Maid - Stephanie Land - E-Book

Maid E-Book

Stephanie Land

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Beschreibung

Die wahre und berührende Geschichte hinter der Netflix-Erfolgsserie »Maid«. »Ich liebe diese Geschichte einer Frau, die unerträgliche Lebensumstände meistert.« Reese Witherspoon »Meine Tochter lernte in einer Obdachlosenunterkunft laufen.« Stephanie Land steht kurz davor, ihren Traum vom Studieren in die Tat umzusetzen, als sie ungeplant schwanger wird. Ihr Freund fängt an, sie immer stärker zu kontrollieren und zu bedrohen, von ihrer Familie bekommt sie keine Hilfe. Zusammen mit ihrer kleinen Tochter flüchtet sie schließlich aus ihrer toxischen Beziehung und landet auf der Straße. Doch statt zu verzweifeln beginnt Stephanie zu kämpfen: Mit einem Job als Putzhilfe schafft sie es gerade so, sich und ihre Tochter über Wasser zu halten. Während sie die Häuser putzt, erlebt sie aus erster Hand die Sorgen und Sehnsüchte ihrer so viel besser gestellten Kunden. Und trotz vieler Rückschläge schafft sie es mit schierer Willenskraft, eine bessere Zukunft für sich und ihr Kind zu erkämpfen. Dies ist ihre Erfolgsgeschichte. Auf Barack Obamas Sommer-Leseliste und »New York Times«-Bestseller. Verfilmt von Netflix mit Margaret Qualley, Andie MacDowell und Nick Robinson. »Ein aufrichtiges und starkes Memoir … Lands Liebe zu ihrer Tochter … scheint hell durch die Seiten dieser wunderschönen, erhebenden Geschichte.« Publishers Weekly

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Seitenzahl: 444

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Stephanie Land

Maid

Harte Arbeit, wenig Geld und der Überlebenswille einer Mutter

Aus dem amerikanischen Englisch von Heidi Lichtblau und Lene Kubis

FISCHER E-Books

Inhalt

[Anmerkung der Autorin][Widmung][Motto]VorwortErster Teil1 Die Obdachlosenunterkunft2 Der Camper3 Die Übergangsunterkunft4 Die Wohnung an den Fairgrounds5 Sieben verschiedene staatliche Hilfen6 Die Farm7 Der letzte Rettungsanker8 Das Pornohaus9 Die Auszugsreinigung10 Henrys HausZweiter Teil11 Die Studiowohnung12 Minimalistisch13 Wendys Haus14 Das Pflanzenhaus15 Das Haus des Küchenchefs16 Donnas Haus17 In drei Jahren18 Das traurige Haus19 Loris Haus20 »Ich weiß nicht, wie du das schaffst«21 Das Clownshaus22 Stillleben mit MiaDritter Teil23 Mehr anstrengen24 Das Haus an der Bucht25 Die härteste Arbeiterin26 Das Messiehaus27 Wir sind zu HauseDanksagung

Anmerkung der Autorin

Dieses Memoir ist mit der Hilfe von Tagebüchern, Fotos, Blogeinträgen und Facebookposts entstanden. Die meisten Namen und Beschreibungen von Personen wurden zu ihrem Schutz verändert. Zeitverläufe und Dialoge wurden in einigen Fällen zusammengefasst und neu zusammengesetzt. Ich habe große Mühe darauf verwendet, meine Wahrheit zu erzählen. Dies ist meine Geschichte und wie ich mich an sie erinnere.

Für Mia:

Gute Nacht

Hab dich lieb

Bis morgen früh!

 

MOM

Ich habe gelernt, dass sein Leben zu bestreiten nicht dasselbe ist wie, sich eines aufzubauen.

 

MAYA ANGELOU

Vorwort

Willkommen in Stephanie Lands Welt

Der Eintritt wird Ihnen allerdings nur gewährt, wenn Sie sich von allen gängigen Vorstellungen über Hausangestellte, Alleinerziehende und medial vermittelten Bildern von Armut verabschieden. Denn Stephanie arbeitet hart und kann sich »gut artikulieren«, wie es in elitären Kreisen so oft herablassend heißt, wenn es um unerwartet intelligente Menschen ohne höhere Bildung geht. Maid erzählt von ihrer Reise als einer Mutter, die ihrer Tochter Mia ein sicheres Leben und geborgenes Zuhause zu bieten versucht, während sie sich mit verschiedenen Sozialhilfeleistungen und dem verschwindend geringen Lohn, den sie als »Maid« verdient, gerade so eben durchschlagen kann.

»Maid« – bei diesem Begriff fühlt man sich spontan an Downton Abbey und seine Dienstmädchen in adretten, frisch gestärkten Schürzen und Häubchen und einem Teetablett in den Händen erinnert. Tatsächlich aber ist die Welt der Maids voller Dreck und Exkremente. Sie befreien unsere Abflüsse von Schamhaaren und müssen sich – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – mit unserer schmutzigen Wäsche befassen. Und doch bleiben sie unsichtbar – werden von der Politik und ihren Programmen nicht wahrgenommen, an unseren Türen von oben herab behandelt.

Ich weiß das, da ich für die Recherchen meines Buches Nickel and Dimed: On (Not) Getting by in America eine kurze Zeitlang selbst in dieses Leben eintauchte und Niedriglohnjobs annahm. Wobei ich im Gegensatz zu Stephanie den Vorteil hatte, jederzeit in mein wesentlich komfortableres Leben als Autorin und Journalistin zurückkehren zu können. Und anders als sie musste ich von meinem Einkommen nicht auch noch ein Kind ernähren. Meine Kinder waren erwachsen und hatten kein Interesse daran, sich im Rahmen eines verrückten journalistischen Unterfangens mit mir in Trailer Parks einzuquartieren. Mit der Arbeit als Putzkraft kenne ich mich also aus – erinnere mich gut an die Erschöpfungszustände und die Verachtung, die mir entgegenschlug, wenn ich in der Öffentlichkeit mein Firmenoutfit mit dem Aufdruck »The Maids International« trug. Aber die Angst und Verzweiflung so vieler meiner Arbeitskolleginnen konnte ich nur erahnen. Wie Stephanie, waren viele von ihnen alleinerziehende Mütter, die putzen gingen, um zu überleben, und sich unterdessen um ihre Kinder sorgten, die sie manchmal in prekären Umständen zurücklassen mussten.

Mit etwas Glück haben Sie nie in Stephanies Welt leben müssen. Wie Sie in Maid sehen werden, ist Mangel das alles beherrschende Thema. Geld ist grundsätzlich knapp, mitunter auch das Essen; Erdnussbutter und Instantnudeln sind an der Tagesordnung, Besuche bei McDonald’s ein seltenes Vergnügen.

In dieser Welt ist auf nichts Verlass – weder auf Autos oder Männer noch auf eine gesicherte Unterkunft. In Stephanies Überlebenskampf sind Lebensmittelgutscheine eine wichtige Stütze, und es packt einen die Wut angesichts der jüngsten Gesetzgebung in den USA, nach der man sich seine Lebensmittelmarken nun erarbeiten muss. Ohne so eine staatliche Unterstützung können diese Arbeitskräfte und Alleinerziehenden nicht überleben. Es handelt sich dabei um kein Almosen. Genau wie wir wünschen sie sich einen stabilen Halt in unserer Gesellschaft.

Das vielleicht verletzendste Merkmal der Welt Stephanies ist die Feindseligkeit, die ihr von Bessergestellten entgegenschlägt. Ein Klassenvorurteil, mit dem sich vor allem körperlich Arbeitende konfrontiert sehen, denen man im Vergleich zu denjenigen, die Anzüge tragen oder an Schreibtischen sitzen, oft moralische und geistige Unterlegenheit unterstellt. Während Stephanie im Supermarkt mit Lebensmittelmarken bezahlt, beäugen andere Kunden Stephanies Einkaufswagen. Und als hätte er ihre Einkäufe persönlich bezahlt, bemerkt ein älterer Herr dazu laut: »Immer gerne!« Eine Einstellung, mit der Stephanie öfter und noch weitaus drastischer konfrontiert wird und die für die Ansicht eines Großteils unserer Gesellschaft steht.

