Maigret und das Dienstmädchen - Georges Simenon - E-Book

Maigret und das Dienstmädchen E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Félicie ist jung, naseweis und störrisch, und sie ist die Einzige, die Maigret die entscheidenden Hinweise geben kann, um den Mord an ihrem Dienstherrn Jules Lapin aufzuklären. Der pensionierte Buchhalter wurde am helllichten Tag in seinem Schlafzimmer ermordet. Ein einzelnes Glas steht noch auf dem Tisch in der Gartenlaube. Maigret ahnt, dass da noch ein zweites gewesen sein muss, aber Félicie ist kein einziges wahres Wort zu entlocken.

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Der 25. Fall

Georges Simenon

Maigret und das Dienstmädchen

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Bärbel Brands

Kampa

1Holzbeins Beerdigung

Der Augenblick war sonderbar, und es hatte sich wohl wirklich nur um einen Augenblick gehandelt, um die Zeitspanne eines Traums, wie es heißt, auch wenn unsere Träume uns noch so lang erscheinen. Maigret hätte noch Jahre später genau auf die Stelle weisen können, an der es geschehen war, das Stück Gehsteig, auf dem er gestanden hatte, den Quaderstein, auf den sein Schatten gefallen war. Er hätte nicht nur die äußerlichen Gegebenheiten minutiös rekonstruieren können, sondern auch diesen unbestimmten Geruch und das Flimmern der Luft, die ihn an seine Kindheit erinnerten.

Zum ersten Mal in diesem Jahr verzichtete er auf seinen Mantel und befand sich schon um zehn Uhr morgens auf dem Land. Selbst seine dicke Pfeife schmeckte nach Frühling. Es war noch kühl. Maigret ging mit schwerem Schritt, die Hände in den Hosentaschen. Neben ihm Félicie, immer ein Stückchen voraus, denn während er einen Fuß vor den anderen setzte, musste sie zwei schnelle Schritte tun, um mitzuhalten.

Sie kamen an der hellroten Ziegelsteinfassade eines neuen Hauses vorbei. Im Schaufenster lagen verschiedene Gemüse, zwei oder drei Käsesorten und Blutwürste auf einer Steingutplatte.

Félicie eilte noch ein Stück voraus und streckte die Hand aus, um die Glastür aufzustoßen. Wahrscheinlich hatte die Ladenglocke diese seltsame Empfindung in ihm ausgelöst. Es war keine gewöhnliche Ladenglocke. Hinter der Tür hingen Metallröhrchen, und wenn jemand eintrat, schlugen sie gegeneinander und ließen eine zarte Melodie erklingen.

Als Maigret noch ein Kind war, hatte der Metzger im Dorf sein Geschäft renoviert und ein ähnliches Glockenspiel angebracht.

Auf einmal schien sich besagter Augenblick auszudehnen. Für eine unbestimmte Zeit entrückte Maigret dem Geschehen und betrachtete es aus der Ferne, ganz so, als steckte er nicht in dem Körper des schwerfälligen Kommissars, den Félicie hinter sich herzog.

Als hätte sich der Junge von damals dort irgendwo versteckt und größte Mühe, sich das Lachen zu verkneifen, während er die Szene beobachtete.

War das ein Spiel? Was hatte dieser gewichtige Mann mit der stattlichen Statur in dieser Spielzeugkulisse zu suchen? Im Schlepptau dieser Félicie mit ihrem lachhaften roten Hut, die schnurstracks aus einem Kinderbuch gesprungen sein könnte?

Sollte das etwa eine Untersuchung sein? Befasste er sich tatsächlich mit einem Mord und musste den Schuldigen finden, während die Vögel zwitscherten und das Gras in tauzartem Grün leuchtete? Während die Ziegelsteinfassaden in einem Bonbonrosa glänzten, überall Frühlingsblumen sprossen und selbst der Lauch im Schaufenster einem Blumenstrauß glich?

