Maik Stahl und die gespaltene Seele - Axel Lechtenbörger - E-Book

Maik Stahl und die gespaltene Seele E-Book

Axel Lechtenbörger

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Beschreibung

Maik Stahl war einmal ein angesehener Ermittler – jetzt lebt er auf der Straße, gebrochen von Alkohol, Schuld und seiner Vergangenheit. Als eine Mordserie Wiesbaden erschüttert, führen Spuren zu seinem eigenen Trauma. Getrieben von dunklen Erinnerungen und einer gespaltenen Seele, beginnt Stahl zu ermitteln – auf eigene Faust, zwischen Wahnsinn und Wahrheit. Ein düsterer Psychothriller aus dem Rheingau und Wiesbaden, tiefgründig, beklemmend und erschütternd ehrlich.

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Seitenzahl: 216

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Hinweis zum Urheberrecht und zur Fiktionalität

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog / Nachwort

Danke

.

Maik Stahl unddie gespaltene Seele

 

Hinweis zum Urheberrecht und zur Fiktionalität

Die Rechte an der deutschen Ausgabe liegen ausschließlich beim Autor.

Das Werk ist – einschließlich aller seiner Teile – urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung, Vervielfältigung oder Weitergabe des Inhalts ist ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung des Autors unzulässig und strafbar.

Alle Rechte bleiben vorbehalten. Ohne vorherige Genehmigung dürfen weder das Werk noch Teile daraus reproduziert, gespeichert, übertragen oder in irgendeiner Form verwendet werden.

Zuwiderhandlungen verpflichten zum Schadensersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben wurden nach bestem Wissen erstellt. Sie erfolgen ohne Gewähr. Der Autor übernimmt keine Verantwortung oder Haftung für mögliche inhaltliche Unrichtigkeiten.

Bei diesem Buch handelt es sich um eine fiktive Geschichte.

Sämtliche Personen, Handlungen und Ereignisse sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, lebend oder verstorben, wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Es liegt keinerlei Absicht vor, reale Orte, Unternehmen, Marken oder Personen des öffentlichen Lebens in negativer Weise darzustellen oder zu schädigen.

Impressum

© 2025 Axel Lechtenbörger

Texte: © Axel Lechtenbörger

Umschlaggestaltung: © [email protected]

Bildmaterial: © Pixabay / Sora, verwendet und erstellt

nach der Idee des Autors

Satz & Layout: [email protected]

Bildquellen:

Pixabay / Sora

Verwendet unter Berücksichtigung der jeweiligen Lizenzbedingungen.

Neuauflage von:

„Schlafe, mein Kind, bevor du stirbst“

Kontakt:

Axel LechtenbörgerHahn 1035708 HohensteinDeutschland

E-Mail:[email protected]

Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH

Köpenicker Straße 154a

10997 Berlin

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

Prolog

An einem sonnendurchfluteten Frühlingstag tollte Lisa mit ihrer fünfjährigen Schwester Luna ausgelassen auf einer Blumenwiese herum. Unzählige flauschige Fallschirmchen lösten sich von den Pusteblumen und wirbelten um sie herum. Luna verfolgte mit glänzenden Augen die davonpurzelnden Schirmfliegersamen. Überdreht sprang sie hoch und erhaschte einen von ihnen in der Luft. Glucksend betrachtete sie ihn und pustete ihn wieder von ihrer Handfläche. Dabei beobachtete sie, wie der laue Wind ihn erfasste und er der Armee der davonstiebenden Schirmchen gemächlich hinterherschwebte.

Lisa betrachtete abfällig ihre kleine Schwester, die in ihrem kurzen Sommerkleidchen und mit ihren pinkfarbenen Ballerinas dümmlich über die Wiese hüpfte. Luna war begeistert über den Vorschlag ihrer großen Schwester, den sie ihren Eltern unterbreitete, ein Picknick auf der Hangwiese zu veranstalten. Seitdem nervte sie sie nur noch mit ihrem kindlichen Geplapper. Aber die neunjährige Lisa ließ es über sich ergehen, denn sie wusste, dass der Tag für sie noch kommen würde.