Der Handlungsbogen der Geschichte Stephanies scheint auf einen schweren Zusammenbruch zuzusteuern. Zunächst einmal ist da der körperliche Verschleiß durch sechs bis acht Stunden täglicher kräftezehrender Putzarbeit. Bei der Reinigungsfirma, für die ich gearbeitet habe, schien jede meiner Kolleginnen ab dem Alter von 19 Jahren an einer Art neuromuskulärem Schaden zu leiden – an Rücken- und Schulterschmerzen, Knie- und Knöchelproblemen. Stephanie meistert den Arbeitsalltag nur mit Hilfe einer alarmierenden Anzahl von Schmerztabletten. Einmal schaut sie wehmütig auf die Opioide, die sie im Badezimmer eines Kunden entdeckt, doch verschreibungspflichtige Medikamente kommen für sie genauso wenig in Frage wie Massagen, Physiotherapie oder Besuche bei einem Spezialisten für Schmerztherapie.

Zu der körperlichen Erschöpfung ihrer Lebensweise gesellt sich obendrein auch noch die damit einhergehende emotionale Belastung. Stephanie ist das Paradebeispiel für die »Resilienz«, die Psychologen den Armen so gern anraten. Mit einem Hindernis konfrontiert, überlegt sie, wie es weitergehen könnte. Mitunter wächst ihr jedoch alles über den Kopf. Dann hält sie nur noch die unerschöpfliche Liebe zu ihrer Tochter, dem Leitstern ihres Lebens und dieses Buches, davon ab zusammenzubrechen.

Man spoilert wohl kaum, wenn man verrät, dass das Buch ein Happy End hat. All die Jahre, in denen sie ums Überleben kämpfte und sich abrackerte, hegte Stephanie den Wunsch, Schriftstellerin zu werden. Ich lernte sie vor Jahren kennen, als ihre Karriere noch am Anfang stand. Ich bin nicht nur Autorin, sondern auch Gründerin des Economic Hardship Reporting Project, einer Organisation, die qualitativ hochwertigen Journalismus über wirtschaftliche Ungleichheit fördert, insbesondere den von Menschen, die selbst nur mit Mühe über die Runden kommen. Stephanie schickte uns eine Anfrage, und wir nahmen uns ihrer an und entwickelten mit ihr zusammen Pitches, überarbeiteten Entwürfe und platzierten diese in den besten Medien, die wir finden konnten, einschließlich der New York Times und der New York Review of Books. Genau für Menschen wie sie – eine unbekannte Schriftstellerin aus der Arbeiterklasse, die für ihren Karrierestart lediglich noch einen kleinen Ansporn brauchte – gibt es uns.

Wenn Sie dieses Buch inspiriert, dann denken Sie daran, wie gering die Chancen im Grunde standen, dass es überhaupt geschrieben würde. Stephanie hätte sich in ihrer Verzweiflung geschlagen geben oder vielleicht einen Arbeitsunfall erleiden können. Denken Sie auch an all die Frauen, die es nie schaffen, ihre Geschichte zu erzählen.

Stephanie erinnert uns daran, dass es da draußen Millionen von ihnen gibt, jede auf ihre eigene Weise eine Heldin, die darauf wartet, gehört zu werden.

 

Barbara Ehrenreich

Erster Teil

1Die Obdachlosenunterkunft

Meine Tochter machte ihre ersten Schritte in einem Obdachlosenheim. An einem Juninachmittag, einen Tag vor ihrem ersten Geburtstag. Ich saß auf dem abgenutzten Sofa unseres Häuschens und hielt eine alte Digitalkamera hoch, um Mias erste Schritte festzuhalten. Ihr zerzaustes Haar und ihr gestreifter Babybody standen in auffälligem Kontrast zu der wilden Entschlossenheit in ihren braunen Augen, das Gleichgewicht zu halten. Durch die Linse betrachtete ich Mias bloßen, speckigen Beinchen und ihr rundes Bäuchlein, während sie mir auf dem Fliesenboden entgegengetapst kam. Der Schmutz von vielen Jahren hatte sich in diesen Boden gefressen. Ich konnte schrubben, so viel ich wollte, ich bekam ihn einfach nicht sauber.

Die letzte Woche unseres 90-tägigen Aufenthalts in einem der kleinen Holzhäuser im Norden der Stadt, die das Wohnungsamt Obdachlosen zuwies, war angebrochen. Als Nächstes würden wir in eine Übergangsunterkunft umziehen – einen alten, heruntergekommenen Wohnkomplex mit Zementböden, der gleichzeitig als Resozialisierungszentrum für ehemalige Häftlinge diente. So provisorisch unsere Bleibe auch war, hatte ich doch mein Bestes getan, um sie für meine Tochter heimeliger zu machen. Ich hatte ein gelbes Laken über das Sofa gebreitet – als warmen Kontrast zu den kalten weißen Wänden und dem grauen Boden und als leuchtenden und fröhlichen Farbfleck in einer dunklen Zeit. Neben der Eingangstür hatte ich einen kleinen Kalender aufgehängt. Darin waren Termine mit Sachbearbeitern von Organisationen eingetragen, bei denen ich Unterstützung bekommen konnte. Ich hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt und sämtliche in Frage kommenden Ämter abgeklappert, um an staatliche Hilfe zu gelangen, hatte mich in lange Schlangen mit Menschen eingereiht, die jede Menge Unterlagen bei sich hatten, um ihre Mittellosigkeit zu beweisen. Es war unglaublich aufwendig, die eigene Armut zu belegen.

Besuch in der Unterkunft war verboten, und wir hatten auch nicht viel mitbringen dürfen. Unser ganzer Besitz passte in eine Tasche, Mias Spielzeug in einen einzigen Korb. Meine wenigen Bücher waren in dem kleinen Regal untergebracht, das den Wohnbereich von der Küche trennte. Dort stand ein runder Tisch, an dem ich einen Kindersitz befestigt hatte, und ein Stuhl, auf dem ich saß, wenn ich ihr beim Essen zusah und meinen Hunger oft nur mit einem Kaffee bekämpfte.

Während ich Mia bei ihren ersten Schritten beobachtete, bemühte ich mich krampfhaft, nicht auf die grüne Schachtel hinter ihr zu blicken, in der ich die Gerichtsdokumente über den Sorgerechtsstreit mit ihrem Vater aufbewahrte. Ich lächelte Mia an, als wäre alles okay. Hätte ich die Kamera auf mich gerichtet, hätte ich mich nicht wiedererkannt. Die wenigen Fotos von mir aus dieser Zeit zeigen fast schon einen anderen Menschen: Ich war so dünn wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ich arbeitete in Teilzeit als Gartenhilfe und verbrachte mehrere Stunden in der Woche damit, Sträucher zu beschneiden, gegen wuchernde Brombeeren vorzugehen und Gräser von Stellen zu entfernen, an denen sie nichts verloren hatte. Manchmal putzte ich die Böden und Toiletten von Häusern, deren Eigentümer ich kannte – Freunde, die gehört hatten, dass ich verzweifelt Geld brauchte. Sie waren zwar nicht reich, verfügten aber im Gegensatz zu mir über ein finanzielles Polster. Der Verlust eines Gehaltsschecks würde sie ebenfalls hart treffen, doch er hätte keine Kette von Ereignissen zur Folge, an deren Ende ein Leben in einer Obdachlosenunterkunft stand.

Sie hatten Eltern oder andere Angehörige, die mit Geld einspringen und sie vor Schlimmerem bewahren konnten. Für Mia und mich sprang keiner ein. Es gab nur sie und mich.

In den Aufnahmepapieren des Wohnungsamtes schrieb ich auf die Frage nach meinen persönlichen Zielen für die nächsten Monate, ich wolle versuchen, an der Beziehung zu Mias Vater Jamie zu arbeiten.

Ich dachte, wenn ich mich nur genug anstrengte, könnten wir das auf die Reihe kriegen. Manchmal sah ich uns im Geiste als eine richtige Familie – mit einer Mutter, einem Vater und einem wunderhübschen Töchterchen. An diese Tagträume klammerte ich mich wie an eine Schnur, an der ein riesiger Ballon befestigt war. Der Ballon trug mich über Jamies emotionalen Missbrauch und meine Notlage als Alleinerziehende hinweg. Solange ich diese Schnur nicht losließ, könnte ich über all das hinwegschweben. Wenn ich mich auf meine Vorstellung von Familie konzentrierte, konnte ich so tun, als gäbe es die schlechten Seiten nicht; als wäre dieses Leben ein vorübergehender Zustand und keine neue Existenz.

