Maigret und die Tänzerin - Georges Simenon - E-Book

Maigret und die Tänzerin E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Um vier Uhr morgens erscheint die Stripteasetänzerin Arlette vom Nachtclub Picratt's volltrunken auf dem Kommissariat in Montmartre. Sie hat im Club ein Gespräch belauscht: Eine Gräfin soll ermordet werden, mehr weiß sie nicht. Um neun Uhr zieht Arlette am Quai des Orfèvres ihre Aussage zurück. Um elf Uhr wird sie erdrosselt aufgefunden. Wenig später ist auch die morphiumsüchtige Gräfin Farnheim tot. Um den Mörder zu finden, muss Maigret die Schattenseiten von Paris ergründen. Maigrets 36. Fall spielt an der Place Pigalle und in Montmartre.

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Der 36. Fall

Georges Simenon

Maigret und die Tänzerin

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Cornelia Künne

Kampa

1

Der Polizist Jussiaume, der bei seinem allnächt- lichen Rundgang fast immer auf die Minute an derselben Stelle vorbeikam, nahm das Kommen und Gehen der Passanten genauso beiläufig wahr wie die Anwohner eines Bahnhofs die Ankunft und Abfahrt der Züge.

Vor dem Schneeregen hatte Jussiaume einen Augenblick in einem Hauseingang an der Ecke Rue Fontaine und Rue Pigalle Schutz gesucht. Der rote Schriftzug vom Picratt’s war einer der wenigen im Viertel, die noch erleuchtet waren. Wie eine große Blutlache spiegelte er sich auf dem nassen Pflaster.

Es war Montag, der Tag, an dem es auf dem Montmartre immer ziemlich ruhig ist. Jussiaume hätte genau sagen können, in welcher Reihenfolge die meisten Lokale schlossen. Jetzt sah er, wie auch das Neonlicht am Picratt’s erlosch und der kleine, korpulente Wirt, der sich einen beigefarbenen Regenmantel über den Smoking gestreift hatte, heraustrat, um die Läden herunterzukurbeln.

Eine schmale Gestalt, vermutlich ein Junge, glitt an den Mauern entlang und verschwand dann in der Rue Pigalle in Richtung Rue Blanche. Kurz darauf gingen zwei Männer, der eine mit einem Saxophonkoffer unter dem Arm, zur Place Clichy hinauf.

Fast unmittelbar danach kam ein weiterer Mann, den Kragen seines Mantels hochgeschlagen, und ging zum Carrefour Saint-Georges.

Der Polizist Jussiaume kannte zwar die Namen all dieser Leute nicht, ja kaum ihre Gesichter, aber genauso wie Hunderte andere hatten sie ihre Bedeutung für ihn.

Er wusste, gleich würde eine Frau in einem sehr kurzen, hellen Pelzmantel und auf übertrieben hohen Absätzen aus dem Lokal kommen und dann schnell weitergehen, als hätte sie frühmorgens um vier allein Angst auf der Straße. Bis zu dem Haus, in dem sie wohnte, waren es nur etwa hundert Meter. Sie musste läuten, weil die Tür zu dieser Stunde verschlossen war.

Schließlich kamen noch die beiden Mädchen, wie immer zusammen. Halblaut miteinander sprechend, gingen sie bis zur nächsten Straßenecke, wo sie sich nur ein paar Meter von ihm entfernt trennten. Die ältere und größere der beiden ging mit schwingenden Hüften die Rue Pigalle bis zur Rue Lepic hinauf, wo er sie bisweilen in dem Haus hatte verschwinden sehen, in dem sie wohnte. Die andere dagegen zögerte einen Augenblick, als wollte sie ihn ansprechen, und ging dann, statt die Rue Notre-Dame-de-Lorette zu nehmen, wie sie es eigentlich hätte tun müssen, zu der Bar an der Ecke Rue de Douai, in der noch Licht brannte.

Sie trug keinen Hut und wirkte angetrunken. Im Schein einer Laterne schimmerte ihr hellblondes Haar wie Gold. Sie ging langsam, blieb hin und wieder stehen und sah aus, als spräche sie mit sich selbst.

Der Wirt fragte sie wie ein alter Bekannter:

»Kaffee, Arlette?«

»Mit Rum.«

Und sofort verbreitete sich der typische Geruch erhitzten Rums in der Bar. An der Theke standen zwei, drei Männer, die sie aber nicht beachtete.

