Maigret und das Schattenspiel - Georges Simenon - E-Book

Maigret und das Schattenspiel E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Eine schwarze Novembernacht. Maigret wird zur Place des Vosges gerufen. Raymond Couchet, Inhaber eines Pharmazielabors, ist erschossen worden. Im Innenhof steht der Kommissar vor erleuchteten Fenstern. Hinter einem zeichnet sich die Silhouette des toten Couchet ab. Hinter dem nächsten sieht er eine Frau wild gestikulieren. Und hinter dem dritten bringt eine Frau gerade ihr Kind zur Welt. Hängen die Schattenspiele miteinander zusammen? Ist Couchet einem Raubmord zum Opfer gefallen? Oder steckt dahinter doch eine tragische Familiengeschichte?

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Der 12. Fall

Georges Simenon

Maigret und das Schattenspiel

Roman

Aus dem Französischen von Gerhard Meier

Kampa

1Das Schattenspiel

Es war zehn Uhr abends. Die Place des Vosges lag verlassen da, die Gittertore zur Grünanlage waren verschlossen. Glänzende Fahrspuren auf dem Asphalt, plätschernde Springbrunnen, kahle Bäume, die monotone Silhouette der gleichförmigen Dächer vor dem Himmel.

Unter den Arkaden, die den Platz so prächtig umringen, nur wenige Lichter. Drei, vier Läden. In einem sah Kommissar Maigret eine Familie beim Essen, umgeben von Grabkränzen aus Glasperlen.

Er versuchte, die Hausnummern über den Türen zu lesen, doch kaum war er an dem Kranzladen vorbei, trat aus dem Schatten eine kleine Gestalt.

»Hatte ich Sie gerade am Telefon?«

Sie musste schon eine Weile nach ihm Ausschau gehalten haben. Trotz der Novemberkälte trug sie keinen Mantel über ihrer Kittelschürze. Ihre Nase war rot, die Augen unruhig. Keine hundert Meter weiter, an der Ecke zur Rue de Béarn, stand ein Streifenpolizist.

»Haben Sie es dem nicht gemeldet?«, knurrte Maigret.

»Nein! Wegen Madame de Saint-Marc, sie liegt in den Wehen. Sehen Sie, da ist das Auto des Doktors, den sie eilig herbeigerufen haben.«

Am Straßenrand standen drei Autos mit eingeschalteten Scheinwerfern und roten Rücklichtern. Am zwielichtig bleichen Himmel zogen vor mondgebadetem Hintergrund Wolken vorbei. Der erste Schnee lag in der Luft.

Die Concierge trat unter den Torbogen, der von einer staubigen 25-Watt-Birne erhellt wurde.

»Damit Sie Bescheid wissen … Hier durch den Hof muss jeder, der in irgendeinen Teil des Hauses will, abgesehen von den beiden Läden. Hier links ist meine Loge. Sehen Sie nicht so genau hin, ich habe noch keine Zeit gehabt, die Kinder ins Bett zu bringen.«

Es waren zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, in einer unaufgeräumten Küche. Die Concierge ging aber nicht hinein, sondern deutete auf ein langes Gebäude am Ende des weitläufigen, wohlproportionierten Hofes.

»Da ist es. Na, Sie werden ja sehen.«

Maigret musterte neugierig die zierliche Frau, deren fahrige Hände ihre Nervosität verrieten.

»Bitte einen Kommissar an den Apparat!«, hatte es kurz vorher am Quai des Orfèvres geheißen.

Er hatte eine gedämpfte Stimme vernommen und drei, vier Mal sagen müssen:

»Sprechen Sie doch lauter! Ich verstehe Sie kaum!«

»Ich kann nicht, ich rufe vom Tabac aus an. Es ist so, dass …«

Es folgte eine wirre Aussage.

»Sie müssen sofort zur Place des Vosges kommen, Nummer 61. Ja … Ich glaube, ein Verbrechen ist geschehen. Das darf sich aber noch nicht herumsprechen!«

Und nun zeigte die Concierge zu den hohen Fenstern im ersten Stock hinauf. Hinter den Vorhängen sah man Schatten hin und her gehen.

