliche Konzept einer endlosen Reihe einzelner und zufälliger ‚Textwucherungen‘ sei historisch nicht haltbar, da zahlreiche Hinweise auf größere, redaktionelle Eingriffe in den Text des NT diesem Bild widersprächen. Mit dem Modell einer editio princeps des NT im 2. Jh. stehe hingegen ein historisch plausibles Modell zur Verfügung, das die Aporien, vor denen das ‚Wucherungsmodell‘ insbesondere bei substantiellen Textvarianten steht, vermeidet. Es sei die Aufgabe der Textkritik, so Klinghardt, ihre Methodologie unter diesen Vorzeichen zu erneuern.

Der Aufsatz Abraham als Element der Kanonischen Redaktion nimmt die Unterscheidung einer für Marcion bezeugten Ausgabe von 10 Paulusbriefen und einem anonymen Evangelium und der ‚Kanonischen Ausgabe‘ des NT zum Ausgangspunkt. Anhand des Vergleichs der mentiones Abrahae in beiden Ausgaben plausibilisiert Klinghardt ein kohärentes redaktionelles Konzept der ‚Kanonischen Ausgabe‘ und zwar entlang der Motive ‚Abrahamskindschaft‘ und ‚Glaube/Gerechtigkeit Abrahams‘. Die Ausführungen münden in die These, dass die Abrahamstraditionen in der ‚Kanonischen Ausgabe‘ ganz gezielt dazu genutzt werden, das historisch zerrüttete Verhältnis von Paulus und Jakobus auf der Ebene des kanonischen Metanarrativs einzuhegen.    

Einen Überblick über die synoptische Theorie unter der Annahme der Priorität des für Marcion bezeugten Evangeliums, die der Jubilar in seinem opus magnum ausführlich dargelegt hat,3 bietet der Aufsatz Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien. In einem ersten Schritt wird die Marcion-Priorität anhand des Quellenbefundes bei Tertullian sowie anhand einer stichprobenartigen Analyse der Bearbeitungsrelation zwischen *Ev/Mcn und Lk begründet. In einem zweiten Schritt folgt die Analyse der Bearbeitungsrelationen zu Mk und Mt sowie zu Joh. Am Ende des Beitrags stehen Schlussfolgerungen zur Leistungsfähigkeit des Modells, das Übereinstimmungen von Mt und Lk gegen Mk einfacher erklären kann, die Probleme der ‚Marcan Priority Without Q‘-Hypothese umgeht und Joh in das Modell mit integriert. Zudem werden grundsätzliche Konsequenzen mit Blick auf methodische Fragen, den schriftlichen Charakter der Evangelienüberlieferung und theologische Implikationen gezogen.

 

***

 

Ohne die Zuarbeit und Unterstützung von allen Seiten wäre der vorliegende Band nicht realisierbar gewesen. Unser Dank dafür gilt zuerst den Institutionen und Verlagen, die dem Wiederabdruck der bei ihnen erschienenen Aufsätze des Jubilars zugestimmt haben: der Theologischen Hochschule Friedensau, der Theologischen Fakultät der HU Berlin, der TU Dresden, der New York Academy of Sciences sowie den Verlagen De Gruyter, Mohr Siebeck, Vandenhoeck & Ruprecht und Penguin Random House. Gesondert hervorzuheben ist die Kooperation mit Narr Francke Attempto, die nicht nur dem Wiederabdruck mehrerer Aufsätze zugestimmt haben, sondern auch der Publikation des vorliegenden Bandes in ihrem Haus. Besondere Erwähnung verdient die ausgezeichnete Zusammenarbeit mit Stefan Selbmann, der die Realisierung des Buchprojektes begleitet hat. Weiterhin gebührt Dank den Herausgebern der Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter (TANZ), Günter Röhser, Stefan Schreiber und Manuel Vogel, in deren Reihe sich der Band fraglos in angemessener Gesellschaft befindet. Bei Günter Röhser, David Trobisch und Christian Schwarke bedanken wir uns dafür, dass sie zu Ehren des Jubilars jeweils einen Beitrag für den Einleitungsteil dieses Sammelbandes beigesteuert haben. Zuletzt wären die zahlreichen Korrektur- und Formatierungsarbeiten, die bei einem so umfangreichen Buchprojekt anfallen, nicht ohne die Unterstützung der Mitarbeiter und Hilfskräfte in Dresden, Lena Creutz und Adriana Zimmermann, und München, Fiodar Litvinau, Ulrike Meinhold und Nathalie Schuler, zu bewerkstelligen gewesen. Ihnen gilt ebenfalls unser ganz ausdrücklicher Dank.

Einheit und Vielfalt

Historische und hermeneutische Prozesse am Anfang des Christentums und ihre aktuelle Bedeutung

Günter Röhser

Unter dieser doppelten Überschrift soll im Folgenden versucht werden, das Werk von Matthias Klinghardt in seinen Grundstrukturen zu erschließen – und zwar unter besonderer Berücksichtigung der in diesem Band versammelten Aufsätze. Dazu reicht es nicht, nur diese Aufsätze zu betrachten, sondern man muss sie in Beziehung setzen zu Klinghardts drei großen Monographien (ich beziehe mich hier im Haupttext auf die jeweiligen Untertitel): die Dissertation über das „lukanische Verständnis des Gesetzes nach Herkunft, Funktion und seinem Ort in der Geschichte des Urchristentums“,1 die Habilitationsschrift zur „Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern“2 und das zweibändige opus magnum, welches die Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Evangelien sowie das Evangelium des Marcion untersucht bzw. rekonstruiert.3 Diese Arbeiten bilden Ausgangs- und Kristallisationspunkte der jeweiligen Fragestellungen und Themen, um die herum sich die Aufsätze gruppieren und in ein Verhältnis dazu – auch im Sinne von Entwicklungen (Korrekturen und Konkretisierungen) – setzen lassen.