Der Wirt erklärte später:

»Sie machte einen sehr erschöpften Eindruck.«

Vermutlich trank sie deshalb noch einen zweiten Kaffee, diesmal mit doppeltem Schuss. Sie hatte Mühe, das Geld aus ihrer Handtasche zu holen.

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Der Polizist Jussiaume sah sie wieder herauskommen, und als sie jetzt die Straße hinabging, schwankte sie noch stärker als beim Hinaufgehen. Auf seiner Höhe angekommen, erkannte sie ihn, wandte sich ihm zu und sagte:

»Ich möchte im Kommissariat eine Meldung machen.«

»Kein Problem«, antwortete er. »Sie wissen ja, wo es ist.«

Es war fast gegenüber, sozusagen hinter dem Picratt’s, in der Rue de La Rochefoucauld. Beide konnten sie die blaue Laterne und die an der Mauer lehnenden Fahrräder der Streifenpolizisten sehen.

Im ersten Augenblick glaubte er, sie würde nicht hingehen. Aber dann überquerte sie doch die Straße und betrat das Gebäude.

Es war schon halb fünf, als sie das schummrige Büro betrat, in dem nur Wachtmeister Simon und ein junger Polizeibeamter anwesend waren. Wieder sagte sie:

»Ich möchte eine Meldung machen.«

»Ich bin ganz Ohr, Schätzchen«, erwiderte Simon, der seit zwanzig Jahren im Viertel Dienst tat und seine Kundschaft kannte.

Sie war stark geschminkt, aber das Make-up war ein wenig verwischt. Unter ihrem falschen Nerz trug sie ein schwarzes Satinkleid, und da sie nicht sehr fest auf den Füßen stand, hielt sie sich mit beiden Händen an der Balustrade fest, die den für das Publikum bestimmten Bereich abgrenzte.

»Es geht um ein Verbrechen.«

»Jemand hat ein Verbrechen begangen?«

An der Wand hing eine große Uhr, auf die sie unverwandt starrte, als würde ihr der Stand der Zeiger etwas verraten.

»Ich weiß nicht, ob es schon begangen worden ist.«

»Nun, dann ist’s ja kein Verbrechen.«

Der Wachtmeister zwinkerte seinem jungen Kollegen zu.

»Es wird wahrscheinlich begangen. Es wird bestimmt begangen.«

»Wer hat dir das gesagt?«

Sie schien angestrengt nachzudenken.

»Die beiden Männer eben.«

»Was für Männer?«

»Gäste. Ich arbeite im Picratt’s.«

»Dacht ich mir doch, dass ich dich schon mal gesehen habe. Du ziehst dich dort aus, oder?«

Der Wachtmeister hatte sich zwar die Vorführungen im Picratt’s noch nie angesehen, aber er kam jeden Morgen und jeden Abend an dem Schaukasten vorbei, in dem ein großes Bild der Frau hing, die jetzt vor ihm stand, neben kleineren Fotos der zwei anderen Tänzerinnen.

»Also da haben dir zwei Gäste von einem Verbrechen erzählt?«

»Nicht mir.«

»Wem denn?«

»Sie haben miteinander gesprochen.«

»Und du hast es mitangehört?«

»Ja. Ich habe aber nicht alles verstanden, weil eine Wand dazwischen war.«

Auch das verwunderte Wachtmeister Simon nicht. Wenn er morgens an dem Nachtclub vorbeikam, stand die Tür offen, weil gerade sauber gemacht wurde. Er konnte dann in den dunklen, ganz in Rot gehaltenen Raum sehen, mit der glänzenden Tanzfläche und den kleinen Nischen ringsum, die durch Wände voneinander getrennt waren.