Ein wohliger Schauer erfasste sie. All die Härchen auf ihrem Körper richteten sich auf, als ihr bewusst wurde, dass es gleich endlich so weit sein würde. Wie oft hatte sie schon davon geträumt? Ihr Vater hatte das Auto noch nicht ganz auf dem Parkplatz gestoppt, da waren sie schon albern herumbalgend zur Wiese hinübergestürmt.

Ihr Plan stand fest.

Lisa ging gedanklich noch einmal alles durch. Kam irgendwo der Hauch eines Zweifels in ihr hoch? Verlangte ihre innere Stimme, dieses Vorhaben abzubrechen?

Lisa lächelte. Nein, ganz im Gegenteil!

Der intensive Geruch frisch gemähten Heus strömte von einer Nachbarwiese herüber. Ein herrlicher Duft, der ein wohliges Gefühl in ihr auslöste. Roch so der kommende Tod?

Sie machte einen tiefen Atemzug. Bald war es so weit, dann würde sich ihr Wunsch erfüllen.

Ihre Eltern waren noch am Auto. Aber sie würden bald bei ihnen sein. Sie musste sich sputen.

Mit einem hinterhältigen Lächeln beobachtete sie Luna, die albern gackernd einem Schmetterling hinterhersprang, wobei ihr wallendes Haar in der Sonne golden schimmerte. Warum war sie nicht so hübsch wie sie? Lisa hätte kotzen können über diese Ungerechtigkeit. Ihre Eltern trugen die Schuld daran, das werden sie noch zu spüren bekommen.

Für diesen kurzen Augenblick hatte sich Lisa heute extra in dunkle Schale geworfen – schwarzes Shirt, schwarze Sneaker und eine schwarze Legging – nur mit ihren kurzgeschnittenen, brünetten Haaren war sie nicht zufrieden. Dennoch das perfekte Outfit für den heutigen Tag, und je näher der Zeitpunkt der Entscheidung kam, desto höher stieg ihr Glücksgefühl.

Luna war ebenfalls glücklich. Als ihre größere Schwester sie fragte, ob sie gemeinsam ein Picknick veranstalten wollten, hatte sie freudestrahlend zugestimmt. »Wirklich?«, hatte sie gefragt. Sie konnte nicht glauben, dass Lisa endlich einmal freundlich war. Sonst war sie stets gemein und feindselig zu ihr. Manchmal war sie aber auch nett, aber das war immer nur dann, wenn sie ihr Schmerzen zufügen konnte.

Es wurde Zeit für Lisa – und für Luna.

Verschlagen grinsend setzte sie sich in Bewegung. Luna lief mit erhitztem Gesicht vor ihr her. Albern lachend blickte sie sich um. Lisa winkte ihr aufmunternd zu, während sie aufholte und neben ihr herzutrotten begann. Ihre vier Jahre jüngere Schwester vertraute ihr grenzenlos. Warum auch nicht?

Lisa rammte sie mit Wucht, wobei beide zu Boden fielen und durch das kniehohe Gras rollten. Kurz darauf reckte ihre kleine Schwester, der die langen Haare ins Gesicht hingen, kichernd den Kopf aus der Wiese hervor.

Dein süßes Lachen wird dir noch vergehen, dachte Lisa tückisch, als sie sich wieder aufrichtete. Mit einem Seitenblick erkannte sie, dass sie fast am Ziel angelangt waren. Mit den roten, erhitzten Wangen sah ihre kleine Schwester verdammt süß aus. Zu süß, dachte sie, von Neid zerfressen.

Einmal mehr musste sie daran denken, wie sie ihr, als sie etwa zwei Jahre alt war, in einem unbeobachteten Moment die Zinken einer Kuchengabel in den Kopf gerammt hatte. Genau dorthin, wo ihre Mutter sie zuvor liebkost hatte. Daraufhin wurde sie von einer unbeschreiblichen Erregung erfasst und die wispernde Stimme zog sich aus ihrem Kopf zurück. Aber anschließend fühlte sich Lisa frei und merkwürdig beschwingt. Ihrer Mutter erzählte sie, Luna sei in einen Stacheldrahtzaun gefallen. Ihr war es egal, ob sie es glaubte oder nicht.