»Da ist es.«

»Das Verbrechen?«

»Nein! Madame de Saint-Marc, die gerade ihr erstes Kind bekommt. Und da sie nicht besonders robust ist … Verstehen Sie?«

Im Hof war es noch finsterer als auf der Place des Vosges. An der Wand hing eine einzige Lampe. Hinter einer Glastür konnte man eine Treppe erahnen, und in einigen Fenstern brannte Licht.

»Und das Verbrechen?«

»Genau! Um sechs Uhr sind die Angestellten der Firma von Couchet gegangen …«

»Moment. Die Firma von Couchet?«

»Die Gebäude da hinten. Ein Labor, in dem Serum hergestellt wird. Kennen Sie bestimmt: Die Seren von Doktor Rivière …«

»Da, wo Licht brennt?«

»Warten Sie mal. Heute ist der 30., also war Monsieur Couchet da. Nach Geschäftsschluss bleibt er immer noch ein wenig. Ich habe ihn durchs Fenster in seinem Sessel sitzen sehen. Da, schauen Sie.«

Hinter einer Milchglasscheibe ein seltsamer Schatten, als wäre ein Mann auf seinem Schreibtisch zusammengesunken.

»Ist er das?«

»Ja. So gegen acht, als ich meinen Mülleimer leerte, habe ich kurz hingeschaut. Da schrieb er gerade was. Man konnte gut sehen, dass er einen Federhalter oder einen Bleistift in der Hand hatte.«

»Um welche Uhrzeit hat das Verbrechen …«

»Moment! Ich bin dann hoch zu Madame Saint-Marc, ob es schon so weit ist, und als ich wieder unten war, habe ich noch mal rübergeschaut. Da saß er so da wie jetzt, und ich dachte mir, vielleicht ist er eingeschlafen.«

Maigret wurde allmählich ungeduldig.

»Und eine Viertelstunde später …«

»Ja, ja, war er noch immer an derselben Stelle! Kommen Sie zur Sache.«

»Das ist alles. Ich wollte wissen, was los ist, also habe ich an der Bürotür geklopft. Und als niemand antwortete, bin ich hinein. Und da war er tot. Und überall Blut …«

»Warum haben Sie nicht das Kommissariat hier gleich um die Ecke verständigt, in der Rue de Béarn?«

»Dann wären die alle in Uniform angerückt und hätten das Haus auf den Kopf gestellt! Ich sagte Ihnen doch, dass Madame de Saint-Marc …«

Maigret hatte beide Hände in den Taschen und die Pfeife im Mund. Er sah zu den Fenstern im ersten Stock empor und hatte das Gefühl, dort müsse es bald so weit sein, denn das Hin und Her wurde hektischer. Er hörte eine Tür aufgehen, dann Schritte im Treppenhaus. Im Hof erschien eine hochgewachsene, kräftige Gestalt. Die Concierge fasste den Kommissar am Arm und murmelte respektvoll:

»Monsieur de Saint-Marc. Ein ehemaliger Botschafter.«

Der Mann, dessen Gesicht nicht auszumachen war, blieb stehen, ging weiter, blieb wieder stehen, und sah dabei unablässig zu seiner Wohnung hinauf.

»Die haben ihn wohl rausgeschickt. Vorhin auch schon mal. Kommen Sie. Ach, schon wieder die mit ihrem Grammophon! Direkt über der Wohnung der Saint-Marcs!«

Ein kleineres, schwächer erleuchtetes Fenster im zweiten Stock. Es war geschlossen, und man konnte die Musik mehr erahnen als hören.

Die Concierge, flachbrüstig, nervös, die Augen gerötet, die Hände ganz unruhig, ging ans Ende des Hofes und zeigte auf eine kleine Außentreppe und eine halb offene Tür.

»Sie sehen ihn gleich, links. Ich gehe lieber nicht noch mal rein.«

 

Ein gewöhnliches Büro. Helle Möbel, einfarbig tapezierte Wände.

Auf dem Sessel ein etwa fünfundvierzigjähriger Mann, den Kopf auf Unterlagen gebettet. Er hatte eine Kugel mitten in die Brust bekommen.

Maigret spitzte die Ohren: Die Concierge wartete draußen auf ihn, und Monsieur de Saint-Marc ging immer noch im Hof auf und ab. Hin und wieder fuhr ein Bus über den Platz, was die Stille danach noch vollkommener erscheinen ließ.