»Erzähl! Wann war das?«

»Heute Nacht, vor zwei Stunden etwa. Ja, es muss zwei Uhr gewesen sein. Ich war erst einmal aufgetreten.«

»Was haben die beiden Gäste denn gesagt?«

»Der Ältere hat gesagt, er werde die Gräfin kaltmachen.«

»Was für eine Gräfin?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wann?«

»Wahrscheinlich heute.«

»Hatte er keine Angst, dass du ihn hören könntest?«

»Er wusste nicht, dass ich auf der anderen Seite der Wand war.«

»Warst du allein?«

»Nein. Mit einem anderen Gast.«

»Den du kennst?«

»Ja.«

»Wer ist das?«

»Ich weiß nur seinen Vornamen. Er heißt Albert.«

»Hat er es auch gehört?«

»Das glaube ich nicht.«

»Warum hat er es nicht gehört?«

»Weil er meine beiden Hände festgehalten und geredet hat.«

»Von Liebe?«

»Ja.«

»Und du, du hast gehört, was man sich in der anderen Nische erzählt hat? Kannst du dich genau an die Worte erinnern?«

»Nicht genau.«

»Bist du betrunken?«

»Ich habe getrunken, aber ich weiß, was ich sage.«

»Trinkst du jede Nacht so viel?«

»Nicht so viel.«

»Hast du mit Albert getrunken?«

»Nur eine Flasche Champagner. Ich wollte nicht, dass er noch mehr ausgibt.«

»Ist er nicht reich?«

»Er ist jung.«

»Ist er in dich verliebt?«

»Ja. Er möchte, dass ich nicht mehr auftrete.«

»Du warst also mit ihm zusammen, als die beiden Gäste kamen und nebenan Platz nahmen.«

»Ja, genau.«

»Hast du sie nicht gesehen?«

»Als sie gegangen sind, hab ich sie von hinten gesehen.«

»Sind sie lange geblieben?«

»Vielleicht eine halbe Stunde.«

»Haben sie mit deinen Kolleginnen Champagner getrunken?«

»Nein, ich glaube, sie haben Cognac bestellt.«

»Haben Sie gleich von der Gräfin gesprochen?«

»Nicht gleich. Anfangs habe ich nicht auf ihre Worte geachtet. Das Erste, was ich verstanden habe, war so etwas wie: ›Verstehst du, sie hat noch den größten Teil ihrer Juwelen, aber bei dem Leben, das sie führt, wird das nicht mehr lange so sein.‹«

»Was war das für eine Stimme?«

»Eine Männerstimme. Die Stimme eines älteren Mannes. Als sie gingen, habe ich gesehen, dass einer von ihnen klein und dick war, mit grauen Haaren. Der muss es gewesen sein.«

»Warum?«

»Weil der andere jünger war und die Stimme nicht wie die eines jungen Mannes geklungen hat.«

»Wie war er angezogen?«

»Darauf habe ich nicht geachtet. Dunkel, glaube ich. Vielleicht schwarz.«

»Hatten sie ihre Mäntel an der Garderobe abgegeben?«

»Vermutlich.«

»Er hat also gesagt, die Gräfin habe noch einen Teil ihrer Juwelen, aber bei dem Leben, das sie führe, werde das nicht mehr lange so sein.«

»Ja, das hat er gesagt.«

»Und dann hat er gesagt, wie er sie umbringen will?«

Sie war sehr jung, viel jünger jedenfalls, als sie erscheinen wollte. Manchmal sah sie aus wie ein kleines Mädchen, das gleich den Kopf verliert. Dann blickte sie hilfesuchend zur Uhr, als erhoffte sie sich von dort eine Eingebung. Sie schien sehr müde zu sein und sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. Der Wachtmeister roch den mit Parfum vermischten leichten Schweißgeruch, den ihre Achselhöhlen verströmten.

»Und dann hat er gesagt, wie er sie umbringen will?«, wiederholte er.

»Ich weiß nicht mehr. Sehen Sie, ich war ja nicht allein und konnte nicht die ganze Zeit zuhören.«

»Hat Albert an dir rumgefummelt?«

»Nein, er hielt nur meine Hände. Der Ältere hat so etwas gesagt wie:

›Heute Nacht mache ich sie fertig!‹«

»Das muss doch nicht heißen, dass er sie umbringen will. Es kann ebenso gut bedeuten, dass er ihren Schmuck stehlen will. Oder dass er einfach ihr Gläubiger ist und ihr den Gerichtsvollzieher auf den Hals hetzen will.«

Eigensinnig widersprach sie:

»Nein.«

»Woher weißt du das?«

»Weil es so nicht war.«

»Hat er klipp und klar gesagt, dass er sie töten will?«

»Ich bin sicher, dass er das tun will. Aber an den genauen Wortlaut kann ich mich nicht mehr erinnern.«

