Maiglöckchenweiß - Christian Schünemann - E-Book

Maiglöckchenweiß E-Book

Christian Schünemann

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Beschreibung

Maiglöckchen stehen an der Belgrader Straße, wo einst ein Roma-Junge von zwei Jugendlichen zu Tode geprügelt wurde. Einer der Täter konnte fliehen. Nach 25 Jahren kehrt er zurück, stellt sich der Vergangenheit und wird kurz darauf tot an der Donau aufgefunden. Selbstmord, behauptet die Polizei. Doch Milena Lukin stößt auf ein Indiz, das sie zu einem Mord führt, der einst das Schicksal eines ganzen Landes bestimmte.

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Christian Schünemann | Jelena Volić

Maiglöckchenweiß

Ein Fall für Milena Lukin

Roman

Diogenes

{5}Am 18. Oktober 1998 wurde der zehnjährige Dušan J. von zwei Jugendlichen auf offener Straße angegriffen und zu Tode geprügelt. Die Tat ereignete sich gegen 22 Uhr im Zentrum von Belgrad. Das Opfer trug Quetschungen, Prellungen und mehrere Knochenbrüche davon. Zum Tod des Jungen führte ein Schlag mit einem harten Gegenstand auf den Kopf. Die Ermittlungen ergaben, dass es sich bei der Tatwaffe um das abgebrochene Stück einer Regenrinne handelte, das in der Nähe des Tatorts sichergestellt wurde. Das Todesopfer, der zehnjährige Dušan J., war ein Angehöriger der serbischen Roma.

Am 12. März 2003 wurde der serbische Ministerpräsident auf dem Weg in seinen Belgrader Regierungssitz ermordet. Die Schüsse wurden aus dem Hinterhalt, aus einer Entfernung von ca. 180 Metern abgefeuert und trafen den Politiker in Bauch und Rücken. Im Krankenhaus konnte nur noch sein Tod festgestellt werden.

Die Taten sind Gegenstand des Romans, die Handlung und die auf‌tretenden Personen sind jedoch frei erfunden.

{7}1

Die Selleriestaude war ein Geschenk von der Marktfrau, und die Knochen hatte sie beim Schlachter an der Hintertür bekommen. Svetlana schabte Karotten, legte den Majoranzweig ins Wasser, setzte leise den Deckel auf den Topf und regulierte die Flamme so, dass die Suppe köchelte, aber der Deckel nicht zu klappern begann. Die Suppe würde für ein paar Tage reichen, vielleicht sogar für eine ganze Woche. Seit ihr Entschluss feststand, fühlte sich das Leben besser an. Nicht gut, aber jedenfalls doch leichter. Als wäre eine große Last von ihren Schultern genommen.

Sie tastete im Papier und fand dort noch zwei kleine Kartoffeln. Die Dunkelheit machte ihr nichts aus – im Gegenteil. Die Dunkelheit war gut. Sie schob die Küchenabfälle zusammen, wischte sich die Hände an der Schürze ab. Jovan schlief und atmete tief und ahnungslos. Die beiden Flaschen, die er im Laufe des Nachmittags und Abends geleert hatte, standen neben der Abfalltonne, und selbst im {8}Suff war er noch so gewissenhaft gewesen, dass er den Mülleimer rausgebracht und vor die Tür gestellt hatte. Ihr geliebter Jovan. Was hatten sie früher für Träume gehabt: In die Welt hinausgehen, es alleine schaffen, ohne die Sippe, frei und niemandem verpf‌lichtet. Eine verrückte Vorstellung. Es sollte nicht sein, natürlich nicht.

Svetlana band sich die Schürze ab. Sie hatten es nicht geschafft, aber Anna würde es schaffen. Sie würde eines Tages in einem schönen Haus wohnen, und das Lachen ihrer Kinder würde die Räume erfüllen und sie vergessen lassen, was ihr in diesen Monaten widerfuhr – so viel Leid, dass es für ein ganzes Leben reichte. Für Anna würden hoffentlich irgendwann glückliche Zeiten anbrechen. Und alles würde vielleicht doch noch einen Sinn ergeben.

Sie holte unter der Küchenbank den kleinen Blechkasten hervor. Unter dem Stopfgarn, mit dem sie vorsorglich noch die Knöpfe an den Taschen verstärkt und festgezogen hatte, lag das kleine Stück Papier, das sie schon vor Wochen vorausschauend beiseitegelegt hatte. Sie zog die Gardine so weit auf, dass etwas Mondlicht hereinfiel. Eines Tages würde Anna verstehen, was ihre Mutter getan hatte, und bis dahin würde sie die Ratschläge befolgen, die sie ihr mit auf den Weg gab, denn Anna war ein {9}kluges Mädchen, und gehorsam war sie außerdem. Svetlana schrieb:

Lerne.

Sei fleißig.

Halt dich aufrecht.

Tu nichts, für das du dich später schämen musst.

Werde glücklich.

Sie faltete das Papier und ging damit hinter den Vorhang. Anna schlief ruhig und atmete tief. Sie strich ihrem Kind eine Strähne aus dem Gesicht, drückte ihre Lippen auf die warme Stirn und atmete ihren Duft ein. Dann schob sie den Zettel unter das Kopfkissen, trat zurück und nahm ihre Wolljacke vom Haken.

Anna würde ihren Weg finden, davon war Svetlana überzeugt, und sie würde ihr dabei nicht im Weg stehen. Alles war gut, alles hatte seine Richtigkeit, und der Herrgott stand ihr bei. Svetlana löschte die Flamme unter dem Kochtopf, stieg in ihre Gummistiefel und öffnete die Tür. Sie schaute nicht zurück.

