Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes - Georges Simenon - E-Book

Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes E-Book

Georges Simenon

5,0

Beschreibung

Eine amerikanische Diplomatenwitwe und ihre Zofe wurden grausam ermordet. Schwer verdächtig ist Joseph Heurtin, der 27-jährige Laufbursche eines Blumenhändlers. Heurtin schweigt und wird zum Tode verurteilt. Nur Maigret ist von seiner Unschuld überzeugt und greift zu drastischen Ermittlungsmethoden: Er inszeniert Heurtins Flucht aus dem Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses La Santé und lässt ihn von seinen Männern beschatten. Als die Befreiungsaktion ans Licht kommt, gerät der Kommissar unter Druck – wie noch nie in seiner Karriere. Maigret erklärt, dass er den Mörder innerhalb von zehn Tagen finden werde, andernfalls trete er zurück. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt ...

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Der 5. Fall

Georges Simenon

Maigret und der Kopf eines Mannes

Roman

Aus dem Französischen von Brigitte Große

Kampa

1Überwachungstrakt, Zelle 11

Irgendwo schlug eine Glocke zwei, als der Sträfling auf seiner Pritsche saß und mit großen, knotigen Händen seine angezogenen Knie umschlang.

Eine Minute etwa verharrte er so, wie unentschieden, dann plötzlich streckte er seufzend seine Glieder und erhob sich in der Zelle, linkisch, riesig, der Kopf zu groß, die Arme zu lang, die Brust eingefallen.

Sein Gesicht war ausdruckslos, man hätte höchstens eine gewisse Stumpfheit oder unmenschlichen Gleichmut darin erkennen können. Trotzdem, bevor er auf die Tür mit dem verschlossenen Guckloch zuging, reckte er die Faust gegen eine Wand.

Dahinter lag eine weitere, völlig gleich aussehende Zelle, fünf gab es insgesamt im Überwachungstrakt des Gefängnisses La Santé.

Hier warteten zum Tode Verurteilte darauf, entweder begnadigt oder eines Nachts von einer würdevoll auftretenden Gruppe wortlos aus dem Schlaf gerissen zu werden.

Seit fünf Tagen klagte einer hinter dieser Wand, Stunde für Stunde, Minute für Minute, manchmal gedämpft und monoton, dann wieder schrie, heulte, brüllte er in ohnmächtiger Auflehnung.

Nummer 11 hatte seinen Nachbarn nie gesehen und wusste nichts von ihm. Allenfalls verriet dessen Stimme, dass er noch ganz jung war.

Gerade war nur ein mattes, mechanisches Seufzen zu hören, doch der, der gerade aufgestanden war, ballte die Fäuste, dass die Knöchel hervortraten, und ein Funken Hass blitzte in seinen Augen auf.

Aus dem Flur, den Innen- und Außenhöfen, der gesamten Festung, die dieses Gefängnis ist, aus den Straßen ringsum, ja aus ganz Paris drang kein Geräusch.

Nur dieses Gejammer von Nummer 10!

Nummer 11 zog krampfhaft an seinen Fingern und schauderte, bevor er die Tür berührte.

Die Zelle war erleuchtet, wie es im Überwachungstrakt Vorschrift war. Normalerweise saß ein Wärter im Flur, der die fünf Todeskandidaten stündlich durch das Guckloch kontrollierte.

Die maßlose Angst, mit der der Sträfling das Schloss streichelte, verlieh der Gebärde beinahe etwas Feierliches.

Die Tür ging auf. Der Stuhl des Wärters war leer.

Geduckt lief der Mann los, wie im Taumel. Bis auf die rot geränderten grünlichen Augen war sein Gesicht von fahlem Weiß.

Dreimal kehrte er um, weil er sich im Weg geirrt hatte und auf verschlossene Türen gestoßen war.

Am Ende eines Flurs hörte er Stimmen: Wärter unterhielten sich laut in einer Wachstube und rauchten.