»Könnte das nicht ein Missverständnis sein?«

»Nein.«

»Und das war vor zwei Stunden?«

»Ja, ein bisschen länger.«

»Und obwohl du gewusst hast, dass ein Mann so ein Verbrechen begehen will, kommst du erst jetzt?«

»Es hat großen Eindruck auf mich gemacht, und ich konnte auch nicht vor Schluss aus dem Picratt’s weg. Alfonsi ist da sehr streng.«

»Selbst, wenn du ihm die Wahrheit gesagt hättest?«

»Er hätte bestimmt gesagt, ich soll mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern.«

»Versuch dich an ihre Worte zu erinnern.«

»Sie haben nicht viel geredet, und ich habe nicht alles verstanden. Die Musik spielte, und dann hatte Tania ihren Auftritt.«

Schon seit einer Weile machte sich der Wachtmeister Notizen, aber mehr widerwillig als überzeugt.

»Kennst du eine Gräfin?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Vielleicht eine, die in eurem Nachtclub verkehrt?«

»Da kommen nicht viele Frauen hin. Und von einer Gräfin habe ich nie gehört.«

»Hast du nicht versucht, die beiden Männer von vorn anzuschauen?«

»Das habe ich nicht gewagt. Ich hatte Angst.«

»Wovor?«

»Dass sie merken könnten, dass ich sie belauscht habe.«

»Wie nannten sie sich gegenseitig?«

»Darauf habe ich nicht geachtet. Ich glaube, der eine heißt Oscar, aber ich bin mir nicht sicher. Ich habe wohl zu viel getrunken. Ich habe Kopfschmerzen und möchte jetzt schlafen gehen. Wenn ich geahnt hätte, dass Sie mir nicht glauben, wäre ich nicht gekommen.«

»Setz dich.«

»Darf ich denn nicht gehen?«

»Nein, noch nicht.«

Er deutete auf eine Bank an der Wand, über der amtliche Bekanntmachungen hingen.

Aber gleich darauf rief er sie wieder zu sich.

»Wie heißt du?«

»Arlette.«

»Ich brauche deinen richtigen Namen. Hast du einen Ausweis?«

Sie nahm ihn aus ihrer Handtasche und reichte ihn ihm. Er las:

»Jeanne-Marie-Marcelle Leleu, 24 Jahre alt, geboren in Moulins, Tänzerin, 42 Rue Notre-Dame-de-Lorette, Paris.«

»Du heißt gar nicht Arlette?«

»Das ist mein Bühnenname.«

»Bist du denn auf der Bühne aufgetreten?«

»Nicht in richtigen Theatern.«

Er zuckte mit den Schultern und gab ihr den Ausweis zurück, nachdem er sich ihre Daten aufgeschrieben hatte.

»Du kannst dich wieder setzen.«

Mit gedämpfter Stimme trug er seinem jungen Kollegen auf, sie im Auge zu behalten, und ging dann in den Nebenraum, um in Ruhe telefonieren zu können. Er rief die Zentrale der Funkstreife an.

»Bist du’s, Louis? … Hier Simon vom Revier in der Rue de La Rochefoucauld. Ist heute Nacht zufällig eine Gräfin ermordet worden?«

»Wieso eine Gräfin?«

»Weiß ich auch nicht, ist wahrscheinlich nur dummes Zeug. Die Kleine spinnt wohl ein bisschen. Jedenfalls ist sie sehr betrunken. Sie behauptet, gehört zu haben, dass zwei Männer planen, eine Gräfin zu ermorden, eine Gräfin, die kostbaren Schmuck besitzen soll.«

»Davon weiß ich nichts. Ist nichts gemeldet.«

»Falls so was passieren sollte, gib mir gleich Bescheid.«

Sie unterhielten sich noch kurz über private Dinge. Als Simon ins Büro zurückkam, war Arlette eingeschlafen – wie im Wartesaal eines Bahnhofs. Ihre Haltung war so typisch, dass man unwillkürlich nach einem Koffer zu ihren Füßen spähte.

 

Als Jacquart um sieben Uhr Wachtmeister Simon ablöste, schlief sie immer noch, und Simon erklärte seinem Kollegen in knappen Worten den Fall. Im Fortgehen sah er, wie sie die Augen aufschlug, aber er wollte nicht länger bleiben.