Als Geburtstagsgeschenk bekam Mia neue Schuhe, für die ich einen Monat lang gespart hatte. Sie waren braun und mit rosa-blauen Vögelchen bestickt. Ich verschickte Partyeinladungen wie eine normale Mom und lud Jamie ein, als wären wir ein normales Elternpaar. Die Feier fand an einem Picknicktisch auf einem Grashügel im Chetzemoka Park in Port Townsend statt, der Stadt im Bundesstaat Washington, in der wir lebten. Von dort hatte man einen guten Blick aufs Meer. Die Gäste saßen lächelnd auf mitgebrachten Decken. Von meinen restlichen Lebensmittelmarken für den Monat hatte ich Limonade und Muffins besorgt. Um mitfeiern zu können, waren mein Dad und mein Grandpa fast zwei Stunden lang aus verschiedenen Richtungen angereist. Auch mein Bruder und ein paar Freunde waren gekommen. Einer davon hatte eine Gitarre dabei. Ich bat eine Freundin, von Mia, Jamie und mir Fotos zu machen, weil es so selten vorkam, dass wir drei so zusammensaßen. Mia sollte eine schöne Erinnerung an den Tag haben. Doch auf den Fotos zeigt Jamies Miene Desinteresse und Wut.

Meine Mutter hatte mit ihrem Mann William den weiten Weg von London oder Frankreich, oder wo auch immer sie gerade lebten, auf sich genommen. Am Tag nach Mias Party kamen sie bei uns vorbei, um mir beim Umzug in die Übergangswohnung zu helfen. Innerlich schüttelte ich den Kopf über ihr Outfit – William trug schwarze Skinny-Jeans, einen schwarzen Pullover und schwarze Stiefel; Mom ein schwarz-weiß gestreiftes Kleid, das ihr an den rundlichen Hüften zu knapp saß, schwarze Leggings und flache Converse-Chucks. Die beiden sahen eher so aus, als wären sie auf einen Espresso da. Unsere Bleibe hatte bislang noch keiner zu Gesicht bekommen, und das europäische Outfit der beiden ließen die Hütte – unser Zuhause – nun in noch schäbigerem Licht erscheinen.

William schien überrascht zu sein, dass unsere ganzen Habseligkeiten in eine einzige Reisetasche passten. Er brachte sie nach draußen, und Mom folgte ihm. Ich drehte mich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf den Boden, sah im Geiste vor mir, wie ich auf dem Sofa Bücher gelesen und Mia in ihrem Spielzeugkorb gekramt oder in der herausgezogenen Einbauschublade unter meinem Bett gesessen hatte.

Ich war froh wegzukommen. Doch diesen kurzen Moment brauchte ich, um mir in Erinnerung zu rufen, was ich überlebt hatte –, es war ein bittersüßer Abschied vom Ort unseres Neubeginns.

Die Hälfte der Bewohner in unserem neuen Wohnblock, der dem Northwest Passage Transitional Family Housing Program – einer Einrichtung, die Familien in Not Übergangswohnungen bereitstellte – unterstand, kam aus Obdachlosenheimen wie ich, die andere Hälfte bestand aus Personen, die gerade frisch aus der Haft entlassen worden waren. Eigentlich stellte diese Wohnung einen Aufstieg dar, doch ich vermisste schon jetzt das zurückgezogene Hüttenleben der Obdachlosenunterkunft. Es kam mir vor, als würde die Realität hier vor allen offengelegt, selbst vor mir.

Mom und William warteten hinter mir, während ich mit dem Schlüssel vor die Tür unseres neuen Zuhauses trat. Ich fummelte an dem Schloss herum, stellte schließlich die Schachtel in meinen Händen ab, und doch dauerte es noch eine Weile, bis ich die Tür endlich aufbekam. »Na, wenigstens ist das Schloss sicher«, scherzte William.

Wir betraten einen schmalen Eingangsbereich, dem gegenüber das Badezimmer lag. Mir fiel sofort die Badewanne ins Auge, in der Mia und ich zusammen würden baden können –, ein Luxus, den wir uns schon lange nicht mehr gegönnt hatten. Rechter Hand lagen unsere beiden Schlafzimmer, die zur Straße hinausgingen. In der winzigen Küche streifte die Kühlschranktür beim Öffnen die Schränke gegenüber. Ich überquerte die großen weißen PVC-Fliesen, die an die in der Obdachlosenunterkunft erinnerten, und öffnete die Tür zu einem kleinen Balkon. Er war gerade breit genug, dass ich mit ausgestreckten Beinen darauf sitzen konnte.

Zwei Wochen zuvor hatte ich die Wohnung mit Julie, meiner Sachbearbeiterin vom Sozialamt, kurz besichtigen können. Vor uns hatte eine Familie zwei Jahre in dieser Wohnung gelebt, die maximal mögliche Zeitspanne. »Du kannst dich glücklich schätzen, dass diese Wohnung frei geworden ist«, erklärte sie.

Bei unserer ersten Begegnung saß ich Julie gegenüber und versuchte stotternd, auf ihre Fragen zu antworten, was für Pläne ich hätte und wie ich mein Kind zu versorgen gedächte. Wie ich finanziell auf die Beine kommen wollte. Welche Jobs ich annehmen könnte.

Julie schien Verständnis für meine Verwirrung zu haben und machte ein paar Vorschläge für mein weiteres Vorgehen. Der Umzug in eine Sozialwohnung schien meine einzige Option zu sein, wobei das Problem war, zur rechten Zeit auch eine freie zu ergattern. Das Domestic Violence and Sexual Assault Services Center – eine Beratungs- und Interventionsstelle für Betroffene von häuslicher oder sexualisierter Gewalt – hielt für Opfer, die sich an niemanden sonst wenden konnten, geschützte Unterkünfte bereit, doch glücklicherweise bekam ich vom Wohnungsamt eine eigene Wohnung angeboten und somit auch eine Chance auf stabilere Verhältnisse.

Bei diesem ersten Treffen gingen Julie und ich eine vierseitige Liste mit Vorschriften durch, denen ich vor dem Einzug zustimmen musste.

Der Gast versteht, dass dies eine Notunterkunft ist, NICHT sein Zuhause.

Es können jederzeit URINPROBEN angefordert werden.

Besucher sind in der Unterkunft NICHT erlaubt.

KEINE AUSNAHMEN.

Julie stellte klar, dass man darüber hinaus stichprobenartige Kontrollen durchführen würde, um sicherzustellen, dass die Mindestanforderungen an die tägliche Hausarbeit erfüllt wurden, sprich: dass etwa das Geschirr abgespült oder der Boden gewischt sei und sich auf der Küchentheke keine Speisereste befänden. Übernachtungsgäste waren ohne Erlaubnis nicht gestattet, und selbst mit Erlaubnis durften sie keinesfalls länger als drei Tage bleiben. Alle Einkommensänderungen mussten unverzüglich gemeldet und monatlich Abrechnungen vorgelegt werden, aus denen detailliert hervorging, welche Einkünfte man hatte und wofür sie verwendet wurden. Ich stimmte zu.

Julie war immer nett, lächelte, wenn sie sprach, und strich sich dabei ihr kurzes, kupferrotes Haar hinters Ohr. Es tat gut, dass sie im Unterschied zu den anderen Sachbearbeitern in den Ämtern nicht so abgestumpft wirkte und mich wie einen Menschen behandelte. Doch ich hing gedanklich immer noch an dem Moment fest, als sie gesagt hatte, ich könnte mich »glücklich schätzen«. Ich fühlte mich nicht glücklich. Dankbar, ja. Absolut. Aber glücklich? Nicht wenn ich in ein Haus mit Vorschriften zog, die suggerierten, ich könnte süchtig, dreckig oder einfach so fertig mit der Welt sein, dass ich eine erzwungene Ausgangssperre und Urintests brauchte.

Arm zu sein, in Armut zu leben, kam in meinen Augen sehr einer Bewährungsstrafe gleich –, wobei das Verbrechen darin bestand, dass einem selbst das Nötigste im Leben fehlte.