Unter der Regentonne klaubte sie die beiden Steine hervor, die sie dort deponiert hatte, schob die Ziegel rechts und links in ihre Schürze, knöpf‌te die Taschen zu und zog die Strickjacke darüber zurecht. {10}Das Einmachglas mit den Maiglöckchen stand bei Jovan in der Werkstatt zwischen den Leim- und Farbtöpfen. Sie nahm das Glas und schöpf‌te aus der Tonne noch eine Handvoll Regenwasser hinein.

Um diese Zeit waren kaum noch Autos unterwegs, und auf der Straße begegnete ihr niemand. Als wäre sie allein auf der Welt, wanderte sie in ihren Gummistiefeln, in Kittel und Strickjacke, mit den Maiglöckchen durch die nächtlichen Straßen. Genau diesen Weg, dieselbe Strecke, war Dušan gegangen, in der Faust die Münzen, die Jovan, sein Vater, ihm mit der Erlaubnis gegeben hatte, sich ausnahmsweise, auch wenn es schon spät war, am Kiosk eine Tüte Drops zu kaufen. Schließlich hatte Dušan eine gute Note heimgebracht, eine Eins in Mathematik. Er war so stolz gewesen, und sie war es auch. Sie war es immer noch.

»Lauf«, hatte sie gesagt und ihn aus der Tür geschoben. »Und beeil dich.«

Zur Belgrader Straße ging es den Hügel hinauf, und mit den Steinen in den Taschen hatte sie ganz schön zu schleppen. Wer weiß, was aus Dušan geworden wäre. Vielleicht Lehrer oder – wie es seine Idee gewesen war – Straßenbahnfahrer. Er hätte es geschafft, hätte alle Hindernisse überwunden, die sie ihm mit der Geburt in die Wiege gelegt hatten.

Dass der Kiosk schon geschlossen war, {11}registrierte sie, aber es war ihr egal. Sie hätte all den Menschen, die dabei gewesen waren und weggeschaut oder zugeschaut hatten, in die Augen gesehen, auch dem Kioskbesitzer. Ob sie dabei Hass gefühlt hätte, wusste sie nicht. Sie hatte keine Tränen mehr. Svetlana stellte das Glas mit den Maiglöckchen dort ab, wo es passiert war.

Sie hielt sich an der großen Kreuzung rechts, durchquerte den Park und achtete in der Dunkelheit nicht auf den Betrunkenen und das Liebespaar.

Die Branko-Brücke erstrahlte im gelben Licht, und auch wenn sie nicht mit dieser Helligkeit gerechnet hatte, kam es ihr vor, als würde man sie hier oben willkommen heißen. Autos waren nur vereinzelt unterwegs. Die Nacht hatte etwas Feierliches. Svetlana ging ohne Eile, bis sie glaubte, die Mitte der Brücke erreicht zu haben. Sie konnte den Fluss nicht sehen, aber riechen, und eine tiefe Ruhe und Zuversicht überkamen sie.

Das Geländer reichte ihr bis zur Brust und war niedriger, als sie gedacht hatte. Sie umfasste mit beiden Händen das kalte Eisen. Zwischen die senkrechten Streben passten bequem ihre Stiefelspitzen, wie auf einen kleinen Treppenabsatz. Sie zog sich hoch, legte sich bäuchlings über die Stange und zog das zweite Bein nach. In der Tiefe hörte sie den Fluss rauschen, es klang wie ein Flüstern, und die {12}kühle Luft, die er zu ihr heraufschickte, hatte etwas Tröstliches.

Sie schlang die Arme um ihren Körper, als würde sie ihren kleinen Jungen umarmen, schloss die Augen und machte den Schritt ins Leere.

{13}2

Milena fuhr auf der Fürst-Miloš-Straße stadtauswärts, wechselte auf die linke Spur, ohne sich um das Hupkonzert hinter ihr zu kümmern, und machte in Gedanken die Einkaufsliste für den Heimweg: Drei Pfund Butter für die Buttercreme, zwei Tüten Krokant und kleine Kerzen – elf Stück. Zu Adams Geburtstag plante Vera neben einem Frankfurter Kranz noch eine Schneetorte. Also sechzehn Eier. Nein, besser zwanzig. Ihr Telefon brummte.

Milena tastete auf dem Beifahrersitz, schaute auf das Display und nahm das Gespräch an.

»Hör mal«, rief Siniša am anderen Ende. »Ich habe im Hotel niemanden erreicht. Wann kommt noch mal dein Ex?«

»Philip kommt nächste Woche, Donnerstag, und Adam ist jetzt schon außer Rand und Band. Gibt es ein Problem?«

»Ich bin auf dem Weg nach Sarajevo und wollte vorschlagen, ob du da nicht selbst einfach mal {14}vorbeifährst. Kleine-Save-Straße. Hotel Amsterdam. Die wollten am Montag eröffnen. Ich weiß, es ist eine Zumutung, aber ich kenne die beiden jungen Leute, sie haben so viel Arbeit und Liebe in ihr Projekt gesteckt, und ich finde, das muss man unterstützen.«

»Einverstanden.« Milena setzte den Blinker.

»Und hast du mit deinem Botschafter-Chef schon gesprochen?«

»Wegen deines Vertrages? Noch nicht.«

»Es eilt auch nicht. Wirklich nicht.«

»Gut, dass du mich erinnerst. Ich werde es gleich ansprechen«, versprach Milena.

»Übrigens: Ich habe ein wunderbares Geschenk für Adam. Der Kleine wird begeistert sein.«

»Der Kleine wird immer größer.«

»Eben!«

»Bis später.« Milena beendete die Verbindung, legte den Hörer auf das Armaturenbrett und kurbelte ihr Fenster herunter.

Der Pförtner, ein ganz junger Mann, kam aus seinem Häuschen und zog die Jacke seiner blauen Uniform straff. »Ihren Ausweis, bitte.«

»Ich arbeite hier, das wissen Sie doch.«

»Es geht nicht gegen Sie persönlich. So sind die Vorschriften.«

»Natürlich.« Milena zog ihre Tasche vom Beifahrersitz und begann zu wühlen. Zwischen ihrer {15}Geldbörse, Geleebananen und anderem Plunder fand sie, schneller als sie gedacht hätte, das kleine, in Plastik eingeschweißte Dokument.