Erstaunt blickte sie den Neuen an, der einen schwarzen Schnurrbart hatte, sah dann nervös auf die Uhr und sprang auf.

»Ich muss gehen«, sagte sie.

»Einen Augenblick, Schätzchen.«

»Was wollen Sie noch von mir?«

»Vielleicht kannst du dich jetzt, nachdem du dich gründlich ausgeschlafen hast, besser erinnern als heute Nacht.«

Sie wirkte missmutig, und ihre Haut glänzte, vor allem dort, wo die Augenbrauen gezupft waren.

»Ich weiß nichts weiter. Ich muss nach Hause.«

»Wie war das mit Oscar?«

»Was für ein Oscar?«

Der Polizist hatte das Protokoll vor sich liegen, das Simon verfasst hatte, während sie schlief.

»Der, der die Gräfin ermorden wollte.«

»Ich habe nicht gesagt, dass er Oscar heißt.«

»Wie heißt er dann?«

»Weiß ich nicht. Ich weiß nicht mehr, was ich erzählt habe. Ich hatte getrunken.«

»Dann ist die ganze Geschichte ein Märchen?«

»Das hab ich nicht gesagt. Ich habe zwei Männer in der anderen Nische sprechen hören, aber ich habe nur Bruchstücke verstanden. Vielleicht hab ich mich getäuscht.«

»Warum bist du dann hergekommen?«

»Ich sage es Ihnen noch mal, ich hatte getrunken. Wenn man trinkt, sieht man die Dinge anders und macht aus einer Mücke einen Elefanten.«

»Von einer Gräfin ist gar nicht die Rede gewesen?«

»Doch … ich glaube schon …«

»Von ihren Juwelen?«

»Ja, von Juwelen haben sie gesprochen.«

»Und dass sie die Gräfin kaltmachen wollen?«

»So habe ich es zumindest verstanden. Aber da war ich schon ziemlich blau.«

»Mit wem hast du getrunken?«

»Mit mehreren Gästen.«

»Auch mit einem gewissen Albert?«

»Ja. Ich kenne ihn nicht weiter. Ich kenne die Leute nur vom Sehen.«

»Diesen Oscar auch?«

»Warum kommen Sie mir immer wieder mit diesem Namen?«

»Würdest du ihn wiedererkennen?«

»Ich habe ihn nur von hinten gesehen.«

»Man kann auch einen Rücken wiedererkennen.«

»Ich weiß nicht. Vielleicht.«

Im selben Augenblick durchfuhr sie ein Gedanke, und sie fragte:

»Ist jemand ermordet worden?«

Da sie keine Antwort bekam, wurde sie noch nervöser. Sie musste einen fürchterlichen Kater haben. Das Blau ihrer Iris war ganz verwässert, und der verwischte Lippenstift machte ihren Mund übermäßig groß.

»Kann ich endlich nach Hause gehen?«

»Noch nicht.«

»Ich hab doch nichts getan.«

Inzwischen waren weitere Polizisten zum Dienst erschienen, die sich, während sie ihrer Arbeit nachgingen, über dies und jenes unterhielten. Jacquart rief die Zentrale der Funkstreife an, wo immer noch nichts von einer ermordeten Gräfin bekannt war, und telefonierte dann, um ganz sicher zu gehen, mit dem Quai des Orfèvres.

Lucas, der gerade erst seinen Dienst begann und noch etwas verschlafen war, antwortete:

»Schicken Sie sie sicherheitshalber her.«

Schon im nächsten Augenblick dachte er nicht mehr daran. Kurz darauf kam Maigret ins Büro und warf, noch bevor er Mantel und Hut abgelegt hatte, einen Blick auf die Meldungen der vergangenen Nacht.

Es regnete noch immer in Strömen, ein trüber, schmuddeliger Tag. Kein Wunder, dass die meisten Menschen an diesem Morgen schlechte Laune hatten.

Wenige Minuten nach neun erschien ein Polizist vom 9. Arrondissement mit Arlette am Quai des Orfèvres. Es war ein Neuer, der sich im Haus noch nicht besonders gut auskannte und nacheinander an verschiedene Türen klopfte.

Und so kam er schließlich zum Büro der Inspektoren, wo der junge Lapointe auf der Tischkante saß und eine Zigarette rauchte.