Endlich gelangte er in einen Hof, wo die Dunkelheit von Zeit zu Zeit durch den Lichtkegel einer Lampe durchbrochen wurde. Hundert Meter von ihm entfernt ging ein Wachtposten vor dem Tor auf und ab.

Anderswo hätte man hinter einem erleuchteten Fenster lange einen anderen Mann beobachten können, der sich mit einer Pfeife im Mund über einen Schreibtisch voller Papiere beugte.

Wie gern hätte Nummer 11 noch einmal die Nachricht gelesen, die vor drei Tagen auf dem Boden seines Essnapfs geklebt hatte, aber den Zettel hatte er, wie vom Absender empfohlen, zerkaut und geschluckt. Vor einer Stunde noch hatte er jedes Wort auswendig gewusst, nun konnte er sich an manche Stellen nicht mehr genau erinnern.

Am 15. Oktober um zwei Uhr morgens wird Deine Zellentür offen und der Wärter anderweitig beschäftigt sein. Wenn Du dem unten skizzierten Weg folgst …

Der Mann fuhr sich mit heißer Hand über die Stirn, starrte entsetzt auf die Lichtkegel und hätte fast aufgeschrien, als er Schritte hörte. Doch das war draußen, jenseits der Mauer.

Dort klapperten Absätze auf dem Pflaster, während freie Menschen miteinander sprachen.

»Dass die sich trauen, für einen Sitzplatz fünfzig Franc zu verlangen!«, sagte eine Frau.

»Die haben halt auch ihre Kosten«, erwiderte eine männliche Stimme.

Der Sträfling tastete sich die Mauer entlang, blieb stehen, weil er an einen Stein gestoßen war, lauschte, so bleich und absonderlich mit seinen endlos langen schlenkernden Armen, dass man ihn überall sonst für einen Betrunkenen gehalten hätte.

 

Die Gruppe stand mindestens fünfzig Meter entfernt von dem für sie unsichtbaren Gefangenen hinter einem Mauervorsprung an einer Tür mit der Aufschrift Verwaltung.

Kommissar Maigret vermied es, sich an den dunklen Backstein zu lehnen. Die Hände in den Manteltaschen, stand er fest und reglos auf seinen kräftigen Beinen, sodass er wie eine unbelebte Masse wirkte.

Nur das Knistern seiner Pfeife war in regelmäßigen Abständen zu hören. Man konnte die Unruhe in seinem Blick erraten, die sich nicht ganz vertreiben ließ.

Zehn Mal hatte er Coméliau, den es nicht an seinem Platz hielt, wohl schon die Hand auf die Schulter gelegt.

Der Untersuchungsrichter war um ein Uhr von einem Empfang gekommen, in Abendkleidung, den dünnen Schnurrbart sorgfältig gezwirbelt, mit lebhafterer Gesichtsfarbe als gewöhnlich.

Daneben stand mit grimmiger Miene und hochgeschlagenem Jackenkragen Gassier, der Gefängnisdirektor, und tat so, als ginge ihn das alles nichts an.

Es war sehr kalt. Der Wachtposten vor dem Tor stampfte mit den Füßen, und der Atem der Männer stieg in feinen Dunstsäulen auf.

Der Sträfling war nicht zu sehen, weil er die hellen Stellen mied. Aber sosehr er sich auch bemühte, kein Geräusch zu machen, konnte man ihn doch hin und her gehen hören und ihn quasi auf Schritt und Tritt verfolgen.

Nach zehn Minuten trat der Richter an Maigret heran und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch der Kommissar legte ihm so nachdrücklich die Hand auf die Schulter, dass er seufzend weiterschwieg und mechanisch nach einer Zigarette griff, die ihm sogleich aus der Hand genommen wurde.

Den drei Beobachtern war bewusst, dass der Gefangene den Weg nicht fand und jeden Moment einem Wachtposten in die Arme zu laufen drohte.