Ja, er sollte sich noch lange an diesen Augenblick erinnern, wenn auch nicht gern. Über viele Jahre hinweg würde man am Quai des Orfèvres die schöne Tradition pflegen, sich an einem heiteren Frühlingsmorgen mit gespieltem Ernst an Maigret zu wenden und zu sagen:

»Hören Sie, Maigret …«

»Was gibt es denn?«

»Félicie ist da!«

Und er würde diese magere Gestalt in ihrem übertriebenen Aufzug wieder vor sich sehen: die großen kurzsichtigen Augen, diese provokante Nase und vor allem dieser Hut, dieses unsägliche scharlachrote Ungetüm mit sumpfgrüner Feder, das auf ihrem Scheitel thronte.

»Félicie ist da!«

Ein Brummen. Man wusste genau, dass Maigret jedes Mal, wenn man ihn an Félicie erinnerte, wie ein grimmiger Bär zu brummen begann. Sie hatte ihm mehr zu schaffen gemacht als so mancher hartgesottene Ganove, den er ins Zuchthaus hatte wandern lassen.

An diesem Maimorgen war Félicie tatsächlich da! Über den Reklametafeln für Speisestärke und Metallputzmittel stand in gelben Buchstaben der Schriftzug: Mélanie Chochoi, Lebensmittel. Félicie stand in der Tür und wartete ungeduldig darauf, dass der Kommissar aus seiner Starre erwachte.

Endlich tat er einen Schritt, fand zurück in die Wirklichkeit und nahm den Faden seiner Ermittlungen im Mordfall Jules Lapie, genannt Holzbein, wieder auf.

Félicie musterte ihn mit einem argwöhnischen, ironischen Blick und wartete, wie schon den ganzen Morgen, auf seine Fragen. Hinter der Ladentheke stand Mélanie Chochoi, eine kleine, rundliche Frau, die ihre gefalteten Hände über den dicken Bauch gelegt hatte, und betrachtete das seltsame Paar, das der Kriminalkommissar und Holzbeins Dienstmädchen abgaben.

Maigret entließ kleine Wölkchen aus seiner Pfeife und blickte auf die braunen Regale voller Konservendosen. Dann schaute er durch das Fenster auf die Straße, die gerade gebaut wurde und von jungen, zarten Bäumchen gesäumt war, die man kurz zuvor gepflanzt hatte. Er zog die Uhr aus seiner Westentasche, seufzte und fragte endlich:

»Sie haben mir gesagt, dass Sie das Geschäft um Viertel nach zehn betreten haben, ist das richtig? Wieso können Sie sich so genau an die Zeit erinnern?«

Ein verächtliches Lächeln huschte über Félicies Lippen.

»Schauen Sie!«, antwortete sie.

Und als er neben ihr stand, deutete sie in das Hinterzimmer, in dem sich Mélanie Chochois Küche befand. Im Halbdunkel sah man einen Korbsessel mit einem roten Kissen, auf dem sich eine Katze mit rötlichem Fell zusammengerollt hatte. Darüber befand sich ein Regal an der Wand, auf dem ein Wecker zehn Uhr siebzehn anzeigte.

Félicie hatte recht. Sie hatte immer recht. Die Lebensmittelhändlerin wunderte sich bestimmt schon über die beiden.

»Was haben Sie gekauft?«

»Ein Pfund Butter. Bitte geben Sie mir ein Pfund Butter, Madame Chochoi. Der Herr Kommissar besteht darauf, dass ich alles genau so mache wie vorgestern! Es war die gesalzene, nicht wahr? Ach, und packen Sie mir doch auch noch ein Tütchen Pfeffer, eine Dose Tomaten und zwei Koteletts ein.«

Die Welt, in der sich Maigret an diesem Morgen wiederfand, war durch und durch sonderbar, und es kostete ihn große Mühe, sich nicht wie ein behäbiger Riese in einem Spielzeugland zu fühlen.