»Wo finde ich bitte Wachtmeister Lucas?«

Er bemerkte nicht, dass Lapointe und Arlette sich lange ansahen, und schloss, als man ihn nach nebenan geschickt hatte, wieder die Tür.

»Setzen Sie sich«, sagte Lucas zur Tänzerin.

Maigret, der wie gewöhnlich vor dem Rapport seinen kleinen Rundgang machte, stand neben dem Ofen und stopfte sich eine Pfeife.

»Dieses Mädchen«, erklärte Lucas, »behauptet, es habe gehört, wie zwei Männer die Ermordung einer Gräfin planten.«

Anders als zuvor war ihre Stimme jetzt klar, beinahe schrill.

»Das habe ich nie gesagt.«

»Sie haben erzählt, Sie hätten gehört, wie zwei Männer …«

»Ich war betrunken.«

»Und Sie haben das Ganze erfunden?«

»Ja.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht. Ich war nicht ganz bei mir. Ich hatte noch keine Lust, nach Hause zu gehen, und da bin ich aufs Revier gegangen.«

Maigret musterte sie einen Augenblick lang neugierig und sah dann weiter die Meldungen durch.

»Es war also nie von einer Gräfin die Rede?«

»Nein …«

»Überhaupt nicht?«

»Vielleicht habe ich etwas von einer Gräfin gehört. Man schnappt ja manchmal so ein Wort auf, und das geht einem dann nicht mehr aus dem Kopf.«

»So wie heute Nacht?«

»Wahrscheinlich.«

»Und darauf haben Sie Ihre ganze Geschichte aufgebaut?«

»Wissen Sie denn immer, was Sie sagen, wenn Sie getrunken haben?«

Maigret lächelte. Lucas schien verärgert.

»Sie wissen doch wohl, dass das eine Straftat ist?«

»Was?«

»Eine Falschaussage zu machen. Sie könnten dafür belangt werden.«

»Das ist mir egal. Ich will nichts weiter, als endlich schlafen gehen.«

»Wohnen Sie allein?«

»In der Tat!«

Wieder lächelte Maigret.

»Erinnern Sie sich auch nicht mehr an den Gast, mit dem Sie eine Flasche Champagner getrunken haben und der Ihre Hände hielt? Ein gewisser Albert?«

»Ich erinnere mich an fast nichts mehr. Muss ich Ihnen das schriftlich geben? Im Picratt’s kann Ihnen jeder bestätigen, dass ich blau war.«

»Seit wann etwa?«

»Seit gestern Abend, wenn Sie’s genau wissen wollen.«

»Mit wem haben Sie getrunken?«

»Ganz allein.«

»Wo?«

»Hier und dort. In allen möglichen Bars. Man merkt, dass Sie nie allein gelebt haben.«

Diese Bemerkung war komisch, weil sie dem kleinen Lucas galt, der besonders streng wirken wollte.

Es würde wohl den ganzen Tag lang regnen – ein kalter, eintöniger Regen. Die Wolken hingen tief über der Stadt, in allen Büros brannte Licht, und der Dielenboden war mit nassen Fußspuren bedeckt.

Lucas war eigentlich mit einem anderen Fall beschäftigt, einem Einbruch in einem Lager am Quai de Javel, und hatte es eilig, dorthin zu kommen. Er blickte Maigret fragend an.

Was soll ich mit ihr machen?, war in seinem Blick zu lesen.

Da aber in diesem Augenblick die Klingel zum Rapport läutete, zuckte Maigret nur mit den Schultern, was so viel hieß wie:

Das ist deine Sache.

»Haben Sie Telefon?«, fragte Lucas das Mädchen.

»Bei der Concierge gibt es eins.«

»Wohnen Sie möbliert?«

»Nein, ich habe eine eigene Wohnung.«

»Allein?«

»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«

»Haben Sie keine Angst, Oscar zu begegnen, wenn ich Sie gehen lasse?«

»Ich will nach Hause.«

Man konnte sie nicht ewig festhalten, bloß weil sie auf dem Kommissariat ihres Viertels ein Märchen erzählt hatte.

