Mallorquinische Leiche zum Sa Rua - Susan Carner - E-Book

Mallorquinische Leiche zum Sa Rua E-Book

Susan Carner

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Beschreibung

Der zweite Fall für Kommissarin Mercédès Mayerhuber auf der zauberhaften Urlaubsinsel verknüpft die Leichtigkeit Mallorcas mit einem rätselhaften Mord. Während des Karnevalsumzuges in Palma de Mallorca wird ein Berliner Geschäftsmann ermordet. War er ein Zufallsopfer? Oder steckt ein perfider Plan dahinter? Kommissarin Mercédès Mayerhuber und ihrem Kollegen Miquel Coll von der Policia Nacional gibt dieser Fall Rätsel auf. Verbirgt die Ehefrau ein dunkles Geheimnis? Wie ist die Urlaubsbekanntschaft einzuschätzen, die sich auffallend um die Witwe kümmert? Da tauchen Fotos auf, die dem Fall eine brisante Wendung geben. Mercédès muss ihre Ermittlungen, die sich bisher hauptsächlich auf das Urlaubsdomizil der Familie in Paguera bezogen haben, auf die gesamte Insel ausweiten. Steckt womöglich ein Einheimischer hinter dem Mord? Wird es ihr gelingen, den Karnevalsmörder, wie er von den Medien genannt wird, zu überführen? "Großes Kino" nennt es eine Testleserin. Eine andere "per Buch auf Mallorca-Urlaub". Weil nicht nur der kriminalistische Spürsinn der Leserschaft befriedigt wird, sondern auch die zauberhafte Insel im Mittelpunkt des Interesses steht. Und ein ganz klein wenig die Liebe mitspielt.

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Über das Buch

Ein Berliner Geschäftsmann wird während des Sa Rua, dem Karnevalsumzug, inmitten einer Menschenansammlung im Herzen von Palma de Mallorca erstochen. Allem Anschein nach war der Tote ein treusorgender Familienvater, liebevoller Ehemann und seriöser Geschäftsmann. Warum wurde er ermordet?

Kommissarin Mercédès Mayerhuber findet lange keine Antwort. War der Deutsche ein Zufallsopfer? Oder steckt seine Ehefrau dahinter, die anscheinend ein dunkles Geheimnis umgibt? Und wie ist die Urlaubsbekanntschaft einzuschätzen, die sich auffallend um die Witwe kümmert?

Da stößt sie auf ein Foto. Und nichts ist mehr wie es scheint ...

»Per Buch im Mallorca-Urlaub!« meinte eine Testleserin. »Die Mischung aus Krimispannung und Mallorca-Feeling ist genau richtig!«

Über die Autorin

Susan Carner ist das Pseudonym einer österreichischen Autorin, die in Berlin lebt und Mallorca liebt. Deshalb stellt sie die zauberhafte Insel erneut in den Mittelpunkt eines Kriminalromans. Aus der Reihe »Mallorquinische Leiche« ist bereits erschienen: »Mallorquinische Leiche zum Frühstück«

Für Dominik!

Diese Geschichte ist rein fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, Orten und Ereignissen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt, auch wenn die Orte real sind. Alle Personen sind Schöpfungen der Autorin und keine der geschilderten Begebenheiten entspricht den Tatsachen.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Ausführliche Informationen finden Sie auf

www.susancarner.com

Je mehr ein Mensch sich schämt, desto anständiger ist er!

George Bernard Shaw

Inhaltsverzeichnis

Faschingssonntag, 26. Februar

Rosenmontag, 27. Februar

Faschingsdienstag, 28. Februar

Aschermittwoch, 1. März

Donnerstag, 2. März

Freitag, 3. März

Samstag, 4. März

Epilog

Faschingssonntag, 26. Februar

»Was machst du da mit deinen Händen?«

Mercédès hob ihren Kopf, der auf der Schulter ihres Begleiters geruht hatte, und blinzelte gegen die Nachmittagssonne. Die letzten Minuten hatte sie nur dagesessen und die Strahlen der winterlichen Sonne genossen, die über ihr Gesicht streichelten. Doch das Tätscheln ihrer Schenkel hatte sie irritiert.

Sie drehte den Kopf in Richtung der Begleitung. Ein Lächeln voller Verliebtheit schlich sich in ihr Gesicht, als sie den Mann, der da an ihrer Seite an einem Bistro-Tischchen saß, fragend betrachtete.

»Ich? Nichts!« Erstaunte Augen blickten auf die Frau hinunter. »Außer, dich drücken und liebkosen«, neckte der mit einem zärtlichen Ton in der Stimme. Zog sie mit der Hand, die um ihre Schultern lag, eine Spur fester zu sich, während die andere ihre Wange streichelte.

Diese sanfte Berührung ließ all die verrückten Gefühle durch ihren Körper ziehen, die sie seit dem ersten gemeinsamen Abend ständig verfolgten. Wohlig seufzend sank ihr Kopf zurück auf seine Schulter. Doch da, da war es wieder ...

»Aber was ist dann ...« Abrupt rückte sie vom Tischchen weg, um darunter blicken zu können. Kurz stockte sie, lachte im nächsten Moment hell auf.

»Was ist denn?« Verwirrt über seine Begleiterin steckte der Mann nun auch seinen Kopf unter den Tisch. Was er sah, ließ ihn ebenfalls heiter werden.

Zwei Scottish Terrier schlichen um die Beine der Frau, und eifrig wedelnde Schwänzchen trafen dabei die Schenkel seiner Begleiterin.

Mercédès streichelte das Köpfchen des weißen Hundes, worauf sich sofort der schwarze dazwischen drängte. »Ja, ja, du kommst auch dran«, und sie schob ihre zweite Hand unter das Tischchen und kraulte beide Hundeköpfchen. »Wer seid ihr Hübschen denn?« Neugierig drehte sie ihren Kopf, um den Besitzer auszumachen.

Da erklang eine Stimme vom Nebentisch: »May I introduce: Mollie and Archie. I beg your pardon, but these two are very curious!«

»Kein Problem!« Sie lachte und klopfte den Hunden noch einmal liebevoll das Köpfchen, bevor sie sich trollten.

»Jetzt zeig ich dir mal, was meine Hände so anstellen würden, damit du sie nie wieder mit wedelnden Hundeschwänzen verwechselst«, meinte ihr Begleiter schmunzelnd und kniff ihr ordentlich in den Oberschenkel.

»Au«, schrie sie auf und fühlte gleichzeitig die sich explosionsartige Ausbreitung der Leidenschaft. Denn es war nicht beim Kniff geblieben. Seine Hände glitten sanft über ihre Schenkel, verweilten kurz, erzeugten einen leichten Druck, bevor sie weiter schwebten. Wenn sie etwas an diesem Mann besonders liebte, dann waren es seine Hände. Schlank mit langen Fingern. Und die stellten himmlische Dinge mit ihr an.

»Wollen wir nach Hause fahren?«, hauchte sie.