Ein anderes Mal hatte Lisa ihren Vater beim Reparieren ihres ramponierten Gartenzauns beobachtet, der von einem Auto gerammt worden war. Daher kam ihre Idee. Daraufhin merkte sie sich die Werkzeuge, die er benutzte – Hammer, Zange, Säge und Nägel –, damit sie die nötigen Vorbereitungen treffen konnte.

Zwei Schritte noch …

»Wer zuerst am Zaun anschlägt, ist Sieger«, rief Lisa ihrer Schwester mit honigsüßem Schmelz in der Stimme zu und deutete auf den Bretterzaun, der die Wiese zum steilen Abhang hin absicherte.

Schlage aber nicht so fest an, fügte sie in Gedanken hinzu, sonst könnte es ein Unglück geben.

Luna rannte so schnell sie konnte und erreichte als Erste den Zaun. Hechelnd schlug sie mit der Hand gegen die hölzerne Absperrung, drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Sie lachte und wollte etwas sagen, blickte aber überrascht, als die Abgrenzung hinter ihr plötzlich nachgab und sie das Gleichgewicht suchend mit den Armen herumwedelte.

Lisa war von der Szene wie berauscht und meinte, bereits den Duft frisch gemähten Heus zu riechen.

NEIN! schrie die Stimme in Lisas Kopf. Ihr war, als hätte ihr jemand eine eiskalte Dusche über den Körper gegossen. Von einem Moment auf den anderen wurde sie aus ihrem Rausch gespült. Sie konnte es nicht glauben – Luna stand immer noch – erleichtert lächelnd, an der Kante des Abgrunds.

»Uiuiui«, hörte sie sie wie aus weiter Ferne sagen. »Das war knapp.«

Wie unter Zwang machte sie einen Schritt vor und noch einen. Sie hob die Arme, als würde sie Luna umschlingen wollen.

»JETZT«, schrie die Stimme in ihrem Kopf.

Ihre Hände schossen vor. Luna blickte sie überrascht an, als sie der Stoß gegen die Brust traf und sie noch mit rotierenden Armen versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Wie berauscht beobachtete Lisa, wie ihre ungeliebte Schwester hinter der Abbruchkante verschwand.

Plötzlich schien alles in ihr zu vibrieren. Am Fuße der Schlucht meinte sie einen dumpfen Aufprall zu hören.

Aber Lisa war enttäuscht. Hatte Luna geschrien oder war sie stumm in den Tod gestürzt? Im Moment des Schubses war sie so aufgeregt, dass sie gar nichts mehr wahrgenommen hatte. Das ging alles viel zu schnell.

Die Stille um sie verschwand jäh und sie schien aus einem Traum zu erwachen. Auf einmal wurde sie sich ihrer eigenen, erregten Atemzüge bewusst.

Wie fremdgesteuert näherte sie sich der Stelle, an der vor wenigen Augenblicken noch ihr verhasstes Schwesterchen gestanden hatte.

Gebannt beugte sie sich vor. Sie starrte in die Schlucht hinab. Tief unten meinte sie, einen Fetzen pinkfarbenen Stoffes erkennen zu können.

Jetzt war sie die Nummer eins.

In Lisas Blick lag kein Mitgefühl, als sie die panischen Schreie ihrer Eltern vernahm, die die Situation aus der Ferne mit ansehen mussten und kurz darauf atemlos eintrafen. Fassungslos starrten sie den Abhang hinunter, an dessen Grund Lunas zerschmetterter Körper lag.

Ein Luftzug erfasste Lisas brünettes Haar und brachte den Duft frisch gemähten Heus mit sich, der sie stets an den Tod erinnern würde.

Sie lauschte einer inneren Stimme, aber das Wispern in ihrem Kopf war verstummt. In ihren Ohren säuselte nur noch der laue Wind, der Schirmfliegersamen von den Pusteblumen pflückte, um sie an Lisa vorbeitreiben zu lassen.

Kapitel 1

Maik Stahl erwachte. Aber genau das wollte er nicht mehr. Ihm war übel, und sein Gehirn schien von unzähligen parasitären Fadenwürmern durchlöchert worden zu sein.