Wenige Kilometer von Paris entfernt hatte er das Ufer der Seine verlassen und war in Poissy den Hügel hinaufgestiegen. Plötzlich, inmitten einer Landschaft von Feldern und Obstgärten hatte er diese kleine eigenartige Welt entdeckt. Ein Schild, das am Rand einer neu angelegten Straße stand, kündigte die Siedlung an: Jeanneville.

Noch vor wenigen Jahren hatte es hier vermutlich nur Felder, Wiesen und kleine Wäldchen gegeben, wie überall in der Umgebung. Dann musste ein Geschäftsmann vorbeigekommen sein, dessen Frau oder Geliebte wahrscheinlich Jeanne geheißen hatte, und schon war diese im Entstehen begriffene kleine Welt zu ihrem Namen gekommen: Jeanneville.

Man hatte Straßen angelegt und Alleen mit zögerlich aufschießenden Bäumchen, deren zarte Stämme gegen Frost und Kälte mit Stroh umwickelt worden waren. Da und dort standen kleine Neubauvillen und Häuschen. Es war weder Dorf noch Stadt, sondern eine eigene, unfertige Welt. Zwischen den Häusern standen Lattenzäune, gähnte Brachland. Vollkommen überflüssige Gaslaternen säumten Straßen, die kaum mehr als ein Name auf blauem Schild waren.

Traumhaus, Villa Abendrot, Trautes Heim, Glück allein – jede Bruchbude trug ein verschnörkeltes Namensschild. Weiter unten lag der kleine Ort Poissy: Man blickte auf das silberne Band der Seine, auf der echte Lastkähne vorüberglitten, und auf Schienen, über die echte Züge fuhren. In der Ferne zeichneten sich auf einer Hochebene die Bauernhäuser und der Kirchturm von Orgeval ab.

In Jeanneville schien nur die alte Lebensmittelhändlerin echt zu sein, Mélanie Chochoi, die das Siedlungsvölkchen in einem Nachbarort aufgestöbert und der man einen nagelneuen Laden eingerichtet hatte, damit in dieser neuen Welt auch Handel betrieben werden konnte.

»Sonst noch etwas, meine Liebe?«

»Moment. Was habe ich am Montag noch gekauft?«

»Haarnadeln!«

Es gab alles bei Mélanie, Zahnbürsten und Puder, Petroleum und Ansichtskarten.

»Ich glaube, das war alles, oder?«

Maigret hatte sich inzwischen davon überzeugt, dass man vom Laden aus weder Holzbeins Haus noch den Weg sehen konnte, der um den Garten herumführte.

»Die Milch!«, erinnerte sich Félicie. »Ich hätte beinahe die Milch vergessen.«

Sie hatte ihr herablassendes Lächeln behalten, während sie dem Kommissar erklärte:

»Sie haben mir so viele Fragen gestellt, dass ich vergessen habe, meine Milchkanne mitzunehmen. Am Montag hatte ich sie jedenfalls dabei, nicht wahr, Madame Chochoi? Ich habe sie in der Küche stehen lassen, neben dem Gasherd. Eine blaue Kanne mit weißen Punkten.«

Über jedes Detail sprach sie mit Würde, als wäre sie die Kaiserin von China und über jeden Zweifel erhaben.

Sie war sehr bedacht darauf, nichts zu vergessen.

»Was habe ich am Montag noch zu Ihnen gesagt, Madame Chochoi?«

»Ich glaube, Sie haben mir gesagt, dass mein Zouzou Würmer hat, weil er immer seine Haare frisst.«

Zouzou war offenbar der Kater, der auf dem roten Kissen im Sessel döste.

»Ach, und Sie haben noch Ihre Filmzeitschrift Ciné-Journal und einen Heftchenroman gekauft.«

Am anderen Ende der Theke lagen farbenfrohe Illustrierte und Groschenromane. Félicie zuckte nur mit den Schultern.