»Kleiner Tipp«, sagte der junge Mann und gab ihr die Karte zurück. »Sie könnten sich den Ausweis auch an einem kleinen Band um den Hals hängen. Wie eine Kette. Dann müssen Sie nicht jedes Mal suchen.« Er legte kurz die Hand an seine Mütze und verschwand im Pförtnerhäuschen.

Kurz darauf ging die Schranke hoch, und Milena rollte auf das Botschaftsgelände. Rein rechtlich befand sie sich jetzt auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland, und wie immer, wenn sie auf dem eigens für sie reservierten Parkplatz zum Stehen kam, war sie mit diesem Land, seinen strengen Vorschriften und den Menschen, die so gewissenhaft für deren Einhaltung sorgten, versöhnt. Wenn sie dagegen zusammenrechnen würde, wie viel Zeit sie schon bei der Parkplatzsuche oben in der Stadt, am Institut, vergeudet hatte!

Sandra, die Assistentin des deutschen Botschafters, stand im Vorzimmer an ihrem Schreibtisch und überprüf‌te den Inhalt eines Pakets, ein Stapel weißer Hemden in einem flachen Karton. Wie immer trug sie ein Kostüm mit breitem Gürtel, das ihre Wespentaille betonte, und ihr Make-up war so perfekt, als käme sie gerade vom Stylisten.

{16}»Guten Tag«, sagte Milena und klopf‌te sachte an die Tür. »Ist Herr Kronburg in seinem Büro?«

»Graf Kronburg«, antwortete Sandra, ohne aufzuschauen, »ist in einer Besprechung.« Sie breitete das Seidenpapier über die Hemden und schob den Deckel darüber. Das Wappen auf dem laminierten Karton deutete auf einen noblen Absender hin. Wahrscheinlich kamen die Hemden von einem Herrenausstatter aus London.

»Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn Herr Kronburg zu sprechen ist?« Milena rückte den Riemen ihrer Tasche über der Schulter zurecht. »Was ich Sie noch fragen wollte …«

Sandra unterzeichnete einen Lieferschein, legte ihn auf den Karton und stellte beides auf den Aktenschrank. »Die Besprechung ist bis sechzehn Uhr angesetzt.«

»Hat Herr Kronburg sich schon zu meinem Vorschlag geäußert, Doktor Stojković einen Beratervertrag zu geben?«

»Doktor Stojković?« Sandra schaute Milena herausfordernd an. »Sie meinen Ihren Freund, diesen Anwalt? Tut mir leid. Über diese Angelegenheit weiß ich leider gar nichts.«

»Danke.« Milena drehte sich um und ging über den Flur in ihr Büro hinüber.

Am liebsten hätte sie mit der Tür geknallt. Dass {17}Sandra ›gar nichts‹ wusste, war unmöglich. Sie sprach drei Sprachen fließend, überließ nichts dem Zufall und wusste und überwachte alles. Sie sorgte sogar vorausschauend dafür, dass ihr Boss, Graf Alexander von Kronburg, am Abend im Restaurant auf jeden Fall Dill zum Fisch serviert bekam und bitte nicht die Petersilie, die eigentlich in Serbien üblich war. Milena warf ihre Tasche auf die Ledercouch und die Jeansjacke hinterher.

Aber vor allem war sie wütend, dass sie sich von einer jungen Frau, die mit Anfang zwanzig nicht einmal halb so alt war wie sie selbst, so schnell verunsichern ließ. Ein herablassender Ton und eine hochgezogene Augenbraue von dieser Person reichten bereits. Mit anderen Worten: Milena ärgerte sich, weil sie sich beim Versuch ertappt fühlte, einem guten Freund zu einem gut dotierten Beratervertrag zu verhelfen. Dabei kannte sich niemand besser im Dickicht der serbischen Paragraphen und Gesetzestexte aus als Siniša, und niemand war besser geeignet, ihr mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und die EU-Integration Serbiens voranzubringen.

Milena ließ sich in den bequemen Schreibtischsessel fallen, und die exzellente Federung fing die Wucht ihres Gewichts spielend ab. Die Wiedervorlagemappe lag im rechten Winkel zur Schreibtischkante, die Blumen in der Vase waren frisch, {18}und nirgends war ein Stäubchen zu sehen. Milena steckte sich eine Geleebanane in den Mund und öffnete das E-Mail-Programm.

Das Gesprächsprotokoll der Sitzung vom vergangenen Mittwoch. Die neue Stabliste, die Spesenabrechnung, viel unnützes Zeug. Und eine Nachricht von Philip, die kurioserweise im Spam-Ordner gelandet und schon zwei Wochen alt war. Wir landen also am Donnerstag, 5. Mai, um 13 Uhr, schrieb er, Flughafen Nikola Tesla, Belgrad. Treffen wir uns mit Adam am Flughafen, oder sollen wir direkt ins Hotel fahren? Apropos: Welches? Schickst du mir noch die Koordinaten? Beste Grüße, Philip. P.S.: Jutta freut sich wahnsinnig, dich endlich kennenzulernen.

»Ja, ja«, murmelte Milena. »Ich mich auch, ich kann es gar nicht mehr abwarten. Und einen roten Teppich rollen wir euch außerdem aus.« Aber das mit dem Hotel – das musste sie jetzt wirklich erledigen.

Sie öffnete die Suchmaschine, tippte »Hotel Amsterdam Kleine-Save-Straße«, und auf dem Bildschirm erschien die Mitteilung: Website under construction. Keine Telefonnummer, nichts. Und wenn sie einfach ein anderes Hotel buchte?

»Störe ich?« Alexander Kronburg, der deutsche Botschafter, lehnte in der Tür, eine Hand in der Hosentasche.