»Wolltest du nicht den Umzug sehen?«, fragte seine spöttische Stimme knapp an ihrem Ohr. »Du liegst mir doch seit Tagen in den Ohren, dass du unbedingt die kleine Ausgabe des Karnevals von Rio erleben möchtest! Nur deshalb sind wir nach Palma gefahren und sitzen nun mitten im Geschehen.«

Kurz überlegte sie. Lauschte den heißen Sambaklängen, die über dem Platz schwebten, ließ ihren Blick über die Menschen schweifen, die sich rhythmisch zu den Klängen bewegten. Lauschte den Gefühlen in ihrem Körper.

»Nein«, schüttelte sie energisch den Kopf, und ihre dunklen Locken flogen. »Die werden nicht viel anders sein als in Deutschland. Karnevalsumzug ist Karnevalsumzug. Lass uns unseren freien Sonntag schöner genießen.«

»Dein Wunsch ist mir Befehl, mein Liebling!« Seine Lippen streiften über ihr Haar, und Mercédès entfuhr erneut ein wohliger Seufzer.

Daraufhin zog er sie näher, schlang beide Arme um ihren Oberkörper. »Ich liebe dich und deine spontanen Ideen«, flüsterte er so nah vor ihrem Gesicht, dass sie seinen Kaffee geschwängerten Atem riechen konnte.

Selbst nippte sie an einem Glas Cava. Oder besser, bereits am zweiten. Hatte dazu ein Bocadillo mit Öl und Tomaten verzehrt, für das die Bar berühmt war. Das war ihr Palma Ritual. Ein Glas Cava und ein Bocadillo bei Bosch.

Sie sog seinen Duft ein, denn sie liebte nicht nur ihn, sondern auch den starken Kaffee, den er getrunken hatte. Und schmeckte dem Kuss nach, den er ihr nach der Liebeserklärung sanft und fordernd zugleich auf ihre Lippen gedrückt hatte.

Mit halbgeschlossenen Augen blickte sie ihn unter ihrem dichten Wimpernkranz hindurch an und meinte selbstbewusst. »Ich weiß!«

Er lachte herzlich auf und küsste ihre Nasenspitze. »Dann auf, meine Schöne«, und erhob sich.

Sie griff nach ihrem geliebten Bag mit dem fröhlich-bunten Muster und stand ebenfalls auf. Da läutete ihr Handy im Inneren der Handtasche. Eilig kramte sie es heraus und fluchte innerlich. Weil sie es wie immer nicht gleich fand und weil sie Bereitschaft hatte. Das Klingeln somit nicht ignorieren konnte, obwohl das ihr erster Impuls gewesen war.

»Miquel«, stellte sie mit einem Blick aufs Display alarmiert fest.

Der Gesichtsausdruck ihres Begleiters wechselte. Das erwartungsvolle Lächeln war einem leicht sauren gewichen.

»Ja?«, schnauzte sie ins Telefon. Warum musste ihr Assistent ausgerechnet jetzt stören?

»Wo bist du?«, fragte Miquel kurz angebunden.

»Anscheinend in deiner Nähe, denn ich höre aus dem Telefon die gleiche Musik wie bei mir.«

»Ich bin beim Schildkrötenobelisken am Plaça Rei Joan Carles!«

»Und ich sitz bei Bosch!«

Also waren sie beide beim Treffpunkt schlechthin mitten in Palma de Mallorca, nur ein paar Meter voneinander entfernt. Sie in der berühmtesten Bar der Stadt, er auf dem Platz davor, auf dem sich zur Straße hin zahlreiche Menschen in vierer oder fünfer Reihen drängten. Viele verkleidet, vor allem die Kinder, denn sie waren gekommen, um den Sa Rua, den Karnevalsumzug, mitzuerleben, der über die Carrer de la Unió herunterzog und am Platz vorbei führte.

»Na, das trifft sich ja wunderbar. Komm mal rüber. Zu meinen Füßen liegt ein Toter!« Und aufgelegt hatte er.

Sie schaute in die angegebene Richtung, sah Miquel winken. Er stand etwas abseits der Menschenreihen, die dem Umzug zujubelten.

Mercédès drehte den Kopf wieder zurück. Ein trauriger Blick aus dunkel verhangenen Augen traf ihren Begleiter. »Wird wohl nix mit Kuscheln. Ein Toter. Da drüben«, und sie wies mit der Hand Richtung Obelisk, bevor sie ihre widerspenstigen Locken hinter die Ohren schob.

Zärtlich lächelnd blickte der Mann auf sie. Diese Geste. Die hatte er von Beginn an extrem anziehend gefunden. »Okay. Geh voraus, ich zahle. Bis gleich.«

Das mochte sie so an ihm. Keine Faxen, wenn sie beruflich gebraucht wurde. Egal, in welcher Situation. Er hatte stets Verständnis dafür. Sie eilte zu Miquel.

Ein Mann Ende dreißig lag mit aufgerissenen Augen am Boden. Beim Anblick der Leiche summte sie unbewusst: »Am Aschermittwoch ist alles vorbei …«

»Wie bitte?«, hörte sie Miquel perplex fragen.

»Oh, habe ich laut gesummt? Perdó, war nicht meine Absicht. Aber das Lied ging mir sofort durch den Kopf. Hat mein Vater immer zum Fasching gesungen. Ein Karnevalsklassiker aus seiner Jugendzeit, den Fünfzigern. Für unseren Toten hier ist heute schon alles vorbei.«

Mercédès blickte sich um. Nur wenige Menschen standen neugierig herum. Manche filmten mit dem Handy den am Boden liegenden Toten. Die meisten hatten jedoch noch nicht mitbekommen, was hinter ihrem Rücken passierte. Die Menge fieberte bei dem Karnevalsumzug mit, der wie jedes Jahr am Faschingssonntag den Höhepunkt der närrischen Zeit auf Mallorca bildete. Sie feuerte in Clownsmasken steckende Trommler an, die den Platz entlang und die Avenida de Jaume III hinaufzogen.

Kollegen der Policía Local hatten mit der Absperrung des Tatorts begonnen. Sie wies einen davon an, die Filmenden zu entfernen. Es ärgerte sie wie so oft ungemein, wie wenig Anstand Menschen heute noch hatten. Gleichzeitig gestand sie sich ein, dass solche Aufnahmen manchmal nützlich waren, deshalb hatte sie den Kollegen gebeten, die Kontaktdaten der Filmer zu notieren.

Miquel hielt ihr einen Ausweis hin. »Ein Landsmann von dir!«, schrie er in ihr Ohr, denn diese Trommler verursachten einen unbeschreiblichen Lärm.

Scheiße!, dachte sie, als sie den deutschen Personalausweis studierte. Ein Robert Kirsch aus Berlin. Damit waren sie zuständig. Denn seit Herbst letzten Jahres bildeten Miquel und sie die Sondereinsatztruppe der Policía Nacional, wenn Urlauber betroffen waren. »Was ist passiert?«

Man konnte sich wieder in normaler Lautstärke unterhalten, die Trommler waren verklungen, dafür wehte Swingmusik aus den dreißiger Jahren zu ihnen, jedoch wesentlich leiser. Sie spähte über die Menge und erhaschte einen Blick auf einen alten Renault, auf dem OK, let´s swing stand und aus dem die hinreißende Musik erklang. Ein Pärchen tanzte hinter dem Auto her. Sehnsüchtig starrte sie auf das Paar. Wie gerne wäre sie jetzt an deren Stelle.

