Mahlers Sinfonien - Peter Revers - E-Book

Mahlers Sinfonien E-Book

Peter Revers

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Beschreibung

Gustav Mahlers neun vollendete sowie die letzte, unvollendet gebliebene 10. Sinfonie zählen zu den meist aufgeführten Werken dieser Gattung. Der vorliegende Band bietet eine klare und anregende Einführung in dieses Herzstück der Kompositionen Mahlers. Peter Revers, einer der profiliertesten Kenner seines Œuvres, zeigt darin unter anderem die Einflüsse auf das sinfonische Schaffen des Komponisten, erhellt die Stellung der Sinfonien in dessen Gesamtwerk, beschreibt den Prozess ihres Entstehens und stellt Werk für Werk eingehend vor.

Gustav Mahlers neun Sinfonien sowie die (unvollendete) Zehnte zählen weltweit zum zentralen Konzertrepertoire. Von Anfang an sprengte Mahler die traditionellen Gattungsgrenzen, vor allem zwischen Lied und Sinfonie. Und obwohl er, der begnadete Dirigent und Direktor der Wiener Hofoper, nie eine Oper komponiert hat, finden sich in seinen Sinfonien zahlreiche Beispiele gleichsam szenischer Provenienz: eine Theatralik ohne Bühne. Seine Sinfonien beschreiben häufig eine Welt schroffer Ausdruckskontraste, die elementare musikalische Kategorien wie etwa Marsch, Lied, Choral, volksmusikalische Einflüsse, aber auch katastrophal anmutende Klangeruptionen und Zusammenbrüche einerseits, krönende Finalsteigerungen andererseits beinhalten. Nach der monumentalen 8. Sinfonie («Sinfonie der Tausend») herrscht in seinen beiden letzten die Aura des Abschieds vor. Das allmähliche Verstummen der musikalischen Ereignisse wird zum zentralen Moment des musikalischen Ausdrucks und eröffnet eine neue Perspektive von Finalsätzen abseits jeglichen triumphalen Gestus.

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Peter Revers

MAHLERS SINFONIEN

Ein musikalischer Werkführer

C.H.Beck

Zum Buch

Gustav Mahlers neun Sinfonien sowie die (unvollendete) Zehnte zählen weltweit zum zentralen Konzertrepertoire. Von Anfang an sprengte Mahler die traditionellen Gattungsgrenzen, vor allem zwischen Lied und Sinfonie. Und obwohl er, der begnadete Dirigent und Direktor der Wiener Hofoper, nie eine Oper komponiert hat, finden sich in seinen Sinfonien zahlreiche Beispiele gleichsam szenischer Provenienz: eine Theatralik ohne Bühne. Seine Sinfonien beschreiben häufig eine Welt schroffer Ausdruckskontraste, die elementare musikalische Kategorien wie etwa Marsch, Lied, Choral, volksmusikalische Einflüsse, aber auch katastrophal anmutende Klangeruptionen und Zusammenbrüche einerseits, krönende Finalsteigerungen andererseits beinhalten. Nach der monumentalen 8. Sinfonie («Sinfonie der Tausend») herrscht in seinen beiden letzten die Aura des Abschieds vor. Das allmähliche Verstummen der musikalischen Ereignisse wird zum zentralen Moment des musikalischen Ausdrucks und eröffnet eine neue Perspektive von Finalsätzen abseits jeglichen triumphalen Gestus.

Über den Autor

Peter Revers ist Professor für Historische Musikwissenschaft an der Kunstuniversität Graz. Seine Publikationsschwerpunkte sind neben dem Werk Mahlers das Schaffen Mozarts sowie Musik des 19.–21. Jahrhunderts, wobei auch der Rezeption außereuropäischer Musik eine bedeutende Rolle zukommt.