»Rufen Sie mich gleich an, wenn er wieder auftaucht«, sagte Lucas, während er sich erhob. »Ich gehe davon aus, dass Sie die Stadt nicht verlassen werden.«

»Nein. Warum auch?«

Er öffnete ihr die Tür und sah, wie sie durch den langen Flur ging und dann an der Treppe einen Augenblick zögerte. Die Leute drehten sich nach ihr um. Man spürte, dass sie aus einer anderen Welt kam, aus der Nachtwelt. Im kalten Licht des Wintermorgens wirkte sie beinah anstößig.

In seinem Büro nahm Lucas immer noch ihren Geruch wahr, es roch nach Frau, fast nach Bett. Auch er rief die Zentrale der Funkstreife an.

»Keine Gräfin?«

»Nein, nichts.«

Dann öffnete er die Tür zum Inspektorenbüro.

Ohne hineinzugehen, rief er:

»Lapointe!«

Eine Stimme, die nicht dem jungen Inspektor gehörte, antwortete:

»Er ist eben fortgegangen.«

»Hat er gesagt, wohin?«

»Nein, nur, dass er gleich wiederkommt.«

»Sag ihm, dass ich ihn brauche. Nicht wegen Arlette oder der Gräfin, sondern weil er mich nach Javel begleiten muss.«

Lapointe kam eine Viertelstunde später wieder. Die beiden Männer zogen ihre Mäntel an, setzten ihre Hüte auf und gingen zur Metrostation Châtelet.

Als Maigret vom täglichen Rapport aus dem Büro des Chefs zurückkam, setzte er sich vor einen Stoß Akten, zündete sich eine Pfeife an und nahm sich fest vor, sich den ganzen Morgen nicht vom Fleck zu rühren.

Ungefähr um halb zehn musste Arlette gegangen sein. Ob sie mit der Metro oder dem Bus zur Rue Notre-Dame-de-Lorette zurückgefahren war, darüber hatte sich niemand Gedanken gemacht.

Vielleicht hatte sie unterwegs auch irgendwo ein Croissant gegessen und einen Café crème getrunken.

Die Concierge hatte sie nicht kommen sehen. In dem großen Haus unweit der Place Saint-Georges herrschte schließlich ein ständiges Kommen und Gehen.

Gerade hatte es elf Uhr geschlagen, und die Concierge wollte sich daranmachen, die Treppe von Haus B zu kehren, als sie erstaunt feststellte, dass Arlettes Tür offen stand.

Am Quai de Javel wirkte Lapointe zerstreut und bedrückt, und Lucas fragte ihn, ob er sich nicht wohlfühle.

»Ich glaube, ich bekomme eine Erkältung.«

Die beiden Männer waren immer noch damit beschäftigt, die Anwohner rings um das Lager zu verhören, in dem der Einbruch verübt worden war, als in Maigrets Büro das Telefon läutete.

»Hier ist der Kommissar von Saint-Georges.«

Es war das Revier in der Rue de La Rochefoucauld, wo Arlette um halb fünf morgens erschienen und schließlich auf einer Bank eingeschlafen war.

»Man hat mir gemeldet, dass heute Vormittag die Tänzerin Jeanne Leleu, genannt Arlette, zu Ihnen geschickt wurde. Sie hatte behauptet, ein Gespräch belauscht zu haben, in dem es um den Mord an einer Gräfin ging.«

»Ich bin nur am Rande damit befasst«, antwortete Maigret und legte die Stirn in Falten. »Ist sie tot?«

»Ja. Sie ist eben in ihrem Zimmer erdrosselt aufgefunden worden.«

»Lag sie im Bett?«

»Nein.«

»War sie bekleidet?«

»Ja.«

»Trug sie ihren Mantel?«

»Nein, nur ein schwarzes Satinkleid. Das haben mir zumindest meine Männer berichtet. Ich bin noch nicht dort gewesen. Ich wollte Sie erst anrufen. Es war offenbar doch eine ernste Angelegenheit.«

»Ja, ganz sicher.«

»Haben Sie immer noch nichts von einer Gräfin gehört?«

»Bis jetzt nicht. Das kann dauern.«

»Schalten Sie die Staatsanwaltschaft ein?«

»Ich rufe gleich an und gehe dann in die Wohnung.«

»Ja, das wird wohl das Beste sein. Ein merkwürdiger Fall, nicht wahr? Der Wachtmeister vom Nachtdienst hat das alles nicht so ernst genommen, weil sie betrunken war. Bis gleich.«

»Bis gleich.«

Maigret wollte Lucas mitnehmen, aber da fiel ihm ein, dass der ja noch mit dem Fall am Quai de Javel befasst war. Lapointe war auch nicht da. Janvier war gerade gekommen und hatte noch seinen kalten und nassen Mantel an.