Der Kommissar fasste nichts an. Er vergewisserte sich lediglich, dass die Tatwaffe nicht im Büro verblieben war, sah sich noch ein paar Minuten um, zog dabei immer wieder an seiner Pfeife, dann ging er mit trotziger Miene hinaus.

»Und?«

Die Concierge stand noch immer da. Sie sprach sehr leise.

»Nichts! Er ist tot!«

»Monsieur de Saint-Marc ist gerade nach oben gerufen worden.«

In der Wohnung herrschte geschäftiges Treiben. Türen schlugen zu. Jemand lief herum.

»Sie ist ja so ein zartes Wesen!«

»So, so!«, knurrte Maigret und kratzte sich den Nacken. »Darum geht es jetzt aber nicht. Haben Sie irgendeine Ahnung, wer das Büro betreten haben könnte?«

»Ich? Wieso?«

»Ich bitte Sie, von Ihrer Loge aus sehen Sie doch die Mieter vorbeigehen.«

»So sollte es sein! Wenn der Hausbesitzer mir eine anständige Loge zur Verfügung stellen und nicht an der Beleuchtung sparen würde. Ich höre höchstens Schritte, und abends sehe ich Schatten. Manche Schritte erkenne ich auch.«

»Und nach sechs Uhr ist Ihnen nichts aufgefallen?«

»Nein. Fast alle Mieter haben ihren Mülleimer heruntergebracht. Sehen Sie die drei Mülltonnen, links neben meiner Loge? Die dürfen erst ab sieben Uhr abends benutzt werden.«

»Und niemand ist durch die Toreinfahrt gekommen?«

»Woher soll ich das wissen? Sie kennen dieses Haus nicht. Hier wohnen achtundzwanzig Mietparteien. Ganz abgesehen von der Firma Couchet, wo ständig Leute aus- und eingehen.«

Schritte unter dem Torbogen. Ein Mann mit einer Melone auf dem Kopf betrat den Hof, wandte sich nach links und griff sich einen leeren Mülleimer. Trotz der Dunkelheit musste er Maigret und die Concierge bemerkt haben, denn er hielt inne.

»Keine Post für mich?«

»Nichts, Monsieur Martin.«

Maigret fragte:

»Wer war das?«

»Ein Beamter von der Registrierbehörde, Monsieur Martin. Er wohnt im zweiten Stock mit seiner Frau.«

»Und wie kommt es, dass sein Mülleimer …«

»Das machen sie fast alle so, wenn sie aus dem Haus müssen. Sie tragen den Eimer beim Weggehen runter und nehmen ihn wieder mit hoch, wenn sie zurückkommen. Haben Sie gehört?«

»Was?«

»Wie so ein Wimmern … Wenn bloß die zwei da oben mit ihrem vermaledeiten Grammophon aufhören würden! Die wissen doch, dass Madame de Saint-Marc ein Kind bekommt.«

Da kam jemand die Treppe herunter, und sie stürzte auf ihn zu.

»Und, Herr Doktor? Ein Junge?«

»Ein Mädchen.«

Der Arzt ging weiter. Kurz darauf war zu hören, wie er sein Auto anließ und losfuhr.

Das Leben im Haus ging weiter seinen üblichen Gang. Der dunkle Hof. Die Toreinfahrt mit ihrer armseligen Glühbirne. Die beleuchteten Fenster und die undeutliche Musik aus dem Grammophon.

Der Tote saß noch immer ganz allein in seinem Büro, den Kopf auf einem Wust von Papieren.

Plötzlich im zweiten Stock ein Schrei. Ein gellender Schrei, wie ein verzweifelter Hilferuf. Doch die Concierge zuckte nicht mal zusammen. Seufzend öffnete sie die Tür zu ihrer Loge.

»Die Verrückte wieder mal …«

Dann stieß sie selbst einen Schrei aus, denn eines ihrer Kinder hatte einen Teller zerbrochen. Im Licht sah Maigret ein hageres, müdes Gesicht, einen alterslosen Körper.

»Wann geht es los mit den ganzen Formalitäten?«, fragte die Frau.