Inhalt

I. Einführung

Einflüsse auf … und Wege zu Mahlers Sinfonien

Theatralik ohne Bühne: Einflüsse des Musiktheaters auf Mahlers Sinfonien

Sinfonie und Lied

Mahlers sinfonisches Œuvre im Kontext der Gattungstradition

Affirmation und ersterbendes Ende: Klimax und Krise der «Finalsinfonie»

Gedankliche Entwicklung und kompositorischer Prozess in Mahlers frühen Sinfonien

II. Die Sinfonien

Naturlaut – Groteske – Apotheose: die 1. Sinfonie

«Nervenerlebnis»: Abgründe – Weltenende – Erlösung: die 2. Sinfonie

«eine Welt aufbauen» – aber eine Welt der schroffen Kontraste: die 3. Sinfonie

Humoreske und Unheimlichkeit: die 4. Sinfonie

«Seelenvoller Klang» und «kontrapunktische Kunst»: die 5. Sinfonie

Gattungsnorm und Gattungssprengung: die 6. Sinfonie

«Gefährdete Idylle»: die 7. Sinfonie

«Eine Symphonie für die Massen?»: die 8. Sinfonie

Erinnerung – Zusammenbruch – Verstummen: die 9. Sinfonie

Vollendeter Torso?: die 10. Sinfonie

Literaturverzeichnis

Briefe, Erinnerungen, Dokumente

Einzeldarstellungen

Personenregister

Werkregister

Meiner Gattin Lucy Wei-tzu Revers-Chin, die meinen Lebensweg seit meinen ersten Mahler-Publikationen begleitet hat, widme ich dieses Buch in Liebe und Dankbarkeit.

Für wertvolle Ratschläge sowie die kritische Durchsicht des Manuskripts danke ich meinen Kollegen Klaus Aringer und Thomas Wozonig.

Nicht zuletzt gebührt mein Dank dem äußerst sorgfältigen und umsichtigen Lektorat des Verlags C.H.Beck, insbesondere Stefan von der Lahr und Andrea Morgan.

I. Einführung

Einflüsse auf … und Wege zu Mahlers Sinfonien

Gustav Mahlers neun vollendete Sinfonien sowie die teilweise in Partitur, zum Großteil aber nur im Particell überlieferte letzte, unvollendet gebliebene 10. Sinfonie, zählen im gegenwärtigen Musikleben nicht nur zu den meistgespielten, sondern haben seit ihren ersten Aufführungen bis in die heutige Zeit eine Vielfalt unterschiedlicher Deutungsperspektiven erfahren. Mahler hat während seines Studiums am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien einige wenige Kammermusikstücke komponiert, von denen lediglich ein Klavierquartettsatz in a-Moll erhalten blieb. Eine Reihe von Werken, darunter auch einige Opernprojekte, ging nicht über bloße Entwürfe bzw. heute nicht mehr feststellbare Grade der Ausarbeitung hinaus, v.a. auch eine von Natalie Bauer-Lechner erwähnte Nordische Symphonie. Als einziges für Mahlers frühes orchestrales Schaffen bedeutendes Vorgängerwerk kann im Grunde nur sein ungemein ausladendes und in vieler Hinsicht zukunftsweisendes «Märchen für Soli, Chor u[nd] Orchester: Das klagende Lied» gelten, das Mahler nicht nur explizit als sein «op. 1» deklariert hat, sondern diesem auch als «erste[m] Werk, in dem ich mich als ‹Mahler› gefunden» habe (GMB 1996: 205), eine herausragende Rolle in seiner frühen Schaffensentwicklung beigemessen hat. Wie bei vielen seiner späteren Werke handelt es sich auch hier um ein Komponieren, «das stets ein Erkunden war, ein Experiment mit offenem Ausgang» (Gülke 2011: 404). Das Klagende Lied kann in diesem Sinne als paradigmatischer Erstling verstanden werden, als hochdifferenzierter Gattungshybrid, der nicht zuletzt die vielfältigen, eruptiven geistigen und künstlerischen Erfahrungen widerspiegelt, die Mahler gegen Ende der 1870er Jahre durch seinen engen Freund Siegfried Lipiner empfangen hat.