1Frühchristliche Mahlfeiern: Einheit der Praxis – Vielfalt der Deutungen

Am besten geht man von jener Einsicht aus, die Klinghardt als „fruchtbarstes Ergebnis“ seiner monographischen Untersuchung zu den frühchristlichen Mahlfeiern festgehalten hat: dass nämlich „Gemeinschaft in der hellenistisch-römischen Antike – und so eben auch im frühen Christentum – auf der Ebene zwischen Familie … und den öffentlichen Institutionen der Stadt … ausschließlich in der Tischgemeinschaft einer zum Mahl versammelten Gruppe möglich und dementsprechend nur hier konkret erfahrbar war. Gemeinschaftsleben ist in der hellenistisch-römischen Antike grundsätzlich Mahlgemeinschaftsleben, Gruppen existieren in ihren Syssitien und Symposien“ (Gemeinschaftsmahl 523f.).1 Dementsprechend folgen auch die christliche Mahlfeier und Gemeindeversammlung dieser gemeinantiken Grundstruktur2 und bauen auch in der Sinndeutung der Versammlung auf den antiken Mahlwerten (festliche Freude, Gleichheit, Frieden, Eintracht, Freundschaft und Harmonie) auf. Dies hat zur Folge, dass für diesen soziologischen Zugang zum Verständnis der frühchristlichen Mahlfeier

das Mahlritual, die äußere Mahlgestalt, der typische feste Ablauf das Primäre ist und die Mahltheologie und das religiöse Selbstverständnis der Gemeinschaft demgegenüber sekundär sind (Form vor Inhalt) – wiewohl sie natürlich darauf zurückwirken;

die vielfältigen theologischen Deutungen sich nicht auf die Mahlelemente (Brot und Wein), sondern auf Teile des Mahlrituals beziehen und mit ihnen verbunden sind.

Umgekehrt bedeutet das, dass die christliche Mahlfeier weder aus religionsgeschichtlichen Analogien oder christlichen Theologumena (z. B. Vorstellungen von göttlicher Präsenz beim Mahl bzw. in den Mahlgaben oder von einem stellvertretenden Sühnetod Jesu) „abgeleitet“ noch auf die punktuelle Einsetzung durch den historischen Jesus zurückgeführt wird. Vielmehr ist Letzteres methodisch unmöglich und eher umgekehrt Jesu mögliche eigene Mahlpraxis Teil des umfassenderen Phänomens.3

Wie sieht nun diese gleichbleibende Grundstruktur des antiken Mahles aus? Sie besteht aus der Abfolge von Mahleröffnung (Austeilung des Brotes), gemeinsamer Mahlzeit, Libation als Abschluss und Übergang zum Folgenden, Symposion. Die Libation ist als Trankspende an die Götter religiös besonders ausgezeichnet (und mit Gebet verbunden) und steht genau an der Stelle, an der bei Paulus im Herrenmahl die Becherhandlung („Segensbecher“ 1Kor 10,16) steht – nämlich nach dem Essen (1Kor 111Kor11,25). Wenn Paulus in 1Kor 11,261Kor11,26 von der „Verkündigung des Todes des Herrn“ spricht, dann bezieht er sich damit auf den Vorgang des Essens und Trinkens, also auf das Mahlritual, und nicht auf die Mahlelemente. Der Ort solcher Mahldeutung sind die Gebete (über Brot und Becher). Durch sie wird die soteriologische Wirkung und pneumatische Qualität des Mahles sichergestellt.4 Auch die sog. Einsetzungsworte deuten nicht die Mahlgaben bzw. eucharistischen Elemente (und werden überhaupt erst ab dem 3. Jahrhundert Teil der Mahlliturgie), sondern sind Teil von Mahldiskursen (d. h. von vielfältigen Argumentationen und Narrationen) zur Deutung des Mahlrituals („Deuteworte“): Die Becherhandlung steht z. B. für den Neuen Bund, das Austeilen des Brotes für die Konstitution der Gemeinschaft; zu deren Vergegenwärtigung und Erneuerung wird das Mahl weiterhin gefeiert bzw. soll das Ritual wiederholt werden.

Bereits vor dem Erscheinen der Monographie hat Klinghardt in einem Aufsatz von 1994 gezeigt, dass dieser allgemeine ritualgeschichtliche Rahmen auch für die Gemeinschaftsmähler nach Qumran-Texten (1QS) gilt und deswegen keine grundlegende Differenz zu hellenistischen Vereinsmählern besteht (Manual of Discipline).5 Die Bedeutung für die Qumran-Forschung besteht darin, dass die dahinterstehende(n) Gruppe(n) aus ihrer „sektenhaften“ Sonderrolle und Vereinzelung herausgeholt und in die Mitte der palästinischen Gesellschaft gestellt wird/werden. Damit wird auch die Möglichkeit offengehalten, dass es gar keine Qumran-Gruppe am Toten Meer gegeben hat und infolgedessen auch keine Verbindung derselben mit den Schriftrollen.

Klinghardt hat diesen Ansatz später weiter ausgebaut und konkretisiert durch

die Untersuchungen zum gottesdienstlichen Tanz – der auch im Neuen Testament einen Anknüpfungspunkt hat (Kol 3,16Kol3,16; Eph 5,18f.Eph5,18f.), da chorisches Singen in der Antike immer mit rhythmischen Bewegungen verbunden ist (Tanz und Offenbarung, Nehmt und eßt 50);

die beiden Aufsätze von 2012 (Bund, Vergossener Becher). Dort wird deutlich, dass der Gemeinschaftsbecher von Mt und Mk (Mt 26,27Mt26,27: „Trinkt alle daraus“) nicht auf die Libation, sondern auf die Proposis nach der Libation (Kreisen-Lassen eines gemeinsamen Trinkgefäßes) zurückzuführen ist, während es sich in Lk 22,20bLk22,20 tatsächlich um eine (Deutung der) Libation handelt und dementsprechend auch „der Becher, der für euch ausgegossen wird“, zu übersetzen ist.6 Die Überlieferung vom letzten Mahl Jesu bei Matthäus ist überdies eingebunden in einen ganz speziellen Diskurs zum Thema „Sündenvergebung“, welches im MtEv eine hervorgehobene Rolle spielt. Durch das Trinken aus dem „für viele ausgeschenkten“ Becher konstituiert und reaktiviert sich die Jüngergruppe je neu als eine Sündenvergebungsgemeinschaft, in der die einzelnen Mitglieder einander die Sünden vergeben und so ihre durch die Proposis gestiftete Gleichheit bewahren. „Der Tod Jesu kommt im Becherwort nicht vor“; vielmehr entspricht „das gemeinsame Trinken … der Bundesblutzeremonie von Ex 24Ex24“ (Bund 179f.).