»Was schulde ich Ihnen? Bitte beeilen Sie sich. Der Herr Kommissar besteht darauf, dass alles wie am Montag vor sich geht, und da bin ich nicht so lange geblieben.«

»Übrigens, Madame Chochoi«, mischte sich Maigret ein, »da wir gerade von Montagmorgen sprechen, ist Ihnen ein Auto aufgefallen, während Sie Mademoiselle bedient haben?«

Die Lebensmittelhändlerin blickte durch das Schaufenster. Die Straße lag im hellen Sonnenlicht.

»Ich bin mir nicht sicher … Hier kommen nicht viele Autos durch. Man hört sie vor allem über die Hauptstraße fahren. Welcher Tag war das noch gleich? Ich erinnere mich an ein kleines rotes Auto, das bei den Sébiles vorbeigefahren ist. Aber an welchem Tag das war …«

Maigret schrieb in sein Notizbuch: Rotes Auto. Sébile.

Und gleich darauf stand er mit Félicie wieder auf der Straße. Sie schwang beim Gehen ihre Hüften und hatte ihren Mantel wie ein Cape über die Schultern gelegt, sodass die Ärmel hinter ihr her flatterten.

»Hier entlang. Zurück nehme ich immer die Abkürzung.«

Zwischen den Gemüsegärten verlief ein schmaler Weg.

»Sind Sie jemandem begegnet?«

»Warten Sie, gleich …«

Natürlich. Genau in dem Augenblick, als sie in eine der neuen Alleen einbogen, strampelte der Briefträger auf seinem Fahrrad mühsam den Hang hinauf. Im Vorbeifahren wandte er sich ihnen zu und rief:

»Heute nichts für Sie, Mademoiselle Félicie!«

Sie blickte Maigret an.

»Ich bin ihm hier auch am Montag begegnet, wie fast jeden Morgen um diese Zeit.«

Sie machten zunächst einen Bogen um ein scheußliches himmelblau verputztes Häuschen mit einem kleinen Garten, in dem zu Steingut erstarrte Tiere hockten, und gingen dann an einer Hecke entlang. Félicie stieß die kleine Pforte auf, und ihr flatternder Mantel strich über die Johannisbeersträucher.

»Voilà, wir sind im Garten. Und gleich sehen Sie die Laube.«

Kurz vor zehn hatten sie das Haus durch eine Tür verlassen, die auf die Allee führte. Um zum Lebensmittelgeschäft und wieder zurück zu gelangen, hatten sie einen fast vollständigen Kreis beschrieben. Sie kamen an Nelkenrabatten vorbei, die bald blühen würden, und an Beeten mit hellgrünem jungen Salat.

»Er hätte sich dort aufhalten müssen«, sagte Félicie entschieden und deutete auf eine stramm gespannte Schnur und ein in die Erde gebohrtes Steckholz. »Er hatte begonnen, Tomatenpflanzen umzusetzen. Die Reihe ist erst halb fertig. Als ich ihn nicht sah, dachte ich, er wäre hineingegangen, um ein Glas Rosé zu trinken.«

»Trank er viel?«

»Wenn er Durst hatte … Wie Sie sehen werden, steht auf dem Fass im Schuppen sein umgedrehtes Glas.«

Der Garten eines emsigen Rentners, ein Haus, wie es sich Tausende kleine Angestellte für ihren Lebensabend wünschen. Sie traten aus der Sonne in den bläulichen Schatten des Hofs, der an den Garten grenzte. Zur Rechten befand sich eine Laube, und auf dem Tisch standen eine Karaffe mit Cognac und ein kleines Glas mit dickem Boden.

»Sie haben die Karaffe und das Glas gesehen. Warum haben Sie mir also heute Morgen gesagt, Ihr Arbeitgeber hätte nie allein Alkohol getrunken, und schon gar nicht solchen wie den in der Karaffe?«

Sie blickte ihn herausfordernd an, schien ihm unablässig das klare Blau ihrer Augen präsentieren zu wollen, damit er die vollkommene Unschuld darin lesen könne.

»Er war nicht mein Arbeitgeber«, gab sie zurück.