Lipiner hatte nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung von Mahlers geistiger Welt. Dessen 1876 erschienene Dichtung Der entfesselte Prometheus, von Friedrich Nietzsche anfangs enthusiastisch gepriesen, hat Mahler tief beeindruckt. Er erkannte in Lipiners literarischen Werken eine explizit musikalische Dimension. «In Deiner Dichtung weht diese Musik», so schreibt Mahler an Lipiner im Juni 1899 und hebt mit Nachdruck die Bedeutung dieser engen Bande zwischen Literatur und Musik hervor (GMB 1996: 264). Ein weiterer, mit Lipiner verbundener und für Mahlers geistige wie künstlerische Formung wesentlicher Impuls war der «Pernerstorfer Kreis», benannt nach dem Mitbegründer der Sozialdemokratie in Österreich, Engelbert Pernerstorfer (1850–​1918), in dem der junge, charismatische Lipiner sehr bald eine führende Rolle eingenommen hat. Die wesentlichen geistigen Anker dieser studentischen Bewegung waren Nietzsche und Wagner. Unter Nietzsches Schriften wurde u.a. dessen Abhandlung Schopenhauer als Erzieher intensiv diskutiert. Nietzsche proklamierte etwa die Vision einer neuen Gemeinschaft der Menschheit, in der nicht tradierte äußerliche Formen und Gesetze, sondern die fundamentale Idee der Kultur deren Zusammenhalt gewährleisten. Innerhalb dieser wären Philosophen und Künstler die Protagonisten von Selbsterkenntnis und der Schaffung eines neuen Wertesystems. Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Suche nach dem Genie, das man vermutlich in dem jungen Mahler erkannten. Vor allem aber begann seit den späten 1870er Jahren das Werk und Denken Richard Wagners immer stärkeren Einfluss auf die geistige Orientierung der (vor allem jungen) Mitglieder des Pernerstorfer Kreises zu nehmen.

Für Mahler war Wagner ein wirkungskräftiger Impuls für neue kompositorische Entwicklungen auch außerhalb des Musikdramas. Die von ihm erstrebte «Vereinigung der Künste», die Voraussetzung für das «eigentliche Kunstwerk» sei (NBL 2: 34), hat Mahler auf seinem ureigenen Feld, der Sinfonie und dem Lied, verwirklicht. Dies hatte allerdings ein grundsätzliches Überdenken beider Gattungstraditionen zur Folge. Denn einerseits war für ihn die Verbindung von Ton und Wort in der Entwicklung seiner Sinfonien von ausschlaggebender Bedeutung, andererseits finden sich integrative Kunstkonzepte schon beispielhaft in Mahlers Klagendem Lied, das zahlreiche Charakteristika seiner späteren Sinfonien vorwegnimmt. Erstmals zeigt sich hier jene für seine Zeit typische Tendenz zur Sprengung traditioneller Grenzen zwischen vokalen und instrumentalen Gattungen. Und es wäre kaum übertrieben zu behaupten, dass Mahler bereits in diesem Frühwerk ein entschieden in Richtung «Gesamtkunstwerk» tendierendes Konzept verwirklicht hat.