Die allgemein-theologische Bedeutung dieser Aufstellungen besteht in Folgendem:

Die soziologisch-ritualgeschichtliche Deutung des Abendmahls nimmt den Fokus weg von den Fragen der Realpräsenz und der Sühnedeutung des Todes Jesu. Dass der Tod Jesu Heilsbedeutung besitzt als Gründungsereignis der Gemeinde Jesu, steht außer Frage (zumindest bei Paulus und Lukas). Die Schwäche dieses Ansatzes besteht darin, dass er den genauen Zusammenhang zwischen dem Tod Jesu und der durch die Mahlgebete sichergestellten soteriologischen Wirkung des Mahles nicht zu explizieren vermag (Gemeinschaftsmahl 317, Gemeindeleib 54, Vergossener Becher 53). Dies könnte sich jedoch auch als Stärke erweisen, insofern er die Abendmahlstheologie und ‑praxis aus einer Engführung auf die stellvertretende Sühnefunktion des Todes Jesu und den individuellen Zuspruch der Sündenvergebung befreien und für ein breiteres Spektrum von Mahldeutungen öffnen kann. Die „traditionellen“ Deutungen verlieren dadurch nicht ihre Berechtigung – sind sie doch bereits in der Alten Kirche wirkmächtig geworden (Vergossener Becher 56f: aufgrund der Veränderungen im Ritualverlauf) und insofern sicherlich nicht ohne Anhalt an den Texten. Die ritualgeschichtliche Sichtweise kann jedoch „dazu verhelfen, Aspekte“ an ihnen „wahrzunehmen, die bislang durch andere Interpretationen verdeckt waren“ (Bund 163).7 Neuere Formen des Feierabendmahls und des liturgischen Tanzes sind sicherlich nicht auf eine biblizistische Rechtfertigung aus der ritualtheoretischen Exegese angewiesen; trotzdem können entsprechende Untersuchungen durchaus anregend wirken und die ästhetische Dimension des Heils ins Bewusstsein rufen.8 Dies hängt aufs Engste mit einem zweiten Gesichtspunkt zusammen:

Mit dem regelmäßigen gemeinsamen Essen als der Existenzform antiken Gemeinschaftslebens ist der frühchristliche „Gottesdienst“ tief im Alltagsleben der Menschen verankert. Denn gemeinsames Essen ist ein Grundvollzug menschlichen Lebens, und dieses Essen will nicht nur begangen, sondern auch organisiert, finanziert und in seinem Ablauf geregelt werden. Es ist die Daseinsform der privaten und halböffentlichen Vereine, und als solche muss man nicht nur die paganen Vereinigungen, sondern auch die christlichen Gemeinden und die jüdischen Synagogengemeinschaften sehen. Damit sind aber die religiösen Bezüge des Mahles und der Gemeinschaft in ganz anderer Weise im Alltag der Menschen verwurzelt als heute (wo eine religiöse Alltagskultur fast vollständig fehlt). Man kann von der Mahlfeier als einem „Alltagsphänomen“ und infolgedessen auch von „Alltagsreligiosität“ sprechen9 und – ganz anders als in der späteren Entwicklung – nur sehr begrenzt von einem kultisch‑sakralen Charakter: Dieser dürfte nur für das Beten und das Singen, ggf. für das Tanzen, zutreffen und seinerseits nur begrenzt und punktuell als besonders „heilig“ empfunden worden sein.10 Daraus ergibt sich das Dritte:

Die ritual- und sozialgeschichtliche Betrachtungsweise bewahrt davor, die spezifischen Differenzen („das unterscheidend Christliche“) an der falschen Stelle zu suchen. Was man aus der religionsgeschichtlichen Betrachtungsweise schon immer lernen konnte, zeigt sich nun auch auf dem vorliegenden Feld: „Nur wer das Ganze kennt, kann die Verabsolutierung von individuellen Zügen vermeiden“ (Gemeinschaftsmahl 532). Die Vermeidung falscher Apologetik ist für die christliche Theologie im Verhältnis zum Judentum von besonderer, zentraler Bedeutung, aber darüber hinaus auch für das interreligiöse Gespräch wichtig. So hat sich aus den vergleichenden Untersuchungen ergeben, dass der Brotsegen zum Eingang des Mahles wohl eine jüdisch-christliche Besonderheit darstellt und so das „Brotbrechen“ unter Segensgebet zum unterscheidenden Merkmal von Christen im paganen Umfeld werden konnte. Ein Beispiel aus dem Grenzgebiet von Ritual‑ und Religionsgeschichte liefern die Kirchenväter selbst: Mit der zunehmenden Verurteilung des Tanzes suchen sie das Christentum auf einem Gebiet zu profilieren, auf dem ursprünglich kein großer Unterschied bestanden zu haben scheint (vgl. Tanz und Offenbarung): Noch Euseb konnte Philos tanzende Therapeuten für christliche Mönche halten, und in den Johannesakten kann sogar Jesus selbst als Anführer eines Chorreigens der Jünger erscheinen.

Wie der Rekurs auf (hier: jüdische) Traditionsgeschichte eine innerchristliche Diskussionslage zu entspannen vermag, zeigt auch der Aufsatz Sünde und Gericht von Christen bei Paulus. Zwischen den Extremen einer liberalen Sündlosigkeitstheorie auf der einen und Luthers simul iustus ac peccator auf der anderen Seite positioniert er Paulus ganz in frühjüdischen Gerichtsvorstellungen: Selbstverständlich ereilt auch Christusgläubige bei schweren Verfehlungen die Verurteilung im Endgericht, wenn sie nicht rechtzeitig vorher – wie im Falle des Blutschänders von 1Kor 51Kor5 oder der Missstände beim Herrenmahl gemäß 1Kor 111Kor11 – einem innergeschichtlichen Züchtigungsgericht unterworfen worden sind. In dieser Hinsicht gibt es keine christlich-jüdische Differenz.