Miquel holte sie nüchtern aus ihrem Traum zurück. »Der junge Mann da drüben ist über ihn gestolpert. Dachte zuerst, der Typ wäre betrunken, hat aber dann die aufgerissenen Augen bemerkt und geistesgegenwärtig den ersten Polizisten informiert, den er gesehen hat. Ohne großes Aufheben oder Geschrei. Ein kluger junger Mann.«

Mercédès folgte automatisch Miquels Zeigefinger mit den Augen. Ein circa zwanzig Jahre alter Mann stand unaufgeregt neben einem der Kollegen hinter der Absperrung. Winkte ihr. Sie winkte zurück. Mit ihm würde sie später sprechen.

»Und wo bist du so schnell hergekommen?«, wandte sie sich wieder an Miquel.

»Marco hat sofort kombiniert und gleich mich angerufen. Er war der Polizist, den der Zeuge angesprochen hat. Und ich war nur fünfzig Meter weiter da die Straße hoch. Mit Mayte.« Ein unglücklicher Ausdruck machte sich auf Miquels Gesicht breit.

Mercédès registrierte ihn. Oh, oh, dachte sie. Hing der Haussegen noch immer schief? »Wo ist Mayte jetzt?«

»Holt ihre Spurensicherungsutensilien aus dem Auto und hat die Kollegen verständigt. Munar ist bereits unterwegs. Den habe ich angerufen.«

»Na, dann hättest du mich ja nicht gebraucht«, merkte sie leicht gekränkt, wenn auch stolz auf ihren umsichtigen Mitarbeiter, an.

Insgeheim freute sie sich, wie rasch er sich weiterentwickelt hatte. Es war Miquels erster Posten nach der Ausbildung für die Kriminalpolizei und die Mitte zwanzig hatte er erst letzte Woche überschritten.

»Ich wollte dich zuerst auch in Ruhe den Sonntag genießen lassen. Denn eigentlich bin ich von einer natürlichen Todesursache ausgegangen ...«

»Was hat dich umdenken lassen?« Anspannung lag nun in ihrer Stimme, und sie richtete ihre Augen aufmerksam auf Miquel. Ihr Traum vom Tanzen war endgültig entschwunden.

»Schau her«, meinte er und kniete sich neben den Toten. Sie folgte seinem Beispiel. Miquel drehte die Leiche behutsam zur Seite. Wies auf den Einstich. Direkt unter dem Herzen. Nur ein paar Blutstropfen waren auf dem blauen Hemd zu sehen, das der Tote unter seinem wattierten Parker trug. »Habe ich entdeckt, als ich die Brusttaschen nach seinem Ausweis durchsucht habe.«

»Gut gemacht! Könnte Raub dahinterstecken?«

»Nein, alles noch da. Habe ich gecheckt. Brieftasche, Uhr, Handy. Das war ein gezielter Mordanschlag, wenn du mich fragst.«

»Den kenne ich«, hörten sie da unerwarteterweise eine betroffene Stimme.

Werner Hoffmann!, zuckte Miquel zurück und erhob sich, wobei er einen misstrauischen Blick auf den Mann warf. Hätte ich mir denken können, dass Mercédès an einem Sonntagnachmittag nicht alleine in Palma unterwegs ist. Aber musste es unbedingt Hoffmann sein? Was fand sie nur an dem Typen? Sie passten doch überhaupt nicht zusammen. Sie klein und quirlig mit ihrer Lederjacke und den widerspenstigen Locken, er extrem hochgewachsen, immer wie aus dem Ei gepellt.

»Woher kennst du ihn?« Auch Mercédès war aufgestanden. Sie legte ihren Arm auf den Oberarm des Mannes, mit dem sie gerade noch plänkelnd in der Sonne gesessen hatte, zog ihn leicht zur Seite.

»Er ... er ist ... war ... Gast bei uns im Resort.«

Nein, nicht auch das noch!, fluchte Miquel innerlich. Nicht eine weitere Ermittlung in dem eleganten Ferienresort, dessen Manager Werner Hoffmann war. Er bekam bis zum heutigen Tag Albträume, wenn er an den ersten gemeinsamen Fall mit Mercédès dachte. Sie hatten den Tod einer deutschen Schriftstellerin untersucht, die im Hallenbad des Resorts ertrunken war.

»Das tut mir leid«, meinte Mercédès mitfühlend zu Werner, der betroffen auf den Mann am Boden blickte. »War er alleine da?«

»Nein. Mit Familie. Frau und zwei Kinder. Sohn und Tochter.«

Mercédès öffnete den Mund für eine weitere Frage, als plötzlich ein Handy läutete. Das Läuten kam aus der Jackentasche des Toten. Sie bedeutete Miquel, ranzugehen. Der schälte ein Smartphone aus der Tasche, schaltete erstmals auf Lautsprecher. Noch bevor er etwas sagen konnte, keifte eine Frauenstimme auf Deutsch. »Wo bist du denn? Die Kinder wollen nach Hause!«

»Äh, Frau Kirsch?«, versuchte es Miquel.

Nach einer Schrecksekunde kreischte diese: »Wer sind Sie? Wie kommen Sie an das Handy meines Mannes?«

»Mein Name ist Coll. Polizei Palma.« Sie hatten sich angewöhnt, einfach Polizei Palma zu sagen. Für Touristen waren die verschiedenen Polizeieinheiten auf Mallorca nicht leicht durchschaubar. Obwohl die Zuständigkeit klar geregelt war: Bei kleineren Problemen wie einem abgeschleppten Auto kontaktierte man die Policía Local. Spielte Gewalt eine Rolle, war die Policía Nacional der richtige Ansprechpartner. Zu dieser Einheit gehörten sie.

Kurzes Schweigen auf der anderen Seite der Leitung. Dann eine bange Frage. »Polizei? Ist etwas mit Robert?«

»Wo sind Sie, Frau Kirsch?« Miquel sprach unaufgeregt. Mit fast akzentfreiem Deutsch. Mercédès rechnete sich das ein bisschen als ihren Verdienst an, denn in den letzten Monaten hatten sie nur deutsch untereinander gesprochen, um seine Aussprache und den Vokabelschatz zu verbessern.

»Ich ... wir sind in der Bar Bosch, gleich beim ...«

»Ich weiß, wo das ist«, und Miquel und Mercédès blickten zur Bar. Und sahen dort eine Frau, umgeben von einem kleinen Mädchen und einem circa fünfzehnjährigen Jungen, die ein Handy ans Ohr presste und verzweifelt in ihre Richtung sah.

»Dieser Polizeiaufmarsch da drüben, das ist nicht ...« Sie beendete den Satz nicht, sondern lief los. So prompt, dass sie keine Zeit hatten, den Toten abzudecken.

»Nein«, schrie sie gellend auf, als sie ihren Mann am Boden liegen sah. »Nein!«

Ein großgewachsener Mann, der ihr gefolgt war, fing sie auf. Dieser Mann schaute nicht auf den Toten, hielt krampfhaft die schreiende Frau fest, die mit aufgerissenen Augen auf das Opfer starrte.

»Robert, Robert, was ist mit dir?« Sie versuchte sich loszureißen, doch der Fremde hielt sie eisern fest.