Theatralik ohne Bühne: Einflüsse des Musiktheaters auf Mahlers Sinfonien

Mahler, dessen frühe musiktheatralische Projekte entweder kaum über das Stadium der Librettoerstellung hinausgelangt oder entsprechende kompositorische Quellen verschollen sind, hat sich bereits in jungen Jahren von der Gattung Oper distanziert. Gleichwohl findet sie in seinen Sinfonien und Liedern Niederschlag in mehr oder weniger konkreten Allusionen sowie vor allem in Merkmalen seiner Dramaturgie der Klanggestaltung, die über das ureigene sinfonische Œuvre hinausgehend häufig eine virtuelle Szenerie beschwört und diese in Mahlers eigenes «inwendiges Bilderreich» transformiert (Adorno 2019: 219). Dies sei anhand einiger weniger Beispiele konkretisiert. Der Kopfsatz seiner 3. Sinfonie ist wesentlich durch Märsche verschiedenster Art bestimmt, die allerdings keinerlei zwingende Bezugsfolge erkennen lassen. Einem Trauermarsch, von Mahler als «schwer und dumpf» (ab T. 27) beschrieben, folgt kurz danach (T. 136ff.) eine von Klarinetten, Flöten und Streichertremoli luzid grundierte, von 1. Oboe und wenig später der Solovioline ausgeführte, schwerelose Marschbewegung, die nach wenigen Takten von brüsk im fortissimo einbrechenden Klarinetten (darunter grell klingenden Es-Klarinetten) beendet wird, sich in fallenden Quarten und wellenförmiger Sechzehntelbewegung der Violoncelli und Kontrabässe in der Tiefe verliert und schließlich im Nichts verklingt, bevor ab T. 164 der Trauermarsch erneut anhebt. Die verschiedenen Marschcharaktere werden gleichsam zu Personen einer imaginären Bühne, die – einem Ensemble gleich – abwechseln, sich in die Parade fahren, ohne aber zu einem wirklichen Ziel zu gelangen. Die «szenische Präsenz», die dieses «Marschensemble» suggeriert, wird zusätzlich durch ein weiteres, generell für diesen Kopfsatz typisches Mittel erreicht, nämlich ihr pointiertes Auf- und Abtreten. Sowohl der Trauermarsch als auch jener erwähnte der Oboe und Solovioline werden jeweils durch die Große Trommel, die Tempo und Metrum, aber auch eine räumliche Perspektive des allmählichen Näherkommens oder Sich-Entfernens vorgibt, markiert. Solchen Momenten einer instrumentalen Szene kommt somit auch eine formstiftende Funktion zu. Am deutlichsten wird dies in den letzten Takten des Durchführungsteils (ab T. 635). Zuvor schichtet Mahler mehrere Märsche übereinander, die sich zunächst im ppp «wie aus weitester Ferne» lediglich andeuten (T. 463ff.), sich allmählich verdichten, schließlich ab T. 530 die dominante Materialebene ausmachen und eine zunehmend vorwärts drängende Bewegungsdynamik auslösen (im Partiturautograph konkretisierte Mahler dies mit Hinweisen wie «Die Schlacht beginnt», «der Südsturm» und «Vorwärts stürmen»). Allerdings zerbirst diese Marschkumulierung an ihrer eigenen, zügellosen und immer chaotischer werdenden Energie: Sie führt nicht zu einem Ziel, sondern zerfällt in einzelne Partikel. Diese werden zwar letztlich von mehreren, in der Entfernung aufgestellten kleinen Trommeln aufgefangen (die im «alten Marschtempo, ohne Rücksicht auf Celli und Bässe» den ursprünglichen Bewegungsduktus des Marsches wiederherstellen), verlieren sich aber nahezu unhörbar in räumlicher Entfernung und geben der Wiederkehr des einleitenden «Weckrufs» der acht Hörner Raum. Diese plastische «Klanginszenierung» rückt die Funktion der Reprise, die mit dem Wiederaufgreifen des «Weckrufs» (ab T. 643) beginnt, in eine über ihre formale Bedeutung deutlich hinausgehende inhaltliche Ebene. Denn sie schafft, nach den vorangegangenen Marschturbulenzen, Halt und Orientierung: eben einen «Weckruf», der an dieser Stelle als Ordnung stiftende musikalische Gestalt in Erscheinung tritt.

