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Die quirlige Kommissarin Mercédès Mayerhuber in ihrem 4.Fall! Mallorquinisches Lebensgefühl paart sich mit einer zarten Liebesgeschichte und trifft auf einen undurchsichtigen Kriminalfall. Auf Loch 9 des Golfplatzes Golf de Andratx wird eine Leiche gefunden. Mitten auf dem Grün liegt ein Mann, elegant gekleidet, als wäre er zum Dinner verabredet, mit dem Rücken am Boden. Mitten durch seinen Brustkorb steckt die Fahne, als würde sie den Toten markieren. Ein grausiger Anblick findet Kommissarin Mercédès Mayerhuber, die widerstrebend nach Mallorca zurückgekehrt ist, und nun wieder mit ihrem Assistenten Miquel Coll auf Mörderjagd geht. Wer hatte so einen Hass auf den Toten, dass man diesen so zur Schau stellte? Viele, wie die Ermittlungen bald ergeben. Clemens Richter, der Tote von Loch 9, kam aus der Baubranche und war anscheinend in krumme Geschäfte verwickelt. Einer der Geschäftspartner war Miquels Vater. Bald zählt dieser zu den Verdächtigen. Außerdem verbindet ihn mehr mit Mercédès, als Miquel verkraften kann. Stecken Immobilienspekulanten hinter dem Mord? Eine Fehde unter Bauunternehmern? Oder spielen die amourösen Abenteuer des Toten eine Rolle? Oder war alles ganz anders?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Tag 1 – Montag, 14.3.2022
Tag 2 – Dienstag, 15.3.2022
Tag 3 – Mittwoch, 16.3.2022
Tag 4 – Donnerstag, 17.3.2022
Tag 5 – Freitag, 18.3.2022
Tag 6 – Samstag, 19.3.2022
Epilog – Sonntag, 20.3.2022
Hinweis:
Danksagung
Quellen
Wörterbuch
Die Autorin
Leseprobe: Mallorquinische Leiche zum Frühstück
Leseprobe: Mallorquinische Leiche zum San Rua
Leseprobe: Mallorquinische Leiche zum Sant Joan
Leseprobe: Der Tiergartenmörder
Leseprobe: Mord am Campus
Impressum
Susan Carner
Mallorquinische Leiche auf Loch 9
Der vierte Fall für Mercédès Mayerhuber!
Mallorca-Krimi
Diese Geschichte ist rein fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, Orten und Ereignissen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt, auch wenn die Orte real sind. Alle Personen sind Schöpfungen der Autorin und keine der geschilderten Begebenheiten entspricht den Tatsachen.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
© 2024 Susan Carner
Susan Carner c/o Autorenservice Gorischek Am Rinnergrund 14/5 8101 Gratkorn Austria
Covergestaltung © by Catrin Sommer
Bildnachweise: Gras mit Fahne von user17007025, freepix.com Ball von BillionPhotos, freepix.com Coverbild: Torre del Verger von Susan Carner
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Ausführliche Informationen finden Sie auf
www.susancarner.com
Für Papa!
In memoriam Helga!
Es gibt zwei Tragödien im Leben. Eine ist, das Verlangen deines Herzens zu verlieren. Das andere ist, es zu gewinnen!
George Bernard Shaw
Paguera oder Peguera. Da scheiden sich die Geister. Kastilische (spanische) Aussprache oder katalanische (mallorquinische). Den meisten Urlaubern ist der Badeort an der Südwestküste Mallorcas als Paguera bekannt, die Mallorquiner aber nennen ihn Peguera. Ich habe mich entschieden, in dieser Geschichte die katalanische Sprache zu verwenden. Es ist mir ein Herzensanliegen, Mallorquí unter Gästen der zauberhaften Insel bekannter zu machen. Für die mallorquinischen Ausdrücke finden Sie am Ende des Buches ein kleines Wörterbuch.
Schauplätze wie Ortschaften, Märkte, Bars und Restaurants sind real, doch die Protagonisten sind frei erfunden und leben nur in meinem Kopf.
Allerdings betreibe ich keine Werbung und erhalte keine Gegenleistung für die Erwähnung. Puzzleartig setze ich Orte, Sehenswürdigkeiten und Landschaften zusammen, um für den Leser ein stimmiges Mallorcabild zu erzeugen.
Sie war so müde, einfach nur müde. Am liebsten würde sie die ganze Zeit schlafen. Sie bettete ihren Kopf auf das weiche Kissen des Lounge-Chairs und schloss die Augen. Doch sofort tauchten die Bilder wieder auf. Schreckliche Bilder. Also hielt sie ihre Augen krampfhaft offen, ließ ihren Blick über das tobende Meer gleiten, bevor dieser den dunklen Wolken folgte, die mit atemberaubender Geschwindigkeit über den Himmel zogen.
Das Wetter war wie ihre Stimmung. Deprimierend. Seit Tagen schon zog eine Schlechtwetterfront über die Insel, die Wolkenungetüme vor sich hertrieb. Hin und wieder klarte es für ein paar Minuten auf, dann erfreute sie sich an den intensiven Sonnenstrahlen, spürte die Kraft, die ihre müden Glieder wärmte und die verwundete Seele erwärmte. Aber leider wurde diese Freude stets schnell durch einsetzende Regenschauer vertrieben. Die hielten zwar nie lange an, reichten jedoch aus, um pitschnass zu werden. Die Luft war zu kühl, um sich diesem Wetterphänomen ohne Regenschutz auszusetzen. Deshalb lag sie auch gut eingewickelt unter dem Vordach ihrer großzügigen Terrasse.
Das aufgewühlte Meer vor ihr ließ Bilder in ihrem Kopf entstehen, die sie gerne verdrängen würde. Jede Nacht, wenn sie endlich in einen unruhigen Schlaf gefallen war, tauchten diese verstörenden Bilder wieder und wieder vor ihr auf. Wie die Wellen über ihren Kopf zusammenschlugen. Dann wachte sie schreiend auf. Sofort war ihre Mutter an ihrem Bett, sprach beruhigend auf sie ein. »Mercédès, wach auf, es ist nur ein böser Traum. Komm, Kindchen, wach auf, es ist nur ein Traum.«
Doch sie wusste, es war kein Traum. Es war die Wirklichkeit.
Warum war sie nach knapp drei Jahren nach Mallorca zurückgekehrt? In Wien hatten die bösen Träume schon nachgelassen, doch seit sie hier war, schreckte sie erneut in der Nacht hoch. Alles in der Umgebung erinnerte sie. Erinnerte sie an ihre Vergangenheit. Dabei hatte sie mit allen Mitteln versucht, diese zu vergessen. Doch sie hatte sie nur verdrängt. Und die Ereignisse traten nun mit brutaler Wucht wieder in den Vordergrund.
Wie hatte sie dem Drängen von Doctor Lluc Bibiloni, dem Leiter der Kriminalabteilung der PolicíaNacional, nachgeben können? Weil sie es ihm schuldig war. Ohne ihn hätte sie den perversen Kindesentführer nie dingfest gemacht. Dr. Bibiloni hatte sie angefleht, nach Mallorca zurückzukommen und ihren Dienst als Kommissarin wieder aufzunehmen. Durch Corona hatten sie in den letzten beiden Jahren viele Leute verloren, einige Kollegen waren sogar an der Krankheit verstorben, jüngere litten an Long Covid. Die Personaldecke war dünn.
Obwohl die letzten Jahre durch die Pandemie nicht mehr so viele Touristen auf Mallorca waren, kam es immer wieder – oder sogar vermehrt – zu Übergriffen auf Gäste. Also hatte Bibiloni beschlossen, die Sondereinheit für Touristen wieder ins Leben zu rufen. Die Saison startete gerade. Mit einem Ansturm auf die Insel war zu rechnen, denn Corona hatte seinen Schrecken verloren. Es gab noch Beschränkungen wie die Maskenpflicht im Supermarkt oder beim Betreten eines Lokals. Doch im Prinzip war alles wieder offen und die Menschen versuchten, die letzten beide Jahre nachzuholen.
Bibiloni hatte sie bekniet, die Abteilung erneut zu leiten. Ihr versprochen, eine geeignete Unterkunft für sie und ihre Familie zu finden, ihren Wünschen so gut als möglich nachzukommen, was die Mitarbeiter betraf.
Bis sie schließlich zugesagt hatte. Auch ihrer Mutter zuliebe. Eine waschechte Spanierin, die sich nach ihrem Heimatland gesehnt hatte, obwohl sie es nie ausgesprochen hatte. Doch sie kannte ihre Mutter.
Also hatte sie vor ein paar Wochen einen befristeten Arbeitsvertrag für die Sommersaison 2022 unterschrieben, mit einer Option auf Verlängerung.
Doch sie war sich jetzt schon sicher, dass sie diese Option nicht wahrnehmen würde. Resigniert strich sie über ihre Augen. Was hatte das Leben noch zu bieten?
»Mamá!«
Die hohe Kinderstimme versetzte ihr einen Stich. Als die Kleine versuchte, auf den Lounge-Chair zu krabbeln, rief Mercédès panisch nach ihrer Mutter.
»Kind, was ist denn nun wieder los? Deine Tochter will mit dir spielen. Nimm sie halt auf deinen Schoß und lies ihr was vor.«
»Nein, nicht jetzt«, meinte Mercédès abwehrend. »Später.«
»Wann später?« Man merkte Mercédès’ Mutter die Ungeduld in der Stimme an. Sie hatte Verständnis für die Lage der Tochter, doch irgendwann musste man auch wieder der Realität ins Auge sehen. »Sie ist deine Tochter. Und du hast verdammt noch mal die Pflicht, dich um sie zu kümmern!«
Mürrisch nahm Mercédès die Kleine auf den Arm. Diese gluckste vor Freude und strahlte ihre Mutter aus großen Kinderaugen an. Sie schaute in diese Augen – und sah Werners Augen.