Er blinzelte mit seinem gesunden Auge der aufgehenden Sonne entgegen. Mit dem anderen konnte er das nicht mehr, das hatte er bei einem Unfall verloren. Und es war ihm scheißegal, dass er die leere Augenhöhle hinter einer auffälligen, schwarzen Augenklappe verstecken musste. Die pulsierenden Schläge in seinem Kopf stammten scheinbar von seinem inneren Schweinehund, der mit einem Vorschlaghammer die Schädeldecke knacken wollte.

Der Geruch von saurem Schweiß und Erbrochenem stieg ihm in die Nase. Angeekelt fuhr er sich mit dem Ärmel seines verwahrlosten Ledermantels durch das von Narben entstellte Gesicht. Mit einer fahrigen Bewegung richtete er seine Augenklappe. Seine Finger tasteten über die schlecht verheilte Narbe, die von der linken Augenbraue bis unter den rechten Mundwinkel reichte. Ein Andenken an seinen Unfall, bei dem er sein Gedächtnis und seine Gesundheit verloren hatte. Einige Erinnerungen, die ihm noch verblieben waren und die er heute Nacht wieder einmal zu ersäufen versucht hatte, stiegen aus ihrer Deckung hervor.

Wartet es nur ab, dachte er, gleich werde ich euch wieder dorthin spülen, wo ihr hingehört.

Sein Rücken schmerzte vom Liegen auf dem harten Boden. Stöhnend stützte er sich auf seinen Ellenbogen.

Der Albtraum geht weiter, dachte er enttäuscht. Eigentlich hatte er wieder einmal vorgehabt, sich zu Tode zu saufen. Erst jetzt bemerkte er das zusammengekauerte Fellknäuel auf seinem Schoß.

»Verpiss dich«, vernahm er eine krächzende Stimme, die seine eigene zu sein schien. Er drehte seinen Körper etwas zur Seite und zog die zerlumpte Decke von sich, sodass die Katze haltlos von ihm herunter und ins Gras rutschte.

»Mach dich vom Acker, du Miststück. Bei mir gibt es nichts zu holen.« Maik hatte erwartet, dass sie verschwinden würde, aber das abgemagerte, hellgraue Tier blieb dort reglos liegen, als wäre nichts passiert.

Wo war er hier überhaupt? Irgendwann in der Nacht musste ihm der Film wieder gerissen sein. Aber die Gegend kannte er. Sein Blick ging zur Dyckerhoffbrücke hinüber, die die Einfahrt des Schiersteiner Hafens überspannte und sich auf die Bismarcksaue stützte. Sie schien ihn stets magisch anzuziehen, wenn er seine Gedanken im Alkohol ertränkte. Wahrscheinlich war es wegen der Gleichgesinnten, von denen sich manch einer von der Brücke stürzte, um dem sinnlosen Leben rasch ein Ende zu machen. Aber sie taugte nicht dazu, denn der eine oder andere überlebte den Sprung ins Wasser. Jämmerlich ertrinkend wurden sie wie Exkremente aus einer Kloschüssel in den Rhein gespült.

Leblos, blass und kalt wurden sie irgendwo am Ufer wieder angetrieben.

Blass, kalt und nass. Kein schöner Reim. Auch er hatte es versucht, aber er war ein zu guter Schwimmer, obwohl er sturztrunken genug war, um endlich das Zeitliche zu segnen. Was soll er denn auch noch hier? Für ihn gab es auf dieser schnöden Welt nichts mehr zu tun.

Daraufhin hatte er sich aus einem alten Kahn ein Tau besorgt und befestigte das eine Ende am Brückengeländer. Am anderen Ende knotete er eine Schlinge und legte sie sich um den Hals. Anschließend hockte er sich auf den Handlauf, blickte aufs rufende Wasser und zückte die Whiskeyflasche aus der Tasche seines Ledermantels. Ohne diese abzusetzen, leerte er sie. Nachdem der Alkohol zu wirken begann, ließ er sich einfach nach vorn fallen.

Auch dazu war er nicht fähig, denn er erwachte mit schrecklichen Hals- und Kopfschmerzen in einer Klinik. Dort erfuhr er, dass ein Skipper, der ein Boot kontrollieren wollte, ihn bei seinem Selbstmord beobachtet und ihn wieder aus dem Wasser gezogen hatte. Das Tau, mit dem er sich hatte erhängen wollen, war scheinbar morsch und brüchig und war gerissen.