»Komm Sonja, lass uns gehen«, redete er ruhig auf sie ein.

»Nein! Ich will wissen, was hier los ist.« Ihre Stimme überschlug sich fast.

Mercédès hatte die Szene auf sich wirken lassen. Irgendetwas störte sie, doch was? Statt dem vagen Gefühl nachzugehen, wandte sie sich zunächst der schreienden Frau zu.

»Frau Kirsch, ich bin Comissària Mercédès Mayerhuber«, und sie zeigte ihren Dienstausweis vor. »Ist das hier Ihr Ehemann?« Dabei wies sie mit dem Kopf auf den Toten.

Immer noch wurde Frau Kirsch von dem Fremden mit seinen Armen umklammert. Sie konnte nur den Kopf in Richtung ihres Mannes drehen. Und nickte. Dann folgte ein schwaches »Ja!«

Sie versuchte vehement, sich aus der Umklammerung des Mannes zu befreien. Doch der hielt sie gnadenlos fest.

»Lass mich los!«, heulte sie auf. »Du bist schuld!«, und schüttelte die Arme des Mannes endlich ab. Stürzte sich auf ihren Ehemann, fiel neben ihm auf die Knie. »Robert, Robert, was ist mit dir?« Tränen rannen über ihr Gesicht, tropften auf das des Toten. Sanft wischte sie diese weg.

Mercédès war froh, dass der Leichnam relativ unversehrt aussah. Die tödliche Stichwunde war nicht zu sehen. Sie beobachtete die trauernde Witwe aufmerksam. Diese kauerte neben dem Toten, weinte leise vor sich hin.

Miguel zog unterdessen den Herrn, der Frau Kirsch gefolgt war, zur Seite. »Sie sind ...?«

»Uwe Becker«, kam es mit belegter Stimme.

»In welchem Verhältnis stehen Sie zur Familie Kirsch?«

Herr Becker räusperte sich. »Wir haben uns hier im Urlaub kennengelernt. Wir wohnen Tür an Tür im selben Resort. Und über unsere Töchter ...«, erstarb seine Stimme.

»Sie haben sich über Ihre Töchter angefreundet?«

Herr Becker nickte.

»Was hat Frau Kirsch mit dem ›Du bist schuld?‹ gemeint.«

»Nichts ... Nichts. Sie ist nur verwirrt. Ist doch verständlich, oder?« Der Blick des Mannes ging ins Leere.

Mittlerweile waren die Kriminaltechniker eingetroffen. Allen voran Mayte, die Leiterin der Truppe, die verdrossen auf all die Menschen blickte, die in direkter Nähe des Toten standen.

Mercédès war ihr Blick aufgefallen. »Spuren kannst du sowieso vergessen. Bei den zahlreichen Leuten, die hier bereits herumgetrampelt sind, ohne sich um den am Boden liegenden zu kümmern.«

»Und wer ist die da?« Mürrische Blicke wanderten zu Frau Kirsch, die nach wie vor zusammengekauert neben dem Toten hockte.

»Seine Ehefrau. Und ihre Spuren werden wir ohnedies auf ihm finden. Also, lass sie.«

»Werner«, rief sie leise, ohne Frau Kirsch aus den Augen zu lassen. »Kannst du die Familie ins Resort begleiten? Im Moment erfahre ich da ohnehin nichts und ich möchte die Kinder nicht hier in der Öffentlichkeit ...«

Ihr war aufgefallen, dass der Junge seine Schwester beschützend zu sich gezogen hatte, sodass sie nicht in diese Richtung sehen konnte. Die Frau neben ihm hatte das gleiche mit einem anderen kleinen Mädchen gemacht. Wahrscheinlich Frau Becker mit ihrer Tochter.

Werner nickte.

»Bleib bei ihnen, bis ich da bin, ja? Und gib acht!« Die letzten Worte hatte sie geflüstert, obwohl sie spanisch mit ihm sprach. Aber vielleicht gab es ja deutsche Urlauber, die der Sprache mächtig waren.

»Geht klar. Ich kümmere mich darum.«

Dankbar blickte sie ihn an. Er strahlte Ruhe und Souveränität aus. Der typische Hotelmanager. Sie fühlte sich von seinem warmherzigen Blick aus den Bernsteinaugen umarmt. Und ein bisschen getröstet. Schade um den so schön begonnenen Nachmittag seufzte sie innerlich und verfluchte wieder einmal ihre Berufswahl.

»Frau Kirsch«, wandte sie sich an die kniende Frau, legte ihr die Hände auf die Oberarme und zog sie hoch. Widerstrebend ließ diese es geschehen. »Herr Hoffmann wird Sie und die Kinder nach Hause begleiten. Meine Kollegen werden Sie fahren. Sie kennen Herrn Hoffmann, nicht wahr?«

Durch einen Tränenschleier hindurch sah Frau Kirsch Werner an. Und knickte in dem Moment ein. Werner reagierte als erster, fing sie auf. Führte die schluchzende Frau mit Hilfe von Uwe Becker zu ihren Kindern, die von der Mutter verzweifelt umarmt wurden. Doch die Kinder zeigten keinerlei Regung.

Eigenartig, überlegte Mercédès. Keine Reaktion. Keine Tränen. Kein Geschrei.

Miquel folgte ihnen zur Bar und bat Herrn Becker, ebenfalls mit seiner Familie nach Paguera zurückzufahren und im Apartment der Familie Kirsch zu warten.

Auf dem Weg zurück zu Mercédès rief er seine Kollegin Aina an, beorderte sie nach Paguera ins Resort, um den Familien beizustehen und darauf zu achten, dass nichts abgesprochen wurde.

»Ich bin ja bald überflüssig«, lachte Mercédès.

»Das wird definitiv noch dauern! Doch du weißt, ich lerne schnell. Mein Ziel steht!«

Ja, das wusste sie. Miquel, geborener Mallorquiner, hatte ein ehrgeiziges Ziel. Polizeichef der Insel zu werden. Sie traute es ihm zu. Und würde alles tun, ihn dabei zu unterstützen. Denn abgesehen davon, dass sie diese Intention nicht verfolgte, konnte sie diesen Posten niemals erreichen. Sie war deutsche Staatsbürgerin, mit einem deutschen Vater, aber einer spanischen Mutter. Lebte seit bald zwanzig Jahren in Spanien, hatte im Land ihrer Mutter die Polizeiausbildung absolviert. Es war noch gar nicht lange her, da wurde sie für diesen sensiblen Posten als Leiterin ausgewählt, von Madrid nach Palma versetzt, da sie deutsch und spanisch wie ihre Muttersprache sprach. Und da die meisten Urlauber auf der Insel Deutsche waren ...

Mittlerweile hatte sich herumgesprochen, dass am Platz etwas passiert sein musste. Mehr und mehr Neugierige drängten sich um den Tatort und drehten dem Festumzug den Rücken zu. Immer mehr Handykameras waren auf sie gerichtet.

Trotzdem ging der Umzug weiter. Sie wollten ihn auch nicht stoppen. Warum den Leuten den Spaß nehmen, auf den sie sich jedes Jahr freuten?