In diesem Moment läutete ihr Handy. ›Miquel‹, stand auf dem Display. Nie war sie froher über diese Ablenkung gewesen, auch wenn der Name ihres Kollegen nicht unbedingt mit angenehmen Erinnerungen verbunden war.
Deshalb klang sie auch etwas unterkühlt. »Was gibt’s?«
»Was wohl?« Miquel klang nicht eben viel freundlicher.
Er hatte nicht die Absicht gehabt, je wieder mit Mercédès zu arbeiten, doch man ließ ihm keine andere Möglichkeit.
Bibiloni hatte ihn vor die Wahl gestellt, entweder wieder unter Mercédès Leitung zu arbeiten oder zur PolicíaLocal zu wechseln. Das wollte er auf keinen Fall. Wenn man es schon mal zur PolicíaNacional geschafft hatte und Mordfälle aufklären durfte, dann wollte man als Polizist nicht wieder Streife schieben.
Doch Bibiloni hatte ihm eindeutig klar gemacht, dass die Fehler im Fall der Kindesentführung keinen Leitungsposten für ihn zuließen. Entweder lernte er weiter bei Mercédès – oder das war es mit seiner Karriere bei der Mordermittlung. Also hatte er in den sauren Apfel gebissen und der Arbeit mit Mercédès zugestimmt. Wie sie darüber dachte, wusste er nicht. Sie hatten noch nicht über ihre gemeinsame Vergangenheit gesprochen. Und wenn es nach ihm ginge, würde er das Thema auch gerne meiden.
Sachlich fuhr er jetzt fort: »Im Golfclub Golf de Andratx in Camp de Mar hat man eine Leiche gefunden. Auf Loch 9.«
Die Erwähnung des Ortes Camp de Mar ließ bei Mercédès sofort Tränen aufsteigen. Doch sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. Es nutzte alles nichts. Sie hatte sich entschieden, wieder auf der Insel Dienst zu tun. Da würde es nicht ausbleiben, sich auch mit Orten oder Menschen auseinanderzusetzen, die zu ihrem früheren Leben gehört hatten. »Wir treffen uns am Parkplatz in Camp de Mar, in dreißig Minuten kann ich da sein.« Die Antwort von Miquel wartete sie nicht mehr ab, sie legte auf.
Den erwartungsvollen Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter begegnete sie mit der knappen Auskunft, sie hätten eine Leiche auf Loch 9.
***
Sie war unfähig, aus dem Auto auszusteigen. Als sie das letzte Mal auf diesen Parkplatz in dem kleinen Küstenort Camp de Mar gewesen war, hatte sie in Miquels Auto gesessen. Der hatte ihr stockend mitgeteilt, dass ihr Mann ... Heiße Tränen liefen Mercédès über das Gesicht, die sie energisch mit dem Handrücken abwischte, als sie Miquel auf ihr Auto zukommen sah. Ob er auch an die Szene von damals dachte?
Sie schob ihre Sonnenbrille vor die Augen, obwohl keine Sonne schien, und stieg endlich aus. Statt einer Begrüßung rief sie ihrem Kollegen entgegen: »Haben wir schon Hintergrundinformationen?«
Miquel war sichtlich erleichtert, dass es keine Sentimentalitäten zwischen ihnen gab. »Durch den Regen heute Morgen war auf dem Platz nicht viel los, deshalb ist die Leiche erst spät gefunden worden. Ein Mann, mehr weiß ich auch noch nicht. Komm, lass uns mit meinem Wagen rauffahren.«
Er fuhr einen der typischen Kleinwagen auf der Insel. Sie hatte sich diesmal für ein etwas größeres Auto entschieden und gegen ihren geliebten Fiat 500, der perfekt für die Insel geeignet war. Schließlich hatte sie Mutter und Tochter, die auch gefahren werden mussten. Sie fuhren die paar hundert Meter hinauf zum Eingang des Golfplatzes und ließen das Auto direkt bei der gemauerten Einfahrt neben dem Leichenwagen stehen, sodass von dem kleinen Parkplatz hinter der Zufahrt niemand das Gelände mit dem Auto verlassen konnte.
Sie starrte auf den Leichenwagen. Dr. Munar war also bereits da. Sie wappnete sich schon mal innerlich für die Begrüßung durch den Gerichtsmediziner. José Munar war ein herzensguter Mensch und Mercédès sehr zugetan. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen ... Ja, seit er ihren Mann ... Sie verdrängte die Bilder vor ihren Augen, begab sich mit Miquel zu einem der Golfwägelchen, den ein Polizist schon für sie bereitgehalten hatte. Es standen eine Reihe dieser Golfcarts entlang der Einfahrt, wie Soldaten aufgereiht. Noch bevor sie richtig Platz genommen hatte, düste Miquel los.
Es war eine prachtvolle Anlage. Durch den Regen der letzten Tage blühte und grünte es, dass es eine Freude für die Augen war. Sie selbst war keine Golfspielerin, doch fand sie Golfplätze durch ihre großzügige Weite und das viele Grün einladend. Miquel hatte sich den Weg zu Loch 9 beschreiben lassen und chauffierte sie quer über die verschiedenen Fairways, da das Spiel für alle unterbrochen worden war. Man brachte die Golfer unter Polizeischutz zurück zum Clubhaus, um dort die Personalien aufzunehmen. Mercédès hörte auf ihrem Weg zu Loch 9 das eine oder andere Murren der Golfspieler, die wahrscheinlich alles andere als begeistert über die Zwangspause waren. Aber es waren ohnedies nur wenig Spieler unterwegs. Das Wetter war den meisten wohl zu schlecht zum Golfen. Obwohl sie sich hatte sagen lassen, dass es kein schlechtes Wetter für diesen Sport gab, nur die falsche Ausrüstung. Aber vielleicht traf das nicht auf die mallorquinischen Golfspieler zu.
Der Weg war weit, denn Loch 9 bildete den Abschluss der ersten Runde und war am äußersten Ende des schmalen Platzes, der sich an die Hänge der auslaufenden Tramontana schmiegte. Sie begutachtete die vielen Bunker, die unterschiedlichen Größen der Greens, die üppige Vegetation dazwischen, die hauptsächlich aus Palmen und Kakteen bestand. Die waren ihr schon beim Eingang aufgefallen. Viele verschiedenartige Kakteenarten hatten den gesamten Eingangsbereich beherrscht.
Bei Loch 9 angekommen blieb sie erst einmal im Wägelchen sitzen und ließ das Bild auf sich wirken. Mitten auf dem Grün lag ein Mann, elegant gekleidet, als wäre er zum Dinner verabredet, mit dem Rücken am Boden. Mitten durch seinen Brustkorb war die Fahne gesteckt, als würde man den Toten markieren. Sie schüttelte sich ob des grausigen Anblicks. Rechts neben der Leiche kniete Munar. Das gesamte Grün war von einem Sperrband umgeben, bewacht von einem Polizisten.
Mercédès kletterte aus dem Golfcart und folgte Miquel auf das Grün.
Munar blickte auf, ein freudiges Erkennen durchzuckte sein Gesicht. Mühsam rappelte er sich auf, streckte beide Arme aus und zog Mercédès an sich. »Gut, dass du wieder da bist!«
Nach einem heftigen Drücker gab er sie frei, fuhr lächelnd über seinen imposanten Bauch und meinte munter: »Ich werde nicht schlanker. Es wird immer mühseliger, mich zu den Toten hinunterzubeugen. Ihr solltet den Mördern verbieten, diese stets irgendwo am Erdboden zu entsorgen.« Er lachte laut und herzhaft über seinen Scherz.
Dieses dröhnende Lachen war es, das Mercédès in Erinnerung war. Sie musste schmunzeln. Schön, dass sich nicht alles verändert hatte. »Ich werde mich bemühen, dies in Mörderkreisen zu verbreiten.« Sie begutachtete den Toten aus der Nähe. »Hat ihn das Ding da getötet?« Mercédès zeigte auf die Fahnenstange.
Munar schüttelte sein haarloses Haupt. »Nein, er wurde nicht hier ermordet. Nur hier abgeladen.«
»Ein Zeichen?«, überlegte Mercédès laut.
Ein wiegender Kopf Munars zeugte davon, dass er nicht zustimmen wollte, aber auch ihre These nicht verwarf.
»Was bedeutet die Delle auf seinem Kopf?« Mit gerunzelter Stirn hockte sie über dem Toten und betrachtete ihn eingehend.
»Ein Spieler hatte vom Abschlag dort«, und Munar deutete mit der Hand über einen lang gezogenen Teich auf den Abschlagplatz gegenüber vom Grün, »fast ein Hole-in-one geschafft, hätte er nicht den Schädel des Toten getroffen.« Wieder das dröhnende Lachen.
Mercédès fand es zwar unpassend an einem Tatort, aber es gab der ganzen Situation auch etwas Leichtes. Es war ihr Job, der zwar oft trübsinnig war, trotzdem musste man nicht den ganzen Tag Trübsal blasen.
»Ich habe schon ein paar Bälle in diesem Teich versenkt«, führte Munar leicht verzweifelt aus. »Auch wenn es nur knapp hundertzwanzig Meter bis aufs Grün sind, so irritiert mich der Teich dermaßen, dass ich es einfach nicht schaffe. Der Golfer hat sich bestimmt grün und blau geärgert, dass er nicht fertig spielen konnte. Denn mit einem Put wäre er im Loch gewesen. Eins unter Paar. Habe ich noch nie geschafft ...«
»Wow, du bist ja ein passionierter Golfer, das wusste ich gar nicht«, lächelt ihn Mercédès an.
»Du weißt vieles nicht von mir«, schaute er sie sehnsuchtsvoll an.
»Na, dann müssen wir das Wissen mal bei einem Glas Wein vertiefen.«
»Wirklich?« Er zeigte offen seine Überraschung, freute sich jedoch. »Aber wehe, du vergisst das!«
»Würde ich mich doch nie trauen.« Sie zwinkerte ihm zu.