Schöne Scheiße! Danke dafür!

Seitdem zierte auch noch eine wulstige Narbe seinen Hals. Ihm blieb nur der Alkohol. Aber auch der schien ihn nicht umbringen zu wollen.

Mit einem Ächzen richtete er seinen hageren, ein Meter fünfundneunzig großen Körper auf. Schwindel erfasste ihn. Wankend versuchte er, das Gleichgewicht zu halten, und kurz darauf verbesserte sich sein Zustand etwas.

Nachdenklich blickte er auf die Katze hinab, die immer noch reglos vor seinen ehemals braunen und jetzt schiefgelaufenen Drifter-Stiefeln lag.

Er hatte absolut keine Ahnung, wie sie zu ihm gekommen war.

»Hey, hau endlich ab, du verdammtes Mistvieh.« Er bückte sich und klaubte seine Kubacap aus dem noch vom Frühtau bedeckten Gras. Während er Schmutz und Grasreste davon entfernte und sie sich über den haarlosen und von Brandnarben verunstalteten Schädel stülpte, warf er dem grauen Tier einen verdrießlichen Blick zu.

Sie sah krank aus. Der Größe nach schien es sich um einen Kater zu handeln. Er ging in die Hocke, wobei seine operierten Knie wieder zu schmerzen und die Brandverletzungen an den Oberschenkeln zu spannen begannen. Mit einer Sanftheit, die man bei ihm nie vermutet hätte, streichelte er ihm den Nacken. Dabei bemerkte er, dass sich die Bauchdecke des Tieres leicht hob und senkte.

»Verdammt«, flüsterte er, nahm ihn aber dennoch hoch.

»Was soll ich nur mit dir anstellen? Ich hab mit mir doch schon genug zu tun.« Er nahm sich vor, den Kater mitzunehmen, um ihn auf einer Bank, die von Passanten stark frequentiert war, wieder abzusetzen. Schließlich hatte er anderes zu tun, als Kindermädchen zu spielen. Irgendjemand würde sich sicher um ihn kümmern, denn hier auf der Bismarcksaue hätte er die nächsten Stunden mit Sicherheit nicht überlebt.

In seinem Leben hatten Katzen schon einmal eine Rolle gespielt. Sechs Jahre war es nun her, seitdem das Auto am Ufer des Rheins gefunden wurde, in dem sich noch seine Frau, seine Tochter und die Katzen befanden.

Leblos und blass, kalt und nass.

Seine kleine Familie wollte nur zum Tierarzt, um die Tiere impfen zu lassen. Er wusste nicht mehr, wogegen. Es war ihm auch scheißegal.

»Einfach nur zum Impfen«, flüsterte er der aufsteigenden Sonne entgegen. Als würde sie das interessieren. »Hey, mein Lieber«, murmelte er dem Tier zu, »was hast du nur für ein Problem?«

Der Kater begann, apathisch zu atmen.

Mittlerweile hatte Maik eine der an der Uferpromenade stehenden Holzbänke erreicht. Nur schwach erinnerte er sich daran, hier ab und an seinen Rausch ausgeschlafen zu haben. Er hockte sich darauf und ließ das in die Decke gewickelte Tier auf seinen Schoß sinken.

»Ich werde dich hier liegen lassen, Kumpel. Irgendwann wird jemand vorbeikommen und dich mitnehmen.«

Bedächtig positionierte er den Kater neben sich auf die Bank. Abwesend richtete er die Decke und griff nach der in seiner Manteltasche steckenden, halbvollen Whiskeyflasche. Fahrig schraubte er am Deckelverschluss herum, bevor er sie aufbekam und zum Trinken ansetzte, um einen tiefen, gierigen Zug zu machen.

»Im Gegensatz zu dir habe ich meine Medizin ständig bei mir«, sagte er und verschloss die Flasche wieder. Anschließend richtete er sich auf und ließ sie geschickt in seiner Manteltasche verschwinden. Ohne sich auch nur einmal umzusehen, verließ er den Ort. Mit einem unguten Gefühl beobachtete er seinen gedrungen, fortschleichenden Schatten, den die tiefstehende Sonne auf den Gehweg warf.