Mercédès ließ ihren Blick zum Festumzug wandern und erspähte hinter unzähligen Köpfen die Familie Feuerstein, die die Carrer de la Unió herunter spazierten, stilecht mit einem Kinderwagen, der dem Vorbild aus dem Comic nachempfunden war. Ein Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus. Welche Mühe sich die Menschen doch mit ihren Kostümen gaben.

Werner hatte ihr erzählt, dass der Sa Rua das Highlight des Winters war. Es gab tolle Preise zu gewinnen, weswegen seit Wochen an den Verkleidungen gebastelt wurde. Seit siebzehn Uhr zogen die Karossen, Wagen und verkleideten Gruppen von den Avenidas Alemanya und Comte Sallent kommend durch die Straßen Rambla, Carrer de la Riera, über den Plaça Weyler, die Carrer Unió, den Plaça de Joan Carles I entlang und die Avenida Jaume III hinauf. Es würde noch ein Weilchen dauern, bis der letzte Wagen am Passeig Mallorca ankam, wo anschließend die Preise vergeben wurden. Danach startete das Fest erst richtig.

Auf den Straßen, Gassen und Plätzen würde ausgelassen getanzt und gefeiert werden. Doch ohne sie. Miquels Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass er es wenig erquicklich fand, an diesem Tatort zu ermitteln, anstatt vergnügt zu feiern. Und wenn sie Maytes griesgrämiges Gesicht betrachtete und wie verbissen sie den Toten und seine Umgebung ob irgendwelcher Spuren untersuchte ...

Miquel hatte ihr erst Freitag anvertraut, dass die Beziehung mit Mayte im Moment nicht eben rund lief, und er am Karnevalswochenende alles wieder ins rechte Lot bringen wollte. Sie konnte nur für ihn hoffen, dass Mayte nicht ihm die Schuld für den Toten in die Schuhe schieben würde. Sie mochte beide. Doch sie sah auch, dass sie nicht glücklich waren mit ihrer Beziehung.

Für den Plaça Rei Joan Carles I fiel das Fest dieses Jahr jedenfalls aus. Das Musikzelt stand zwar bereits, und eine Gruppe bereitete sich auf der Bühne auf den Auftritt vor. Die ersten Musikfetzen von der Probe erreichten sie. Wieder ergriff Mercédès ein leicht melancholisches Gefühl. Als würde sie etwas verpassen. Seufzend schickte sie Miquel, um die Absage für diesen Auftritt in die Wege zu leiten.

»Na, Frau Kollegin, kennen wir keinen Sonntag?«, dröhnte ein volles Organ und vertrieb die rockigen Töne der Probe und ihr wehmütiges Gefühl. José Munar, seines Zeichen Gerichtsmediziner, näherte sich.

»Leichen kennen weder Uhrzeit noch Kalender. Sogar den heiteren Karneval nutzen sie«, jammerte sie. Das war das einzig Frustrierende an ihrem Beruf. Dass Tote zu den unmöglichsten Zeiten an den unwahrscheinlichsten Orten auftauchten.

»Leiche zum Sa Rua, das hatten wir noch nicht. Na, dann werde ich mal schauen, was wir hier so haben.« Trotz seines beachtlichen Leibesumfangs kniete er sich behände neben die Leiche.

Mercédès begab sich derweilen zu dem jungen Mann, der über den Toten gestolpert war. Schmetterlingsmädchen in ausladenden Kleidern mit überdimensionalen Flügeln auf ihren Rücken kamen in pink, lila, grün, gelb und orange auf sie zu. Sie trat zur Seite, ließ die Mädchen vorbeiziehen, bevor sie sich an den Zeugen wandte.

Der konnte ihr nicht viel erzählen. Er war buchstäblich über den Mann am Boden gestolpert und hatte ihn zuerst angeraunzt, ob er sich nicht schäme, bei den zahlreichen Kindern rundum schon am frühen Abend betrunken herumzukugeln. Doch dann waren ihm die starren Augen aufgefallen und als Medizinstudent war ihm sofort klar, dass der Mann tot war. Er hatte nichts und niemanden beobachtet, der sich irgendwie verdächtigt gemacht hatte. Sie notierte seine Kontaktdaten und ließ ihn gehen.

Zurück bei Munar erfuhr sie nur, was sie bereits wusste. Tod durch einen Messerstich. Munar hatte den Toten längst in den Leichensack packen lassen.

»Morgen in der Gerichtsmedizin«, rief er ihr zu, bevor er in der Menge verschwand.

Mercédès und Miquel ließen Mayte mit ihrem Team zurück und machten sich auf den Weg zu Mercédès´ Auto. Schweigend marschierten sie den Passeig del Born entlang. Nach wie vor strömten Menschen in die Altstadt, kostümiert oder nicht kostümiert, alle mit einem fröhlichen und erwartungsvollen Gesichtsausdruck.

Wie sie diese Personen um ihre Unbekümmertheit beneidete. Mercédès spürte ein sehnsuchtsvolles Ziehen bei dem Gedanken an den Mann, der die Familie des Toten nach Paguera begleitete.

»Was ist los?«, reagierte sie auf Miquels sauren Gesichtsausdruck.

»Nach dem Umzug wird hier die Hölle los sein. Und ich wollte mitfeiern. Ist einer der coolsten Abende im Jahr. Dieser Fasching gehört noch uns. Nicht so wie in Venedig, wo sich Touristenmassen zum Karneval drängen. Nein, den feiern die Mallorquiner seit Jahrhunderten.«

»Tatsächlich?«, fragte Mercédès überrascht nach.

Als Deutsche kannte sie das Brauchtum vor allem in den rheinischen Gebieten, bisher war ihr nicht bewusst gewesen, dass der Fasching auf Mallorca auf eine lange Geschichte zurückblicken konnte.

»Der Karneval ist seit Jahrhunderten auf unserer Insel verwurzelt. Der Ursprung lag im ländlichen Raum«, begann Miquel stolz zu erzählen.

Mercédès freute sich einmal mehr, wie sehr ihr Kollege eins mit seiner Insel war. Und lauschte gespannt.

»Die Karnevalsbräuche sind nach und nach entstanden. Zu Beginn waren sie eher ein Akt des Ungehorsams gegenüber den Sitten und Gebräuchen der Obrigkeit. Im siebzehnten Jahrhundert gab es die erste Blütezeit. Nachbarn haben sich gegenseitig derbe Scherze zugefügt«, lächelte er vergnügt vor sich hin.

Mercédès war neugierig geworden. »Und welche?«

»Sie sind mit Mehl, Eiern und Wasser zu den weniger beliebten gezogen und haben diese ›eingeseift‹.« Jetzt grinste er über das gesamte Gesicht.

Mercédès lachte herzlich. »Schade, dass dieser Brauch ausgestorben ist. Wie gern würde ich so manchen Politiker oder Chef mal einseifen.«

Und dachte dabei an einen ganz bestimmten Vorgesetzten, der diese Prozedur verdient hätte.