Miquel hatte der Unterhaltung verblüfft gelauscht. Er hatte Mercédès seit ihrer Ankunft vor einigen Wochen nur mürrisch und schlecht gelaunt erlebt. Und Munar gelang es mit ein paar derben Scherzen, sie aufzumuntern. Dabei hatte er, Miquel, unter persönlichem Einsatz seinen verhassten Vater dazu gebracht, eine passable Wohnung für Mercédès zu organisieren, nachdem Bibiloni ihn mit den Worten ›Ihr Vater hat da doch so seine Verbindungen‹ damit beauftragt hatte. Aber bisher kein Wort des Dankes.
Mercédès wollte von Munar noch wissen, ob er schon einen Ansatz für die Todesursache oder den Todeszeitpunkt hatte, doch beides verneinte der Gerichtsmediziner. »Er wurde hier fein säuberlich drapiert. Ich muss ihn erst gründlich untersuchen. Das Einzige, das ich weiß, ist seine Identität. Der Ausweis steckte in seiner Brieftasche.«
Sie deutete auf Miquel, also reichte Munar die Geldbörse weiter an ihn. Dieser durchsuchte die Börse sorgfältig, erläuterte dann, dass der Mann hier am Grün ein gewisser Clemens Richter war, wohnhaft in Düsseldorf. Und aus der Baubranche kam, zumindest fanden sich in der Brieftasche Visitenkarten des Toten, die darauf hinwiesen. »Ein paar Hunderter stecken auch noch drin«, ergänzte er seine Ausführungen.
»Also haben wir es nicht mit einem Raubmord zu tun. Was sich sowieso ausschließt, denn welcher Räuber würde einen Toten schon auf einem Golfplatz platzieren? Diese Inszenierung trägt eine persönliche Handschrift, wir müssen sie nur noch identifizieren.«
»Vielleicht können die vom Proshop was über den Toten erzählen«, mischte sich Munar in Mercédès Gedanken.
»In welchem Shop?«, fragte sie verwirrt nach.
»Im Proshop«, meinte er schmunzelnd. »Das ist der kleine Laden beim Eingang. In dem bekommst du alles, was das Golferherz sich wünscht. Von Bällen angefangen bis hin zur passenden Kleidung. Außerdem muss man sich dort anmelden, wenn man hier spielen möchte. Vielleicht kennt man den Toten dort.«
»Danke für den Tipp, lieber José«, meinte sie versonnen, ganz in die Betrachtung des eleganten Toten versunken. Hochgewachsen, schlank, kurzes, fast militärisch geschnittenes Haar, eckiges Kinn, herrischen Zug um den Mund. Der dunkelblaue Blazer und die beigen Stoffhosen mit den exquisiten Slippern ließen auf keinen armen Mann schließen. Was war der Grund, warum er hier auf einem Golfplatz im Westen Mallorcas ein grausames Ende gefunden hatte? Einer von 19.000 Golfern, die laut Inselrat jede Woche auf Mallorca abschlugen? Mit einem durchbohrten Brustkorb durch eine Golffahne, die eigentlich das Loch eines Grüns markieren sollte. Ein persönlicher Racheakt?
Jedenfalls wirkte der Mann auch im Tode gebieterisch. Wie ein Mann, der gewohnt war, das zu bekommen, was ihm zustand. Doch damit war es nun vorbei. Jetzt mussten sie seinen Mörder finden. Und das Motiv dazu.
»Lass uns an die Arbeit gehen«, sagte sie zu Miquel gewandt. »Hier können wir nichts mehr ausrichten. José, bis wann haben wir ein Ergebnis der Obduktion?«
»Ich schätze mal, heute Abend. Ich kann dir dann bei einem Glas Wein Näheres berichten.«
»In Ordnung. Ruf mich an, wenn du so weit bist.«
Nicht nur Munar blickte verblüfft auf die das Grün verlassende Mercédès, auch Miquel war sprachlos. Und er?
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, meinte sie lapidar: »Dir berichte ich danach natürlich ausführlich.« Sie schwang sich auf das Golfcart, diesmal hinter das Steuer, und Miquel hatte Mühe, noch rechtzeitig aufzuspringen, bevor sie losfuhr.
***
Der Eingangsbereich des Golfclubs wirkte ein wenig trostlos. Der einzige Farbfleck dieses regnerischen Tages war der quietschgelbe Mercedes-Sportwagen, der bei der Einfahrt neben dem Leichenwagen stand. Wie konnte man so ein Auto in so einer Farbe fahren? Mercédès schüttelte sich innerlich, so viel Geld für so einen kitschigen Farbton auszugeben käme ihr nicht in den Sinn.
Sie schaute sich auf der Suche nach einem geeigneten Ort um, in dem sie sich mit den Zeugen unterhalten könnte. In das vornehme Restaurant Campino wollte sie nicht gehen, obwohl es mit den gasbetriebenen Heizkörpern, die kleine Flammen erzeugten, sehr heimelig und kuschelig warm aussah. Sehnsuchtsvoll blickte sie durch die Fenster. Fröstelte.
Doch sie entschied sich für den Außenbereich rund um den Proshop. Hier würden sich die Zeugen nicht wohl fühlen, denn der Wind pfiff durch die schmale Gasse zwischen dem Restaurant und dem Shop. Doch dort standen ein paar Korbstühle, die perfekt für ihr Vorhaben waren. Die wirkten ohne Kissen zwar trostlos, aber vielleicht brachte das die Leute eher zum Reden. Das blaue Plastik, das sie vor dem Regen schützen sollte, war vom Wind so aufgebläht worden, dass es nutzlos war. Mercédès zog es einfach zur Seite und bat die ersten Golfer zum Gespräch.
Während der Unterhaltung ließ sie ihre Blicke immer wieder über die prachtvollen Kakteen wandern, denn die Aussagen der wenigen Golfspieler brachte nichts.
Keiner hatte etwas gesehen, niemand kannte den Toten. Fast jeder der Befragten hatte zwar intensiv das Bild des Mannes auf Mercédès’ Handy betrachtet, einige wenige hatten sich allerdings schnell verstört abgewandt, aber keiner konnte etwas zum Umstand seines Todes beitragen. Also entließ sie alle relativ rasch.
»Lass uns im Proshop nachfragen, vielleicht kannte ihn da ja jemand«, meinte Mercédès hoffnungsvoll zu Miquel.
Froh, endlich dem kalten Wind entfliehen zu können, betraten sie den stilvollen Laden. Sie bahnten sich ihren Weg durch unzählige Golf-Utensilien in Richtung einer Art Rezeption. Hinter der stand eine junge Frau und blickte ihnen erwartungsvoll entgegen.
Nachdem Mercédès sich und Miquel vorgestellt und die Dame ihren Namen, Antònia Miró, genannt hatte, hielt sie ihr das Foto des Toten unter die Nase.
Antònia wurde bleich beim Anblick der Leiche, ihre ohnedies großen, dunklen Augen wurden noch eine Spur größer. Sie schwankte leicht.
Mercédès hob eine Augenbraue: »Sie erkennen den Mann?«
Die junge Frau fuhr mit der Zunge über ihre vollen Lippen. Dann nickte sie langsam. »Ja, das ist Herr Richter. Es spielte des Öfteren Golf bei uns.«
»Kennen Sie alle Spieler mit Namen?« Mercédès war verblüfft, denn nichts hatte bisher ergeben, dass Clemens Richter auf Mallorca lebte, also konnte er nicht tagtäglich hier spielen.
»Nein, nur die, die unserm Club angehören oder sehr oft hier spielen.«
»Also war Herr Richter ein häufiger Gast?«
»Wenn er auf Mallorca weilte, dann spielte er fast täglich.«
»Heißt genau?«
»Er kam so zwei- bis dreimal im Jahr für ein paar Wochen.«
»Dann sind Sie aber eine sehr aufmerksame Rezeptionistin«, lächelte Mercédès die junge Dame an, die immer blasser um die Nase wurde. »Ist Ihnen nicht gut?«
»Nein, nein ... es geht schon. Das ist mein erster Toter ...«
Mercédès hatte das Gefühl, dass da mehr dahintersteckte. »Kannten Sie Herrn Richter persönlich?«
»Nur so, wie man die Spieler kennt, die bei einem die Platzgebühr bezahlen, die Score Card holen oder ein paar Golfbälle kaufen.«
»Können Sie uns etwas über Herrn Richter erzählen?«
»Nein, nicht wirklich. Nur, dass er sich immer über sein schlechtes Spiel ärgerte und dies lautstark kundtat.« Jetzt lächelte sie leicht, als hätte sie eine bestimmte Szene vor Augen.
»Wer waren denn seine Golfpartner?«
»Verschiedene Honoratioren von Mallorca, Freunde, die er aus Deutschland mitbrachte, manchmal junge Damen.« Die Letzteren erwähnte sie nur so nebenbei, war dabei leicht rot geworden.
»Sie meinen, Herr Richter hatte hin und wieder eine junge Frau mit dabei? Immer dieselbe?«
Die Rezeptionistin schüttelte den Kopf. »Er kam jedes Mal mit einer anderen.«
Mercédès blickte auf Miquel. Hatten sie hier schon das Motiv gefunden? Wandte sich wieder an Antònia. »War er diesmal auch mit einer Frau hier?«
»Bisher habe ich ihn erst ein- oder zweimal auf dem Platz gesehen, da spielte er mit drei Freunden.«
»Kennen Sie deren Namen?«
»Natürlich, die müssen sich ja bei uns registrieren.«
»Gut, dann schreiben Sie mir diese Namen auf und machen mir bitte auch eine Liste von den Honoratioren, die mit Herrn Richter hier gegolft haben, ja? Und schicken Sie mir die Liste an diese Mailadresse«, wobei sie der jungen Frau ihre Visitenkarte zusteckte und auf die Mailadresse deutete.