*

Wir hatten meine Sachen aus einem Lagerraum geholt, den mein Dad für mich organisiert hatte. Nun brachten William, Mom und ich sie von dem Pick-up, den ich gemietet hatte, die Treppe hinauf zu meiner Wohnungstür im zweiten Stock. Da Mom und William so schick angezogen waren, bot ich ihnen T-Shirts an, die sie aber ablehnten. Bis auf die Zeit, als sie sich von meinem Vater scheiden ließ, kannte ich Mom eigentlich immer nur übergewichtig. Ihren Gewichtsverlust führte sie auf eine Atkins-Diät zurück. Später entdeckte Dad, dass ihre jähe Motivation, ins Fitnessstudio zu gehen, nichts mit dem Wunsch nach Fitness zu tun hatte, sondern vielmehr mit einer Affäre und dem unvermittelten Bedürfnis, den Zwängen des Ehe- und Mutterdaseins zu entfliehen. Moms Metamorphose signalisierte ihren Aufbruch ins Leben beziehungsweise in das Leben, das sie sich immer gewünscht, für ihre Familie jedoch aufgegeben hatte. Mir kam sie plötzlich wie eine Fremde vor. Als mein Bruder Tyler die Highschool abgeschlossen hatte, ließen sich meine Eltern scheiden, und Mom zog in eine eigene Wohnung. Bei einem Barbesuch musste ich mitansehen, wie sie Männer meines Alters küsste und dann in der Sitznische eines Diners bewusstlos zusammensackte. Zunächst war mir das einfach peinlich, später aber verwandelte es sich in ein Gefühl des Verlustes, von dem ich nicht wusste, wie ich ihn betrauern sollte. Ich wollte meine Mutter zurück.

Auch Dad war eine Zeitlang in einer neuen Familie untergekommen. Direkt nach der Scheidung datete er eine Mutter von drei Söhnen, die eifersüchtig war und der meine Besuche gegen den Strich gingen. Meine Eltern hatten sich weiterbewegt und mich allein zurückgelassen. Ich schwor mir, niemals so viel physischen und emotionalen Abstand zwischen Mia und mir entstehen zu lassen.

Als ich meine Mom nun musterte, verheiratet mit einem Briten, der gerade mal sieben Jahre älter war als ich, fiel mir auf, dass sie wieder deutlich in die Breite gegangen war und sich in ihrem Körper unwohl zu fühlen schien. Ich konnte nicht anders, ich musste sie einfach anstarren, wie sie da neben mir stand und sich mit einem britischen Fake-Akzent unterhielt. Ihr Umzug nach Europa lag bereits rund sieben Jahre zurück, doch ich hatte sie seitdem nur einige wenige Male gesehen.

Wir waren gerade dabei, meine vielen Bücherkisten in die Wohnung zu schleppen, als sie erklärte, sie hätte große Lust auf einen Burger. »Und auf ein Bierchen«, setzte sie bei unserer nächsten Begegnung auf der Treppe hinzu. Es war noch keine zwölf Uhr, aber sie war im Urlaubsmodus, was hieß, dass die Trinkerei schon früh begann. Sie schlug vor, ins Sirens zu gehen, einer Bar im Zentrum von Port Townsend, vor der man auch draußen sitzen konnte. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ich war seit Monaten nicht mehr auswärts essen gewesen.

»Ich kann mitkommen, muss dann aber noch arbeiten«, sagte ich. Ich hatte einen Job, bei dem ich einmal pro Woche für 45 Dollar die Vorschule einer Freundin putzte. Außerdem musste ich den Pick-up zurückbringen und Mia von Jamie abholen. An diesem Tag hatte sich Mom auch mehrere große Kartons mit alten Fotos und allerlei Nippes vorgeknöpft, die sie in der Garage einer Freundin untergebracht hatte. All das brachte sie nun als Geschenk in meine neue Wohnung mit. Aus Nostalgie und als Beweis für unser früheres gemeinsames Leben nahm ich es gern an. Sie hatte jedes Schulporträt aufgehoben, jedes Halloween-Foto. Ich mit meinem ersten Fisch in der Hand. Mit Blumen im Arm nach meinem Schulmusical. Mom hatte lächelnd im Publikum gesessen, mit mir mitgefiebert und Fotos gemacht. Jetzt, in der Wohnung, sah sie in mir nur eine weitere Erwachsene, eine Gleichberechtigte. Dabei kam ich mir verlorener vor denn je. Ich brauchte meine Familie. Musste sehen, wie sie mir alle zunickten, lächelten und mir versicherten, alles werde gut.

Als William auf die Toilette ging, setzte ich mich neben meine Mom auf den Boden. »Hey«, sagte ich.

»Ja?«, erwiderte sie leicht argwöhnisch. Ich hatte immer das Gefühl, sie hätte Angst, ich könnte sie um Geld bitten wollen, was ich aber nie tat. Sie und William führten in Europa ein bescheidenes Leben und vermieteten Williams Wohnung in London, während sie in einem Haus in Frankreich unweit von Bordeaux wohnten, das sie in ein Bed-and-Breakfast umwandeln wollten.

»Ich habe mich gefragt, ob du und ich vielleicht etwas Zeit miteinander verbringen könnten?«, fragte ich. »Nur wir zwei?«

»Steph, das geht wirklich nicht.«

»Warum nicht?« Ich richtete mich auf.

»Ich meine, wenn du Zeit mit mir verbringen willst, dann musst du akzeptieren, dass William auch dabei ist.«

In diesem Augenblick kam William zurück und schnäuzte sich laut in sein Taschentuch. Sie griff nach seiner Hand und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. So, als sei sie stolz darauf, diese Grenze gezogen zu haben.

Dass ich William nicht leiden konnte, war kein Geheimnis. Als ich die beiden vor ein paar Jahren in Frankreich besuchte, hatten William und ich einen heftigen Streit, der meine Mom so aufwühlte, dass sie draußen beim Auto weinte. Bei diesem Besuch wollte ich die Beziehung zu meiner Mutter wieder kitten. Ich sehnte mich nach einer Mutter, nach jemandem, dem ich vertrauen konnte, der mich bedingungslos akzeptierte, auch wenn ich in einer Notunterkunft wohnte. Wenn ich eine Mutter zum Reden hätte, dann könnte sie mir vielleicht erklären, was gerade mit mir geschah, oder mir zur Seite stehen und mir helfen, mich nicht als Versagerin zu sehen. Es fiel mir schwer, das Ausmaß meiner Verzweiflung zuzugeben und um die Aufmerksamkeit der eigenen Mutter zu buhlen. Also lachte ich, wann immer William Witze riss. Lächelte, wenn er sich über die amerikanische Grammatik lustig machte. Ich schwieg mich über den neuen Akzent meiner Mutter und über die Tatsache aus, dass sie sich jetzt für Gott weiß wen hielt –, als hätte Grandma ihren Obstsalat nicht aus Fruchtcocktail aus der Dose und Sprühsahne zubereitet.

Mom und Dad wuchsen in verschiedenen Teilen von Skagit County auf, einer Gegend, die etwa eine Autostunde nördlich von Seattle liegt und für ihre Tulpen bekannt ist. Ihre Familien lebten seit jeher von der Hand in den Mund. Dads Familie wohnte an den bewaldeten Berghängen über dem Clear Lake. Von seinen entfernten Verwandten hieß es, sie würden noch immer Moonshine – schwarzgebrannten Schnaps – herstellen. Mom wohnte unten im Tal, in dem Erbsen und Spinat angebaut werden.

Grandma und Grandpa, die Eltern meiner Mom, waren seit fast 40 Jahren verheiratet. Meine frühesten Erinnerungen an die beiden sind mit ihrem Trailer verbunden, der in einem Wald direkt an einer kleinen Bucht stand. Wenn meine Eltern arbeiteten, verbrachte ich den Tag bei ihnen. Zum Mittagessen bereitete Grandpa uns mit Wonder Bread Mayonnaise- und Buttersandwiches zu. Viel Geld hatten sie nicht, aber meine Erinnerungen an sie sind voller Liebe und Wärme: Grandma, wie sie, eine Limo in der Hand und ein Bein wie ein Flamingo in der Luft, vor dem Herd steht und eine Tomatensuppe von Campbell’s kocht. Und immer brannte in der Nähe eine Zigarette in einem Aschenbecher.

Später zogen sie nach Anacortes in ein altes Haus nahe der Innenstadt um, das mit den Jahren so verkam, dass es fast schon nicht mehr bewohnbar war. Grandpa war Immobilienmakler und kam zwischen den Hausbesichtigungen nach Hause, platzte mit kleinen Spielsachen zur Tür herein, die er für mich gefunden oder beim Spiel am Greifautomat in der Kegelhalle gewonnen hatte.

Wenn ich als Kind nicht bei ihnen war, telefonierte ich gern mit Grandma. Das machte ich so häufig, dass sich in der Fotokiste meiner Mom mehrere Fotos von mir im Alter von vier und fünf Jahren fanden, auf denen ich in der Küche stehe und mir ein großes, gelbes Telefon ans Ohr halte.