»Ich weiß. Das haben Sie mir bereits gesagt.«

Weiß Gott, diese Félicie konnte einem wirklich auf den Geist gehen! Wie hatte sie sich noch gleich ausgedrückt, mit ihrer unerträglich scharfen Stimme? Ah ja, sie hatte gesagt:

»Es steht mir nicht zu, die Geheimnisse anderer Leute preiszugeben. Manche haben mich vielleicht für das Dienstmädchen gehalten. Aber für ihn war ich es nicht, und eines Tages wird man gewiss erfahren …«

»Was wird man erfahren?«

»Nichts.«

»Wollen Sie damit andeuten, dass Sie Holzbeins Geliebte waren?«

»Für wen halten Sie mich?«

Maigret riskierte einen weiteren Vorstoß:

»Oder seine Tochter?«

»Es ist sinnlos, mich auszufragen. Eines Tages vielleicht …«

Ganz Félicie! Steif wie ein Bügelbrett, bissig, launisch, ein spitzes Gesicht, nachlässig gepudert und zu viel Rouge auf den Wangen, ein einfaches Dienstmädchen, das sich auf dem Provinzball wie eine Prinzessin aufführt. Und plötzlich: dieser unheimliche starre Blick und der Anflug eines verächtlichen Lächelns.

»Wenn er allein getrunken hat, geht mich das nichts an.«

Aber der alte Jules Lapie, genannt »Holzbein«, hatte nicht allein getrunken. Davon war Maigret überzeugt. Ein Mann, der in seinem Garten arbeitete, den Strohhut auf dem Kopf, Holzpantinen an den Füßen, würde nicht plötzlich seine Tomatenpflanzen stehen lassen, um die Karaffe mit dem Cognac aus dem Schrank zu holen und sich in der Laube ein Gläschen einzuschenken.

Auf diesem grün lackierten Gartentisch hatte irgendwann ein zweites Glas gestanden. Jemand musste es weggenommen haben. Félicie vielleicht?

»Was haben Sie getan, als Sie Lapie nicht finden konnten?«

»Nichts. Ich bin in die Küche gegangen, habe den Gasherd angemacht, um Milch zu kochen, und Wasser gepumpt, um mein Gemüse zu waschen.«

»Und dann?«

»Bin ich auf den alten Stuhl gestiegen und habe den Fliegenfänger ersetzt.«

»Mit Ihrem Hut auf dem Kopf? Sie gehen doch immer mit Hut einkaufen, nicht wahr?«

»Ich bin eben sehr sorgfältig.«

»Wann haben Sie Ihren Hut abgesetzt?«

»Als ich die Milch vom Feuer genommen habe. Ich bin hinaufgegangen …«

Alles war neu und frisch in dem Haus, das der Alte »Kap Hoorn« getauft hat. Die Treppe roch nach lackiertem Nadelholz. Die Stufen knarrten.

»Gehen Sie hinauf. Ich komme nach.«

Sie stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf. Eine Matratze mit geblümtem Überwurf diente als Diwan, und die Wände schmückten Fotos von Filmschauspielern.

»So. Ich setze meinen Hut ab und denke:

›Ach, ich habe vergessen, das Fenster bei Monsieur Jules zu öffnen!‹

Ich gehe also hinaus auf den Treppenabsatz, öffne die Tür und schreie …«

Maigret zog noch immer an seiner Pfeife, die er, als er durch den Garten gegangen war, neu gestopft hatte. Sein Blick fiel auf den gewachsten Holzfußboden. Er betrachtete den mit Kreide gezeichneten Umriss von Holzbeins Körper in jener Position, in der man ihn am Montagmorgen gefunden hatte.

»Und der Revolver?«, fragte er.

»Sie wissen genau, dass es keinen Revolver gegeben hat. Sie haben doch den Polizeibericht gelesen.«

Auf dem Kaminsims das Modell eines Dreimasters, an den Wänden Bilder von Segelschiffen – als befände man sich im Zimmer eines pensionierten Seemanns. Aber der Inspektor, der mit den ersten Untersuchungen befasst gewesen war, hatte Maigret von Holzbeins sonderbarem Abenteuer erzählt.