Das Tabac gegenüber war noch geöffnet, und ein paar Minuten später schloss Maigret die Tür der Telefonkabine. Er sprach nun selbst leise, als er seine Anweisungen gab.

»Ja … Die Staatsanwaltschaft … 61 … Fast an der Ecke Rue de Turenne … Und sagen Sie dem Erkennungsdienst Bescheid … Hallo! … Ja, ich bleibe am Tatort.«

Er machte ein paar Schritte auf dem Gehsteig, bog dann unwillkürlich wieder in die Toreinfahrt ein und stellte sich schließlich mitten auf den Hof, verdrossen, die Schultern vor Kälte eingezogen.

Eines nach dem anderen erloschen die Lichter in den Fenstern. Der Tote war durch die Milchglasscheibe noch immer zu sehen, wie ein Schattenspiel.

Draußen hielt ein Taxi. Es war noch nicht die Staatsanwaltschaft. Eine junge Frau lief über den Hof und hinterließ eine Parfümwolke. Sie ging in das Büro.

2Ein feiner Kerl

Durch eine ganze Reihe übereilter Schritte kam es zu einer kuriosen Situation. Als die Frau die Leiche erblickte, drehte sie sich auf dem Absatz um, und da hatte sie in der Tür auch schon die massige Gestalt Maigrets vor sich. Automatische Schlussfolgerung: hier ein Toter, also da ein Mörder.

Die Augen aufgerissen, der ganze Körper verkrampft, machte sie den Mund auf, um nach Hilfe zu rufen, und ließ ihre Handtasche fallen.

Maigret hatte keine Zeit für langes Hin und Her. Er packte sie am Arm und hielt ihr die Hand vor den Mund.

»Psst! Sie irren sich! Polizei!«

Bis sie recht begriff, was sie da hörte, schlug sie um sich, wie es ihrer ungestümen Art entsprach, versuchte ihn zu beißen und trat mit den Hacken nach hinten aus.

Da riss auf einmal Seide: der Träger ihres Kleides.

Und es kehrte Ruhe ein. Maigret sagte:

»Leise! Ich bin von der Polizei. Wir brauchen nicht das ganze Haus zusammenzutrommeln.«

Die Eigenart dieses Verbrechens war die ungewöhnliche Stille, diese Ruhe, diese achtundzwanzig Mietparteien, die um eine Leiche herum ihr ganz normales Dasein weiterführten.

Die junge Frau brachte ihr Kleid in Ordnung.

»Waren Sie seine Geliebte?«

Während sie nach einer Sicherheitsnadel suchte, um den Träger wieder zu befestigen, warf sie Maigret einen unwirschen Blick zu.

»Waren Sie heute Abend mit ihm verabredet?«

»Um acht Uhr, im Select. Wir wollten dort essen und dann ins Theater gehen.«

»Haben Sie nicht angerufen, als er um acht Uhr nicht auftauchte?«

»Doch, aber anscheinend war besetzt.«

Gleichzeitig sahen die beiden den Hörer auf dem Schreibtisch. Der Mann musste ihn vom Apparat gestoßen haben, als er nach vorne fiel.

Schritte im Hof, wo an dem Abend das leiseste Geräusch wie unter einer Glocke verstärkt wurde. Die Concierge sprach Maigret von der Schwelle aus an, um die Leiche nicht wieder sehen zu müssen.

»Herr Kommissar, die aus dem Viertel sind da.«

Die mochte sie nicht. Sie rückten zu viert oder fünft an, in keiner Weise um Diskretion bemüht. Einer erzählte noch einen Witz fertig. Ein anderer fragte, als er das Büro betrat:

»Wo ist die Leiche?«

Es war nur der Stellvertreter des Revierkommissars gekommen, weshalb Maigret ungeniert die Leitung des Einsatzes übernahm.

»Lassen Sie Ihre Männer draußen. Ich warte auf die Staatsanwaltschaft. Die Mieter sollen erst mal nichts mitbekommen.«

Während der Stellvertreter sich umsah, wandte Maigret sich wieder an die junge Frau.