Diese nickte erneut. Mercédès hatte das Gefühl, dass Frau Miró sie loswerden wollte. Aber warum?
»Gut, das wäre es dann. Ging Herr Richter auch hin und wieder in das Restaurant nebenan?«, fragte sie noch beiläufig auf dem Weg nach draußen.
»Das weiß ich nicht«, antwortete diese leise und errötete leicht dabei.
Mercédès kam das eigenartig vor, doch wollte sie die junge Dame nicht länger belästigen. Sie spürte, dass diese sehr aufgewühlt war, wollte ihr aber Zeit geben, sich zu beruhigen.
***
Im Hotelzimmer fanden sie das Handy des Toten. Sie waren in das Hotel gefahren, in dem er für diesen Urlaub abgestiegen war, nachdem Kollegin Isabel das Hotel ausfindig gemacht hatte. Das Gran Hotel Camp de Mar war nur ein paar Minuten vom Golfplatz entfernt. Merkwürdig, dass er das Mobiltelefon nicht dabeihatte, überlegte Mercédès. Ein Geschäftsmann, der ohne Handy aus dem Haus ging? Gab es so etwas überhaupt?
Später erfuhren sie von seinen Freunden, dass er sein Mobiltelefon nie mitnahm, wenn er mit einer Frau ausging. Das Gerät war leicht zu entsperren, man musste nur einmal darüberstreichen. Kein Passwort, keine Fingersignatur, nichts. Grob fahrlässig, würden Datenschützer sagen. Aber das konnte dem Mann jetzt auch egal sein. Für sie allerdings war es ein Glückstreffer.
Im Kalender fand sich ein Eintrag für heute, fünfzehn Uhr, bei einem Enrique Coll. »Miquel, wie heißt dein Vater mit Vornamen?«
»Enrique, wieso?«, rief der aus dem Badezimmer und kam mit einer Packung Kondome in der Hand ins Zimmer getreten. Grinsend meinte er: »War wohl umtriebig, der gute Mann.«
»Vielleicht liegt hier das Motiv?«, überlegte Mercédès laut.
»Dann suchen wir mal seine Geliebte. Denn hier wohnte keine Frau. Im Badezimmer war nur eine einzige Zahnbürste und es fanden sich ausschließlich männliche Kosmetikartikel. Warum wolltest du den Namen meines Vaters?«
»Hat er seine Kanzlei in der Carrer de Pou in Palma?«
Neugierig war Miquel nähergetreten. »Warum?«
»Weil der Tote eine Verabredung mit ihm hat. In zwei Stunden. Die werden wohl wir wahrnehmen.«
Miquel beschlich ein ungutes Gefühl. Sein Vater. Der hatte seine Hände in vielen Immobiliengeschäften. Und wie er vermutete, waren die nicht unbedingt sauber. Hoffentlich hing sein Vater hier nicht mit drin. Zutrauen würde er es ihm. Coll Senior war mit Immobilien reich geworden. Miquel hatte immer den Verdacht, dass sein Vater Teil der Mallorca-Connection war, denn viele Anwälte und Notare waren in den Sumpf von Korruption und Bestechlichkeit verstrickt. Doch seinem Vater war bisher nichts nachgewiesen worden. Und das, obwohl vor einigen Jahren das große Saubermachen begonnen hatte und viele, auch Politiker, zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden waren. Miquel blickte dem Termin mit gemischten Gefühlen entgegen.
***
An der Bar standen drei Männer. Ein kleiner schlanker, ein kleiner dicker und ein großer hagerer. Jeder hatte ein Glas Whiskey in der Hand.
»Wer von euch war es?«, fragte der kleine Dicke.
»Wie kommst du auf uns?«, fauchte der Hagere. »Du hattest ebenfalls tausende Gründe, den alten Sack beiseitezuschaffen.«
»Aber mit meiner Frau hat er nicht gevögelt«, grinste der Dicke hinterhältig.
Der Hagere machte einen Schritt auf ihn zu.
»Lasst mal, Jungs, hört auf, euch gegenseitig zu beschuldigen. Das war doch keiner von uns, oder?« Der kleine Schlanke mischte sich ruhig ein. »Natürlich hätte jeder von uns seine Gründe gehabt, aber bringen wir deshalb jemanden um? Wir sind trotzdem zivilisierte Leute«, meinte er kopfschüttelnd.
»Na, du hast gut reden. Ohne das Geld deiner Frau wärest du jetzt ruiniert. Und das nur wegen Clemens.« Der Dicke machte eine abfällige Geste mit seiner rechten Hand.
»Und du?«, konterte der Schlanke. »Du bist bankrott. Clemens hat dir die Reise als Wiedergutmachung bezahlt. Du hättest somit das größte Motiv.«
»Ich komm schon wieder auf die Beine«, maulte der Dicke.
»Klar, jetzt wo Clemens tot ist, kannst du seine Baustellen übernehmen, die er dir vorher weggeschnappt hat.«
Der Dicke kratze sich am Kopf. »Möglich«, meinte er langsam, als würde ihm diese Chance jetzt erst dämmern. »Und dich hol ich zurück ins Geschäft«, meinte er versöhnlich zu dem Schlanken. »Und deine Frau hat wieder Augen für dich«, und dabei schlug er dem Hageren freundlich auf Schulter.
»Auf Clemens«, sagte dieser jetzt, »er war doch ein Freund!«
Alle drei prosteten sich zu, stießen die Gläser aneinander und tranken danach einen kräftigen Schluck.
Und das Mittags!, dachte Mercédès, die die Männer von der Lobby aus beobachtete. Aber vielleicht half es ihnen, den Tod des Freundes zu verdauen.
Nachdem sie das Hotelzimmer inspiziert hatten, fragte sie an der Rezeption nach den Freunden von Clemens Richter. Die Rezeptionistin hatte sie nicht gleich verstanden, denn im Hotel galt nach wie vor die Verpflichtung, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Außerdem stand die Dame hinter einer Plexiglaswand, was natürlich das Hören beeinträchtigte. Wie lange diese Covid-Regeln wohl noch gelten?, überlegte Mercédès. Schön langsam ging ihr das Auf- und Absetzen der Maske gehörig auf die Nerven.
Die Rezeptionistin lächelte und zeigte nur zuvorkommend auf die Bar, die durch eine Glaswand von der Lobby getrennt war. Mercédès bedankte sich im Umdrehen. Sofort fielen ihr die drei Männer auf, die in dem eleganten Ambiente standen und sich angeregt unterhielten. Wie gerne wäre sie Mäuschen gewesen, dachte sie zynisch, aber sie war zu spät, sie kam erst beim Anstoß.
Schnell nahm sie ihre Maske ab. »Sind Sie die Freunde von Herrn Richter? Ich bin Mercédès Mayerhuber, die ermittelnde Kommissarin.«
»Ja, das sind wir. Was wollen Sie von uns?«, fragte ein hagerer Mann überheblich.
»Was denken Sie? Bei einem gewaltsamen Tod?«, antwortete Mercédès ärgerlich. Diese Deutschen. Fühlten sich immer überlegen.
»Bei uns werden Sie keine Antworten finden«, kam es von dem Hageren beißend zurück.
»Diesen Eindruck hat Ihre Diskussion vorhin aber nicht gerade hinterlassen«, meinte sie scharfzüngig. »Wären Sie so nett, sich wenigstens einmal vorzustellen, bevor Sie mit Schimpftiraden loslegen?« Sie blickte von einem zum anderen.
Der schlanke Kleine machte den Anfang: »Entschuldigen Sie, aber unsere Nerven liegen etwas blank. Wann wird schon bei einem Männerurlaub einer der Mitreisenden ermordet?« Er schüttelte sich leicht, bevor er fortfuhr: »Mein Name ist Horst Wieland, das ist Norbert Haupt«, dabei zeigte er auf den Hageren, »und hier haben wir Markus Salinger.«
»Gut. Wie haben Sie vom Tod Ihres Freundes erfahren?« Mercédès war überrascht, dass sie schon Bescheid wussten, denn eigentlich waren sie ziemlich schnell ins angrenzende Hotel gekommen und hatten mit niemandem darüber gesprochen, außer mit der Hoteldirektorin, damit sie in das Zimmer des Toten konnten.
Keiner wollte sich äußern.
»Ich höre?«, sagte sie nicht eben freundlich. Da noch immer niemand etwas sagte, meinte sie lapidar: »Ich kann auch andere Seiten aufziehen und Sie alle verhaften. Als Verdächtige. Oder zumindest, weil Sie die Ermittlungen sabotieren. Also?«
Wieder war es Herr Wieland, der sich meldete. »Frau Miró hat uns informiert. Genauer gesagt, mich, ich habe dann den anderen Bescheid gegeben.«
Antònia Miró also. Ihr Gefühl hatte somit nicht getrogen. Die kleine Rezeptionistin mit den vollen roten Lippen und den dunklen Augen wusste mehr, als sie zu erzählen bereit war. »Haben Sie ein besonderes Näheverhältnis zu Frau Miró?« Dabei schaute sie Herrn Wieland intensiv an.
Dieser schüttelte den Kopf. »Ich nicht«, meinte er nur lapidar.
»Wer dann?«, bohrte Mercédès ungeduldig nach.
»Clemens«, kam es vom Hageren bissig. »Der konnte die Finger von keiner Frau lassen.«
Interessant!, dachte Mercédès und schaute sich Herrn Haupt genau an. Der wirkte verbittert. »Woher diese Erkenntnisse?«
Der Dicke lachte: »Weil Clemens seine Frau gevögelt hat.«
»Haben wir da ein Motiv?«, meinte Mercédès gelassen und schaute dem Hageren ins Gesicht. »Der Mord an Herrn Richter war sehr persönlich.«
»Denken Sie, ich war’s?«, rief der Hagere aufbrausend.
»Waren Sie’s?«
Der Hagere schien unter ihrem Blick zu schrumpfen. Drehte sich um und ging.