Und sie waren zur Untätigkeit verdammt! Sie konnten ihn ja schlecht zu der Stelle führen, wo unten ein Kleiderpaket auf ihn wartete und von oben ein Seil mit Knoten herabhing.

Ab und zu fuhr draußen ein Auto vorbei. Ab und zu hörte man Leute reden, deren Stimmen im Gefängnishof merkwürdig hallten.

Die drei Männer konnten sich nur durch Blicke verständigen. Die des Direktors waren bissig, spöttisch, grimmig. Richter Coméliau spürte seine Angst und Nervosität immer größer werden.

Maigret zwang sich zu Ruhe und Zuversicht. Hätte er allerdings im Licht gestanden, hätte man den Schweiß auf seiner Stirn schimmern sehen.

Als es halb drei schlug, tappte der Sträfling immer noch umher. Doch eine Sekunde später traf es die drei Beobachter wie ein Schlag.

Sie hatten den Seufzer nicht gehört. Nur erahnt. Und nun ahnten, spürten sie auch die fieberhafte Hast des Mannes, der endlich über das Kleiderpaket gestolpert war und das Seil entdeckt hatte.

An den stetigen Schritten des Wachtpostens konnten sie das Verstreichen der Zeit ermessen. Leise wagte der Richter eine Frage:

»Und Sie sind sicher, dass …«

Maigrets Blick ließ ihn verstummen. Das Seil bewegte sich. Ein heller Fleck erschien auf der Mauer: das Gesicht des Häftlings Nummer 11, der sich am Seil emporhangelte.

Wie lang das dauerte! Zehnmal, zwanzigmal länger als vorgesehen. Und als er endlich oben war, rührte er sich nicht mehr. Es sah aus, als ob er aufgeben wollte.

Wie ein Schattenriss lag er flach auf der Mauerkrone.

War ihm schwindlig? Hatte er Angst, sich zur Straße hinunterzulassen? Hielten ihn Passanten davon ab oder ein Liebespaar, das sich in einen dunklen Winkel schmiegte?

Richter Coméliau knackte vor Ungeduld mit den Fingern. Der Direktor murmelte:

»Jetzt brauchen Sie mich ja vermutlich nicht mehr.«

Endlich wurde das Seil hochgezogen und auf der Straßenseite hinuntergelassen. Der Mann verschwand.

»Wenn ich kein so großes Vertrauen in Sie hätte, Kommissar, hätte ich mich niemals auf so ein Abenteuer eingelassen, das kann ich Ihnen versichern. Und ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich Heurtin nach wie vor für schuldig halte! Angenommen, er entwischt Ihnen …«

»Sehe ich Sie morgen?«, fragte Maigret bloß.

»Ich bin ab zehn Uhr in meinem Büro.«

Schweigend gaben die drei Männer einander die Hand. Der Gefängnisdirektor streckte seine nur widerwillig aus und brummelte im Gehen etwas Unverständliches vor sich hin.

Maigret blieb noch eine Weile stehen und näherte sich erst dem Tor, als er jemanden Hals über Kopf davonlaufen hörte. Er winkte dem Wachtposten zu, warf einen Blick in die menschenleere Straße und bog in die Rue Jean-Dolent ein.

»Ist er weg?«, fragte er eine an die Mauer gepresste Gestalt.

»Ja, Richtung Boulevard Arago. Dufour und Janvier beschatten ihn.«

»Du kannst jetzt schlafen gehen.«

Maigret drückte dem Inspektor zerstreut die Hand und steckte seine Pfeife an, während er sich mit schweren Schritten und gesenktem Kopf entfernte.

Es war vier Uhr früh, als er die Tür seines Büros am Quai des Orfèvres aufstieß. Seufzend zog er seinen Mantel aus, trank ein halbes Glas schales Bier, das noch auf dem Schreibtisch stand, und ließ sich in seinen Sessel fallen.