»Komm mit!«

Wie gewöhnlich steckte sich Maigret zwei Pfeifen in die Tasche.

2

Janvier parkte den kleinen Wagen der Kriminal- polizei am Gehsteig, worauf die beiden Männer genau gleichzeitig und mit der gleichen Kopfbewegung die Hausnummer überprüften und sich dann verwundert ansahen. Auf dem Gehsteig war keine Menschenansammlung, und auch in der Toreinfahrt und im Hof war niemand zu sehen. Der Polizist, den das Kommissariat vorschriftsgemäß hergeschickt hatte, um für Ordnung zu sorgen, ging ein Stück weiter geduldig auf und ab.

Den Grund für dieses erstaunliche Phänomen sollten sie schnell erfahren. Der Kommissar des Viertels, Monsieur Beulant, öffnete die Tür zur Loge der Concierge, eine große, ruhige Frau mit intelligentem Gesicht.

»Madame Boué«, stellte er vor. »Sie ist die Frau eines unserer Sergents. Gleich nachdem sie die Leiche entdeckt hatte, hat sie die Tür mit dem Generalschlüssel abgeschlossen und ist heruntergekommen, um mich anzurufen. Im Haus weiß noch niemand etwas.«

Sie nahm die Worte wie ein Kompliment und neigte leicht den Kopf.

»Ist niemand oben?«, fragte Maigret.

»Inspektor Lognon ist mit dem Amtsarzt hinaufgegangen. Ich habe mich lange mit Madame Boué unterhalten, und wir haben gemeinsam überlegt, welche Gräfin gemeint sein könnte.«

»Ich kenne keine Gräfin hier im Viertel«, sagte die Concierge.

Ihrer Haltung, ihrer Stimme und ihrer Ausdrucksweise war anzumerken, dass sie sich bemühte, eine vorbildliche Zeugin zu sein.

»Die Kleine war kein schlechter Mensch. Wir hatten nur wenig miteinander zu tun, da sie immer erst frühmorgens nach Hause kam und den größten Teil des Tages schlief.«

»Wohnte sie schon lange hier?«

»Seit zwei Jahren. Sie hatte eine Zweizimmerwohnung in Haus B, hinten im Hof.«

»Empfing sie viel Besuch?«

»Fast nie.«

»Männer?«

»Falls welche kamen, habe ich sie nicht gesehen. Außer ganz zu Beginn. Als sie hier einzog und ihre Möbel kamen, habe ich ein- oder zweimal einen Mann mittleren Alters gesehen, den ich zunächst für ihren Vater hielt. Er war klein und hatte ziemlich breite Schultern, hat aber nie ein Wort mit mir gesprochen. Soviel ich weiß, war er seither nicht mehr da. Es gibt hier viele Mieter, und dazu noch die Büros und Geschäfte in Haus A, es ist ein ständiges Kommen und Gehen.«

»Ich werde später noch mal vorbeischauen, um mich ausführlicher mit Ihnen zu unterhalten.«

Es war ein altes Haus. Vom Eingang aus führte eine Treppe nach links und eine nach rechts. Beide waren dunkel, und unten waren Firmenschilder aus Emaille oder Marmor angebracht: im Hochparterre ein Damenfriseur, im ersten Stock eine Masseuse, im zweiten ein Geschäft für künstliche Blumen, ein Rechtsanwalt und sogar eine Hellseherin. Das Pflaster im Hof glänzte vom Regen, und über der Tür vor ihnen war in schwarzer Farbe ein B gemalt.

Sie stiegen drei Etagen hinauf und ließen auf den Stufen Schmutzspuren zurück. Nur eine einzige Tür öffnete sich, als sie vorbeigingen; eine dicke Frau mit spärlichem Haar auf Lockenwicklern sah sie verwundert an, verschwand dann eiligst wieder und schloss hinter sich ab.

Inspektor Lognon vom Revier Saint-Georges kam ihnen entgegen, wie üblich mit finsterer Miene, und warf Maigret einen Blick zu, der deutlich sagte:

Das musste ja passieren!