»Etwas empfindlich Ihr Freund, nicht wahr?« Lauernd beobachtete sie die anderen. »Könnte er es getan haben?«
»Norbert? Sicher. Der hat die Kaltblütigkeit dazu. Aber ich denke nicht!«, meinte Markus Salinger.
»Und Sie?«, wandte sie sich an Herrn Wieland. »Was denken Sie?«
Der schaute ihr offen ins Gesicht. »Nein, Norbert ist nicht der Typ für einen Mord. Der erledigt Menschen nur geschäftlich.«
Oh, oh, überlegte Mercédès. Gab es zwischen diesen beiden Differenzen? »Und Sie? Sind Sie der Typ für einen Mord?«
Nach einer Weile, in der er der Kommissarin ins Gesicht gestarrt hatte, antwortete er: »Ich hatte es mir überlegt. Clemens hat mich geschäftlich ruiniert. Mit Hilfe von Norbert. Doch nein, ich bin auch nicht der Typ für einen Mord.«
»Muss ich mir jetzt um Herrn Haupt Sorgen machen? Oder sind Sie wirklich nicht der Typ?«
Mercédès blickte zwischen den beiden hin und her. Salinger wirkte nervös, jedenfalls lief ihm der Schweiß über den feisten Nacken. Wieland schaute ihr seelenruhig ins Gesicht. Hatte er so eine Selbstkontrolle oder war er einfach unschuldig? »Verlassen Sie die Insel nicht, meine Herren. Noch sind Sie nicht aus dem Schneider. Nur kurz: Wo waren Sie gestern Abend?«
Wieder war es Wieland, der antwortete. »Wir drei haben im Hotel gegessen und uns dann hier an der Bar bis etwa Mitternacht unterhalten. Danach ist jeder auf sein Zimmer gegangen.«
Sie nickte dankend, hätte noch tausend Fragen an die Freunde von Clemens Richter gehabt, aber auch mit Frau Miró mussten sie erneut sprechen.
Doch jetzt drängte die Zeit. Der Termin in der Kanzlei von Miquels Vater stand an.
»Nur eine weitere Frage: Wissen Sie, was Herr Richter gestern Abend unternommen hat?«
»Nein. Nach dem Abendessen zog er sich zurück und meinte nur geheimnisvoll, dass er noch etwas vorhabe.«
»Hatten Sie eine Vermutung?«
»Nicht wirklich«, schmunzelte Herr Wieland, »doch wir waren uns einig, dass er sich mit einer Frau treffen wollte. Wir vermuten, dass es die Miró war. Aber wir wissen es nicht.«
»Haben Sie eine Ahnung, warum er das Telefon nicht dabeihatte? Das haben wir in seinem Zimmer gefunden.«
Jetzt grinsten sich Wieland und Salinger verschwörerisch an. »Wenn er sich mit einer Frau traf, nahm er das nie mit!«
Also hatte Richter sich tatsächlich mit einer Frau getroffen.
Nur mit welcher?, fragte sich Mercédès, drehte sich wortlos um und verließ eilig die Bar.
Miquel erwartete sie schon. »Seine Freunde?«, meinte er und zeigte mit dem Kopf in deren Richtung. Die Bar war von der Lobby aus gut einzusehen.
»Oder Feinde? Wer weiß das schon so genau«, und sie strich seufzend ihre Haare hinter die Ohren. »Die sind sich nicht grün. Ich denke, jeder von denen hat ein Motiv. Wir werden ihre Hintergründe recherchieren. Kannst du das übernehmen?«, bat sie auf dem Weg zum Auto.
Miquel nickte. Diese Art von Tätigkeit schob Mercédès gerne an ihre Mitarbeiter ab. Aber ihm machte das Spaß und er hatte als Unterstützung immer noch Isabel.
Mercédès wollte sie zwar nicht im Team, bestand auf Aina, eine andere junge Polizistin, die ihr beim letzten Fall assistiert hatte, doch die war mit Long Covid nach wie vor im Krankenstand. Mercédès hatte sich mit Isabel nur einverstanden erklärt, wenn diese lediglich Hintergrundfakten zusammentragen und ausschließlich an Miquel berichten würde. Sie selbst wollte mit ihr nichts zu tun haben. Mercédès verübelte ihr ihre Kooperation mit Carlos Lopez, der zwischenzeitlich Bibiloni als Chef abgelöst hatte.
»Lass uns meinen Wagen nehmen, dann können wir unsere Informationen austauschen.«
»Und wie komm ich zurück zu meinem?«, fragte Miquel übellaunig.
»Ich bring dich wieder her, wir haben noch mit Frau Miró zu sprechen.«
»Warum das?«
Und während sie den Wagen startete, erzählte sie, was sie in Bezug auf die junge Frau von den Herren erfahren hatte.
»Vielleicht war sie auch eine der Damen, die Richter angemacht hat?« Miquel konnte sich das vorstellen. Antònia Miró war eine hinreißende Frau und hatte sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Mayte, seiner Verflossenen. Ob die Miró einen Freund hatte? Das würde er herausfinden.
»Darauf kannst du wetten! Hat sich bei deinen Befragungen etwas ergeben?«
Er wandte seine Gedanken von der hübschen Rezeptionistin des Golfclubs ab und zu den Rezeptionistinnen des Golfhotels. Er erzählte Mercédès, dass diese Herrn Richter nur als netten, höflichen Mann kannten, der seine Ansprüche hatte, aber dafür großzügiges Trinkgeld gab. Sie wussten nicht, was er gestern Abend vorgehabt hatte. Auch die Zimmermädchen hatten nichts Auffälliges bemerkt, außer, dass das Bett an manchen Morgen so ausgesehen hätte, als wäre es von mehr als einer Person benutzt worden. Bei der Aussage hatten sie verschämt gekichert. Wer mit Herrn Richter das Bett geteilt hatte, dazu konnten sie keine Auskunft geben. Auch sonst niemand im Hotel. Miquel hatte es bei allen möglichen Angestellten versucht, aber niemand konnte eine Dame ausmachen oder gar beschreiben.
»Vielleicht war es keine Frau, sondern ein Mann?«, meinte Mercédès lakonisch. Sie musste sich ablenken. Eigentlich wollte sie die Autobahn nach Palma nehmen, aber der Tunnel war gesperrt. Also mussten sie mitten durch Peguera fahren. Alles hier erinnerte sie an ihren verstorbenen Mann, sie hielt es kaum aus. Deshalb war sie froh über Miquels Reaktion. Sein Seitenblick ließ sie lachen. »Warum nicht? Vielleicht konnte er hier auf der Insel sein wahres Ich leben?«
»Das glaubst du definitiv selbst nicht. Das war ein Weiberheld. Oder denkst du, der geht so aufgebrezelt, wie wir ihn gefunden haben, zu einem männlichen Date?«
»Warum sollen sich Männer füreinander nicht hübsch machen?«, fragte sie sarkastisch. »Aber nein, du hast schon recht. Es war sicher eine Frau. Seine Freunde waren überzeugt, dass er sich mit der Miró getroffen hat.«
Und sie erzählte ihm von der Unterhaltung mit den drei Herren. Konnte sich endlich wieder konzentrieren, da sie die Autobahn erreicht hatten. Davor war sie am Kreisverkehr bei der Abfahrt La Romana vorbeigefahren, dort, wo sie mit ihrem Mann in einem Urlaubs-Resort gelebt hatte, welches er geleitet hatte. Ihr Herz hatte sich fürchterlich verkrampft. Es kostete sie alle Mühe, die Unterhaltung aufrechtzuhalten. Hoffentlich war der Tunnel nicht zu lange gesperrt, sie würde es nicht überleben, ständig durch Peguera fahren zu müssen.
»Übrigens, etwas Amüsantes haben mir die Rezeptionistinnen doch erzählt. Eine Frau hat sich über das Benehmen unseres Opfers beschwert, weil es im Speiseraum zu laut gesprochen hat.«
»Wie bitte?« Sie war erleichtert, ihre Gedanken in eine andere Richtung wandern lassen zu können. »Seit wann darf man im Restaurant nicht mehr laut reden?«
»Das Gran Hotel verfügt über einen zusätzlichen kleinen Speiseraum, der als Ruheraum ausgewiesen ist. Keine Kinder erlaubt, keine lauten Gespräche. Doch Clemens Richter soll sich nicht daran gehalten haben – die andere Gäste haben sich gestört gefühlt.«
»Einen Ruheraum als Speisesaal? Was es nicht alles gibt ...« Doch wenn sie sich das genauer überlegte, fand sie es nicht umspannend. Keine herumlaufenden Kinder, keine lauten Gespräche oder Handytelefonate. Für gestresste Urlauber sicher reizvoll. »Wissen wir, wer sich beschwert hat?«
»Ja. Aber du glaubst doch nicht, dass das ein Mordmotiv ist?«
»Es wird für Geringeres gemordet. Warum nicht für Ruhestörung?«
Miquel blickte sie ungläubig an. Das konnte sie unmöglich ernst meinen. Doch ihre weiteren Worte ließen ihn nicht mehr daran zweifeln.
»Kannst du die Dame ausfindig machen?«
»Kein Problem«, war die kurze Antwort.
Gott sei Dank waren sie in der Zwischenzeit im In-Viertel Santa Catalina von Palma angekommen, wo Miquels Vater seine Kanzlei hatte.
Mercédès zwängte ihren Mittelklassewagen auf einen Bürgersteig neben einem kleinen Weinlokal. Zwei Touristen beschwerten sich sofort. »Policía«, kläffte sie und steckte die Polizeimarke hinter die Windschutzscheibe.
»Dein Wagen ist definitiv zu groß für Mallorca«, ätze Miquel.
Sie sagte nichts. Ging zielstrebig ihren Weg zur Kanzlei.
»Wie gefällt dir eigentlich die Wohnung?«, wollte Miquel wissen, der ihr eilig folgte.