2Das Neue Testament: Einheit des Kanons – Vielfalt der Schriften und ihrer Rezeption

Eine stärkere Weiterentwicklung und Selbstkorrektur als bei der Mahlthematik zeigt Klinghardts Position in der Kanonsfrage und der Beurteilung des Lukasevangeliums. In seiner ersten Monographie hat Klinghardt gegenüber der traditionellen, dezidiert heidenchristlichen Verortung des Lukas erfolgreich die Bedeutung jüdisch-judenchristlicher Toratraditionen für die lukanische Theologie und ihre Adressaten zur Geltung gebracht. Er hat überdies jedoch auch eine historische und soziologische Verortung des lukanischen Gesetzesverständnisses (und damit auch eines seiner zentralen Texte: des Aposteldekrets von Apg 15) in der Situation der lukanischen Gemeinde versucht (unter der Voraussetzung der traditionellen Datierung des Lukasevangeliums in das letzte Viertel des 1. Jahrhunderts). Dies hat sich im Laufe der Entwicklung radikal geändert: Das lukanische Doppelwerk wird jetzt um die Mitte des 2. Jahrhunderts angesetzt und mit der Entstehung der sog. Kanonischen Ausgabe (des Neuen Testaments) in Zusammenhang gebracht. Diese ist ihrerseits vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen mit Marcion und seiner Theologie zu verstehen. Wie sich das auf das Verständnis des Aposteldekrets ausgewirkt hat, zeigt der entsprechende Aufsatz in der vorliegenden Sammlung (Aposteldekret). Ein Vergleich mit der Monographie lohnt sich und zeigt die Verschiebungen in der Einschätzung, die zwischenzeitlich stattgefunden haben.

Gemeinsam ist die ekklesiologische Funktion des Gesetzes für die Darstellung der heilsgeschichtlichen Kontinuität der Kirche mit Israel, und in beiden Arbeiten wird auch das Aposteldekret als „Integrationstext“ bezeichnet. Im ersten Fall dient es der Darstellung und Herstellung von Einheit durch rituelle Gebote vor dem immer noch (gegen Ende des 1. Jahrhunderts) aktuellen Hintergrund der Auseinandersetzung um die Legitimität der Heidenmission in der lukanischen Gemeinde (Gesetz und Volk Gottes 204f.221.307); außerdem dient es als historische Quelle für das tatsächliche Apostelkonzil (es sei für die petrinische Heidenmission bestimmt gewesen). Anders im vorliegenden Aufsatz: Hier wird es als „kanonischer“ Integrationstext bezeichnet, d. h. es entfaltet eine innerkanonische Funktion zur Integration verschiedener Positionen bzw. Texte zum Problem der Grenzen der christlichen Tischgemeinschaft und damit auch der Kontrahenten im antiochenischen Streit (Gal 2,11–14Gal2,11–14; vgl. Apg 15,1–5).1 Es hat damit keinen Quellenwert für das historische Apostelkonzil mehr (auch das ganze Kapitel Apg 15Apg15 nicht). Vor allem aber haben die Dekretsforderungen durch den „argumentative(n) Overkill der Begründungsstrukturen“ (Aposteldekret 109) eine integrative Funktion: Jakobus, die Apostel, die Ältesten und „Mose … als Teil eines Buches, das gelesen und interpretiert wird“ (15,21; Aposteldekret 105) gleichen im Verein mit dem Heiligen Geist divergierende Positionen aus und verweisen damit aus der Sicht der Rezipienten der lukanischen Darstellung auf die sog. Kanonische Ausgabe (des Alten und Neuen Testaments).

Offenkundig liegt hier eine einschneidende Revision der früheren Thesen vor. Der Grund dafür ist in dem Aufsatz „Gesetz“ bei Markion und Lukas dargestellt und liegt in der Erkenntnis, dass die Bearbeitungsrichtung beim Thema „Gesetz“ und zwischen den beiden Schriften insgesamt nicht von Lukas zu Marcion (so weithin auch heute noch angenommen), sondern von Marcion zu Lukas verläuft: Das Lukasevangelium stellt eine erweiternde redaktionelle Bearbeitung des für Marcion bezeugten Evangeliums dar. Wäre es andersherum, hätte Marcion nur redaktionell gekürzt und keinerlei Ergänzungen vorgenommen (was allen sonstigen Beobachtungen zur Überlieferungsgeschichte der Evangelien widerspricht). Von besonderer Bedeutung ist für die lukanische Bearbeitung (neben Prolog und Vorgeschichte) die Emmausperikope in Lk 24Lk24: Hier begründet Jesus die Zusammengehörigkeit aller Schriften theologisch („Gesetz“ 123) und damit die grundlegende Bedeutung des schriftgestützten Verstehens der Christusbotschaft – womit wir uns auf einer Ebene mit der Begründungsstruktur des Aposteldekrets befinden.

Die folgenden Publikationen arbeiten nun diese grundlegende Entdeckung aus und ziehen die Konsequenzen für weite Bereiche der neutestamentlichen Wissenschaft. Im Übrigen nimmt die Annahme der Marcion‑Priorität eine bereits im 18./19. Jahrhundert entwickelte These wieder auf, die damals erstaunlicherweise zu keinem Zeitpunkt zur synoptischen Frage in Beziehung gesetzt wurde und demzufolge in der Gegenwart angesichts zunehmender Infragestellungen der Zwei‑Quellen‑Theorie ihrerseits an Bedeutung gewinnt. Die weitere Annahme, dass die lukanische Redaktion auf einer Ebene mit der Entstehung des Gesamtkanons liegt, konvergiert überdies mit dem erstmals von David Trobisch geführten Nachweis einer redaktionellen Bearbeitung des gesamten Neuen Testaments im Zuge der Herausgabe einer sog. Kanonischen Ausgabe der ganzen Bibel um die Mitte des 2. Jahrhunderts. Abschluss und bisheriger Höhepunkt dieser Forschungsleistung war die Rekonstruktion des für Marcion bezeugten Evangeliums aus den Kirchenväterzitaten und ‑referaten des 3./4. Jahrhunderts in Verbindung mit einer neuen Gesamtdarstellung der Entstehungsgeschichte der (fünf) Evangelien.2 Es sei gleich hinzugefügt, dass die Aufgabe der Rekonstruktion der Textgeschichte natürlich nicht nur die Evangelien, sondern das ganze Neue Testament betrifft. Dies ist allerdings nur in unterschiedlichem Maße möglich, da neben dem marcionitischen für das Lukasevangelium sich nur für die Sammlung der Paulusbriefe eine vorkanonische Stufe, nämlich der seinerseits marcionitische Apostolos, rekonstruieren lässt.