{19}»Kommen Sie herein.« Milena strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und hoffte, dass das Haar sich auf wundersame Weise zu einer schönen Welle ordnen würde.

»Bleiben Sie sitzen.« Alexander trat näher und wirkte seltsam schüchtern. »Sandra sagte, Sie wollten mich sprechen?«

»Richtig.« Milena überlegte, die Unordnung auf dem Sofa zu beseitigen, aber Alexander ließ sich bereits auf der Lehne nieder.

»Sie sehen so bekümmert aus«, sagte er.

»Ich war gestern in der amerikanischen Botschaft.«

»Und?«

»Die Amerikaner überlegen, sich aus dem Projekt zurückzuziehen.«

Alexander seufzte. »Das hatte ich befürchtet.«

»Wie bitte? Tatsächlich?«

»Weil unsere serbischen Partner bei den Emissionswerten tricksen, und die Amerikaner sind, was solche Manöver angeht, erfahrungsgemäß nicht besonders geduldig.«

»Aber wir stecken doch noch mitten in den Verhandlungen.«

»Was schlagen Sie vor?« Alexander streckte die Beine aus.

»Arbeitsteilung«, sagte Milena. »Ich sehe zu, dass {20}ich so schnell wie möglich den serbischen Energieminister treffe. Oder wenigstens den Staatssekretär.«

»Und ich?«

»Sie versuchen, bei den Amerikanern gut Wetter zu machen und ein bisschen Zeit zu schinden.«

»Einverstanden.« Alexander lächelte, und um seine Augen herum bildeten sich die kleinen Falten, die Milena so sehr mochte.

»Wie lange sind Sie jetzt eigentlich schon hier?«, fragte er plötzlich.

Milena überlegte. »Schon fast drei Monate.«

»Und mit der Doppelbelastung, Ihrer Arbeit am Institut, bei den Kriminalisten und Kriminologen, wird es Ihnen nicht zu viel?«

Milena machte eine unbestimmte Handbewegung. »Solange ich mir die Zeit frei einteilen kann, komme ich zurecht. Und die EU-Integration liegt mir am Herzen.«

»Das freut mich.« Er erhob sich. »Trotzdem hätte ich einen kleinen Vorschlag.«

»Nämlich?«

»Bringen Sie doch mal ein paar persönliche Gegenstände mit. Zum Beispiel ein Foto von Ihrem Sohn.«

Milena schaute sich erstaunt um.

»Und nächste Woche« – er wandte sich zum {21}Gehen – »haben wir endlich mal Zeit, ein paar Dinge zu besprechen.«

»Was für Dinge?«

»Zum Beispiel, was wir mit Ihrem Freund machen, Ihrem Herrn Stojković.«

»Nur, dass wir uns nicht missverstehen«, Milena lächelte. »Er ist bloß ein Kollege.«

Alexander hob vielsagend die Hände und verschwand. Verwundert blieb Milena zurück.

Nächste Woche. Ausreichend Zeit. Alarmiert klickte sie in ihren Terminkalender. 5.–8. Mai. Geberkonferenz der West-Balkanländer, Auswärtiges Amt, Berlin.

Milena lehnte sich zurück. Den Eintrag hatte sie noch nie zuvor gesehen. Am sechsten Mai war Adams Geburtstag, sein Vater und dessen Lebensgefährtin reisten am fünf‌ten aus Hamburg an, Vera backte Frankfurter Kranz und Schneetorte, und Siniša hatte ein wunderbares Geschenk – nie im Leben hätte sie diesem Termin zugestimmt.

Sie nahm den Telefonhörer, zögerte, legte ihn wieder zurück und ging hinüber ins Vorzimmer.

Sandra war am Tippen, und die Tür zu Alexanders Büro war zu.

Milena trat an Sandras Schreibtisch. »Der Termin, nächste Woche in Berlin«, sagte sie. »Ich kann da unmöglich mitfahren.«

{22}Sandra nahm zwei kleine Kopfhörer aus den Ohren. »Jetzt haben wir ein Problem.«

»Wann haben Sie den Termin eingetragen? Erst kürzlich? Warum weiß ich nichts davon?«

»Ich führe darüber kein Buch, aber ich kann gerne den Techniker rufen, der wird diese Dinge sicherlich für Sie recherchieren.«

»Ich muss sofort mit Herrn Kronburg sprechen.«

»Der Graf befindet sich in einer Telefonkonferenz.« Sandra beugte sich über den Tisch und schaute Milena von unten herauf mit ihren großen, rehbraunen Augen an. »Frau Lukin«, sagte sie. »Wenn Sie wollen, übernehme ich in dieser Sache die Verantwortung. Kein Problem. Wirklich nicht. Aber wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen?« Sie steckte sich die Stöpsel zurück in die Ohren, und im nächsten Moment erfüllte wieder ein leises Klappern den Raum.

Milena ging über den Flur zurück in ihr Büro. Sie musste sich eben angewöhnen, regelmäßig ihre Termine zu checken. Dinge, die ihr aufgetragen wurden, zeitnah erledigen. Und sich ein Beispiel an Siniša nehmen und – wenn möglich – Aufgaben an andere delegieren.

Als sie mit dem Auto wieder stadteinwärts fuhr, klingelte ihr Telefon. Es war Vera, ihre Mutter. »Das Essen ist fertig«, sagte sie. »Wir warten auf dich.«

{23}»Ich bin auf dem Weg«, antwortete Milena. »Ich muss nur noch einen kleinen Abstecher machen, das Zimmer für Philip und Jutta reservieren.«

{24}3

»Wann kommt er?«, fragte Cecilia.