»Na ja, es kam definitiv nicht bei allen gut an. Hast du das Buch von George Sand ›Ein Winter auf Mallorca‹ gelesen?«

Auf Mercédès Kopfschütteln erzählte Miquel weiter. »Die Geliebte des Komponisten Frédéric Chopin hat in der Kartause in Valldemossa eine Karnevalsfeier von reichen Bauern und Bürgerlichen aus dem Dorf erlebt und empfand sie als schrecklich. Abfällig hat sie über ›hässliche und eklige Masken‹ berichtet, fand das ›Kastagnetten-Geklapper unerträglich und den monotonen Singsang scheußlich‹.«

»Sie war aus Paris wohl gepflegteren Umgang gewöhnt«, mutmaßte Mercédès.

»Wie auch immer«, zuckte Miquel die Achseln.

Innerlich musste Mercédès schmunzeln. Sie wusste genau, was in ihm vorging. Wenn´s den Ausländern nicht gefiel, mussten sie es sich ja nicht ansehen. Das war sein Credo. Er hatte zwar nichts gegen Touristen, aber wenn die etwas gegen seine geliebte Insel vorbrachten, konnte er schon mal ausfallend werden.

»Die ruas, die Umzüge, sind erst Ende des neunzehnten Jahrhunderts aufgekommen. Die ersten Karnevalsumzüge wurden von Bürgern und Aristokraten spontan abgehalten, da ging es auf dem Borne oder der Rambla heiß her. Später hat sich das Ganze in den Insel-Dörfern verbreitet. Damals gehörte zum Karnevalsgeschehen dazu, sich bei den Umzügen über Politiker oder Prominente lustig zu machen. Das findest du heute kaum noch. Jetzt zählen mehr die hübschen bunten Kostüme und die zahlreichen lateinamerikanischen Gruppen mit ihrer Samba.«

»Warum hat sich das geändert?«

»Den faschistischen Putschisten um Francisco Franco war das wohl zu viel aufrührerisches Potenzial. 1940, ein Jahr nachdem der Bürgerkrieg beendet war, haben sie das ihrer Meinung nach subversive Treiben verboten. Nur der Kinderkarneval war weiterhin erlaubt.« Miquel klang leicht bitter.

Mercédès überlegte, dass sie über die »Dunkle Zeit«, wie viele Spanier die Herrschaft Francos nannten, kaum etwas wusste. »Seit wann wird der Festumzug für die Erwachsenen wieder gefeiert?«

»Erst nach Francos Tod 1975 kam der Brauch erneut auf. Aber nicht mehr organisiert von den Bürgern, sondern vom Rathaus des jeweiligen Ortes. Die Kritik an der Obrigkeit kam bei den Umzügen allerdings nicht wieder auf. Ich denke, dass haben uns die Faschisten ausgetrieben.«

In Deutschland war das nach wie vor gang und gäbe, sich während des Karnevals auch mal über die Politik lustig zu machen oder Dampf abzulassen. Schade, dass auf Mallorca dieser Brauch mehr oder minder abhandengekommen war. Sie stellte sich vor, wie der eine oder andere Wagen über Bausünden oder Korruption aussehen könnte. Was sie vergnügt lachen ließ und Miquel mitriss, dem sie davon berichtete.

Mittlerweile waren sie am Plaça de la Reine angekommen, wo ihr Auto in der Tiefgarage stand. Sie wollten die Stufen zur Garage hinuntersteigen, als Mercédès Miquel am Arm zog und meinte: »Warte einen Moment!«

Er schaute ihr verblüfft nach, wie sie zum Parque del Maram Fuß des Königspalastes lief. Sie blieb knapp vor dem gewaltigen Wasserbecken stehen, das an die Zeit erinnern sollte, als die Kathedrale noch unmittelbar am Meer gelegen war. Er holte sie ein, als sie schon ihr Handy gezückt und den Palast und die Kirche fotografiert hatte. Den Springbrunnen im Becken und die Bronze-Skulptur Hacia el Sur als Kontrast nutzend.

»Ist es nicht herrlich? Wie golden La Seu in der Abendsonne glitzert?«, schwärmte Mercédès verzückt. »Ich finde, das ist die beste Zeit des Tages für die prachtvolle Kirche! Da kommt sie erst so richtig zur Geltung!« Fasziniert blickte sie hinauf zur Kathedrale der heiligen Maria, die majestätisch auf dem Felsen hinter dem Königspalast thronte.

»Ich nutze jede Gelegenheit für einen Abstecher hierher«, gestand sie dem verblüfften Miquel. »Auch ein neuer Fall kann mich nicht davon abhalten. Sie ist für mich die schönste Kirche des Abendlandes. Angeblich zählt sie zu den größten, dabei wirkt sie auf mich eher filigran. Findest du nicht?«

Miquel schaute hoch. Und sah, was er immer schon gesehen hatte. Ein Glanzstück gotischer Architektur, obwohl die Kirche keinen einheitlichen Stil aufwies. Was nicht verwunderlich war, denn mit dem Bau war Anfang des vierzehnten Jahrhunderts begonnen worden, das Kirchenschiff war aber erst Ende des sechzehnten Jahrhunderts fertiggestellt worden. Die Hauptfassade überhaupt erst im zwanzigsten. Und dass der berühmte katalanische Architekt Antoni Gaudi letzte Hand angelegt hatte, machte sie weltberühmt. Seine Handschrift war es wohl, was Mercédès als »filigran« empfand.

»Ist sie nicht einzigartig? Auch durch ihre Lage über der Bucht von Palma?«, fragte Mercédès nach, nachdem Miquel auf ihre vorige Frage nicht reagiert hatte.

»Ja und?«, meinte Miquel trocken, »da steht sie schon seit Jahrhunderten!«

Sie würdigte ihn keines Blickes, sondern marschierte einfach los. In die Tiefgarage hinunter. Diese Ignoranz! Vor ihrem kleinen Fiat 500 hielt sie Miquel, der ihr schnellstens gefolgt war, die Autoschlüssel vor die Nase. Sie hatte keine Lust zu fahren.

Als Miquel das Auto den Hafen entlang steuerte, glitten ihre Blicke über die tausenden von Masten und sie träumte sich auf ein Segelboot weit draußen am Meer. Sie war froh, Miquel das Steuer überlassen zu haben. Nicht nur, weil die Sonne tief stand und sie dies beim Fahren beeinträchtigte, sondern weil sie so Zeit hatte, die Umgebung in sich aufzunehmen. Noch fühlte sich alles neu an, obwohl es in den letzten drei Monaten schon so vertraut geworden war.

Im Kreuzfahrtterminal lagen diesmal keine Riesen des Meeres vor Anker. Zuweilen, wenn sie die Ma-1 hinunter Richtung Hafen fuhr, erschrak sie richtiggehend, wenn nach der Kurve unvermittelt eines dieser riesigen Schiffe auftauchte, die aussahen wie schwimmende Hochhäuser.

Sie passierten das mehrstöckige Einkaufszentrum Porto Pi Centro Comercial, das mit seinen zahlreichen Designerläden bei den internationalen Passagieren der Kreuzfahrtschiffe beliebt war. Als sie die Ma-1 hinauffuhren, meinte sie lobend zu Miquel: »Gute Idee von dir, Aina ins Resort zu schicken.«

»Aina würde alles für dich tun, das weißt du. Auch am freien Sonntag Dienst schieben«, grinste er mit einem Seitenblick auf seine Chefin.