 

Die innovativen Gesichtspunkte betreffen vor allem folgende Bereiche:

Überlieferungsgeschichte der Evangelien: Seit hundert Jahren, seit der älteren Formgeschichte sieht die neutestamentliche Wissenschaft die mündliche Überlieferung als prägend für die Jesusüberlieferung der Evangelien an. Daran hat auch die Methode der Redaktionskritik nichts Grundsätzliches geändert. Neuere gedächtnishermeneutische Theorien untersuchen selbst sog. Autorenliteratur wie die Evangelien im Hinblick auf ihre kommunikative Funktion für eine Überlieferungsgemeinschaft, etwa mit Hilfe des Konzepts vom sozialen oder kollektiven Gedächtnis.3 Demgegenüber hat Klinghardt einen Paradigmenwechsel vorgenommen: Nach ihm ist die Entstehung der Evangelien hinreichend und ausschließlich als ein literarisch-textueller Vorgang zu erklären, bei dem die einzelnen Evangelisten jeweils immer ihre(n) jeweilige(n) Vorgänger – beginnend mit dem Evangelium des Marcion – aufnehmen, kritisch ergänzen und fortschreiben. Der Vorgang erstreckt sich über ca. 50 Jahre (zwischen den 90er Jahren und um 144 n. Chr.) und spielt sich entweder in Rom oder im kleinasiatischen Raum ab. Am Ende steht jene „kohärente Vielstimmigkeit“ (Überlieferungsgeschichte 57) im Rahmen der sog. Kanonischen Ausgabe, die nur ein anderer Begriff für das komplexe Verhältnis von Einheit und Vielfalt ist. Die Kategorie der Mündlichkeit benötigt man für deren Erklärung nicht. Die gewiesene Methode dafür ist vielmehr die klassische Literar‑ und Redaktionskritik mit ihrer Fragestellung: Wer hat wen als Quelle benutzt und wie bearbeitet?

Textkritik: Auch für die neutestamentliche Textkritik nimmt Klinghardt eine grundlegende Neubestimmung vor. Herkömmlicherweise ist sie damit beschäftigt, die älteste erreichbare Textgestalt der neutestamentlichen Schriften zu rekonstruieren. Klinghardt wirft ihr vor, dass sie nur auf einzelne Textstellen bzw. Handschriften bezogen sei und die Veränderungen deswegen anonym und historisch kaum bestimmbar und ohne Konturen seien (Schrift 95f.). Demgegenüber stellt Klinghardt ihr die Aufgabe, aus den Handschriften die Textgestalt der Kanonischen Ausgabe aus der Mitte des 2. Jahrhunderts zu ermitteln, da diese ein klares antimarcionitisches Profil (vor allem im Lukasevangelium) habe und deswegen historisch bestimmbar sei. Ein Beispiel dafür, welche Konsequenzen dies für die Auslegung neutestamentlicher Schriften haben kann, liefert der Aufsatz Abraham als Element der Kanonischen Redaktion, der alle mentiones Abrahae im Neuen Testament daraufhin untersucht, Teil der kanonisch-redaktionellen Bearbeitung zu sein, d. h. nicht in den vorkanonischen Ursprungsschriften vorhanden gewesen (Joh 8, Gal 3, Röm 4) bzw. überhaupt erst als Schrift im Zusammenhang mit der Kanonischen Ausgabe entstanden zu sein (Jak). Außerdem wird es immer wichtiger, die Eigenarten neutestamentlicher Handschriften in ihrer materiellen und (para‑)textuellen Beschaffenheit zu untersuchen und im Hinblick auf die antike Lesepraxis und die Textgeschichte auszuwerten (Handschrift).4

Biblische Hermeneutik: Es ist deutlich, dass bei Klinghardt alle exegetischen Methoden in ihrer Aufgabenstellung dahingehend konvergieren, dass sie der Rekonstruktion und Interpretation der Kanonischen Ausgabe dienen. Damit ist aber auch die Aufgabe des Textverstehens auf eine neue Grundlage gestellt – und zwar nicht nur des heutigen Verstehens und Vermittelns der Schrift, sondern bereits in der Ursprungssituation des 2. Jahrhunderts. Die Kanonische Ausgabe bzw. die hinter ihr liegenden editorischen und theologischen Intentionen liefern gewissermaßen die historische Begründung und Legitimation für die Notwendigkeit einer Theologie des Neuen Testaments (und letztlich der ganzen Bibel), die nicht nur die Vielfalt der Einzelschriften, sondern vor allem auch die Einheit des Gesamtkanons in den Blick nimmt. Es genügt nicht, wie die klassische Einleitungswissenschaft hauptsächlich die Entstehung der Einzelschriften und die Intentionen der jeweiligen Einzelverfasser zu erforschen, sondern durch die Zusammenstellung der Einzelschriften entsteht ein Meta‑Narrativ, welches das Verständnis des Gesamtzusammenhangs und der Einzelschriften in ihm bestimmt und welches in seiner theologischen Pragmatik wahrgenommen werden will (Inspiration 347: das „Transzendenznarrativ der Kanonischen Ausgabe“).5