Das schwache Hecheln des Katers ging ihm nicht aus dem Sinn. Verunsichert blieb er stehen.

Wenn ihn doch niemand finden würde, dann würde er es kaum überleben, flüsterte ihm sein Gewissen auf einmal zu.

Ihm fiel die mobile Ambulanz ein, die hier an manchen Tagen die Obdachlosen betreute. Eine junge Ärztin, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, verdreckten Pennern Hilfe angedeihen zu lassen. So eine Weltverbesserin. Vielleicht fand er sie ja an dem Bootshaus »Zur Barke«, wo sie manchmal parkte und ihre Patienten verarztete. Sie würde sicher nach dem Kater sehen, dann wäre er ihn auch schon wieder los. Er ging zurück und war froh darüber, dass das Tier noch atmete. Der Kater lag schwer in seinen Armen, als er dem Verlauf der Hafenstraße folgte. Das Zittern seiner Hände und das Verlangen nach seinem Stoff wurden auf einmal übermächtig in ihm. Umständlich schob er eine Hand in seine Manteltasche. Seine Finger umschlangen den Flaschenhals, und kurz darauf hatte er mit Hilfe seiner Zähne den Verschluss abgeschraubt. Gierig ließ er fast den gesamten Inhalt in seine Kehle rinnen, bevor er die Flasche wieder in seiner Tasche verschwinden ließ.

Vor ihm tauchte das Speiselokal „Zur Barke“ auf. Tatsächlich stand dort am Straßenrand ein buntes, mit Graffiti besprühtes und altbacken wirkendes Wohnmobil. Maik versuchte, durch die Seitenscheibe zu spähen, doch Gardinen versperrten die Sicht. Zögernd klopfte er an die Tür. Unvermittelt polterte es im Fahrzeug. Etwa zwei Sekunden später schwang die Tür auf und ein Blondschopf reckte seinen Kopf aus dem Rahmen.

»Einen wunderschönen guten Morgen«, flötete er ihm zu. »Kann ich Ihnen helfen?«

Der strahlende Blick himmelblauer Augen lag jäh auf ihm. Das engelhafte Wesen lächelte ihn fragend an, woraufhin sich neckische Grübchen auf seinen Wangen bildeten.

Überwältigt von der Erscheinung der jungen Ärztin, verspürte er auf einmal einen dicken Kloß in seinem Hals.

Er hielt ihr den Kater hin.

»Äh, …« Er räusperte sich. »Könnten … könnten Sie vielleicht etwas für ihn tun?«, stotterte er unbeholfen.

Kapitel 2

»Kommen Sie doch herein, aber stolpern Sie nicht, und halten Sie Ihr armes Tier ja gut fest«, sagte der Engel mit einem neckischen Blick.

»Es ist nicht meins«, krächzte er. Maik fiel es sehr schwer, sich den Tiefen ihrer blauen Augen zu entziehen, die ihn an seine verstorbene Frau erinnerten. Eigentlich wollte er ihr den Kater nur in die Hände drücken und direkt wieder verschwinden.

»Na los, kommen Sie schon rein!«

Peinlich berührt hob er den Kater etwas an. Wie lange hatte er sie angestarrt? Er kam sich vor wie ein junger Mann bei seinem ersten Date. Hätte er sich nicht Mut angesoffen, wäre er schon längst wieder verschwunden.

»Aber ich …«, erwiderte Maik zögernd.

»Keine Angst, ich beiße nicht. Na los, so wie es aussieht, benötigt Ihr Kater sofort meine Hilfe.«

»Ich … ich habe Sie mir … äh … anders vorgestellt«, entgegnete er.

»Bin ich Ihnen vielleicht zu hässlich?« Sie lachte verschmitzt. »Sorry, aber ich bin heute Morgen sehr früh aufgestanden …«

»Nein, nein. Tut mir leid. So meine ich das gar nicht, ich … ich … äh, ganz im Gegenteil.« Maik hatte das Gefühl, sich um Kopf und Kragen zu reden. Verwirrt stieg er auf die ausgeklappte Stufe des Wohnmobils. Der intensive Duft von Desinfektionsmitteln schlug ihm entgegen. Er beobachtete, wie die Ärztin ein Handtuch auf der Tischplatte ausbreitete.