Ja, das war ihr durchaus bewusst. In der knapp zwanzigjährigen Kollegin, die erst seit einem halben Jahr im Polizeidienst war, hatte Mercédès eine richtige Freundin, fast Bewunderin gefunden. Dabei war es für sie selbstverständlich gewesen, für Aina einzutreten, nachdem dieser ein Missgeschick mit einer Verdächtigen passiert war. Sie hatte übersehen, dass eine Berliner Göre im Verhörraum der Polizei Palma ein Foto von sich gepostet hatte. Ihr gemeinsamer Vorgesetzter Dr. Bibiloni hatte getobt, aber Mercédès vertraut, dass Aina so einen Fehler nie wieder begehen würde und sie in ihre Obhut gegeben.

Versonnen betrachtete Mercédès die Landschaft, die an ihr vorbeizog. Sie fuhren durch das hügelige Hinterland der Tramuntana, das sich bis ans Meer zog. Erfreute sich über jedes Aufblitzen des Wassers, das oft völlig unvermittelt nach einer Kurve hinter einem Hügel auftauchte und durch die Strahlen der untergehenden Sonne ein Glitzern hervorzauberte. Und dachte an einen Sonntag im vergangenen November, an dem sie diese Straße das erste Mal entlang gefahren war. Ebenfalls nach Paguera. Auch damals war sie unterwegs in das Resort in der Bucht La Romana. Nur das diesmal keine Leiche auf sie wartete, sondern die Familie eines Ermordeten. Und sie dort ihr Zuhause gefunden hatte. Sie schmunzelte in Gedanken daran, wie sehr sie sich zum damaligen Zeitpunkt darüber geärgert hatte, dass bereits an ihrem ersten Tag auf Mallorca ein Mord ihr Ankommen gestört hatte. Doch nie hätte sie mit dem gerechnet, was sie dort tatsächlich erwartet hatte ...

Unwillig über Miquels Unterbrechung, was sie denn so über den Fall denke, gab sie die Frage nicht eben freundlich zurück. »Was denkst du?«

»Keine Ahnung. Ein Mann, der mit Familie und Freunden unterwegs ist, steht allein am Rande des Umzugs und wird erstochen? Ein bisschen merkwürdig, oder?«

»Na ja, vielleicht hat der Karneval die anderen nicht interessiert. Es wird auf alle Fälle eine Herausforderung für uns. Wenn es ein Zufallstäter war ...«

»Na, dann gute Nacht«, ergänzte Miquel. »Dann müssten wir schon extremes Glück haben, den Täter zu finden. Du bist doch auch bei Bosch gewesen. Wo genau?«

»Werner und ich haben direkt an der Hausmauer an einem Bistro-Tischchen gesessen. Stehen ja im Moment nur ein paar herum, der Außenbereich ist wegen der Feierlichkeiten abgebaut. Wir haben die Sonne und uns genossen«, lächelte sie träumerisch.

Sah dabei nicht den zweifelnden Seitenblick ihres Kollegen, weil sie zu sehr damit beschäftigt war, dem himmlischen Kuss nachzutrauern, der so viel versprochen hatte. Nun war der Zauber verflogen. Sie steckte wieder tief in einem Fall. In nächster Zeit würde es nicht viele Gelegenheiten für zweisame Stunden geben. Schade, denn das mit Werner war etwas ganz Besonderes. Hals über Kopf hatte sie sich bei ihrer ersten Ermittlung vor knapp drei Monaten in eine Affäre mit Werner Hoffmann gestürzt. Und schwebte nach wie vor im siebten Himmel.

»Ist dir die Familie aufgefallen?«

Erneut unterbrach Miquel ihre schönen Gedanken. »Äh, nein, nicht wirklich. Ich kann mich dunkel erinnern, dass zwei Tische neben uns Leute mit Kindern saßen, aber ich könnte nicht beschwören, dass es diese Familie war.«

»Das gibt es doch nicht, dass du nichts mitbekommen hast. Ist dir niemand aufgefallen, der sich irgendwie verdächtig benommen hat? Du hast ja praktisch mitten im Geschehen gesessen mit einem guten Blick auf den Tatort«, wunderte sich Miquel.

»Bei dem Lärm und den vielen Menschen, die auf dem Platz unterwegs waren? Nein, wir waren total relaxed. Wer rechnet denn mit so was?« Sie konnte ihm unmöglich von dem Kuss erzählen. Einem Kuss, der sie in andere Sphären versetzt hatte, sodass sie ihre Umgebung überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Völlig in ihrem Gefühlschaos gefangen war. Wieder kribbelte ein sehnsuchtsvolles Ziehen durch ihre Eingeweide.

»Warum bist du eigentlich so misstrauisch, was Werner anbelangt?« Sie hatte sich vorhin gekränkt gefühlt, weil Miquel Werner gegenüber kurz angebunden gewesen war.

»Du weißt, wieso!«

»Aber Miquel, wenn ihm jemand seine Lebensweise vorwerfen könnte, dann wäre das ich!«

»Genau. Ich kann definitiv nicht verstehen, wie du ihm vertrauen kannst.«

»Warum nicht? Seine Affären ... das war vor meiner Zeit. Warum soll ich mir darüber den Kopf zerbrechen?«

Miquel schüttelte verständnislos den Kopf. »Also, ich könnte das Mayte nicht verzeihen!«

»Was vor eurer Beziehung gelaufen ist? Denkst du, du bist der erste Mann in ihrem Leben?« Jetzt musste sie fast lachen, obwohl sie sich über Miquels Ansichten enorm ärgerte.

»Nein, natürlich nicht. Sie hatte ein oder zwei feste Beziehungen, die in die Brüche gegangen sind. Aber dein Werner ...«

»Sprich dich ruhig aus«, forderte sie ihn auf.

»Er hatte unzählige Liebschaften. Ist als Schürzenjäger bekannt. So was legt ein Mann nicht einfach ab.«

»Sprichst du aus Erfahrung?« Der Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Miquel lief rot an. Nur weil er einmal ...

»Ich weiß nicht, woher du das Recht nimmst, über Werner zu urteilen«, fuhr sie zunehmend erbost fort. »Was er in seinem Leben macht, ist seine Sache. Die Liebschaften, wie du das so abschätzig nennst, sind Vergangenheit. Jetzt zähle ich. Wir leben in der Gegenwart. Und wenn ich eine Zukunft mit Werner haben möchte, dann muss ich die Vergangenheit abhaken. Könnte ich nicht damit leben, müsste ich die Beziehung abbrechen. Aber ich schaue in die Zukunft. Die Vergangenheit kümmert mich nicht. Warum auch?«

»Hast du nicht Angst, er könnte dich betrügen? Du bist viel unterwegs ...« Ein kurzer Seitenblick von Miquel, der sich ansonsten auf das Autofahren konzentrierte, zeigte gespannte Augen.

Natürlich hatte sie sich diese Gedanken gemacht. Mehr als einmal. Sie konnte sich gut an den Herzschmerz erinnern, der sie überkommen hatte, als ihr klar geworden war, wie viel die tote Schriftstellerin, ihr erster Fall auf Mallorca, Werner bedeutet hatte.