In anderer Weise treten opernhafte Momente in Mahlers 7. Sinfonie in Erscheinung, die allerdings kontroverse Beurteilungen hervorgerufen haben. Vor allem das «Rondo-Finale» wurde seit dem Uraufführungsjahr (1908) Gegenstand z.T. äußerst polemischer Auseinandersetzungen, in deren Mittelpunkt vor allem die Beziehung dieses Satzes zu Wagners Die Meistersinger von Nürnberg stand. Beispielhaft ist eine Aussage Theodor W. Adornos, die für die ästhetische Einschätzung dieses Finalsatzes von entscheidender Bedeutung war. Er kritisiert zunächst ein offenkundiges Missverhältnis in diesem Satz zwischen äußerlich «prunkvoller Erscheinung» und dem «mageren Gehalt des Ganzen», den er auf die Monotonie einer «unentwegten Diatonik» zurückführt und folgert: «Der Satz ist theatralisch: so blau ist nur der Bühnenhimmel über der allzu benachbarten Festwiese. Die Positivität des per aspera ad astra […] kann sich nur als Tableau, als Szene mit buntem Getümmel offenbaren […]» (Adorno 2019, 281). Zweifellos kommt vor allem dem Satzbeginn ein für festliche Aufzüge typischer, bravourhafter Duktus zu, der in seiner ungeschminkten Direktheit in der Tat das Wagner’sche Vorbild in Erinnerung ruft. Allerdings wird dieses in geradezu radikaler Weise konterkariert. Denn am Ende des 1. Ritornells (Z. 228f.) mündet zwar die Turbulenz der Fanfaren in einen krönenden C-Dur-Akkord, der aber abgerissen wird und – gleichsam in Schockstarre – einem tonal weit entfernten As-Dur-Dreiklang der Holzbläser weicht. Opernaffinitäten in Mahlers Sinfonik sind keineswegs nur affirmativ, sondern – im Gegenteil – häufig kritisch distanziert, wobei die Vorbilder ebenso suggestiv in Erscheinung treten, wie sie gebrochen, ja nicht selten in ihr Gegenteil verkehrt werden. In ähnlicher Weise trifft dies auf eine spätere Passage des Finalsatzes der 7. Sinfonie zu: Bei Z. 269 beginnt unvermittelt eine überdeutlich an die Tradition «türkischer Musik» in Gestalt von Mozarts Entführung aus dem Serail erinnernde Passage. Ihr geht eine lediglich acht Takte umfassende, von «starkem Glockengeläute» geprägte Erinnerung an den Eingangsrefrain voraus, und sie mündet in einen Zusammenbruch (eine für viele Werke Mahlers charakteristische Einsturzfigur, Z. 273), aus dem sie – vollkommen unvermittelt – in einen menuettartigen Duktus übergeht, der bereits zweimal zuvor mit der Bezeichnung «Grazioso» in Erscheinung getreten ist. Mahlers opernhafte Anklänge sind hier Teil einer Satzanlage, die von einer bemerkenswerten Fülle an musikalischen Gattungen und Stilebenen geprägt ist: eine Reise gleichsam durch die Musik in ihrer Vergangenheit und Gegenwart. Die Opernallusionen, die Mahler überdeutlich in Szene setzt, sind nicht zuletzt auch Konventionen, die er einem «prüfenden Wiederhinsehen» (Bloom 1997: 10) unterwirft und damit auf frappierende Weise neues Licht auf die scheinbar bekannten Vorbilder wirft. Ein damit zusammenhängender Aspekt betrifft den von Mahler mehrfach erwähnten «heiteren, humoristischen» Charakter dieses Werks. Anna Stoll-Knecht etwa hat deutlich karikaturhafte Züge im Finale von Mahlers 7. Sinfonie, und zwar konkret auf die Figur des Sixtus Beckmesser in Wagners Meistersingern bezogen, zur Diskussion gestellt. Ähnlich Beckmesser, der im 3. Akt eine rasch niedergeschriebene (und sehr schwer lesbare) Mitschrift des späteren Meisterliedes Walther von Stolzings findet, dieses aber in extrem entstellter Weise vorträgt, verfahre auch Mahler mit der vorgefundenen Tradition auf durchaus eigenwillige Weise: «In a way, Mahler and Beckmesser both ‹borrow› material from another composer and radically transform its original meaning.» (Stoll-Knecht 2017: 112). Hier stellt sich die Frage, ob für derartige Verfahren nicht der Einfluss Jean Pauls, dessen Schriften für Mahler eine kaum zu überschätzende Bedeutung hatten, weitaus naheliegender ist. Denn im Grunde ist all das, was Stoll-Knecht für Beckmesser reklamiert, bereits im Werk Jean Pauls angelegt: Allen voran sind dies eine Vielfalt von Identitäten, das Parodistische, die Neigung zur Groteske und zum Humor, der aber zugleich Trauer und Trost umfasst, schließlich auch die Schaffung einer Welt, in der Pathos und Karikatur gleichermaßen ihre Daseinsberechtigung haben (Fischer 2003: 177). Die Assimilation des Opernhaften in Mahlers Sinfonik ist zweifellos nicht auf bloße musikalische Bezugnahmen reduzierbar, sondern jeweils Teil eines umfassenden, in hohem Maße literarisch inspirierten Totalitätsanspruchs von Sinfonie, in der Jean Pauls Methode der «Weltaneignung und schöpferischen Umformung» (Fischer 2010: 57), das Aufbrechen von tradierten Gattungsgrenzen zugunsten übergreifender, ja nicht selten hybrider Konzeptionen, eine konsequente Umsetzung findet.

Sinfonie und Lied