Aber Grandma erkrankte an paranoider Schizophrenie, und mit der Zeit wurde es fast unmöglich, sich mit ihr zu unterhalten. Sie entwickelte Wahnvorstellungen. Das letzte Mal, als Mia und ich sie besuchten, brachte ich ihr eine Pizza von Papa Murphy’s mit, die ich mit meinen Lebensmittelmarken gekauft hatte. Grandma, die sich mit dickem schwarzem Eyeliner und pinkem Lippenstift geschminkt hatte, stand den Großteil unseres Besuchs draußen und rauchte. Sie bestand darauf, mit dem Essen bis zu Grandpas Rückkehr zu warten. Als er schließlich kam, behauptete Grandma, sie hätte keinen Hunger mehr, und warf Grandpa vor, eine Affäre zu haben, ja, sie beschuldigte ihn sogar, mit mir zu flirten.

Dennoch, die meisten meiner Kindheitserinnerungen kreisen um Anacortes. Obwohl die Verbindung zu meiner Familie allmählich abbrach, erzählte ich Mia immer von der Bowman Bay unweit einer Meeresenge, Deception Pass genannt, zwischen den Inseln Fidalgo und Whidbey. Mein Dad nahm mich als kleines Mädchen immer dorthin zum Wandern mit. Dieses kleine Fleckchen Erde des Bundesstaates Washington mit seinen hohen Nadel- und Erdbeerbäumen war der einzige Ort, der sich für mich wie ein Zuhause anfühlte. Hier hatte ich jeden Winkel erkundet, kannte die Trails und verschiedenen Meeresströmungen, hatte meine Initialen in den rötlich orangefarbenen Stamm eines Erdbeerbaums geritzt und wusste noch genau, wo er sich befand. Wann immer ich zu einem Besuch bei meiner Familie nach Anacortes zurückkehrte, zog es mich zu den Stränden unterhalb der Deception Pass Bridge. Von dort fuhr ich die längere Strecke über die Rosario Road zurück, vorbei an den großen Häusern auf den Kliffs.

Ich vermisste meine Familie, tröstete mich aber mit dem Gedanken, dass Mom und Grandma immer noch jeden Sonntag miteinander telefonierten. Mom rief sie an, egal, wo in Europa sie gerade steckte. Es tröstete mich, dass ich Mom nicht ganz verloren hatte, dass sie immer noch an die Menschen dachte, die sie zurückgelassen hatte.

*

Als die Rechnung für unser Lunch im Sirens kam, bestellte sich Mom noch ein Bier. Ich sah auf die Uhr. Zum Putzen der Vorschule musste ich zwei Arbeitsstunden einplanen, bevor ich Mia abholen konnte. Nachdem ich Mom und William noch fünf Minuten lang dabei zugehört hatte, wie sie sich mit haarsträubenden Anekdoten über ihre Nachbarn in Frankreich amüsierten, gestand ich, dass ich gehen müsse.

»Oh!« William zog die Augenbrauen hoch. »Soll ich der Bedienung sagen, dass du bezahlen willst?«

»Nein, das kann ich gar nicht.« Wir starrten einander herausfordernd an. »So viel Geld habe ich nicht.«

Klar, es wäre angebracht gewesen, sie zum Mittagessen einzuladen, da sie zu Besuch waren und mir beim Umzug geholfen hatten, aber schließlich waren sie meine Eltern. Ich wollte William daran erinnern, dass er mir gerade beim Auszug aus einem Obdachlosenheim geholfen hatte, doch stattdessen wandte ich mich mit flehenden Augen an meine Mutter. »Ich kann das Bier mit meiner Kreditkarte bezahlen«, bot sie an.

»Ich habe nur zehn Dollar auf meinem Konto«, erklärte ich. Der Kloß in meinem Hals wurde immer größer.

»Das reicht ja kaum für deinen Burger«, entfuhr es William.

Er hatte recht. Mein Burger kostete 10,59 Dollar. Ich hatte etwas bestellt, das knapp einen Dollar mehr kostete, als ich auf meinem Konto hatte. Am liebsten wäre ich vor Scham im Boden versunken. Keine Spur mehr von dem Triumphgefühl, das ich angesichts meines Auszugs aus der Obdachlosenunterkunft verspürt hatte. Ich konnte mir nicht einmal einen verdammten Burger leisten!

Ich schaute von meiner Mutter zu William und erklärte, ich müsse auf die Toilette. Sie sollten mich nicht weinen sehen.

Der Blick in den Spiegel zeigte mir eine klapperdürre Gestalt, die ein T-Shirt in Kindergröße und eine enganliegende Jeans trug, die ich unten hochgekrempelt hatte, um zu kaschieren, dass sie zu kurz war. Im Spiegel war da diese Frau – überarbeitet, und doch ohne Geld, jemand, der sich nicht einmal einen verdammten Burger leisten konnte. Oft war ich zu gestresst, um etwas hinunterzukriegen, und bei vielen Mahlzeiten sah ich Mia einfach nur zu, wie sie sich das Essen in den Mund schob, und war dankbar für jeden Bissen, den sie zu sich nahm. Mein Körper sah sehnig und abgezehrt aus; mehr, als mich auf dieser Toilette auszuweinen, war einfach nicht mehr drin.

Wenn ich vor Jahren über meine Zukunft nachgedacht hatte, schien Armut mir unvorstellbar, weit entfernt von jeglicher Realität. Nie hätte ich gedacht, dass ich jemals so enden würde. Aber jetzt, nach der Geburt eines Kindes und einer Trennung, steckte ich mittendrin in einer Realität, aus der es keinen Ausweg zu geben schien.

Bei meiner Rückkehr saß William immer noch wie eine Art Miniaturdrache mit geblähten Nasenflügeln da. Mom lehnte sich zu ihm und flüsterte etwas, worauf er missbilligend den Kopf schüttelte.

»Ich kann zehn Dollar zahlen«, sagte ich und setzte mich.

»Okay«, sagte Mom.

Ich hatte nicht erwartet, dass sie mein Angebot annehmen würde. Bis zu meinem nächsten Gehaltsscheck war es noch Tage hin. Ich kramte in meiner Tasche nach meiner Brieftasche und reichte ihr dann meine Karte, damit sie sie zu ihrer dazulegen konnte. Nachdem ich die Rechnung unterschrieben hatte, stand ich auf, stopfte meine Karte in meine Gesäßtasche, umarmte meine Mom zum Abschied knapp und ging. Ich hatte mich gerade mal ein paar Schritte vom Tisch entfernt, als ich William sagen hörte: »Ich habe noch nie jemanden mit so einem Anspruchsdenken erlebt!«

2Der Camper

Zu Weihnachten 1983 bekam ich von meinen Eltern ein Cabbage Patch Kid geschenkt, eine damals sehr beliebte Puppenmarke. Schon lange, bevor JCPenny überhaupt seine Tore öffnete, hatte sich Mom dafür angestellt. Die Kaufhausmanager drohten der wartenden Menge mit Baseballschlägern, um sie vom Stürmen des Kaufhauses abzuhalten. Mom stieß die Leute mit ihren Ellbogen beiseite und schnappte einer Frau die letzte Schachtel vor der Nase weg. Oder zumindest erzählte sie es so. Ich hörte mit großen Augen zu und freute mich darüber, dass sie sich so für mich eingesetzt hatte. Meine Mutter, die Heldin. Überbringerin begehrter Puppen.

Am Weihnachtsmorgen hielt ich mein neues Puppenbaby im Arm. Es hatte kurze, blonde Haare und grüne Augen. Ich trat vor meine Mutter, hob die rechte Hand und gelobte, Angelica Maria von ganzem Herzen zu lieben und mich gut um sie zu kümmern. Dann unterschrieb ich die Adoptionspapiere, den Clou des Cabbage-Patch-Kid-Phänomens. Ein Akt, der Familienwerte beschwor und das Verantwortungsbewusstsein fördern sollte. Mom überreichte mir die Geburtsurkunde, auf der auch mein Name stand, und umarmte mich und die für diesen Anlass sorgfältig herausgeputzte Angelica voller Stolz.

Solange ich denken kann, wollte ich Schriftstellerin werden. In meiner Jugend schrieb ich Geschichten und zog mich mit Büchern zurück, als wären sie alte Freunde. Meine liebsten freien Tage waren die, an denen es regnete und ich früh morgens ein Buch in einem Coffeeshop zu lesen begann und es spät abends in einer Bar beendete. Während meines ersten Sommers mit Jamie sandte mir die University of Montana in Missoula erstmals Broschüren zu, in denen sie für ihren Studiengang »Kreatives Schreiben« warb. Ich stellte mir vor, wie ich – unterhalb des darauf gedruckten Zitats von John Steinbeck »… aber bei Montana ist es Liebe« aus seinem Roman Die Reise mit Charley – selbst irgendwann in diesen Heften zu sehen sein würde, wie ich durch die idyllischen Landschaften Montanas wanderte. Dieses Zitat war es, das mich auf meiner Suche nach einem Zuhause für meinen nächsten Lebensabschnitt auf Montana brachte.