Vor ihm lag eine dicke gelbe Aktenmappe aus starkem Karton, auf deren Deckel ein Polizeischreiber in säuberlicher Handschrift vermerkt hatte:

Fall Heurtin

Das Warten sollte drei Stunden dauern. Die nackte Glühbirne war in eine Rauchwolke gehüllt, die sich beim leisesten Luftzug ausdehnte. Von Zeit zu Zeit stand Maigret auf, um den Ofen zu schüren, und setzte sich wieder hin, wobei er nach und nach seine Jacke, seinen Hemdkragen und schließlich die Weste ablegte.

Das Telefon war in Reichweite, um sechs Uhr nahm er den Hörer ab, um sich zu vergewissern, dass die Leitung in die Stadt wirklich stand.

Aus dem vollgestopften Ordner waren Berichte, Zeitungsausschnitte, Protokolle und Fotos auf den Schreibtisch gequollen. Maigret betrachtete sie aus der Entfernung, manchmal zog er ein Dokument näher zu sich heran, aber weniger um es zu studieren, als vielmehr um sich zu sammeln.

Beherrscht wurde das Ganze von einem zweispaltigen Text mit der Überschrift:

Joseph Heurtin, der Mörder von Mrs. Henderson und ihrer Haushälterin, heute Morgen zum Tode verurteilt

Maigret rauchte pausenlos und warf hin und wieder sorgenvolle Blicke auf den hartnäckig schweigenden Apparat.

Um zehn nach sechs klingelte es. Falsch verbunden.

Von seinem Sessel aus konnte der Kommissar einzelne Stellen lesen, aber er hatte die Unterlagen ohnehin alle im Kopf.

Joseph Jean-Marie Heurtin, 27, geboren in Melun, Laufbursche bei Monsieur Gérardier, Blumenhändler, Rue de Sèvres.

Ein Foto, das vor einem Jahr in einer Jahrmarktsbude in Neuilly aufgenommen worden war, zeigte einen Riesenkerl mit überlangen Armen, dreieckigem Kopf und fahler Haut, dessen Kleidung nicht allzu viel Geschmack verriet.

Schreckliche Tragödie in Saint-Cloud.

Reiche Amerikanerin und ihre Haushälterin erstochen.

Das war im Juli gewesen.

Maigret schob die grauenhaften Fotos des Erkennungsdienstes von sich weg: zwei Leichen aus jedem Blickwinkel, überall Blut, die Gesichter verzerrt, die Nachthemden verrutscht, besudelt, zerrissen.

Kriminalkommissar Maigret hat das Drama von Saint-Cloud aufgeklärt. Der Mörder sitzt hinter Gittern.

Dann wühlte er den Artikel hervor, der erst vor zehn Tagen erschienen war:

Joseph Heurtin, der Mörder von Mrs. Henderson und ihrer Haushälterin, heute Morgen zum Tode verurteilt.

Im Hof des Polizeipräsidiums entließ ein Gefangenentransporter seine nächtliche, überwiegend weibliche Beute. Auf den Fluren hörte man die ersten Schritte, der Nebel über der Seine lichtete sich.

Das Telefon klingelte.

»Hallo! Dufour?«

»Ja, Chef, ich bin’s …«

»Und?«

»Nichts. Das heißt … Also, wenn Sie wollen, fahre ich auch hin. Aber erst mal reicht Janvier.«

»Wo ist er?«

»Im Citanguette.«

»Citanwas?«

»Ein Gasthof bei Issy-les-Moulineaux … Ich schnappe mir jetzt ein Taxi und bringe Sie auf den neuesten Stand.«

Maigret vertrat sich ein wenig die Beine und ließ sich vom Bürodiener Kaffee und Croissants aus der Brasserie Dauphine bringen.

Er hatte gerade den ersten Bissen im Mund, als Inspektor Dufour, klein und korrekt mit seinem grauen Anzug, einem sehr hohen, sehr steifen Vatermörder und der gewohnt geheimnisvollen Miene eintrat.