»Legen Sie den Kater bitte auf den Tisch.« Maik atmete ihren Fliederduft ein, während er ihn dort umständlich ablegte. Sofort tastete sie ihn ab, horchte mit einem Stethoskop nach seinen inneren Organen und warf Maik währenddessen einen ernsten Blick zu. Der hätte sich gerne einen großen Schluck aus der Flasche gegönnt. Aber das wäre ihm jetzt peinlich gewesen. Später würde er das noch nachholen können.

»Wenn Sie wollen, dass Ihr Kater überlebt, dann muss er sofort in eine Tierklinik gebracht werden.«

»Es ist nicht mein Kater«, erwiderte Maik. »Ich habe ihn nur gefunden.«

»Das ist mir egal. Es sieht nicht gut mit ihm aus – er muss sofort in eine Tierklinik. Am besten nach Hofheim, die wäre am schnellsten erreichbar.«

»Okay, dann bringen Sie ihn nach Hofheim.« Maik wandte sich der Tür zu.

»Warten Sie, Sie können jetzt nicht so einfach verschwinden. Wenn ich dem Kater helfen soll, dann müssen auch Sie mir helfen. Allein kann ich ihn nicht fahren, ich habe keinen Transportbehälter für Kleintiere dabei. Setzen Sie sich auf den Sitz dort und halten Sie Ihren Kater fest, damit er beim Fahren nicht vom Tisch rutscht.«

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, er ist nicht mein Kater«, erwiderte Maik – etwas schroffer, als beabsichtigt. Jetzt benötigte er unbedingt etwas von seinem Stoff. Seine Hände begannen wieder zu zittern.

»Setzen Sie sich«, erwiderte sie energisch und deutete auf die Sitzbank am Tisch. »Und halten Sie den Kater fest. Übrigens: Ich heiße Nicole, Nicole Voss.«

Sie hielt ihm ihre Hand hin. Zögerlich ergriff er sie und spürte die Wärme und ihren festen Druck. Wieder verfiel er der Tiefe ihrer Augen.

»Sie können mich jetzt loslassen.« Ihre Stimme riss ihn jäh in die Gegenwart zurück.

»Oh … tut mir leid.« Verlegen zog er seine Hand aus ihrer und senkte den Kopf, um sein verräterisch glitzerndes Auge unter dem Schirm seiner Kappe zu verstecken.

Maik war verwundert über sich selbst. Während die Ärztin, die ihn sehr an seine verstorbene Frau Laura erinnerte, durch den Zwischenraum der beiden vorderen Sitze schlüpfte, kauerte er sich widerstrebend auf den Sitzplatz neben dem Tisch. Den Kater zog er samt dem Handtuch auf seinen Schoß – dabei vernahm er, wie Nicole Voss noch ein Telefonat mit der Tierklinik führte, bevor sie den Motor startete und losfuhr.

Maiks Gedanken schweiften in seine düstere Vergangenheit zurück – in eine Zeit voller Schicksalsschläge. Erst starb seine kleine Familie bei einem Unfall im Rhein. Daraufhin sah er keinen Sinn mehr in seinem Leben. Fast täglich ließ er sich volllaufen. Eines Tages musste er volltrunken mit dem Auto gefahren sein. Erst Monate später erwachte er auf der Intensivstation aus seinem Koma. Sein Auto war Schrott. Was geschehen war, wusste er selbst nicht mehr. Die Ärzte hatten ihm berichtet, dass er ungebremst gegen einen Brückenpfeiler gerast war.

Sie hätten die Geräte abstellen sollen, dachte er bitter.

Als er aus dem Koma erwachte, hatte er vieles aus seinem Leben vergessen. Nur ab und an blitzten einige Erinnerungsfetzen in ihm auf.

Nach etwa zwanzig Minuten erreichten sie die Hofheimer Tierklinik. Nicole Voss stellte das Fahrzeug direkt neben dem Eingang ab, zwängte sich durch die Vordersitze wieder nach hinten und übernahm das kranke Tier.

Maik stand auf, öffnete ihr die Tür und ließ sie hinaus. Sie quetschte sich an ihm vorbei, wobei ihr betörender Fliederduft wieder in der Luft hing. Während er sich auf eine der für Herrchen und Frauchen bereitgestellten Bänke hockte, blickte er ihr nach, wie sie in der Klinik verschwand.