Jamie lernte ich auf dem Heimweg von einer Bar kennen, in die meine Kolleginnen und ich nach unserer Feierabendschicht immer gingen. Es war kurz vor Mitternacht, und im Gras hörte man die Grillen zirpen. Da ich den ganzen Abend getanzt und entsprechend geschwitzt hatte, hatte ich mir meinen Hoodie um die Taille gebunden. Vor meiner langen Heimfahrt mit dem Fahrrad griff ich nun danach. Meine Carhartt-Hose hatte von meiner Arbeit in einem Café vorne ein paar Espressospritzer abbekommen, und in meinem Mund schmeckte ich noch meinen letzten Schluck Whiskey.

Die frische Brise trug Gitarrenklänge und die unverwechselbare Stimme John Prines von einer Parkbank zu mir herüber. Während ich innehielt und versuchte, den Song zu erkennen, bemerkte ich einen Mann, der einen MP3-Player und tragbare Lautsprecher in seinem Schoß hielt und einen roten Flanellmantel und einen braunen Filzhut trug. Er saß zusammengekauert da und bewegte den Kopf rhythmisch zur Musik.

Vom Whiskey noch immer eine wohlige Wärme im Bauch, setzte ich mich, ohne nachzudenken, neben ihn. »Hi«, sagte ich.

»Hi!« Er lächelte mich an.

So saßen wir eine Weile da, lauschten seinen Lieblingsliedern und atmeten die Nachtluft an den Ufern des Downtown Strips von Port Townsend ein. Wellen schwappten an die Docks, hinter denen sich viktorianische Backsteingebäude erhoben.

Als ich aufstand, um zu gehen, kritzelte ich in meiner Hochstimmung, einen neuen Typen kennengelernt zu haben, meine Telefonnummer auf eine Seite meines Tagebuchs und riss sie heraus.

»Hättest du mal Lust auszugehen?« Ich reichte ihm das Blatt. Er sah zu mir auf, dann blickte er in Richtung des Gelächters der Leute, die aus dem Sirens stolperten. Er nahm den Zettel und nickte.

Als ich am Abend darauf auf dem Weg in die Stadt war, klingelte mein Handy.

»Was treibst du gerade?«, fragte er.

»Bin unterwegs ins Zentrum.« Ich geriet mit meinem Wagen ins Schlingern, da ich es nicht schaffte, gleichzeitig herunterzuschalten, zu lenken und das Telefon zu halten.

»Wir können uns vor dem Penny Saver Market treffen«, sagte er und legte auf.

Etwa fünf Minuten später bog ich auf den Parkplatz ein, auf dem Jamie, an einen zusammengeflickten roten VW-Käfer gelehnt, bereits auf mich wartete. Er lächelte mich cool an und entblößte dabei schiefe Zähne, die mir in der Dunkelheit nicht aufgefallen waren.

»Komm, wir holen uns ein Bier«, sagte er und schnippte den Stummel einer selbst gedrehten Zigarette weg.

Er kaufte zwei Flaschen Samuel Smith Stout, und wir stiegen in seinen Käfer und fuhren zu einem Steilufer, von dem aus man sich den Sonnenuntergang anschauen konnte. Während er redete, blätterte ich in einer Literaturbeilage der New York Times, die ich auf dem Beifahrersitz gefunden hatte. Er erzählte mir von einer Fahrradtour, die er plante und die ihn auf dem Highway 101 an der Pazifikküste entlang bis nach San Francisco führen sollte.

»Für diese Zeit habe ich mir schon von der Arbeit frei genommen«, sagte er und warf mir einen Blick zu. Seine Augen waren dunkelbrauner als meine.

»Wo arbeitest du denn?« Mir wurde klar, dass ich außer seinen Musikvorlieben nichts von ihm wusste.

»Im Fountain Café.« Er nahm einen Zug an seiner Zigarette. »Früher war ich dort Souschef. Jetzt bereite ich da aber nur noch die Desserts zu.«

Er atmete aus, und eine Rauchwolke entschwand über die Felskante.

»Machst du da das Tiramisu?«, fragte ich und hielt kurz in meinem armseligen Versuch inne, mir selbst eine Zigarette zu drehen.

Er nickte, und ich wusste, ich würde mit ihm ins Bett gehen. Das Tiramisu im Fountain Café war so gut.

Später in dieser Woche nahm mich Jamie zum ersten Mal zu seinem Camper-Trailer mit. Ich stand in dem winzigen Raum und betrachtete die Holzvertäfelung, den orangefarbenen Sitzsack und die Bücherregale.

Als James bemerkte, dass ich mich umsah, entschuldigte er sich und erklärte mir umständlich, er wohne nur deshalb in dem Wohnanhänger, um Geld für seine Fahrradtour zu sparen. Aber ich hatte unter den Büchern auf dem Tisch Bukowski und Jean-Paul Sartre entdeckt, weshalb ich darauf pfiff, wie es bei ihm aussah. Ich drehte mich sofort um und küsste ihn.

Er schob mich langsam auf sein Bett zu, und wir knutschten stundenlang herum, als gäbe es nichts sonst auf der Welt.

Auch wenn Jamie und ich verschiedene Dinge vorhatten – mich zog es nach Missoula und ihn nach Portland, Oregon –, schlug er vor, ich solle zu ihm ziehen, um Geld zu sparen. Das tat ich auf der Stelle. Wir wohnten in einem gerade mal zwei Meter langen Wohnanhänger, dafür betrug die Miete für jeden aber auch nur 150 Dollar. Unsere Beziehung war definitiv nicht auf Dauer gedacht; jeder unterstützte den anderen, um aus der Stadt herauszukommen.

In Port Townsend arbeiteten die meisten im Dienstleistungssektor und kümmerten sich um die Touristen und bessergestellten Besucher, die in den wärmeren Monaten in Scharen herkamen. Die Fähren, die zwischen dem Festland und der Halbinsel, dem Tor zu den Regenwäldern und den heißen Quellen an der Küste, hin und her schipperten, waren voll mit ihnen. Die viktorianischen Villen der Stadt und ihre Geschäfte und Cafés an der Uferpromenade brachten der Stadt Geld ein und boten vielen Bewohnern ein Auskommen. In Strömen floss das Geld allerdings nicht. Solange man als Einwohner von Port Townsend kein Unternehmen gründete, gab es für Normalsterbliche kaum Möglichkeiten, sich eine Zukunft aufzubauen.

Dennoch hatten viele der tonangebenden Bewohner ihre Zukunft bereits in trockenen Tüchern. In den späten Sechzigern beziehungsweise frühen Siebzigern war eine Gruppe von Hippies nach Port Townsend gezogen, das damals einer Geisterstadt glich und nur dank einer Papierfabrik, die die meisten Einwohner beschäftigte, gerade so überlebte. Die Stadt war in der Hoffnung erbaut worden, einer der größten westlichen Seehäfen der USA zu werden, eine Hoffnung, die sich in der Wirtschaftskrise mangels Kapital und aufgrund der Tatsache, dass die Eisenbahnlinien von Seattle nach Tacoma verlegt wurden, zerschlug. Die Hippies, von denen manche nun meine Arbeitgeber und treuen Kunden waren, erstanden die viktorianischen Herrenhäuser, die fast ein Jahrhundert lang dem Verfall ausgesetzt gewesen waren. Sie verbrachten Jahre damit, die Gebäude instand zu setzen, stellten sie unter Denkmalschutz, brachten die Stadt auf Vordermann, eröffneten Bäckereien, Cafés, Brauereien, Bars, Restaurants, Lebensmittelläden und Hotels. Port Townsend machte sich dadurch einen Namen, dass dort besonders viele Boote in klassischer Holzbauart vor Anker gingen, und schließlich wurden sogar eine Bootsbauschule gegründet und ein jährliches Wooden Boat Festival ins Leben gerufen. Nun lehnte sich die alte Garde, die sich um die Wiederbelebung der Stadt verdient gemacht hatte, entspannt zurück, begann, eine ruhigere Kugel zu schieben und sich als neue Bourgeoisie einzurichten. Und wir aus dem Gastrobereich, die wir in winzigen Hütten, Trailern oder Einzimmerwohnungen wohnten, versorgten sie. Wir waren wegen des Wetters hier – wegen des Regenschattens, den die Olympic Mountains boten – und weil sich dort eine kleine Künstlergemeinde gebildet hatte, die nur eine Fährfahrt von Seattle entfernt lag.