»Um vier.«

»Bist du nervös?«

Luca schaute auf seine Armbanduhr. »Warum sollte ich nervös sein?«

»Erzähl doch noch mal.« Sie rückte näher an ihn heran, nahm seinen Arm und legte ihn sich um die Schulter. »Also. Ihr habt euch gestern zum ersten Mal wiedergesehen.«

»Vorgestern.«

»Vorgestern«, wiederholte sie. »Nach wie langer Zeit?«

Luca strich ihr über die Wange. »Fünfundzwanzig Jahre.«

»Fünfundzwanzig Jahre.« Aus Cecilias Mund hörte es sich fast andächtig an. »Du warst damals siebzehn, oder?«

»Exakt.«

»Und er?«

»Ein Jahr jünger, sechzehn.«

{25}»Und ihr wart beste Freunde.«

»Allerbeste.«

»Und ihr hattet seither keinen Kontakt mehr? Kein Brief, keine Karte, kein Anruf?«

»Nichts. Absolute Funkstille.«

Cecilia drehte den Kopf, um ihn ansehen zu können. »Und als du ihn jetzt getroffen hast, nach so vielen Jahren – wie war das?«

Luca zuckte die Achseln. »Wie soll es gewesen sein? Nett.«

»Nett?« Cecilia lachte. »Komm schon. Ich meine: Ist er noch so wie früher? Hast du ihn gleich wiedererkannt?«

»Er ist natürlich älter geworden«, sagte Luca. »Und, wie soll ich sagen? Das Unbeschwerte ist weg.«

»Unbeschwert? War er denn früher so ein Witzbold?«

Luca schüttelte den Kopf. »Ich würde eher sagen: ein Draufgänger. So einer, der nicht lange fackelt. Wenn du, zum Beispiel, zu ihm gesagt hättest: ›Wollen wir abhauen?‹, hätte er geantwortet: ›Okay.‹ Wäre losgegangen, hätte sich umgedreht und gefragt: ›Was ist, worauf wartest du?‹«

»Und dann? Seid ihr wirklich abgehauen?«

»Jurij hat immer den Eindruck vermittelt, als hätte er nichts zu verlieren.«

{26}»Und du?«

»Sei mir nicht böse.« Luca küsste sie auf die Stirn. »Aber musst du nicht los?«

Sie nahm die Beine vom Sofa und zog ihre Schuhe an. In ihren grünen Augen lag plötzlich ein melancholischer Ausdruck. »Irgendwann«, sagte sie, »will ich ihn kennenlernen, deinen Jurij.«

Er strich ihr eine Strähne hinters Ohr. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Aber erst einmal muss ich da alleine durch.«

»Am Sonntag bin ich zurück«, rief sie, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen.

Er hörte ihre Absätze auf dem Marmor. »Fahr vorsichtig!«, rief er ihr hinterher, aber da war sie wohl schon aus dem Raum.

Das Garagentor ging hoch, der satte Klang des Lancia, der sich schnurrend über die Auf‌fahrt entfernte.

Er stand auf und ertappte sich dabei, wie er seufzte, ganz tief, als hätte er gerade eine schwierige Operation hinter sich gebracht. Dabei stand das eigentliche Ereignis doch noch bevor. Er trat durch die Flügeltür auf die Terrasse hinaus.

Wie still es hier draußen war. Die Amseln, die einem sonst den letzten Nerv rauben konnten, waren völlig verstummt. Er sog die würzige Luft ein, als müsste er vor sich selbst demonstrieren, dass {27}alles in Ordnung war. Aber er war wirklich nicht nervös. Höchstens ein bisschen angespannt. Man könnte auch sagen: aufgeregt. In weniger als einer Stunde würde sein alter Freund Jurij dieses Haus betreten, zum ersten Mal nach all den Jahren, und würde sehen, wie er lebte und was aus ihm geworden war.

Er machte ein paar Schritte bis zur Rasenkante. Nicht, dass er protzen wollte, gar nicht. Im Gegenteil. Er würde Jurij erzählen, wie es war: dass Cecilia dieses Haus gefunden und gekauf‌t hatte und dass es eine Bruchbude gewesen war. Der Wintergarten hatte den Namen nicht verdient, und der Kinosaal und die Sauna im Keller waren allein Cecilias Idee gewesen. Sein Ding war der Garten, und der war kleiner, als man von hier oben denken würde. Wenn das Laub erst dichter wurde, würde man nicht mal mehr die Donau da unten sehen.

Er schaute zur Ulme hinauf. Der Blick von da oben musste gigantisch sein. Vielleicht würde er irgendwann mal ein Baumhaus bauen, ein richtiges, wo man die Strickleiter hochziehen konnte. Von so etwas hatte er als Kind immer geträumt.

Jurij würde Witze machen, würde ihn »Luca-Laubenpieper« nennen.

Jurij Pichler. Er hatte ihn schmaler in Erinnerung gehabt und irgendwie auch größer. Zwei Mal hatten {28}sie telefoniert, aber als er dann plötzlich bei ihm im Lokal stand, so typisch breitbeinig, war ihm doch der Schreck in die Glieder gefahren.

Trotz der grauen Schläfen hatte er sofort gewusst: Das ist er, hatte ihn sich erst einmal in Ruhe angeschaut, bevor er aus der Deckung kam, und sein größtes Problem war in dem Moment gewesen: Wie begrüßt man sich nach so langer Zeit und allem, was passiert war?

Sie hatten sich die Hand gegeben, ganz förmlich. Er hatte einen Tisch hinten in der Ecke reserviert, wo es ruhiger war, und erst einmal Vorspeisen bringen lassen. Wein? Jurij wollte nicht, das hatte ihn überrascht, aber er hatte sich ihm sofort angeschlossen. Ein bisschen Geplänkel, Jurij sagte, sein Restaurant sei ja »das erste Haus am Platz«, und Luca erklärte, der Standort sei das A und O. Was man eben so redet.