»Ein bisschen überteuert, aber sonst ist sie ganz okay«, war die kurze, mürrische Antwort.
Überteuert? Miquel hörte wohl nicht richtig. Sie zahlte nicht einmal die Hälfte des Preises, die sein Vater sonst für diese Wohnung verlangte. Lebte sie hinter dem Mond? Sie hatte wahrscheinlich im schönen Wien nicht mitbekommen, dass die Immobilienpreise auf Mallorca erneut gestiegen waren. Die Pandemie hatte den Trend verstärkt, nicht gebremst, wie er gehofft hatte. Noch mehr Leute wollten sich auf Mallorca niederlassen. Vor allem die Deutschen kauften wie wild wegen des Minuszinssatzes in Deutschland. Ob auch der Tote deswegen auf der Insel geweilt hatte? Sich deshalb mit seinem Vater treffen wollte? Ihm wurde immer mulmiger zumute, je näher sie der Kanzlei kamen.
Mercédès dagegen freute sich auf die Begegnung. Sie hatte Miquels Vater nur einmal kurz zu Gesicht bekommen, das war in ihrem früheren Leben – so bezeichnete sie selbst ihr Leben vor Werners Tod – auf der Meerterrasse des Tims in Port d’Andratx. Ihr waren damals seine Attraktivität und die Ähnlichkeit mit Miquel sofort ins Auge gesprungen. Waren Miquels Gesichtszüge noch weich und unausgegoren, so war das Gesicht seines Vaters vom Leben geprägt, was ihn damals auf Mercédès anziehend wirken ließ. Sie hatte in seinem Gesicht gelesen, dass er viel erlebt hatte, tough war – trotzdem hatte er verletzlich gewirkt. Doch diese Verletzlichkeit hatte er hinter einer energischen Maske verborgen. Sie hatte damals gehofft, einmal die Gelegenheit zu bekommen, ihn näher kennenzulernen. Doch inzwischen war eine Menge passiert. Was sich diesmal auf seinem Gesicht abzeichnen würde?
***
»Mein lieber Junge, wie reizend, dass du dich einmal in meine Kanzlei verirrst. Doch leider habe ich jetzt einen wichtigen Kundentermin.« Dabei trat er auf Miquel zu und klopfte ihm auf die Schultern.
»Der Kundentermin sind wir«, meldete sich aus dem Hintergrund Mercédès. Sie betrachtete den Mann vor sich. Es war ihr, als stünde Miquel vor ihr, nur circa zwanzig Jahre älter und männlicher. Eine imposante Erscheinung, wenn er auch maximal einen Meter und fünfundsiebzig Zentimeter groß war. Er wirkte ähnlich, wie der Tote: gebieterisch und gewohnt zu bekommen, was er wollte. Die Maske des Erfolgs prägte sein Gesicht, von Verletzlichkeit war diesmal nichts zu sehen.
Das schmale Antlitz von Enrique Coll wandte sich mit einer gehobenen Augenbraue in Richtung der Stimme. »Und mit wem habe ich hier das Vergnügen?« Er schaute zwischen seinem Sohn und Mercédès hin und her.
Diese trat auf ihn zu, reichte ihm die Hand und meinte knapp: »Mercédès Mayerhuber, die Kollegin Ihres Sohnes.«
Er ergriff ihre Hand, trotz der Coronaregeln, die eigentlich das Händeschütteln verboten, und musterte den Lockenkopf vor ihm. Das aparte Gesicht, die dunklen Augen, die roten, leicht geschwungen Lippen – und völlig ungeschminkt. Wann war ihm das letzte Mal eine nicht geschminkte Frau begegnet, die so eine Ausstrahlung hatte? Trotz des leicht mürrischen Gesichtsausdrucks?
»Ich bin erfreut!« Und er hielt ihre Hand eine Spur zu lange fest.
Was Miquel mit einem Blick zum Himmel quittierte. Sein Vater, der Süßholzraspler. Aber warum bei Mercédès? Die war doch gar nicht sein Typ. Oder wollte er ihn vor seiner Chefin in Verlegenheit bringen?
»Sie sind also die Dame, die nun eine meiner Wohnungen an der Cala Blava bewohnt? Gefällt es Ihnen da? Die Aussicht ist doch phänomenal, nicht wahr?«
»Allerdings. Der Preis jedoch auch ...«, antwortete sie nicht eben freundlich.
Darauf ließ Herr Coll ein herzhaftes Lachen hören. »Aber Sie wissen schon, dass ich auf Bitten meines Sohnes nur die Hälfte der Miete von Ihnen verlange?«
Jetzt wurde Mercédès rot. Schob eilig ihre Haare hinter die Ohren, wie sie es immer tat, wenn sie nervös oder verlegen war. Aber auch Miquel wurde verlegen.
»Miquel?«, erklang ihre spitze Stimme. Spitzer als sonst, denn sie ärgerte sich über ihre unprofessionelle Reaktion. Deshalb wiegelte sie ab, noch bevor er etwas sagen konnte. »Gut, wir sind nicht deswegen hier. Aber Sie«, und damit drehte sie sich zu Enrique Coll, »geben mir bekannt, was der eigentliche Preis ist. Ich will keine Almosen.«
»Vielleicht können wir das bei einem bescheidenen Abendessen besprechen? Ich spiele gerne den Retter schöner Frauen.« Dabei deutete er eine kleine Verbeugung an.
Mercédès musste ungewollt lachen. »Ich benötige keinen Retter. Doch Abendessen hört sich gut an.« Eigentlich wollte sie das Angebot ablehnen, weil es sich unverschämt anhörte, aber irgendwie hatte Herr Coll etwas, das sie anziehend fand.
Noch erstaunter war Miquel. Er konnte nicht glauben, dass Mercédès auf das plumpe Angebot seines Vaters einging. Heute erlebte er eine Überraschung nach der anderen bei Mercédès. Wien hatte sie verändert.
»Trotz des charmanten Besuches muss ich erneut auf meinen Termin um fünfzehn Uhr verweisen«, begann Herr Coll, allerdings sofort von Mercédès unterbrochen.
»Wie schon gesagt, wir sind der Termin. Herr Richter kann den leider nicht selbst wahrnehmen, der liegt tot auf dem neunten Loch im Golfclub Golf de Andratx.«
Herr Coll erschrak, hatte sich aber gleich wieder unter Kontrolle. »Hatte er einen Herzinfarkt?«
»Denken Sie, dass dann die Sondereinheit für Kapitalverbrechen für ausländische Gäste ermitteln würde?« Ein sarkastischer Unterton hatte sich bei Mercédès eingeschlichen. Sie beobachtete Herrn Coll genau. Ihr war sein erschrockener Gesichtsausdruck nicht entgangen. Auch wenn er jetzt wieder ganz der undurchsichtige Geschäftsmann war.
»Nein, natürlich nicht. Verzeihen Sie meine Frage. Aber ich bin verwirrt. Wann bekommt man schon Besuch von der Staatsgewalt und dann noch in Gestalt einer so reizenden Frau?«
Mercédès überlegte, ihre Zusage zum Abendessen zurückzuziehen, denn nun ging er ihr mit seiner Schmeichelei doch zu weit. Aber wer weiß, was sie ihm bei einem privaten Treffen so entlocken konnte.
»In welcher Beziehung standen Sie zu Herrn Richter?«
»Geschäftspartner. Herr Richter investierte in Immobilien, ich unterstützte ihn dabei. Als Notar.«
Notar und Rechtsanwalt. Kein Wunder, dass er sich Häuser an der Cala Blava leisten konnte, dachte Mercédès. »Wollte Herr Richter in letzter Zeit investieren?«
Herr Coll druckste herum. »Das war noch nicht spruchreif. Deshalb kann ich Ihnen nichts Genaueres dazu sagen. Sie wissen, die Konkurrenz.« Ein unverbindliches Lächeln umspielte seinen Mund.
»Sie wissen, auf Verweigerung der Auskunft steht Gefängnis«, konterte sie kühl.
Jetzt musste Herr Coll lachen. »So streng?«
»Wenn Sie die Ermittlungen behindern, natürlich. Wir haben einen Mord aufzuklären.«
»Wie ist Clemens denn gestorben?«
Zeigte sich leichte Besorgnis in seinem Gesicht? Mercédès war sich nicht sicher. »Sie wissen, dazu kann ich keine Auskunft geben.«
»Gut. Das spielt auch keine Rolle. Tot ist tot. Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere Geschäfte etwas damit zu tun haben.«
»Was damit zu tun hat und was nicht, dass lassen Sie mal unsere Sorge sein. Also, worum ging es bei dieser Investition?«
»Clemens wollte in Port d’Andratx ein größeres Grundstück erwerben, um darauf ein Luxusresort zu bauen.«
»In Port d’Andratx? Wo? Soviel ich weiß, ist da Baustopp«, mischte sich Miquel barsch ein.
»Das ist genau der Punkt, Junge. Deshalb wollte ich es euch nicht sagen.«
»Nenn mich nicht Junge. Ich bin nicht als dein Sohn hier, sondern als ermittelnder Kriminalbeamter.« Miquel fauchte mehr, als er sprach.
»Ist ja gut. Ist ja gut«, wiegelte Herr Coll ab.
»Also, wie ist das jetzt mit dem Baustopp?«, hakte Mercédès nach.
»Offiziell gibt es keine Baugrundstücke mehr in Port d’Andratx. Inoffiziell ...«
»... kann man bestechen. Wolltest du das damit sagen?« Miquel war die Verachtung anzusehen und anzuhören.
»Ich bin nur der Notar. Ich beglaubige Grundstücksverkäufe, ich genehmige sie nicht!«, stellte Coll Senior klar.
»Wer’s glaubt ...«, ätzte Miquel.
»Wer war für den Kauf verantwortlich?«, mischte sich Mercédès ein.
»Der Bürgermeister. Wobei, der war für die Baugenehmigung zuständig. Für den Verkauf war es El Pedro.«
»Du arbeitest mit El Pedro zusammen?«, fragte Miquel schockiert.