»Erst einmal: Was ist das Citanguette?«, brummte der Kommissar. »Setz dich!«

»Eine Flussschifferkneipe am Seineufer zwischen Grenelle und Issy-les-Moulineaux.«

»Ist er direkt dorthin marschiert?«

»Nein, und es ist ein Wunder, dass wir ihn nicht verloren haben, Janvier und ich.«

»Schon gefrühstückt?«

»Ja, im Citanguette.«

»Na, dann schieß los!«

»Sie haben ihn ja abhauen sehen … Er ist weggerannt, als ob er eine Mordsangst hätte, wieder geschnappt zu werden. Und er hat sich nicht mehr eingekriegt bis zum Löwen von Belfort, den er ganz entsetzt angestarrt hat.«

»Hat er gemerkt, dass ihr ihn beschattet?«

»Bestimmt nicht! Er hat sich kein einziges Mal umgedreht …«

»Und dann?«

»Nur ein Blinder oder einer, der noch nie in Paris war, kann so rumrennen wie der … Auf einmal biegt er in eine Straße ein, die durch den Friedhof Montparnasse führt. Den Namen hab ich vergessen. Da war keine Menschenseele. Richtig zum Fürchten. Anscheinend wusste er nicht, wo er war, denn als er die Gräber hinter dem Zaun sah, ist er sofort wieder losgerast.«

»Weiter!«

Mit vollem Mund wirkte Maigret gleich viel entspannter.

»Irgendwann kamen wir zum Montparnasse. Die großen Cafés waren zu, nur ein paar Bars hatten noch geöffnet … Ich erinnere mich, dass er vor einer stehen blieb, aus der man Jazzmusik hörte. Eine Blumenverkäuferin ist mit ihrem Korb auf ihn zu, da ist er weiter …«

»In welche Richtung?«

»In gar keine irgendwie! Erst ist er den Boulevard Raspail entlang, dann durch eine Querstraße zurück, und schließlich stand er wieder vor dem Bahnhof Montparnasse.«

»Und was für ein Gesicht hat er gemacht?«

»Auch irgendwie gar keins! Genau wie bei der Vernehmung und vor Gericht: ganz bleich mit so einem ängstlichen, unsteten Blick. Schwer zu beschreiben … Eine halbe Stunde später waren wir bei den Markthallen.«

»Hat ihn jemand angesprochen?«

»Nein, niemand.«

»Hat er einen Brief aufgegeben?«

»Nein, Chef, das kann ich beschwören! Janvier ist ihm auf der einen Straßenseite gefolgt, ich auf der anderen. Nicht die kleinste Bewegung ist uns entgangen … Ach, warten Sie! Einmal ist er vor einem Wurststand stehen geblieben, hat kurz gezögert und ist dann weitergegangen, vielleicht weil er einen uniformierten Polizisten gesehen hat.«

»Hattest du nie den Eindruck, dass er nach einer bestimmten Adresse sucht?«

»Überhaupt nicht! Man hätte ihn eher für einen Betrunkenen halten können, der dorthin torkelt, wo Gott ihn hinschubst … Bei der Place de la Concorde kamen wir wieder an die Seine. Auf einmal fällt ihm ein, die Quais entlangzugehen … Zwei-, dreimal hat er sich hingesetzt.«

»Wo?«

»Einmal auf der Brüstung, dann auf einer Bank. Ich kann es nicht beschwören, aber ich glaube, er hat geweint. Jedenfalls hat er das Gesicht in den Händen vergraben.«

»Saß da sonst noch wer?«

»Nein … Dann ging es weiter … bis Moulineaux, stellen Sie sich das mal vor! Ab und zu ist er stehen geblieben, um aufs Wasser zu schauen. Die ersten Frachtkähne sind vorbeigeschippert. Dann strömten die Fabrikarbeiter auf die Straßen. Und er ist immer weitergegangen, immer weiter, wie einer, der überhaupt keine Idee hat, was er machen soll.«