Jules Lapie war kein Seemann gewesen, sondern Buchhalter bei einem Schiffsausstatter in Fécamp, der alles lieferte, was man für die Seefahrt brauchte: Segel, Taue, Winden und auch Lebensmittel für große Fahrten.

Ein beleibter Junggeselle, akkurat, vielleicht etwas wunderlich, eine farblose Erscheinung, dessen Bruder Zimmermann auf einer Werft war.

Eines Morgens ging Jules Lapie, der damals etwa vierzig Jahre alt war, an Bord der Sainte-Thérèse, eines Dreimasters, der noch am selben Tag nach Chile in See stach, wo er Phosphat laden sollte. Lapie musste sich wie immer davon überzeugen, dass alle Waren geliefert worden waren und der Kapitän im Gegenzug die Rechnung beglich.

Dann geschah Folgendes. Die Seeleute von Fé-camp machten sich gern über den peniblen Buchhalter lustig, dem die Anwesenheit auf einem Schiff, die sein Beruf immer wieder erforderte, ein offensichtliches Unbehagen bereitete. Wie üblich hatte man auf das Geschäft angestoßen. Gott weiß, was man ihm eingeflößt hatte, um ihn derart betrunken zu machen!

Als die Sainte-Thérèse bei Flut zwischen den Molen aus dem normannischen Hafen aufs offene Meer glitt, schnarchte der sturzbetrunkene Jules Lapie in der Ecke eines Laderaums, während ihn alle längst wieder an Land glaubten – wenigstens hatten sie das später behauptet.

Man schloss die Laderäume ab, und erst zwei Tage darauf wurde der Buchhalter entdeckt. Der Kapitän weigerte sich, von seiner Route abzuweichen und umzukehren, und somit befand sich Lapie, zu jener Zeit noch im Besitz beider Beine, auf der Fahrt nach Kap Hoorn.

Eins seiner Beine verlor er allerdings bei diesem Abenteuer, als ihn nämlich eines Tages eine Sturmbö erfasste und durch eine Luke schleuderte.

Jahre später sollte er durch einen Revolverschuss getötet werden, an einem Montag im Frühling, wenige Augenblicke, nachdem er seinen Tomatenpflanzen den Rücken gekehrt hatte, während Félicie in Mélanie Chochois neuem Geschäft ihre Einkäufe erledigte.

 

Maigret seufzte.

»Gehen wir hinunter.«

Im Haus war es still, alles glänzte und duftete, und man fühlte sich wohl. Im Esszimmer zur Rechten war der Leichnam aufgebahrt. Der Kommissar öffnete die Tür einen Spaltbreit, um einen Blick hineinzuwerfen. Durch die geschlossenen Fensterläden drangen nur wenige schmale Lichtstreifen. Der Sarg stand auf dem mit einem Leintuch bedeckten Tisch, daneben eine Schüssel Weihwasser mit einem Buchsbaumzweig.

Félicie wartete an der Küchentür.

»Kurzum, Sie wissen also von nichts. Sie haben weder etwas gesehen noch eine Ahnung, wen Ihr Arbeitgeber, pardon, ich meine, wen Jules Lapie, in Ihrer Abwesenheit empfangen haben könnte?«

Schweigend erwiderte sie seinen Blick.

»Und Sie wissen bestimmt, dass bei Ihrer Rückkehr nur ein Glas auf dem Tisch in der Laube stand?«

»Ich habe nur eins gesehen. Aber wenn Sie meinen, es sind zwei gewesen …«

»Bekam Lapie häufig Besuch?«

Maigret setzte sich neben den Gasherd und hätte gern etwas getrunken, am liebsten ein Glas von dem Rosé, den Félicie erwähnt hatte. Ihm war das Fass, das in der dunklen Kühle des Schuppens stand, nicht entgangen. Die Sonne stieg am Himmel auf und vertrieb allmählich den Morgendunst.