Hoffentlich hatte er nicht zu viel geredet. Aber er hatte das Gefühl, dass es Jurij wirklich interessierte. Die Systemgastronomie, erklärte er Jurij, sei die Zukunft. Die Leute wollten eben genau wissen, was sie für ihr Geld bekamen – egal, ob sie das Restaurant in London, Mailand oder Belgrad betraten. Und Cecilia und er waren ein gutes Team: Sie war Halbitalienerin, Immobilienmaklerin, hatte einen gewissen Lifestyle. Himmel, was hatte er für einen {29}Quatsch geredet. Cecilia war einfach cool, elegant. Nur mit dem Kinderkriegen – dafür hatten sie sich zehn Jahre zu spät kennengelernt.

»Okay«, hatte Jurij gescherzt: »Wenn ich den Karren vor die Wand fahre, bist du der Erste, den ich nach einem Job frage.«

Und dann hatten sie doch einen Roten bestellt. Den Chianti, übrigens.

Jurij erzählte, er sei gerade dabei, aus seinem Elternhaus ein kleines Hotel zu machen. Die Gegend unten am Hafen, Kleine-Save-Straße, sei im Kommen. Komischer Zufall, stellten sie fest, dass sie jetzt beide in der Gastronomie tätig waren. Seit einem halben Jahr war Jurij nun wieder in Belgrad, war mit einer Niederländerin verheiratet, hatte ebenfalls keine Kinder, und Englisch und Holländisch würde er inzwischen fast besser beherrschen als seine serbische Muttersprache. »Amsterdam« sollte das Hotel heißen.

Luca lauschte. Hatte da nicht gerade eine Tür geklappt? »Hallo?«, rief er.

Er nahm zwei Holzscheite vom Stapel, in jede Hand einen, und ging wieder hinein. »Cecilia?«, rief er. »Hast du etwas vergessen?«

Keine Antwort. Da hatte wohl wieder jemand vergessen, den Fensterladen einzuhaken.

Falls Jurij heute Abend länger blieb, würde er {30}später noch ein Feuer machen und ein Steak in die Pfanne hauen.

Von früher war bei ihrem ersten Treffen noch keine Rede gewesen. Keine alten Zeiten aufgewärmt, kein: »Weißt du noch?« Und das hatte ihm gefallen. Vorbei war vorbei. Sie waren beide weitergegangen in ihrem Leben, waren inzwischen erwachsene Männer, nicht mehr die dummen Jungs von früher. Immerhin, eine Bemerkung hatte Jurij fallenlassen: Nach Argentinien hatte seine Familie ihn damals geschickt. Sieben Jahre hatte er bei seinem Onkel in der Fabrik Schuhsohlen geklebt. Sieben verdammte Jahre. Derselbe Zeitraum, den Luca in der Haft und im Lager verbracht hatte.

Luca schaute auf die Uhr. Jurij müsste jede Minute hier sein. Würden sie heute darüber sprechen, was in jener Nacht, vor fünfundzwanzig Jahren, passiert war? Bitte schön, warum nicht? Er war mit sich und seiner Vergangenheit im Reinen. Und so tragisch, dumm und unnötig diese Geschichte damals auch gewesen sein mochte, sie hatte im Nachhinein ja auch ihr Gutes: Er, zum Beispiel, würde heute nicht hier stehen und nicht der sein, der er war, wenn nicht alles so gekommen wäre, wie es kam.

Er schlenderte in die Eingangshalle. Wollte Jurij wirklich nur an alte Zeiten anknüpfen? Oder ging {31}es um etwas anderes? Brauchte er am Ende Geld? Einen günstigen Kredit für sein kleines Hotel?

Schlag vier klingelte es an der Pforte. Bevor Luca auf den Knopf drückte, betrachtete er das Bild, das die Überwachungskamera von der Straße übermittelte.

Jurij stand da, wie immer breitbeinig. Jurij Pichler, der einzige Freund, den er in seinem Leben gehabt hatte.

Er betätigte den Öffner und beobachtete, wie Jurij mit festen Schritten die Auf‌fahrt heraufkam.

{32}4

Die Kleine-Save-Straße war eine jener sanft ansteigenden Gassen, die den Hafen mit der oberen Altstadt verbanden. Rechts und links standen schmale Häuser, zwei und drei Stockwerke hoch, enge Gehwege. Milena fuhr Schritttempo und überlegte, ob Philip, ihr Ex, diese Gegend eigentlich kannte. Nur einmal war er nach Belgrad gekommen. Sie erinnerte sich genau. Es war kurz vor ihrer Hochzeit gewesen, sein Antrittsbesuch sozusagen. Sie hatte ihn durch die Stadt geführt und ihm all die Plätze und Ecken gezeigt, die in ihrem Leben wichtig waren: Wo sie geboren wurde, wo sie in den Kindergarten ging, wo zur Schule, wo sie studiert hatte. Der erste Kuss auf der Save-Promenade, der letzte Kaffee im Bahnhofslokal, bevor sie nach Deutschland ging und Philip in ihr Leben treten sollte.

Am Abend hatte er völlig erschlagen, mit Blasen an den Füßen, bei Vera in der Küche gesessen, und seine zukünftige Schwiegermutter hatte aufgetischt: {33}Gibanica, Gulasch, Grießflammerie. Milena übersetzte, dabei gab es kaum etwas zu übersetzen, und von dem wenigen, was Philip sagte, ließ sie manche Bemerkung lieber unter den Tisch fallen und erfand dafür an anderer Stelle noch ein bisschen dazu. Noch heute sagte Vera: »Dass er damals nichts gegessen hat, war schon ein schlechtes Zeichen.«

An diese Dinge dachte Milena, als sie mit ihrem Lada die Kleine-Save-Straße hochfuhr und nach dem Hotel Amsterdam Ausschau hielt, in dem sie ihren Ex und seine Lebensgefährtin unterbringen wollte.