»Nein, mit Clemens Richter«, war die kühle Antwort seines Vaters.
Wer war El Pedro, überlegte Mercédès, dass Miquel so aufgebracht war? Sie musste hier mehr erfahren, aber nicht von Coll Senior. Der sollte sich mal in Sicherheit wiegen. »Gut, wir werden uns darum kümmern. Danke für die Information. Das war’s dann.«
Sie wollte schon kehrtmachen, als Enrique Coll sie ansprach: »Heute Abend zwanzig Uhr? Womit kann ich Sie glücklich machen?«
»Für ein gutes Steak würde ich morden!«
»Abgemacht. Wo darf ich Sie abholen?«
»Schicken Sie mir die Adresse und wir treffen uns dort.« Dabei überreichte sie ihm ihre Visitenkarte mit der Telefonnummer.
Zuerst Wein mit Munar, dann Abendessen mit meinem Vater? Und dein Kind? Da kümmert sich Mutter drum, dachte Miquel zynisch. Sie hatte noch nie nach seinem Sohn gefragt.
***
Kaum hatten Sie die Kanzlei verlassen, rief Coll Senior El Pedro an. »Richter ist ermordet worden!«
Stille am Ende der anderen Leitung.
»Hast du was damit zu tun?« El Pedro und Richter hatten einen fürchterlichen Streit wegen des Grundstückpreises gehabt. Richter hatte daraufhin gedroht, sein Angebot zurückzuziehen und die Öffentlichkeit über die Mauscheleien zu informieren.
»Wie kommst du auf so eine Idee?«, konterte der Angerufene kühl und legte auf.
Coll wurde mulmig zumute. Wenn El Pedro etwas damit zu schaffen hatte, dann musste auch er auf der Hut sein. Mit dem war nicht zu spaßen. Vielleicht waren es aber die Umweltschützer, die von dem Projekt Wind bekommen hatten? Und letztens lautstark protestiert hatten, als sie mit dem Statiker die Hangbesichtigung durchgeführt hatten? Sollte er der Kommissarin davon erzählen?
***
Miquel war stinksauer. Anstatt von Mercédès zurück nach Camp de Mar gebracht zu werden, um sein Auto zu holen, schickte sie ihn mit einem Streifenwagen los. Der junge Kollege schielte immer wieder zu ihm hinüber, traute sich wegen der abweisenden Miene von Miquel aber nicht, ein Gespräch zu beginnen. Dabei hätte er so gerne mehr erfahren. Noch nie war er an einem Tatort gewesen oder hatte bei einer Mordermittlung mitgemischt. Am kleinen Parkplatz in Camp de Mar angekommen, stieg Miquel ohne ein Wort des Dankes aus dem Auto und schloss geräuschvoll die Autotür.
Mistkerl, dachte sich der junge Kollege. Was bildet der sich eigentlich ein? Baut einen Mist nach dem anderen und ist trotzdem eingebildet wie ein Esel. Wütend schoss er mit quietschenden Reifen aus dem Parkplatz.
Miquel schaute ihm verblüfft nach. Was war den in diesen Kerl gefahren? Dann stampfte er verdrießlich Richtung Golfplatz.
Unwirsch riss er die Tür zum Proshop auf. Angstvolle Blicke aus dunklen Augen richteten sich auf ihn. Antònia Miró war allein. Sofort tat es ihm leid, dass er so schroff auftrat.
»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken ...«, stammelte er ob ihres erstarrten Gesichts.
»Nein, nein, ist schon gut ...« Ein sanftes Lächeln ließ ihr Gesicht strahlen. Die dunklen Augen sendeten einen scheuen Blick unter halb gesenkten Augenlidern.
Miquel räusperte sich. Diese Augen ... Nein, die hatte definitiv nichts mit Richter gehabt. Sie war ein verschrecktes Reh, dass sich nicht freiwillig mit dem Jäger einlassen würde. Oder doch? Denn nun nahm ihr Gesicht wieder einen ängstlichen Ausdruck an. »Ich hätte da noch ein paar Fragen an Sie ...«, begann er zögerlich.
»Jaaa?«, fragte sie nach, da er nur ihr Gesicht betrachtete.
Diese Lippen. Sie waren jetzt wie für einen Kuss geschlossen. Miquel schloss kurz die Augen, dann fragte er fest: »Waren Sie gestern Abend mit Herrn Richter verabredet?«
Die Lippen öffneten sich, ihre Zungenspitze strich über die Unterlippe. »Ich ... nein, wie kommen Sie denn darauf?«
Waren ihre Augen nun dunkel vor Angst? »Die Freunde von Herrn Richter haben so etwas angedeutet. Dass Sie mit Herrn Richter zum Abendessen verabredet waren.«
»Nein, nein, das war ich nicht!« Fast schrie sie diese Worte, fügte noch leise an: »Nein, war ich nicht!«
»Dann ist ja gut, Sie haben nichts zu befürchten, definitiv nicht.« Fast wollte er sie tröstend in die Arme nehmen, so traurig blickte sie ihn an. »Trotzdem möchte ich gerne wissen, was Sie gestern so gegen Mitternacht getan haben.« Sanft, fast liebevoll klangen seine Worte.
»Da habe ich längst geschlafen«, meinte sie fast unhörbar, mit leicht weinerlicher Stimme, »nachdem ich vorher Fernsehen geguckt habe.«
»Waren Sie denn allein?«
Sie nickte nur.
»So eine wunderschöne Frau. Das ist definitiv ein Verbrechen, wenn Frauen wie Sie die Nächte allein verbringen.«
»Jaaa«, heulte sie jetzt auf.
Sie wäre liebend gerne mit Richter ausgegangen, hatte sich so hübsch für ihn gemacht. Lange schon hatte sie auf eine Einladung gehofft, dann kam sie endlich. Und dann hatte dieser Mistkerl kurzfristig abgesagt.
»Aber wer wird denn gleich weinen«, tröstete Miquel die sichtlich Verstörte. »Ich könnte doch mit Ihnen ausgehen! Was halten Sie davon?«
Was glaubt ihr Männer denn, dachte sie zornig, dass ich mit jedem ausgehe? Richter hatte Klasse und Geld. Das war ein Gentleman. Und nicht so ein Verlierer wie du. Doch sie beherrschte sich: »Danke, das ist lieb von Ihnen. Ich benötige keinen Trost.«
»Aber doch nicht als Trost. Es wäre mir eine große Ehre ...«, stammelte Miquel wie ein verliebter Trottel.
Das glaub ich dir gerne, urteilte sie geringschätzig, aber ich verschenke mich nicht an einen Mann wie dich. Ich weiß, was ich wert bin. »Danke trotzdem ...«, blieb sie vage und wandte sich ab.
Was für ein reizendes Mädchen, überlegte Miquel, und so scheu. Vielleicht sollte er es nach der Aufklärung des Mordes erneut probieren? »Dann danke für Ihre Auskunft. Und nehmen Sie sich den Tod des Herrn Richter nicht so zu Herzen. Auf Wiedersehen.«
Sie sagte nichts. Schaute ihm nur nach. Wie dumm Männer doch waren.
***
Mercédès war inzwischen durch Palma gestreift. Sie musste ihre Gefühle unter Kontrolle bringen. Diese Anhäufung von Erlebnissen, die sie an ihre Vergangenheit erinnerten, ging ihr extrem nahe. Plötzlich stand sie vor dem Schokoladencafé Can Joan de s’Aigo. Ihre Füße hatten sie wie von selbst in die älteste Konditorei von Palma in die Carrer de Can Sanc geführt. Seit dreihundert Jahren genossen die Palmesaner hier ihre Enseimadas und den weltberühmten Mandelkuchen. Sie besuchte die Lokalität nur wegen der heißen Schokolade, die nirgends so köstlich schmeckte wie hier.
Sie hatte es bisher nicht übers Herz gebracht, ihr Lieblingsschokoladencafé aufzusuchen. Als sie das letzte Mal hier war, hatte sie um ihren Mann getrauert, und ihren Kummer an der Schulter einer unbekannten Frau herausgelassen.
Zögernd betrat sie das Kaffeehaus. Es waren kaum Gäste im Lokal. Sie ließ sich an einem kleinen Tischchen an der hinteren Wand nieder. Ohne zu zögern, bestellte sie bei dem rasch herbei geeilten Kellner xocolata calenta. Sie blickte sich durch ihre Sonnenbrille um, die sie nicht abnehmen wollte, da ihr immer wieder Tränen in die Augen traten. Es hatte sich nichts geändert.
Prompt wurde ihr eine Tasse serviert. Langsam steckte sie den Löffel in das dickflüssige Gebräu, rührte um, bevor sie ihn voll mit der exquisiten Schokolade zu ihren Lippen führte. Sie verteilte die schokoladige Flüssigkeit in ihrem Mund und fühlte sofort die beruhigende Wirkung, die dieser Geschmack auf sie ausübte. Schon ihre Mutter hatte ihr als Kind diese dicke, typisch spanische Schokolade zubereitet, wenn es irgendwo zwickte. In Wien hatte sie vergeblich danach gesucht. Der Kakao, der dort serviert wurde, war ihrer Meinung nach nur mit Rum zu genießen. Der war nämlich viel zu dünnflüssig und schmeckte kaum nach Schokolade. Also war sie auf Wiener Melange umgestiegen, ein typisches Kaffeegetränk in der österreichischen Bundeshauptstadt, das seit ungefähr 1830 in den Wiener Kaffeehäusern angeboten wurde. Das Getränk bestand aus einem Teil Kaffee, meist Espresso, sowie einem Teil Milch und einer Haube aus geschäumter Milch.