Auf vier Ebenen hat Klinghardt in vier Aufsätzen beispielhaft und zusammenfassend diese theologische Verstehensaufgabe dargestellt: auf der Ebene eines Einzeltextes (Mk 5,1–20Mk5,1–20: Legionsschweine), eines Abschnittes aus dem Markusevangelium (Boot und Brot), zwei verschiedener (Mt und Mk) und aller vier Evangelien (Erlesenes Verstehen) sowie der ganzen Bibel (Inspiration). Ich wähle den Ausdruck „erlesenes Verstehen“, um deutlich zu machen, um was es bei dieser – historischen wie heutigen – Verstehensaufgabe geht: Es ist ein Verstehen, das er‑lesen wird, also durch Lesen entsteht. Primäre Aufgabe und Voraussetzung für das Verstehen ist also nicht das Hören (wie bei mündlicher Weitergabe und Verkündigung), sondern das Lesen von Geschriebenem. Das Verstehen des Neuen Testaments wird damit zu einem Beispiel antiker Lesekultur, die erst in jüngster Zeit die gebührende Aufmerksamkeit findet.6 In einem anderen Sinne „erlesen“ ist dieses Verstehen aber auch, weil es besondere Ansprüche an die Lesenden und ihre Kreativität stellt und auch besonderen Gewinn verspricht. Verfolgen wir die Lektürekonzepte auf den verschiedenen Ebenen:

3Vergleichende und übergreifende Gesichtspunkte

Man kann sagen, dass Klinghardt in der Lukas‑ und Kanon‑Frage einen einschneidenden Positionswechsel vollzogen hat, während beim Thema „Mahl“ der allgemeine soziologische und ritualgeschichtliche Diskussionsrahmen unverändert geblieben ist. Gleichwohl gibt es – abgesehen von gelegentlichen inhaltlichen Überschneidungen, z. B. beim sog. „Kurztext“ im lukanischen Mahlbericht (Schrift 93ff.)1 – tiefere Zusammenhänge zwischen beiden Bereichen: Beide dienen der Konstitution und Behauptung von Gemeinschaft und Einheit. Soziologisch wie historisch grundlegend für das frühe Christentum ist dabei die Mahlfeier, die trotz aller Unterschiede und Krisen doch einen gewissen einheitlichen Rahmen für die Selbstverständigung und ‑vergewisserung der christusgläubigen Gemeinden bot. Hingegen reagiert die „Gemeinsinnsbehauptung“ des Kanons (Aposteldekret 110) auf eine schwere Krise des 2. Jahrhunderts angesichts der Herausforderung durch „Häresien“ wie diejenige Marcions. Gemeinsam ist beiden Gemeinsinnsbehauptungen, dass der mit ihnen verbundene „Geltungsanspruch“ (ebd.) bis heute fortdauert und für das Selbstverständnis aller christlichen Kirchen von grundlegender Bedeutung ist (Schriftbezug, Wort und Sakrament). Für die Mahlfeier ist charakteristisch, dass die theologische Dimension „nachgelagert“ ist: Spezifisch christlich-religiöse Erfahrungen verbinden sich mit bestimmten Teilen des gemeinantiken Mahlrituals. Hingegen entsteht das „Transzendenznarrativ“ des Kanons und die dadurch ermöglichte „Authentifikation der christlichen Bibel als ‚Wort Gottes‘“ (Inspiration 349) bereits durch die Zusammenstellung maßgeblicher Schriften in einem Buch bzw. in mehreren Teilsammlungen konzeptionell eines Buches (was als solches bereits einen religiös und theologisch bedeutsamen Vorgang darstellt). Aber am Ende haben wir es in beiden Fällen mit grundlegenden Konstitutionsbedingungen der Alten Kirche zu tun. Und in beiden Fällen muss es zu denken geben, wie weit wir heute – wenn auch sicherlich mit guten Gründen – von den damaligen Bedingungen in Theorie und Praxis entfernt sind – ich nenne nur die fehlende Verankerung des Abendmahls in einer religiösen Alltagskultur oder die historisch-kritische Auflösung des Kanons.

Gemeinsam ist beiden Bereichen auch, was ich „die Krise des historischen Jesus“ nennen möchte: Die bei der Erforschung der Mahltexte angewandten exegetischen Methoden erlauben es nicht, die Einsetzung des Abendmahls historisch stringent auf Jesus zurückzuführen. Sie schließen eine solche Einsetzung („Stiftung“) nicht aus, aber können sie weder nachweisen noch auch irgendwie plausibel machen. Dasselbe gilt im Blick auf den Kanon: Die Jesusüberlieferung der Evangelien beginnt mit dem für Marcion bezeugten Evangelium2 – von dort gibt es keinen methodisch gesicherten Weg zum historischen Jesus. Es mag eine mündliche Überlieferung gegeben haben – von ihr kann man aber nichts sagen oder feststellen außer ein paar sehr allgemeinen Schwerpunkten und Entwicklungslinien (z. B. Wirksamkeit als Lehrer und Heiler, Auseinandersetzung mit Gegnern, Tod am Kreuz). Was man aber durch Klinghardts Forschung vielleicht gewinnt, ist eine breitere historische Verankerung bestimmter Grundzüge des historischen Jesus-Phänomens. Ich nenne zwei Beispiele: 1) Angesichts der gemeinantiken (und damit auch gemeinjüdischen) Praxis von Gemeinschaftsmählern in jeglichen Formen von Vereinigungen ist es umso wahrscheinlicher, dass Jesus und seine Gruppe Mahlgemeinschaft praktiziert haben. – 2) Angesichts der fast überall zu beobachtenden Bedeutung des sog. Alten Testaments im sog. Neuen Testament ist es umso wahrscheinlicher, dass Jesus selbst auch mit den heiligen Schriften des Judentums argumentiert hat (wenn dies nicht schon aus anderen Gründen historisch wahrscheinlich ist). Aber die Rückführung einzelner Begebenheiten oder Logien (gar in ihrem Wortlaut) auf Jesus ist (nach dem Ausfall der Logienquelle Q als Teil der Überlieferungsgeschichte der Evangelien) endgültig unmöglich.