Übelkeit stieg in ihm hoch. Sein Alkoholpegel war abgesackt, und seine Hände zitterten.

Gerade als er nach der Flasche in seiner Manteltasche greifen wollte, kam Nicole Voss zurück.

Maik starrte auf den Boden und zog sich die Kappe tief ins Gesicht.

»Sie haben mir Ihren Namen noch nicht genannt«, vernahm er ihre Stimme. »Wir müssen warten, es dauert noch etwas.« Sie ließ sich neben ihn nieder.

Maik gab keine Antwort. Die Zementplatten am Boden interessierten ihn jetzt scheinbar viel mehr.

»Sie sind Maik, richtig?«, antwortete sie für ihn.

Überrascht hob er seinen Kopf etwas an. Woher wusste sie das?

»Sie sind der einäugige Maik. Einige meiner Patienten haben mir von Ihnen erzählt.«

»So? Was erzählt man sich denn über diesen … Maik?«

»Es wird erzählt, dass der Einäugige sich schützend vor hilflose Menschen stellt. Und ich habe gehört, dass er einem Tierquäler selbst Rheinwasser zu saufen gab, nachdem der einen Hund ersäufen wollte. Dann hat er dieses arme Tier in ein Tierheim gebracht.«

Maiks Hände zitterten. Seine Zunge fuhr über seine spröden Lippen.

Er mochte solche Lobhudeleien nicht.

Was er jetzt mochte – war: Stoff. Und möglichst viel davon, denn sein Alkoholpegel stand auf einem sehr niedrigen Level.

Es wurde Zeit für einen sehr, sehr großen Schluck Whiskey.

Anstatt ihr zu antworten, richtete er sich nur auf und ging mit steifen Gliedern in Richtung der Kliniktoiletten.

Verwirrt blickte sie ihm hinterher.

Maik passierte die auf anderen Bänken hockenden Herrchen und Frauchen, die mit ihren Haustierchen auf ihren Termin warteten. Sie erkannten in ihm den Obdachlosen und warfen ihm geringschätzige Blicke zu. Aber das war ihm völlig schnuppe. Mit einer Mischung aus Wut und Gier nach Alkohol stieß er die Toilettentür auf. Über dem Waschbecken erkannte er im Spiegel sein Konterfei.

Was war von ihm übrig geblieben? Nur ein armseliger, einäugiger Obdachloser, dessen kahler Schädel eine schmuddelige Kappe zierte. Seine Finger glitten über die tiefe Narbe, die sein Gesicht in zwei Hälften spaltete. Er tastete nach der schwarzen Augenklappe, die die Augenhöhle vor den Blicken der neugierigen und angewiderten Menschen verbarg.

Maiks Hand fuhr in die Manteltasche. Begehrlich griff er nach der Flasche Whiskey, schraubte sie auf und setzte sie sich mit bebenden Händen an die Lippen. Der Alkohol brannte an seinen spröden Lippen wie Feuer. Ekel überkam ihn jäh – Ekel vor dem Fusel und Ekel vor sich selbst. Er ließ die Hand mit der Flasche sinken und schleuderte sie wütend gegen ein Urinalbecken, an dem sie klirrend zerbarst.

Alkohol troff an seinem Kinn herab und rann in seinen Kragen. Whiskeydunst breitete sich in dem Raum aus.

Übelkeit stieg in ihm hoch. Während er sich über die Kloschüssel beugte, kotzte er sich die Seele aus dem Leib.

Nachdem er sich etwas besser fühlte, schaufelte er sich am Waschbecken Wasser ins Gesicht. Schnaufend stützte er sich am Rand des Beckens ab. Er sah hoch.

Seine Blicke kreuzten sich mit denen, die ihn müde aus dem Spiegel anstarrten.

Warum bist du noch nicht tot, Kumpel?

Mit dem Fuß schob er die Scherben beiseite. Das Urinalbecken war glücklicherweise heil geblieben. Niedergeschlagen verließ er die Toilette.

Er hoffte, nicht mehr auf diese weltverbessernde Ärztin zu treffen. Aber sie saß immer noch auf der Bank und blickte zu ihm herüber.