Das schmale Haus stand in einer leichten Kurve und war das einzige, das frischverputzt und freundlich angestrichen war. Die Pilaster aus rotem Backstein und das Mauerwerk um die Sprossenfenster herum waren liebevoll herausgearbeitet und farblich abgesetzt. Milena schaltete die Warnblinkanlage ein und überlegte, ob an dieser Stelle früher vielleicht das Hutgeschäft gewesen war. Nein, der Laden existierte zwei Häuser weiter und sah im Vergleich zu diesem renovierten und sanierten Gebäude inzwischen noch verstaubter und armseliger aus. Das Hotel war ein kleines Schmuckstück, und Siniša hatte recht: Es war genau das Richtige für Philip und Jutta.

Milena stellte den Motor ab und stieg aus.

{34}Die hohe Eingangstür aus Glas war verschlossen. Sie klingelte, aber kein Ton war zu hören. Vielleicht war die Anlage kaputt?

Drinnen war alles dunkel. Ein Bereich mit kleinen Tischen und bunt zusammengewürfelten Stühlen. Dahinter ein Empfangstresen, der abends anscheinend auch als Bar benutzt werden sollte. Seitlich davon gab es ein paar gemütliche Klubsessel und einen Kamin. Aber kein Mensch war zu sehen.

»Ich fürchte, hier ist schon wieder Sense«, sagte jemand hinter ihr.

Ein älterer Herr mit Schirmmütze schaute missmutig an der Fassade hoch. »Da hat sich wohl jemand finanziell ein bisschen übernommen.«

Milena folgte seinem Blick. Oben bewegte sich eine Gardine.

»Kennen Sie die Leute?«, fragte sie.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Über dreißig Jahre habe ich hier mein Bier getrunken. Aber heutzutage muss ja alles umgekrempelt werden. Große Fenster und alles neu. Zum Kotzen.«

»Ich finde, das Hotel macht einen guten Eindruck.«

»Und ich erkenne meine eigene Stadt nicht mehr. Haben Sie mal gesehen, was hier am Wochenende für ein Volk unterwegs ist? Von sonst woher.«

Brummelnd zog er weiter, und Milena sah, wie {35}eine Frau, ungefähr ihr Alter oder etwas jünger, mit Einkaufstüten die Gasse entlangkam und in den schmalen Weg neben dem Hotel einbog.

»Entschuldigung!«, rief sie laut.

Die Frau blieb stehen. Über dem T-Shirt trug sie eine weitgeschnittene karierte Hemdbluse und auf der Nase eine schwarze Hornbrille. Hinter der Spiegelung waren die Augen kaum zu erkennen.

»Gehören Sie zufällig zum Hotel?«, fragte Milena. »Oder wissen Sie, was da los ist? Ich würde nämlich gerne ein Zimmer buchen.«

»Die Eröffnung ist bis auf weiteres verschoben.«

»Sind Sie die Besitzerin?«

Mit den Tüten rechts und links, pustete die Frau sich eine Strähne aus dem Gesicht und trat ein wenig zurück. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Milena Lukin ist mein Name. Ich muss nächste Woche Gäste aus Deutschland unterbringen. Der Tipp mit Ihrem Hotel kam von Siniša Stojković.«

»Herrn Stojković?« Das Gesicht der Frau hellte sich ein wenig auf. Sie musste ihre Tüten absetzen, um Milenas Hand zu ergreifen. »Tut mir leid«, sagte sie, »aber wir haben im Moment technische Probleme.«

»Siniša hatte versucht, Sie telefonisch zu erreichen, und da auch Ihre Internetseite nicht aktiv ist, bin ich jetzt einfach hierhergefahren.«

{36}»Tut mir leid, dass Sie sich umsonst hierherbemüht haben. Wie gesagt …« Sie zog ihre Umhängetasche nach vorne. »Aber das hier kann ich Ihnen geben.« Sie überreichte Milena einen Flyer und hob ihre Tüten wieder an.

»Warten Sie.« Milena kramte ihr Portemonnaie aus der Tasche hervor. »Falls es mit der Eröffnung kurzfristig doch noch klappen sollte« – sie gab der Frau ihre Karte –, »sagen Sie mir einfach Bescheid.«

Die Frau nahm die Karte und ließ sie in ihrer Hosentasche verschwinden. Dann drehte sie sich um, ging den holprigen Weg entlang und verschwand hinter dem Haus. Schutt und Steine türmten sich dort und die alten sanitären Anlagen – wahrscheinlich das ganze Zeug, das man bei den Bauarbeiten aus dem Haus geholt hatte.

*

Als Milena nach Hause kam und auf der Fahrt in den fünf‌ten Stock im Lift die Schmierereien an der Kabinenwand betrachtete, erinnerte sie sich, dass Vera heute Morgen angekündigt hatte, die Gardinen zu waschen. Hoffentlich hatte die alte Waschmaschine nicht gerade jetzt schlappgemacht, das hätte ihr noch gefehlt.

»Hallo!«, rief Milena und zog die Wohnungstür hinter sich ins Schloss, stellte ihre Einkaufstüte ab {37}und hängte den Schlüssel ans Brett. Es roch nach überbackenem Käse, und sie merkte, wie hungrig sie war. Sie schlüpf‌te in ihre Pantoffeln.

Die Nebenkostenabrechnung war gekommen und lehnte dekorativ am Strohhut auf der Anrichte, außerdem ein Werbegutschein für den neuen Fußpflegesalon in der Carnegie-Straße. Die Gardinen im Wohnzimmer rochen frisch und sahen aus wie neu.

Fiona, die Katze, saß sittsam in der Küche auf Milenas Stuhl, zwischen Vera und Adam, die schon mit dem Essen begonnen hatten.

»Du bist spät«, sagte Vera. »Setz dich.«

Milena öffnete den Kühlschrank, um die Einkäufe zu verstauen. »Was macht dein Schnupfen?«, fragte sie und hielt ihre Hand an Adams Stirn.

»Oma und ich haben heute die Winterdecken weggepackt und die Sommerdecken rausgeholt«, sagte er.