Wie soll man nun in der theologischen Praxis damit umgehen? – Eine Studentin fragte mich kürzlich, ob man denn in der Verkündigung oder im Unterricht überhaupt noch von Jesus erzählen oder die Formulierung „Jesus sagte“ verwenden könne. Meine Antwort: Ja, man kann es (auch in den liturgischen Formularen beziehen wir uns auf den irdischen Jesus, z. B. Abendmahlsliturgie; Vaterunser: „wie Jesus uns zu beten gelehrt hat“). Auf jeden Fall kann man allgemeine Formulierungen verwenden. Ich wähle ein Beispiel aus dem Weltgebetstagsgottesdienst dieses Jahres (Zukunftsplan: Hoffnung, S. 9): „so leben und lieben …, wie Jesus es uns gezeigt hat“. Puristen wählen vielleicht lieber die Formulierung „Christus spricht“ statt (wie ebd. S. 15 zu Joh 8,12Joh8,12) „Jesus sagt“, da erstere Formel auf den kerygmatischen und nicht auf den historischen Charakter der Aussage abhebt.3 Wir sollten (uns und anderen) aber bei jeder Gelegenheit bewusst machen, dass wir für historische Aussagen (ob sie nun Jesus, Petrus, Paulus oder wen und was auch immer betreffen), auch wenn sie auf der Bibel gründen, keinen Wahrheitsanspruch erheben können. Was wir anbieten, sind Symbolbilder und Geschichten, die das Gemeinte veranschaulichen und vermitteln sollen (und können!). Auch die Evangelien liefern keine zuverlässigen Berichte über Jesus (das ist keine neue Erkenntnis!), sondern (fünf) verschiedene Jesusbilder – möglicherweise erst aus der 1. Hälfte des 2. Jahrhunderts. Es führt dann kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Die eigentliche Formationsphase des Christentums (und vor allem des Kanons) ist das 2. Jahrhundert (weswegen es auch keinen Sinn mehr macht, zwischen neutestamentlicher und patristischer Forschung zu unterscheiden), und ein historischer Weg dahinter zurück zu den ältesten Anfängen ist allenfalls über Paulus und seine (authentischen) Briefe möglich – aber auch dieser Weg führt nicht wirklich zur Urgemeinde und zum historischen Jesus, sondern vor allem zum paulinischen Christus.

Die eigentliche theologische Herausforderung liegt woanders: Wenn der Kanon weniger historische Überlieferung als vielmehr theologische Literatur darstellt, liegt die Aufgabe der Konsistenz‑ und theologischen Urteilsbildung in hohem Maße bei den Lesenden. Dies ist zwar, wie gezeigt, eine anspruchsvolle Aufgabe (nicht nur bei den argumentierenden Briefen, sondern gerade auch bei den erzählenden Lektürekonzepten der Evangelien), aber es setzt auch eine große Fülle an existenziellen Aneignungsmöglichkeiten frei. Denn Literatur ist auf wiederholte und vertiefende Lektüre hin angelegt (Möglichkeit des Zurückblätterns) und auf die Entdeckung neuer Zusammenhänge und Entsprechungen – und damit auch auf das wechselseitige Gespräch in Kirche und Gesellschaft. Diesem literarisch-textuellen Charakter der biblischen Überlieferung gerecht zu werden, ist gerade im digitalen Zeitalter eine große Herausforderung – und Chance, da dieses in jeder Hinsicht Kreativität verlangt (was eine ureigene Aufgabe theologischer Arbeit ist).

„Was unverfügbare Geltung besitzt, steht nicht einfach unverrückbar da, sodass man es einfach (aus den biblischen Schriften) ablesen könnte. Wahrheit ergibt sich vielmehr nur aus der Sinnkonstitution der (individuellen und gemeinschaftlichen) Auslegung, von der sie in gleicher Weise Freiheit und Verpflichtung bezieht“ (Überlieferungsgeschichte 60; Klammerzusätze G.R.).

Im Anfang war – alles ein wenig anders

Überlegungen zu einigen Aspekten der exegetischen Arbeit von Matthias Klinghardt aus systematisch-theologischer Perspektive

Christian Schwarke

Wissenschaft ist eine zutiefst konservative Veranstaltung. Zwar gibt es eine breite Übereinstimmung zwischen dem Selbstbild der Wissenschaft und der an sie gestellten Erwartung, dass die Wissenschaft Neues hervorbringen solle. Dies bezieht sich jedoch meist auf das im Grunde Erwartbare. Dort, wo man bereits eine gewisse Strecke des Weges gegangen ist, möge man den Wagen der Wissenschaft noch einen Meter weiterschieben. Tatsächlich neue Wege zu gehen, war und ist in der Wissenschaft jedoch meist mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Dort, wo der Rahmen, innerhalb dessen in einer bestimmten Wissenschaft gedacht und geforscht wird, verlassen wird, ernten die Ergebnisse häufig ganz unwissenschaftliche Reaktionen. Das hat zum einen etwas damit zu tun, dass eingespielte und breit akzeptierte Theorien ihren Status als Theorien verlieren und zum Gegenstand des common sense werden. Fragt man etwa studierte Theologinnen und Theologen, wie der Kanon der neutestamentlichen Schriften entstanden sei, erhält man stets die Antwort, dass sich die kanonischen Bücher zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert schrittweise durchgesetzt hätten. Das Bemerkenswerte an dieser theologischen Allgemeinbildung ist, dass im Gegensatz zur Gewissheit über die vermeintliche Tatsache dieses Entstehungsprozesses niemand auf die Rückfrage zu antworten vermag, woher wir denn dies so genau wüssten. Es ist eben einfach Teil des common sense, dass der Kanon eine langsam gereifte Entscheidung war. Wer das infrage stellt, erntet zunächst und vor aller argumentativen Auseinandersetzung: Unglauben.