»War’s das?«

»So ziemlich … Warten Sie! Am Pont Mirabeau hat er was aus der Tasche genommen …«

»Zehn-Franc-Scheine?«

»Ja, so sah es aus. Dann hat er sich umgeschaut, wahrscheinlich nach einem Bistro. Am rechten Ufer war aber nichts offen. Also ist er rüber auf die andere Flussseite und hat dort in einer kleinen Bar unter lauter Taxifahrern einen Kaffee und ein Glas Rum getrunken.«

»Im Citanguette?«

»Nein, noch immer nicht! Janvier und ich waren schon ganz schwach auf den Beinen. Und wir konnten nicht mal was trinken, um uns aufzuwärmen! … Dann ist er wieder los … über viele Wege und Umwege. Janvier hat sich alle Straßen notiert und wird Ihnen einen detaillierten Bericht abliefern … Schließlich sind wir wieder auf den Quais gelandet, in der Nähe einer großen Fabrik. Dort ist es völlig ausgestorben.

Ein paar Büsche und eine Wiese zwischen zwei Haufen Baumaterial … Um einen Kran herum hatten vielleicht zwanzig Frachtkähne festgemacht.

Jedenfalls würde man dort nie so einen Gasthof erwarten wie das Citanguette: ein kleines Bistro, in dem man auch was essen kann … rechts ein Schuppen mit einem Pianola und einem Schild: Samstags und sonntags Tanz.

Unser Mann trinkt noch einen Kaffee und einen Rum. Dann bestellt er Würstchen, auf die er sehr lange warten muss. Er spricht mit dem Wirt, und eine Viertelstunde später sehe ich die beiden in den ersten Stock verschwinden.

Wie der Wirt runterkommt, bin ich rein und habe ihn direkt gefragt, ob er Zimmer vermietet.

›Warum?‹, fragt er. ›Stimmt was nicht mit dem?‹

Anscheinend hat er schon öfter mit der Polizei zu tun gehabt. Täuschungsmanöver zwecklos. Also hab ich ihn lieber eingeschüchtert. Und ihm gedroht: Wenn er seinem Gast auch nur ein Wort sagt, wird seine Bude dichtgemacht.

Er hat ihn vorher nicht gekannt, da bin ich mir sicher. Die Stammkundschaft besteht aus Flussschiffern und Arbeitern aus der Fabrik nebenan, die um Punkt zwölf auf einen Aperitif vorbeischauen.

Heurtin hat sich wohl, kaum dass er im Zimmer war, aufs Bett geworfen und nicht einmal seine Schuhe ausgezogen. Als der Wirt ihn darauf aufmerksam gemacht hat, hat er sie von sich geschleudert und ist sofort eingeschlafen.«

»Ist Janvier noch dort?«, fragte Maigret.

»Ja. Man kann ihn anrufen, das Citanguette hat Telefon, weil die Flussschiffer sich oft mit ihren Auftraggebern in Verbindung setzen müssen.«

Der Kommissar nahm den Hörer ab. Ein paar Augenblicke später war er mit Janvier verbunden.

»Hallo! Was macht unser Mann?«

»Schläft.«

»Niemand Verdächtiges?«

»Nichts. Alles ruhig. Man hört sein Schnarchen bis ins Treppenhaus.«

Maigret legte auf und maß den kleinen Kerl vor sich von Kopf bis Fuß.

»Du lässt ihn doch nicht entkommen?«

Dufour wollte protestieren. Aber der Kommissar legte ihm die Hand auf die Schulter und fuhr mit ernsterer Stimme fort: »Hör zu, mein Bester! Ich weiß, dass du dein Möglichstes tust. Aber ich riskiere damit meine Stellung! Und noch einiges mehr … Andererseits kann ich nicht selbst dorthin, weil der blöde Kerl mich ja kennt …«

»Ich schwöre Ihnen, Kommissar …«

»Schwör lieber nicht! Geh jetzt!«

Schnell schob Maigret die Unterlagen wieder in den Ordner und steckte diesen in eine Schublade.