»Wie heißen Sie?«

»Nine. Nine Moinard, aber alle sagen Nine zu mir.«

»Kannten Sie Couchet schon lange?«

»Ein halbes Jahr vielleicht.«

Er brauchte nicht viele Fragen zu stellen, etwas Beobachtungsgabe genügte. Ziemlich hübsch, recht jung. Ihr Kleid war aus einem guten Geschäft. Doch wie sie sich schminkte, wie sie Tasche und Handschuhe hielt und einen herausfordernd ansah, verriet die Kulissen eines Varietétheaters.

»Tänzerin?«

»Ich war im Moulin Bleu.«

»Und jetzt?«

»Bin ich mit ihm zusammen.«

Zum Weinen hatte sie noch keine Zeit gehabt. Es war alles so schnell gegangen, und sie hatte das Geschehen noch nicht richtig erfasst.

»Lebte er mit Ihnen zusammen?«

»Nicht ganz, er ist ja verheiratet. Aber …«

»Ihre Adresse?«

»Ich wohne im Hôtel Pigalle, in der Rue Pigalle.«

Maigrets Kollege bemerkte:

»Dass was gestohlen wurde, lässt sich jedenfalls nicht behaupten!«

»Warum nicht?«

»Schauen Sie! Der Tresor steht hinter ihm! Er ist nicht verschlossen, aber durch den Rücken des Toten ist die Tür blockiert.«

Nina zog ein kleines Taschentuch heraus, schniefte und betupfte sich die Nase.

Gleich darauf schlug die Stimmung schlagartig um. Bremsende Autos, Schritte und Stimmen im Hof. Dann Händeschütteln, Fragen, lautes Palaver. Die Staatsanwaltschaft war eingetroffen. Der Gerichtsmediziner untersuchte die Leiche, und die Fotografen stellten ihre Apparate auf.

Maigret war die ganze Aufregung unangenehm. Nachdem das Notwendigste gesagt war, ging er, die Hände in den Taschen, in den Hof, und als er dort seine Pfeife anzündete, stieß er im Dunkel mit jemandem zusammen. Es war die Concierge, die sich nicht damit abfinden konnte, in ihrem Haus irgendwelche Unbekannten herumlaufen zu lassen, ohne ihr Treiben zu überwachen.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte Maigret wohlwollend.

»Madame Bourcier. Werden die Herren lang bleiben? Sehen Sie, im Schlafzimmer von Madame de Saint-Marc brennt kein Licht mehr. Die Arme scheint endlich zu schlafen.«

Als der Kommissar seinen Blick über die Fassade schweifen ließ, fiel ihm ein anderes erhelltes Fenster auf, ein cremefarbener Vorhang und eine Frauengestalt dahinter, ebenso klein und dünn wie die Concierge. Die Stimme hörte man nicht, doch das war auch gar nicht nötig, um zu erraten, dass die Frau wütend war. Mal blieb sie reglos stehen und starrte jemanden an, den man nicht sah, dann redete und gestikulierte sie wieder drauflos und tat ein paar Schritte auf die andere Person zu.

»Wer ist das?«

»Madame Martin. Ihren Mann haben Sie vorhin heimkommen sehen. Der mit dem Mülleimer. Der von der Registrierbehörde.«

»Streiten die sich oft?«

»Die streiten sich nicht. Sie schreit ihn immer an, aber er traut sich nicht, den Mund aufzumachen.«

Hin und wieder warf Maigret einen Blick zum Büro, wo nun ein knappes Dutzend Männer am Werk war. Da rief der Untersuchungsrichter von der Schwelle her die Concierge zu sich.

»Wer ist nach Monsieur Couchet der zweite Mann in der Firma?«

»Der Geschäftsführer, Monsieur Philippe. Er wohnt nicht weit von hier, auf der Île Saint-Louis.«

»Hat er ein Telefon?«

»Bestimmt.«

Man hörte ein Telefongespräch. Oben sah man Madame Martin nicht mehr hinter dem Vorhang. Dafür kam eine unscheinbare Gestalt die Treppe herab, überquerte verstohlen den Hof und ging hinaus auf die Straße. An der Melone und dem beigen Mantel erkannte Maigret Monsieur Martin.