Jeden Vormittag war Mercédès, wenn nicht grade wegen Corona geschlossen war, mit ihrer Mutter und Anna ins nahe gelegene Café Dommayer spaziert, um dieses Heißgetränk zu genießen. Meist gönnten sie sich dazu eine Leckerei der exzellenten Patisserie – deliziöse Torten, Kuchen oder einfach nur Konfekt. Die Entscheidung war ihr immer schwergefallen, denn all die appetitlich in einer Vitrine drapierten Köstlichkeiten ließen ihr jedes Mal das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ihr Favorit war aber stets die herrliche Schoko-Mousse-Torte, ihre Mutter bevorzugte die Esterházy-Schnitte. War sie sehr hungrig, wählte sie auch mal von den warmen Mehlspeisen aus eigener Produktion. Unschlagbar war der Kaiserschmarrn. Der zerging auf der Zunge. Mittlerweile konnte ihre Mutter den ganz gut zubereiten und tischte ihn auf, wenn Mercédès wieder einmal Heimweh nach Wien hatte. Denn sie musste sich eingestehen, dass sie Wien vermisste. Oder war es das Wienerische, das sie an Werner erinnerte?
Das Dommayer – voller Sehnsucht dachte sie an das Konzertcafé in Hietzing. Es erinnerte an Dommayers Casino aus den 1830er Jahren, in dem Johann Strauss, Vater und Sohn, sowie Josef Lanner vor langer, langer Zeit erfolgreich mit ihren Walzern und Märschen konzertierten. Wiens Walzerseligkeit hatte sie stets amüsiert, doch damit konnte man gut schlechte Zeiten überstehen. Trotz der herrlichen heißen Schokolade mitten in Palma in einem urigen Café träumte sie von einem köstlichen Backhendlsalat und einen G´spritzen in Dommayers Gastgarten. Und einem zünftigen Tafelspitz beim Plachutta, gleich daneben.
Das Klingeln ihres Handys riss sie hart aus ihren Träumen. Munar, wie sie mit einem Seitenblick auf das Display feststellte. Ob er die Obduktion schon beendet hatte?
***
»Sie haben sich über Clemens Richter wegen seiner lauten Unterhaltung im Speisesaal beschwert?« Miquel stand der Frau in der Lobby des Hotels gegenüber, die sich als Susan Carner vorgestellt hatte und von der Rezeptionistin als die Beschwerdeführerin genannt worden war. Da gerade Abendessenszeit war, konnte er die Dame leicht ausfindig machen.
»Und deshalb kommt jetzt die Policía Nacional?« Ein amüsierter Blick streifte ihn.
»Wenn der Mann ermordet aufgefunden wird ...«, kam es kryptisch von Miquel.
»Das ist ein Scherz, oder?« Das Amüsierte war aus ihrem Blick gewichen, Schrecken zeichnete sich ab.
Sollte Mercédès recht haben? Sollte die Frau den Mann wegen Ruhestörung getötet haben? »Nein, ist es leider nicht. Er wurde heute Morgen tot aufgefunden. Auf Loch 9 des Golfclubs gleich da drüben.« Eine vage Handbewegung deutete in Richtung des Golfplatzes. »Was wissen Sie darüber?«
Das Amüsierte war wieder da. »Sie denken doch nicht ...«
»Warum nicht? Gemordet wird wegen weniger!«
Jetzt lachte die Frau hell auf. »Sie haben recht, ich habe ihn ermordet. In Gedanken!«
Fragende Blicke hefteten sich auf das Gesicht der Frau.
»Er war ein aufgeblasener Angeber. Hat seine Freunde mit lauten Geschichten über sein Liebesleben unterhalten. Oder sich über andere Gäste lustig gemacht, dass sie so viel wie möglich vom kostenlosen Wein trinken würden. Dabei hat er selbst wohl am meisten getrunken, so rot, wie seine Nase war.« Sie kräuselte verächtlich ihren Mund. »Viele vorwurfsvolle Blicke von anderen Gästen haben ihn immer wieder gestreift, aber das hat ihn nicht gekümmert. Die vier Männer saßen direkt hinter mir, ich hatte mir schon überlegt, sie auf ihr ungebührliches Verhalten hinzuweisen. Den Ärger waren sie mir allerdings nicht wert. Ich habe mir einfach eine Geschichte ausgedacht, wie ich den Herrn in einem meiner Krimis sterben lassen kann.«
Miquels Erstaunen war nicht zu übersehen, sein Mund blieb offen stehen. »Sie sind ...«
»Ja, ich bin Krimiautorin. Und in manchen Lebenssituationen helfen mir Mordgedanken, die ich dann in meinen Krimis verarbeite. Nicht im realen Leben.« Sie schmunzelte. »Allerdings«, fuhr sie bekümmert fort, »obwohl mir der Mann total unsympathisch war, hat er es nicht verdient, ermordet zu werden. Oder was meinen Sie?«
»Niemand verdient, ermordet zu werden.«
***
Sie trafen sich in einer dieser typischen Weinbars in Santa Catalina. Mercédès war quer durch die Stadt spaziert, angefangen in der arabisch geprägten Altstadt mit den engen Gässchen, wo nur die kleinsten Autos es schafften, durchzukommen. Sie musste sich durch die Touristenmenge schieben, die ob des schlechten Wetters Palma besuchten.
Lief die Stufen hinunter in die »Neustadt«, eilte die Carrer Unió entlang, kam an der Bar Bosch vorbei und querte die Placa del Rei Joan Carles I. Danach sauste sie die Avenida de Jaume III hinauf, wo das Hotel lag, indem sie ihre erste Nacht auf Mallorca verbracht hatte.
Am Torrent de sa Riera hielt sie kurz inne. Sie verfolgte mit den Blicken den Lauf des Wassers, welches in der Gemeinde Puigpuñent entspringt und in die Bucht von Palma mündet, hinunter zum Hafen. Es war ein idyllisches Bild, dass dieser Flusslauf mit den palmengesäumten Ufern zu beiden Seiten bot. Wie gerne wäre sie dem Paseo de sa Riera, dem Fußweg entlang des Baches, gefolgt, um dann unten am Hafen etwas zu trinken und die Seele baumeln zu lassen. Ein bisschen Mallorca fühlen! Doch die Zeit des Schlenderns war vorbei. Zielstrebig setze sie ihren Weg fort. Sie durchlief den Parque Sa Feixina, querte die Avinguda de l’Argentino und tauchte in das quirlige Viertel ein.
Santa Catalina, oder wie die Einheimischen es nannten, Santa Cat, war eines ihrer Lieblingsviertel in Palma. Warum?, fragte sie sich selbst. Weil sie mit Werner in diesem Stadtteil wundervolle Zeiten verlebt hatte? Oder weil es nach wie vor den dörflichen Charme des ehemaligen Fischerdorfes »El Jonquet« ausstrahlte, obwohl es mittlerweile zum angesagten lebendigen Kultviertel avanciert war? Hier wohnten in bunten Häusern die Hipsters neben den alteingesessenen Mallorquinern, die zugezogenen Schweden, Deutschen und Briten neben den Spaniern. Es war eine bunte Mischung an Kulturen.
Diese Abwechslung spürte sie eindeutig in den schmalen Gassen mit den schiefen Gehsteigen, auf denen klapprige Stühle mit einfachen Holztischen für die Gäste standen. Oder top-moderne Design-Einrichtungen, je nach Typ des Lokals. Diese kulturelle Mischung spiegelte sich in den rund achtzig Restaurants und Cafés des Viertels wider. Sie schaute in lachende Gesichter, traurige, fröhliche. Ein Stimmengewirr aus den verschiedensten Sprachen verfolgte sie, genauso wie Düfte aus allen Teilen der Welt. Ein verführerischer Duft von gebratenem Lamm stieg in ihrer Nase, sofort abgelöst durch vietnamesische Pho-Suppe, eine Art Rindsuppe mit Nudeln und Gemüse, wie es sie ähnlich auch in Österreich gab. Danach roch sie die typisch spanischen Garnelen in Knoblauch. Je schneller sie ging, desto mehr vermischten sich die Düfte und Stimmen. Sie fühlte sich das erste Mal angekommen, denn genau mit diesem Gemisch aus Lebensfreude verband sie Mallorca.
Als sie sich der Markthalle näherte, dem Herzstück des Viertels, in der auch die Köche der benachbarten Restaurants frisches Gemüse, Obst, Fisch und andere Leckereien kauften, verlangsamte sie ihre Schritte und schlenderte mit wehem Herzen daran vorbei. Wehmütig denkend, wie oft sie in der Mittagspause dort mit Werner einen Vermut de la Casa getrunken hatte.
Gleich hinter der Markthalle betrat sie eine kleine Bar mit Stühlen aus Bast. Das Publikum hier bestand ausnahmslos aus Einheimischen. Munar war schon da. Er saß an einem Holztisch in einer dunklen Ecke, wo Mercédès ihn erst entdeckte, als er winkend aufgestanden war.
»Schön, dass du Zeit für mich hast«, strahlte er über das ganze Gesicht und drückte ihr einen Schmatz auf die Wange, nachdem sie ihren Mund-Nasen-Schutz abgenommen hatte. Sie fand es lästig, dass auf Mallorca nach wie vor Covid-Regeln galten. Man konnte zwar ohne Maske in einem Lokal sitzen, aber auf dem Weg durch das Lokal musste man die Dinger tragen. Sogar im Außenbereich der Gaststätten.
»Für meinen liebsten Gerichtsmediziner immer«, lächelte sie.
»Seit wann? Ich kann mich nicht erinnern, dass wir zwei schon mal auf einen Wein gegangen wären.«
Da hatte er recht. Sie hatte nie die Zeit gefunden. »Dann ändern wir das ab jetzt«, und ließ sich schwer auf einen der wackeligen Stühle nieder. »Also, was gibt’s zur Leiche?«
»Flott wie immer. Auf den Punkt kommend. Können wir nicht zuerst mal über was anderes reden?«, seufzte er grummelig. Schließlich war er neugierig, wie es ihr die letzten Jahre so ergangen war.
»Nix da. Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen.«