Das zweite Hindernis, das tatsächlich neuartige Forschungsergebnisse zu überwinden haben, um – unabhängig davon, ob sie zutreffend oder unzutreffend sind – akzeptiert zu werden, besteht in den impliziten Axiomen (Dietrich Ritschl), von denen die bis dahin anerkannten Leittheorien getragen werden. Will man daher den Gang oder Untergang von Theorien verstehen, tut man gut daran, sich zu vergegenwärtigen, welche Hintergrundannahmen Theorien beliebt oder unbeliebt machen könnten. Solange man etwa eine breite Bezeugung eines Sachverhaltes für tendenziell wahrheitsförderlich hält, wird alles unbeliebt sein, was diese Breite einschränkt oder gar auf einen Punkt zusammenschrumpfen lässt. Ist man dagegen davon überzeugt, dass vor allem Individuen (in Gestalt der metaphorisch großen Männer) Adressaten von göttlicher oder weltlicher Illumination sind, wird man umgekehrt alles kritisch sehen, was die Singularität dieser Offenbarungsträger infrage stellt. Da man sich über die impliziten Axiome, die man voraussetzt, aber eben keine Gedanken macht, kann man zugleich höchst widersprüchliche Axiome anwenden: Paulus und Luther sollen meist möglichst einsame Genies gewesen sein, während das Neue Testament eine letztlich von einer großen Wolke der Zeugen getroffene Auswahl „Best of …“ der urchristlichen Schriften sein möge. Beide Axiome dienen der Vergewisserung, auch wenn sie sich widersprechen.

Die folgenden Überlegungen zu einigen Aspekten der historisch-kritischen Exegese Klinghardtscher Provenienz suchen aus systematisch-theologischer Perspektive nach Voraussetzungen und Folgen dieser exegetischen Forschungen. Meine Bemerkungen orientieren sich dabei an drei Leitbegriffen: Erstens geht es in der neutestamentlichen Wissenschaft um Autorität (1). Denn in jeder Behandlung eines biblischen Textes wie der Bibel als Ganzer geht es (implizit oder explizit) stets um die Autorität des Textes als normative Grundlage für das Christsein. Ebenso wird in kirchlichen und theologischen Diskussionen immer dann auf das Neue Testament Bezug genommen, wenn man der eigenen Position die Dignität des Biblischen verleihen möchte. Dieser Autoritätsschatten verzerrt jedoch leicht die Wahrnehmung des Gegenstandes. Die Autorität des Textes stützt sich nun seit der Aufklärung zunehmend auf die Historizität (2) des Textes und des in ihm Berichteten. Dies gilt für liberale wie konservative, historisch-kritische wie fundamentalistische Theologien! Historizität aber ist, worauf schon Ernst Troeltsch aufmerksam machte, ein höchst komplexes Wechselspiel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, bei dem man sich entscheiden muss, wieviel Nähe und wieviel Distanz man zur eigenen Gegenwart wie zur vermeintlichen Vergangenheit aufzubringen gewillt ist. Dies ist dann eine Frage, über die man sich im Rahmen einer Methodologie (3) Klarheit zu verschaffen versucht. Eben diese Methodologie ist unglücklicherweise jedoch zugleich die Bedingung der Möglichkeit für die Wissenschaft wie der Grund für ihre Beschränktheit. Alle Aspekte greifen selbstverständlich ineinander, müssen aber aus Gründen der Handhabbarkeit getrennt behandelt werden. Sachlogisch kehren wir die Reihenfolge um und beginnen mit dem dritten Aspekt der Methodologie.

1.Methodologie – Quellen und Kohärenz

„Es bedarf also keiner neuen Methodologie, sondern nur der konsequenten Anwendung des Bekannten und Erprobten.“1

Methoden sorgen in der Wissenschaft nicht nur für die Nachvollziehbarkeit des Erkenntnisweges. Vielmehr bestimmen sie auch, was man überhaupt zu sehen bekommt. Dabei geht es der schönen, und mit dem NT in hohem Maße kompatiblen Metapher des Physikers Hans‑Peter Dürr vom „Netz des Physikers“ wiederum nicht allein um die Weite der Maschen des Netzes und damit um die Größe der Fische, die der Wissenschaft ins Netz gehen. Denn die Struktur des Netzes bestimmt auch, ob man – um im Bilde zu bleiben – überhaupt Fische fängt oder vielleicht Bären.

Liest man als neutestamentlicher Laie die Texte des vorliegenden Bandes, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die darin vorgetragenen Ergebnisse von dem im eigenen Proseminar vor 40 Jahren Gelernten nicht nur der Neuigkeit halber abweichen, sondern auch aufgrund des gewählten methodischen Zugangs. Dass Klinghardt betont, methodisch nichts Neues zu bieten, scheint mir dabei ebenso richtig zu sein, wie es doch auch ein Understatement ist. Das Verfahren hat berühmte Vorläufer. So behauptete auch Friedrich Schleiermacher, dass er nur darstelle, was von der Kirchengesellschaft zu seiner Zeit geglaubt würde, obwohl er tatsächlich die Theologie neu erfand.

Nun scheinen es weniger die einzelnen methodischen Schritte zu sein, die in Klinghardts Arbeiten neu sind, als vielmehr die Art, wie sie angewendet, miteinander verbunden und fruchtbar gemacht werden. Dies beginnt schon bei der schlichten Lektüre des Textes. Ein Beispiel dafür ist Klinghardts Behandlung des Becherwortes beim letzten Abendmahl nach Lukas:2 Die grammatikalischen Beziehungen in diesem Text sind nicht erst für Klinghardt einer Rückfrage wert. Aber dem (scheinbar unklaren) Text den Vorrang vor der (scheinbar klaren) Tradition zu geben, ist an diesem Punkt doch neu. Dass jegliche Textlektüre am Vorverständnis hängt, ist eine hermeneutische Binsenwahrheit und seit Rudolf Bultmann auch in der Theologie nicht neu. Kaum jedoch wurde jemals infrage gestellt, dass auch gegen die Grammatik „das“ Kelchwort auf das (blutige) Opfer hinweise, welches dann jedoch im zweiten Atemzug mit einigem Aufwand wiederum als nicht-opfriges Opfer konstruiert werden musste, da es sich bei Jesu Tod selbstverständlich nicht einfach um die Adaption antiken Opferkultes handeln könne.

Den Knoten der Differenz zwischen Text und Tradition löst Klinghardt im Fall des „Abendmahls“ neben einer genauen Lektüre auch mit einer intensiven Nutzung außerbiblischer Evidenzen.3