»Vor allem: Sag sofort Bescheid, wenn du dort Leute brauchst …«

Das Foto von Joseph Heurtin war auf dem Schreibtisch liegen geblieben, und Maigret starrte eine Weile auf den knochigen Schädel mit den abstehenden Ohren und den langgezogenen, fahlen Lippen.

Es gab drei psychiatrische Gutachten. Zwei bescheinigten ihm:

Mäßige Intelligenz, volle Schuldfähigkeit.

Das dritte, von der Verteidigung in Auftrag gegeben, wagte die Diagnose:

Erbliche Belastung, verminderte Schuldfähigkeit.

Maigret, der den Mann verhaftet hatte, hatte dem Polizeichef, dem Staatsanwalt und dem Untersuchungsrichter gegenüber behauptet:

»Der ist entweder verrückt oder unschuldig!«

Und das werde er auch beweisen.

Aus dem Flur war zu hören, wie Inspektor Dufour sich tänzelnd entfernte.

2Der Schlafende

Nach einem kurzen Treffen mit Richter Coméliau, der sich immer noch nicht beruhigen konnte, kam Maigret um elf Uhr nach Auteuil.

Es war ein grauer Tag, das Pflaster schmutzig, der Himmel hing tief über den Dächern. An dem Ufer, das der Kommissar entlangging, stand eine Reihe stattlicher Häuser, während die andere Seite mit ihren Fabriken, Brachen und Bergen von Baumaterial auf den Ladequais eher nach Vorort aussah.

Dazwischen lag bleigrau die Seine, aufgewühlt von flussauf, flussab fahrenden Lastkähnen.

Das Citanguette war aus der Entfernung leicht zu erkennen, denn der Gasthof stand einsam auf einem Gelände, wo alles Mögliche herumlag: Backsteine, Autowracks, Dachpappe, sogar Eisenbahnschienen.

Ein einstöckiger Bau in einem scheußlichen Rot, davor eine Terrasse mit drei Tischen und die übliche Markise mit der Aufschrift Wein – Imbiss.

Schauerleute, die offenbar Zement geladen hatten, da sie von Kopf bis Fuß weiß waren, verabschiedeten sich mit Handschlag von einem Mann in blauer Schürze und schlenderten dann zu einem am Ufer festgemachten Schiff.

Maigret sah müde aus und hatte trübe Augen, aber das lag nicht an der durchwachten Nacht.

So war es immer: Wenn ein Ziel, das er lange hartnäckig verfolgt hatte, zum Greifen nah war, ließ er sich gehen.

Eine Art Überdruss, gegen den er nicht ankam.

Er steuerte ein Hotel direkt gegenüber dem Citanguette an und trat an die Rezeption.

»Ich möchte ein Zimmer mit Blick auf die Seine.«

»Für länger?«

Er zuckte mit den Schultern. Es war nicht der beste Moment, ihm dumm zu kommen.

»Solange ich es brauche! Kriminalpolizei …«

»Wir haben nichts frei.«

»Gut, dann zeigen Sie mir doch mal Ihre Anmeldungen.«

»Das heißt … Warten Sie! Ich ruf mal den Etagenkellner an, ob vielleicht die 18 …«

»Idiot!«, stieß Maigret zwischen den Zähnen hervor.

Natürlich bekam er das Zimmer. Es war ein luxuriöses Hotel.

»Darf ich Ihr Gepäck nach oben bringen?«, fragte der Etagenkellner.

»Ich habe kein Gepäck. Bringen Sie mir ein Fernglas.«

»Ähm … Ich weiß nicht …«

»Los! Hol mir sofort ein Fernglas, egal woher!«

Seufzend zog Maigret seinen Mantel aus, öffnete das Fenster und stopfte sich eine Pfeife. Kaum fünf Minuten später hielt er ein perlmuttverziertes Opernglas in Händen.