»Er mochte keine Besuche.«

Ein sonderbarer Kerl, dessen Leben durch jene Reise um Kap Hoorn vollkommen durcheinandergeraten sein musste. Zurück in Fécamp, wo man sich trotz seines Holzbeins ein Lächeln über sein Abenteuer nicht verkneifen konnte, lebte er einsamer denn je und begann seinen langen Kampf gegen die Reeder der Sainte-Thérèse. Einen Kampf, den er durch Beharrlichkeit gewinnen sollte. Er behauptete, die Gesellschaft sei im Unrecht, er sei gegen seinen Willen mitgefahren. Also liege die Verantwortung für den Unfall bei den Reedern. Er verlangte eine hohe Entschädigung für sein verlorenes Bein und gewann den Prozess. Das Gericht sprach ihm eine beachtliche Pension zu.

Die Menschen in Fécamp amüsierten sich darüber. Er ging ihnen aus dem Weg und kehrte auch dem verhassten Meer den Rücken. Als einer der Ersten ließ er sich von den verheißungsvollen Prospekten der Gründer von Jeanneville verführen und engagierte ein Dienstmädchen aus Fécamp, das er schon als Kind gekannt hatte.

»Wie lange leben Sie schon bei ihm?«

»Sieben Jahre.«

»Sie sind jetzt vierundzwanzig, also waren sie siebzehn, als …«

Er ließ seinen Gedanken freien Lauf. Plötzlich fragte er:

»Haben Sie einen Liebhaber?«

Sie blickte ihn schweigend an.

»Ich habe gefragt, ob Sie einen Liebhaber haben.«

»Mein Privatleben geht nur mich etwas an.«

»Haben Sie sich hier mit ihm getroffen?«

»Dazu habe ich nichts zu sagen.«

Man hätte sie ohrfeigen mögen! In der Tat, manchmal hätte Maigret sie am liebsten geohrfeigt oder an den Schultern gepackt und geschüttelt.

»Nun ja, ich werde es herausfinden.«

»Nichts werden Sie herausfinden.«

»Ach so! Ich werde also nichts herausfinden?«

Er hielt inne. Wirklich zu dumm! Nichts lag ihm ferner, als sich mit diesem kindischen Dienstmädchen herumzustreiten.

»Haben Sie mir wirklich nichts zu sagen? Denken Sie nach, solange noch Zeit dazu ist.«

»Ich wüsste nicht, worüber.«

»Und Sie verheimlichen mir nichts?«

»Wie könnte ich, da Sie doch offenbar so klug sind!«

»Nun gut, das wird sich zeigen.«

»Was soll sich denn zeigen?«

»Was werden Sie tun, wenn die Angehörigen kommen und Jules Lapie beerdigt wird?«

»Ich weiß es nicht.«

»Haben Sie vor hierzubleiben?«

»Vielleicht.«

»Hoffen Sie auf eine Erbschaft?«

»Durchaus möglich.«

Maigret hatte Mühe, seine Ruhe zu bewahren.

»Wie dem auch sei, meine Beste, ich möchte Sie jedenfalls bitten, sich Folgendes einzuprägen: Solange die Ermittlungen andauern, ist es Ihnen nicht gestattet, sich zu entfernen, ohne die Polizei davon in Kenntnis zu setzen.«

»Ich darf das Haus nicht verlassen?«

»Nein!«

»Und wenn ich ausgehen möchte?«

»Werden Sie mich um Erlaubnis bitten.«

»Glauben Sie, dass ich ihn umgebracht habe?«

»Ich glaube, was ich will, und das geht Sie nichts an.«

Er hatte es satt. Er war wütend. Es ärgerte ihn, dass jemand wie diese Félicie ihn derart aus der Fassung bringen konnte. Vierundzwanzig Jahre? Ach was! Ein halbes Kind, das Gott weiß was für ein Spiel spielte und sich selbst auch noch ernst nahm.

»Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen.«