Es war Mitternacht. Bei den Mädchen mit dem Grammophon wurde das Licht gelöscht. Abgesehen von den Büros war es nur noch im Salon der Saint-Marcs im ersten Stock hell, wo der ehemalige Botschafter und die Hebamme umgeben von fadem Klinikgeruch halblaut miteinander sprachen.

 

Trotz der späten Stunde war Monsieur Philippe, als er kurz darauf eintraf, wie aus dem Ei gepellt, der braune Bart schön gepflegt, die Hände in grauen Wildlederhandschuhen. Er war um die vierzig und wirkte wie der Archetypus des seriösen Intellektuellen aus gutem Hause.

Die Nachricht überraschte, ja bestürzte ihn, und dennoch hatte er etwas Gezügeltes an sich.

»Bei dem Leben, das er führte …«, seufzte er.

»Was für ein Leben?«

»Ich will nichts Schlechtes über Monsieur Couchet sagen, und es gibt auch gar nichts Schlechtes zu sagen. Was er mit seiner Zeit anfing, war ganz allein seine Sache.«

»Moment mal, er leitete die Firma doch selbst?«

»Nicht im Entferntesten. Er war der Gründer, doch sobald die Geschäfte liefen, überließ er mir die gesamte Verantwortung. Manchmal sah ich ihn zwei Wochen lang nicht. Heute aber habe ich bis fünf auf ihn gewartet, denn er sollte mir das Geld für die morgen fälligen Löhne mitbringen. Ungefähr dreihunderttausend Franc. Um fünf musste ich fort und hinterließ ihm einen Bericht auf dem Schreibtisch.«

Der maschinengeschriebene Bericht lag unter der Hand des Toten. Ein banales Schreiben, in dem es um die mögliche Gehaltserhöhung eines Angestellten ging, um die Kündigung eines Lieferboten, um Reklamemaßnahmen in Lateinamerika etc.

»Dann müssten die dreihunderttausend Franc hier sein?«, fragte Maigret.

»Im Tresor. Das sehe ich daran, dass Monsieur Couchet ihn geöffnet hat. Schlüssel und Code haben nur er und ich.«

Um die Tresortür ganz aufzumachen, musste allerdings die Leiche entfernt werden, also warteten sie ab, bis die Fotografen ihre Arbeit beendeten. Der Gerichtsmediziner schrieb sein Protokoll. Couchet habe einen Schuss in die Brust bekommen, die Hauptschlagader sei durchtrennt worden und der Tod sofort eingetreten. Die Entfernung zwischen Mörder und Opfer dürfe etwa drei Meter betragen haben. Die Tatwaffe sei vom üblichsten Kaliber gewesen: 6,35 mm.

»Hier an der Place des Vosges haben wir nur unsere Labors, gleich hinter dem Büro«, erläuterte Monsieur Philippe dem Untersuchungsrichter.

Er öffnete eine Tür, und sie hatten eine Halle mit Glasdach vor sich, in der Tausende von Reagenzgläsern lagerten. Hinter einer weiteren Tür glaubte Maigret ein Geräusch zu vernehmen.

»Was ist da?«

»Die Meerschweinchen. Und da rechts sind die Büros der Schreibkräfte und der Angestellten. In Pantin haben wir weitere Räumlichkeiten, dort wird der Versand abgewickelt. Sie wissen ja wahrscheinlich, dass die Seren von Doktor Rivière weltbekannt sind …«

»Und Couchet hat das Geschäft aufgebaut?«

»Ja. Doktor Rivière hatte kein Geld. Couchet finanzierte die Forschung, und vor zehn Jahren baute er ein Labor auf, das allerdings noch nicht so groß war wie dieses hier.«

»Ist Doktor Rivière noch im Geschäft?«

»Er ist vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«

Schließlich wurde Couchets Leiche davongetragen, und sobald der Tresor geöffnet war, wurden verwunderte Rufe ausgestoßen: Das ganze Geld war verschwunden. Nur noch Geschäftspapiere lagen drin.

»Nicht nur die dreihunderttausend Franc, die Monsieur Couchet bestimmt mitgebracht hat, sind fort«, erläuterte Monsieur Philippe, »sondern auch die sechzigtausend Franc, die heute Nachmittag eingegangen sind und die ich selbst in den Tresor gelegt habe, mit einem Gummi darum!«