Jamie und ich arbeiteten beide in Cafés und genossen unsere Jugend und die Freiheit, so leben zu können. Dennoch waren wir überzeugt, dass Größeres und Besseres auf uns wartete. Er half im Catering-Business seines Freundes aus und nahm jeden Gelegenheitsjob an, den er kriegen konnte und der unter der Hand bezahlt wurde. Auch ich nahm jeden Job an, der sich mir bot, um an Geld zu kommen: Neben dem Job im Café arbeitete ich noch in einer Hundepension und verkaufte Brot auf Bauernmärkten. Einen Collegeabschluss hatte keiner von uns beiden – Jamie hatte mir irgendwann gestanden, dass er nicht einmal die Highschool abgeschlossen hatte.

Er arbeitete die typischen Restaurantschichten, vom späten Nachmittag bis tief in die Nacht hinein, so dass ich meistens schon schlief, wenn er – ein wenig beschwipst, da er noch an der Bar herumgehangen hatte – nach Hause kam. Manchmal traf ich mich auch mit ihm dort und gab mein Trinkgeld für ein paar Biere aus.

Dann merkte ich, dass ich schwanger war. Morgens war mir unfassbar übel, und die Welt begann, kleiner und kleiner zu werden, bis sie schließlich ganz stillzustehen schien. Lange stand ich mit hochgekrempeltem Sweatshirt vor dem Badezimmerspiegel und untersuchte meinen Bauch. Das Kind hatten wir an meinem achtundzwanzigsten Geburtstag gezeugt, einen Tag bevor Jamie zu seiner Fahrradtour aufgebrochen war.

Wenn ich mich dafür entschied, das Baby zu behalten, dann entschied ich mich zugleich dafür, in Port Townsend zu bleiben. Am liebsten hätte ich die Schwangerschaft geheim gehalten und weiter meinen Plan verfolgt, nach Missoula zu ziehen. Doch das schien nicht machbar. Ich musste Jamie eine Chance geben, Vater zu sein –, alles andere wäre mir falsch vorgekommen. Andererseits hieße zu bleiben, meinen Traum, Schriftstellerin zu werden, vorläufig aufzugeben.

Und damit die Person aufzugeben, zu der ich mich entwickeln wollte. Die Person, die nach vorn sehen und aus der jemand Tolles werden würde. Wollte ich davon wirklich ablassen? Ich hatte verhütet und hätte eine Abtreibung als nichts Unrechtes empfunden, aber ich konnte einfach nicht aufhören, an meine Mutter zu denken, die vielleicht auch auf ihren Bauch gestarrt und sich dabei ähnliche Gedanken gemacht hatte.

Auch wenn ich mir eigentlich einen anderen Lebensweg erhofft hatte, erwärmte ich mich in den folgenden Tagen für den Gedanken an die Mutterschaft, für die Vorstellung von mir als Mutter. Nachdem Jamie von seiner Fahrradtour zurückgekommen war, erzählte ich ihm von dem Kind. Seine anfängliche Zärtlichkeit, mit der er mich zu einem Schwangerschaftsabbruch zu überreden versuchte, änderte sich schlagartig, als ich ihm sagte, ich würde es behalten wollen. Ich kannte Jamie erst seit vier Monaten, und seine Wut, ja, sein Hass auf mich, machten mir Angst.

Eines Nachmittags stürmte er in den Trailer, in dem ich vor dem Fernseher saß und gerade versuchte, eine Hühnersuppe hinunterzubekommen, während ich Maury Povich dabei zusah, wie er in seiner Show die Ergebnisse diverser Vaterschaftstests enthüllte. Den Blick auf mich gerichtet, tigerte Jamie auf und ab und schrie, er wolle nicht, dass sein Name auf der Geburtsurkunde stehe. »Ich will nicht, dass du mich später unter Druck setzt, für dieses verdammte Kind aufzukommen«, wiederholte er immer wieder und deutete auf meinen Bauch. Ich blieb ruhig, wie ich es immer tat, wenn er sich in Rage redete, und hoffte, er würde nicht auch noch mit Sachen herumwerfen. Doch je mehr er schrie, je mehr er kämpfte und mir erklärte, ich würde einen Fehler machen, desto mehr trieb er mich hin zu dem Kind, und desto mehr wuchs mein Wunsch, es zu beschützen. Nachdem er gegangen war, rief ich mit zittriger Stimme meinen Dad an.

»Treffe ich die richtige Entscheidung?«, fragte ich, nachdem ich ihm erzählt hatte, was Jamie gesagt hatte. »Ich weiß es nämlich wirklich nicht, habe aber das Gefühl, dass ich mir sicher sein sollte. Eigentlich weiß ich überhaupt nichts mehr.«

»Verdammt«, sagte er und hielt inne. »Ich hatte wirklich gehofft, Jamie würde in so einer Situation seinen Mann stehen.« Wieder hielt er inne, vielleicht weil er auf eine Antwort von mir wartete, aber was hätte ich darauf erwidern sollen? »Weißt du, als wir das mit dir herausfanden, waren deine Mom und ich ja in derselben Situation, allerdings mit dem Unterschied, dass wir noch Teenager waren. Das Ganze war alles andere als optimal. Keine Ahnung, ob es das überhaupt je auch nur annähernd war. Wir wussten nicht, was wir taten, oder ob wir das Richtige taten. Aber dir, deinem Bruder, mir und deiner Mom – uns geht’s allen gut. Es läuft doch bei jedem von uns! Und ich weiß, bei dir, Jamie und diesem Kind wird es auch laufen, wenn auch anders als du’s dir vielleicht vorstellst.«

Nach dem Anruf setzte ich mich ans Fenster und sah hinaus. Ich versuchte, mich von meiner gegenwärtigen Umgebung – dem Wohnanhänger, der neben einer großen Werkstatt im Wald stand – nicht davon abhalten zu lassen, mir meine Zukunft auszumalen. Ich versuchte, das Ganze optimistischer zu sehen. Vielleicht würde sich Jamie ja wieder einkriegen und brauchte nur etwas Zeit. Und wenn nicht, beschloss ich, dann würde ich damit klarkommen, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie. Meine Entscheidung, das Kind zu bekommen, konnte ich nicht von ihm abhängig machen. Doch ich wusste, ich musste ihm zumindest die Chance geben, Vater zu sein. Mein Kind verdiente das. Auch wenn die Verhältnisse nicht ideal waren, würde ich das tun, was Eltern eben taten, was Eltern schon seit Generationen getan hatten –, ich würde zusehen, dass es funktionierte. Schluss mit den Zweifeln. Es gab keine andere Möglichkeit. Ich war jetzt Mutter. Hatte Verantwortung, vor der ich mich nicht drücken würde. Ich stand auf, zerriss auf dem Weg nach draußen meine Collegebewerbung und machte mich an die Arbeit.

3Die Übergangsunterkunft

Als ich sieben Jahre alt war, zogen wir von all unseren Verwandten aus dem Bundesstaat Washington weg nach Anchorage, Alaska, und bezogen am Fuße der Ausläufer der Chugach-Mountains ein Haus. Unsere Kirche setzte sich sehr für Obdachlose und einkommensschwache Gemeindemitglieder ein. Zur Weihnachtszeit war es eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, bedürftigen Familien etwas zu schenken. Nach dem Sonntagsgottesdienst forderte Mom meinen Bruder und mich auf, uns von dem Weihnachtsbaum im Kirchenfoyer einen zu einem Papierengel gefalteten Wunschzettel auszusuchen. Nach dem Brunch gingen wir dann ins Einkaufszentrum und besorgten einem namenlosen Kind in unserem Alter das, was es sich als Geschenk gewünscht hatte: irgendein Spielzeug, einen Schlafanzug, Socken oder Schuhe.