Milena fuhr ihm über die Haare. »Sehr schön.«

»Und die Kopfkissen.«

»Das habt ihr gut gemacht.« Sie gab der Katze einen Stups, und Vera häuf‌te eine große Portion vom Auf‌lauf auf Milenas Teller. Die übriggebliebenen Putenschnitzel vom Vortag befanden sich darin, in Streifen geschnitten, außerdem Steinpilze und frischer Estragon.

»Haben wir noch Weißwein?«, fragte Milena.

Bevor Vera etwas sagen konnte, war Adam {38}bereits aufgestanden und holte die Flasche aus dem Kühlschrank.

Milena schaute ihren Sohn erstaunt an. »Habt ihr Französisch zurückbekommen?«

»Wieso?«

»Ich frage ja nur. Hast du ein schlechtes Gewissen?«

»Lass den Jungen«, sagte Vera. »Es ist alles in Ordnung.«

Als er im Bett lag – die Zähne geputzt, Arme und Beine mit der guten Pavlović-Creme eingerieben – und Milena zurück in die Küche kam, legte Vera ihr Kreuzworträtsel beiseite. Milena schenkte sich einen Rest kalten Kaffee ein und setzte sich zu ihr an den Küchentisch.

»Was ist los?«, fragte sie.

Vera nahm ihre Brille ab. »Ich mache mir Sorgen«, sagte sie.

»Hat er etwas angestellt?«

»Ich glaube, er brütet etwas aus.«

»Wie kommst du darauf? Er hat dir heute bei den Betten geholfen.«

»Und bei den Gardinen.«

»Na also.«

»Das soll er aber nicht. Er soll lernen, sich wie ein Mann zu benehmen.«

»Aber ich will nicht, dass er im Stehen pinkelt.«

{39}Vera schüttelte den Kopf. »Du willst mich nicht verstehen. Wir sind zwei Weiber, und wir müssen aufpassen, dass er nicht verweichlicht.«

»So ein Blödsinn.«

»Siniša ist völlig meiner Meinung.«

»Siniša? Was hat er jetzt damit zu tun?«

»Er hat angerufen. Er hat dich nämlich gesucht.«

»Geh schlafen, Mama.« Milena stellte ihren Becher in die Spüle. »Und mach dich nicht verrückt.«

Sie gab ihrer Mutter einen Kuss, ging in ihr Zimmer und knipste die Lampe über dem Schreibtisch an. Kurz horchte sie in den Flur, dann schloss sie die Tür, nachdem – im letzten Moment – Fiona hereinhuschte.

Milena nahm einen Zigarillo aus der Schachtel und stellte das Fenster auf Kipp. Sie rauchte, streichelte die Katze und starrte auf das Haus gegenüber, die graue Betonwand. Einmal im Leben kam Philip zu Besuch, und die ganze Familie drehte durch. Seit Wochen fieberte Adam seinem Geburtstag und seinem Vater entgegen. Milena war keine Psychologin, aber vielleicht hatte ihr Kind deswegen ein schlechtes Gewissen. Sie streif‌te die Asche ab.

Sie wusste nicht, ob sie bei ihrer Erziehung alles richtig machte, ob sie zu wenig Zeit mit ihrem Kind verbrachte, es zu sehr verhätschelte, nicht konsequent genug war, Vera zu viel Verantwortung {40}aufbürdete. Aber Adam war ein geliebtes Kind. Und wenn er anders war als andere Jungs, zu sensibel, verweichlicht oder was auch immer – bitte. Sie hatte damit kein Problem.

Oder doch? Sie drückte den Zigarillo aus, setzte sich an den Schreibtisch und zog den grünen Ordner heraus, das Material für die nächste Sitzung, Kapitel 27 des EU-Vertrags. Das Gesetz zur Verringerung von Kohlenmonoxid.

Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Die Serben tricksten bei den Emissionen und erklärten, das Verbrennen von Heizöl sei eine Form der regenerativen Energiegewinnung, was natürlich Blödsinn war. Für die Stromerzeugung brauchte man Biomasse, und Biomasse brauchte man, um die EU-Verträge zu erfüllen und endlich an die Gelder zu gelangen, die für den Aufbau des Landes so dringend benötigt wurden. Und genau das war das Problem. Der Energieminister hatte es kürzlich auf den Punkt gebracht. »Wir haben so viel Scheiße bei uns in Serbien, aber Kuhscheiße, die wir so dringend brauchen, haben wir nicht genug.«

Ihr Telefon leuchtete. Milena schaute auf das Display. Belgrader Nummer. Sie drückte auf die grüne Taste. »Hallo?«

»Spreche ich mit Frau Lukin?«

»Am Apparat.«

{41}»Entschuldigen Sie die späte Störung. Pichler ist mein Name. Karen. Wir haben heute Nachmittag kurz gesprochen. Sie erinnern sich?«

»Hotel Amsterdam, natürlich. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe wahrscheinlich einen etwas seltsamen Eindruck auf Sie gemacht.«

»Überhaupt nicht.«

»Sie sagten, Herr Stojković hätte versucht, uns anzurufen.«

»Richtig.«

»Könnten Sie mir vielleicht seine Nummer geben?«

»Haben Sie die nicht?« Milena schlug ihr Adressbuch auf.

»Leider nein.«

»Haben Sie etwas zu schreiben?« Milena diktierte die Nummer. »Und mit Ihrem Hotel«, fragte sie, »bleibt es dabei? Keine Eröffnung, oder haben Sie es sich anders überlegt?«

»Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich würde lieber erst einmal mit Herrn Stojković reden.«

»Natürlich. Rufen Sie ihn an. Er wird Ihnen sicher weiterhelfen.«

Stille am anderen Ende.

»Hallo?«, fragte Milena. »Sind Sie noch dran?«

Aber die Frau hatte schon aufgelegt.

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