Einmal nahm Mom mich mit, als sie einer Familie ein Abendessen brachte. Ich wartete, bis ich an der Reihe war, dem Mann, der die Tür zu seiner feuchten Wohnung geöffnet hatte, meine liebevoll verpackten Geschenke zu übergeben. Er hatte dichtes, dunkles Haar und trug ein weißes T-Shirt, das seine wie Leder gegerbte Haut enthüllte. Nachdem ich ihm meine Tüte mit den Geschenken überreicht hatte, gab ihm meine Mom eine Kiste mit einem Truthahn, Kartoffeln und Gemüsekonserven. Er nickte und schloss die Tür leise. Enttäuscht ging ich davon. Ich war davon ausgegangen, dass er uns hereinbitten würde, damit ich seiner kleinen Tochter beim Auspacken der Geschenke helfen konnte, die ich ausgesucht hatte, wollte sehen, wie glücklich meine Geschenke sie machten. »Diese neuen Lackschuhe waren die hübschesten im ganzen Laden«, hätte ich ihm erklärt. Ich fragte mich, warum sein Vater so wenig Freude gezeigt hatte.

Als Teenager verbrachte ich einige Nachmittage damit, in der Innenstadt von Anchorage Lunchtüten an Obdachlose zu verteilen. Wir sollten »Zeugnis« ablegen und das Evangelium an sie weitergeben. Als Gegenleistung für ihr offenes Ohr bekamen sie Äpfel und Sandwiches. Dazu sagte ich »Jesus liebt dich«, worauf ein Mann allerdings lächelnd zurückgab: »Na, dich scheint er ein wenig mehr zu lieben!« Ich wusch Autos, um Geld für unsere Reisen zu Waisenhäusern in Baja Mexico zu sammeln oder um in Chicago Bibelcamps für Kinder organisieren zu können. Wenn ich an diese Aktionen zurückdachte und mir meine jetzige Situation vergegenwärtigte, sprich: meine verzweifelte Suche nach Arbeit und einer sicheren Unterkunft, so empfand ich sie vor allem als eine Art der Wohltätigkeitsarbeit, die Arme zu Karikaturen machte – zu anonymen Papierengeln an einem Baum, so gut sie auch gemeint sein mochten. Ich musste an den Mann denken, der uns die Tür geöffnet hatte. Nun würde ich es sein, die Almosen bekam. Die akzeptieren musste, dass ich meine Familie nicht selbst versorgen konnte. Ich musste ihre kleinen Gaben annehmen – ein neues Paar Handschuhe, ein Spielzeug –, die sie mir schenkten, um sich gut zu fühlen. »Gesundheitsfürsorge« oder »Kinderbetreuung« konnte man auf den Wunschzetteln leider nicht angeben.

Während meine Eltern meinen Bruder und mich Tausende von Kilometer weit weg von unseren Wurzeln im Nordwesten Washingtons aufzogen, wo meine Großeltern lebten, wurde unsere Familie ein Teil der sogenannten amerikanischen Mittelschicht. Es fehlte uns zwar an nichts, was die grundlegenden Dinge des Lebens betraf, aber vieles, wie etwa Tanz- oder Karateunterricht, konnten sich meine Eltern nicht leisten, und auch ein Sparkonto für unsere Collegeausbildung wurde von ihnen nicht angelegt. Ich lernte recht schnell, welche Bedeutung Geld hatte. Mit elf Jahren fing ich an babyzusitten und hatte danach fast immer ein oder zwei Jobs. Es lag mir im Blut zu arbeiten. Unsere Religion und die finanzielle Sicherheit meiner Eltern vermittelten meinem Bruder und mir Halt. Ich wuchs mit einem Gefühl der Geborgenheit auf, die ich nie in Frage stellte, bis sie mir abhandenkam.

*

Als ich Jamie erklärte, ich wolle mit Mia zu meinem Vater und meiner Stiefmutter Charlotte ziehen, verengten sich seine Augen. Mia war gerade mal sieben Monate alt, hatte aber schon zu viele seiner Wutausbrüche miterleben müssen.

Seine aggressiven Ausraster hatten mich traumatisiert.

»Ich habe im Internet recherchiert«, sagte ich und griff nach einem Zettel in meiner Tasche, während ich Mia auf meiner Hüfte schaukelte. »Es gibt dort einen Unterhaltsrechner, und der Betrag erscheint mir mehr als fair.«

Er riss mir den Zettel aus der Hand, zerknüllte ihn und schleuderte ihn mir mit zornigem Blick ins Gesicht. »Du kriegst keinen Unterhalt von mir. Wenn überhaupt, dann solltest du es sein, die mir was zahlt!« Er lief hin und her und wurde immer lauter. »Du gehst nirgendwohin.« Er deutete auf Mia. »So schnell kannst du gar nicht gucken, wie ich sie dir wegnehme.« Mit diesen Worten wandte er sich zum Gehen und schlug dabei vor lauter Wut ein Loch in die Plexiglasscheibe der Tür. Mia zuckte zusammen und stieß einen so schrillen Schrei aus, wie ich ihn von ihr noch nie gehört hatte.

Mit zittriger Hand wählte ich die Hotline für häusliche Gewalt. Ich war kaum imstande, die Umstände zu erklären, da fing Jamie an, mich mit Anrufen zu bombardieren. Man riet mir, aufzulegen und die Polizei anzurufen. Minuten später erhellten Scheinwerfer eines Streifenwagens die gesamte Seite des Trailers. Ein Beamter klopfte vorsichtig an die kaputte Tür. Er war so groß, dass er mit dem Kopf fast an die Decke stieß. Während ich ihm erzählte, was geschehen war, machte er sich ein paar Notizen, untersuchte die Tür, nickte und fragte, ob es uns gut gehe. Ob wir uns sicher fühlten. Nachdem ich ein Jahr lang bedroht und beschimpft worden war und mir lautstarke Beleidigungen hatte anhören müssen, verspürte ich bei dieser Frage große Erleichterung. Jamies Wut war zum größten Teil nicht sichtbar gewesen. Sie hinterließ weder Blutergüsse noch rote Abdrücke. Aber auf diese Tür hier – auf die konnte ich deuten. Ich konnte jemanden bitten, sie sich anzusehen. Ich konnte sagen: »Das war er. Das hat er uns angetan.« Und man konnte sie sich anschauen, verständnisvoll nicken und mir sagen: »Verstehe. Ich sehe, was er Ihnen angetan hat.« Der Polizeibericht, den der Beamte mir daließ, bestätigte, dass ich nicht verrückt war. Ich trug ihn monatelang wie eine Urkunde in meiner Handtasche mit mir herum.

*

In jenen ersten Nächten, die wir im Apartment einer Übergangsunterkunft an einer Hauptstraße verbrachten, lagen meine Nerven blank. Bei jedem Geräusch, das durch die Wände und Böden der Anlage widerhallte, zuckte ich zusammen. Wenn wir zu Hause waren, prüfte ich ständig, ob die Tür auch abgeschlossen war –, so etwas hatte ich noch nie getan. Aber es gab nur meine Tochter und mich, und nur ich konnte uns beschützen.

Als wir noch in der Notunterkunft wohnten, hatte ich direkt vor unserem Häuschen parken können, was ideal war, falls wir schnell wegmussten. Von meinen Nachbarn, die alle in separaten Hütten wohnten, bekam ich nichts mit, und wir waren von Natur umgeben – von Bäumen und Feldern, die einem ein Gefühl des Friedens vermittelten, kein mulmiges. Dieser kleine Bereich gehörte mir, und ich hatte nie Angst, es könnte jemand eindringen. In dieser Wohnung hier wirkten die Wände und Böden dagegen so dünn, und man hörte ständig unbekannte Stimmen. Im Treppenhaus herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Fremde schrien sich gegenseitig an. Ich starrte auf meine Wohnungstür, das Einzige, was uns vom Rest der Welt trennte, und wusste, dass sich jederzeit jemand gewaltsam Zugang verschaffen könnte.

Wir waren von weiteren Wohnungen umgeben, doch der einzige Hinweis auf andere Bewohner waren die Stimmen hinter den Wänden, die Berge von Abfall in den Müllcontainern, die Autos, die auf den Parkplatz einbogen. Vielleicht hätte ich mich sicherer gefühlt, wenn ich meine Nachbarn kennengelernt und gesehen hätte, wie sie aussehen. Ihre nächtlichen Geräusche – Absätze, die über den Boden klackten, eine unerwartete tiefe Stimme, dann das Lachen eines Kindes – brachten mich um den Schlaf. Mehrmals in der Nacht stand ich auf, um nach Mia zu sehen, die im Zimmer nebenan in einem Reisebettchen schlief. Meistens lag ich nachts stundenlang wach und ließ im Geiste erneut die Augenblicke mit Jamie im Gerichtssaal Revue passieren.