»Was nutzt es, sich das Herz mit solchen Gedanken schwer zu machen? Herumzuzicken, weil er vor mir mit anderen Frauen geschlafen hat? Ich vertraue ihm. Und sollte es einmal passieren ...«

»Ja?«

»Dann schieß ich ihm eine Kugel in den Kopf ...«

Miquel schaute erschrocken zu ihr.

Mercédès fiel ob seines Blickes in ein hemmungsloses Lachen.

Er stimmte ein. Für einen Augenblick hatte er schon gedacht ...

Wieder ernst fuhr sie fort. »Sollte er mich wirklich betrügen, kann ich mir immer noch den Kopf darüber zerbrechen ...«

Mercédès und Miquel trafen im Apartment des Opfers ein. Werner hatte anscheinend versucht, ein Gespräch in Gang zu halten. Denn als sie eintraten, hörten sie ihn den Jungen fragen, ob er schon das Surfen probiert habe. Es sei zwar kalt, aber der Wind und die Wellen seien im Moment günstig für diesen Sport. Der Junge wurde ob ihres Eintreffens einer Antwort enthoben.

Werner erhob sich bei Mercédès´ Anblick erleichtert. Wieder schenkte er ihr einen Blick, von dem sie sich umarmt fühlte. Und meinte im Vorbeigehen leise zu ihr: »Ich erwarte dich!«

Sie nickte ihm unverbindlich zu. Für Privates war hier kein Raum. Jetzt war sie ganz Kommissarin.

Als die Tür hinter Werner zugefallen war, konnte Mercédès die angespannte Atmosphäre in dem großzügig geschnitten Wohnzimmer körperlich spüren. Sie fühlte es wie einen kalten Windhauch, der sie innerlich frösteln ließ. Keine erwartungsvollen Blicke wie sonst in solchen Situationen waren ihr zugewandt, sondern jeder der Anwesenden war mit sich beschäftigt. Auch die Kinder. Sie war sich plötzlich sicher, dass der Mörder einer von ihnen war.

Ihr Blick fiel auf Aina, die hilfreiche Polizistin, die im Hintergrund des Raumes vor den bodentiefen Fenstern stand. Ihr blondes Haar wirkte durch die letzten Strahlen der untergehenden Sonne in ihrem Rücken, die die ganze Situation noch unrealistischer erscheinen ließ, wie ein Heiligenschein.

Mercédès nickte ihr aufmunternd zu, bevor sie ihren Blick weiter über die Anwesenden schweifen ließ. Was war es, das sie irritierte?

Uwe Becker lehnte wie unbeteiligt in der Küche am Kühlschrank. Ihr fiel sein verwegener Gesichtsausdruck auf, der durch die fast kinnlangen dunkelblonden Haare unterstrichen wurde. Er hatte das Kinn in die Höhe gereckt und schaute sie aus eisig blauen Augen herausfordernd von oben herab an. So, wie er da stand, wirkte er wie ein Mann, der sich seines guten Aussehens und seiner Bedeutung bewusst war. Er hatte eindeutig Charisma. Was er von Beruf ist?, fragte sie sich.

Die Küchenzeile war durch eine Art Bar vom Wohnzimmer getrennt. Hinter der befand sich im Zimmer ein Esstisch, an dem zwei Frauen saßen. Die eine war Sonja Kirsch, die kerzengerade auf ihrem Stuhl saß, als wäre sie sich Uwe Becker im Nacken gewiss.

Die andere Person war vermutlich Frau Becker. Es war jedenfalls die Dame, die bei Bosch neben der Witwe gestanden hatte. Sie wirkte kühl und distanziert. Oder wollte wenigstens diesen Eindruck vermitteln. Ihre ebenmäßigen Gesichtszüge erschienen völlig unbeteiligt, ließen keine Schlüsse zu, doch ihre Augen huschten unruhig zwischen Uwe Becker und der Frau des Toten hin und her.

Mercédès fiel der besorgte Gesichtsausdruck auf, mit dem Uwe Becker Sonja Kirsch einen kurzen Augenblick musterte. Seiner Frau war der Blick anscheinend ebenfalls nicht entgangen, denn ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.

Ein Mädchen mit blonden Locken, an die fünf Jahre alt, schmiegte sich an Frau Becker. Ihr pausbäckiges Gesicht war weinerlich verzogen, ihre himmelblauen Augen schwammen in Tränen. Trotzdem war sie in ihrem hübschen Jeanskleidchen niedlich anzusehen.

Ein anderes, ebenfalls blond-gelocktes Mädchen in ungefähr demselben Alter, drückte sich auf der Couch im hinteren Teil des Raumes ängstlich an einen schlaksigen Jungen. Der hatte die Arme beschützend um den zitternden Mädchenkörper geschlungen und musterte Mercédès mürrisch. Als wäre sie schuld an der ganzen Misere.

Ihr Blick wanderte zurück zur Tochter der Beckers, und sie fand ihre Vermutung bestätigt. Die Mädchen trugen das gleiche Kleidchen. Was ihre Ähnlichkeit noch unterstrich. Süß, dachte Mercédès, wie Zwillinge. Das bereitete den Kindern sicher Spaß.

Es waren einige Minuten verstrichen, während Mercédès ihre Eindrücke sammelte, doch niemand hatte ein Wort gesagt. Nur Blicke waren hin und her gewandert. Auch die Kinder waren unnatürlich still. Was ging hier vor?, wunderte sie sich, während sie noch einmal jeden einzelnen in Augenschein nahm.

Dann räusperte sie sich, um den Frosch aus ihrem Hals zu bekommen, denn das ungute Gefühl des Bösen ließ sich nicht abschütteln.

»Ich bin Comissària Mercédès Mayerhuber von der Polizei Palma und habe ein paar Fragen an Sie. Gemeinsam mit meinem Kollegen Miquel Coll.«

Miquel schnarrte ein »Bon Dia!«

»Wir haben uns ja schon kennengelernt. Zumindest zum Teil«, fuhr sie fort, und versuchte ein Lächeln, um die Stimmung etwas aufzuhellen, bevor sie sich an die vermeintliche Frau Becker wandte. »Sie sind Frau Becker, nicht wahr?«

Ein kühles Augenpaar musterte Mercédès. Die Stimme dazu klang eisig arrogant. »Ja, Konstanze Becker!«

Frau Kirsch schickte einen gehetzten Blick Richtung Mercédès, bevor sie wieder ihre Hände betrachtete, die gefaltet in ihrem Schoß lagen. Das Gesicht von Sonja Kirsch war durch die lang herabfallenden Haare verdeckt, als hätte sich ein Schleier davor gelegt.

Der Junge beäugt sie weiterhin misstrauisch. Den Blick von Uwe Becker spürte sie im Rücken. Der fühlte sich bedrohlich an.

»Ich nehme an, Frau Kirsch, das auf der Couch sind Ihre Kinder?«

»Ja, Daniel und Sarah.«

Die Frau wirkte nervös. Nein, nicht nervös, überlegte Mercédès. Eher vorsichtig. Als wäre sie auf der Hut.

Da warf Frau Kirsch mit einer raschen Kopfbewegung ihre Haare nach hinten. Ein Seitenblick traf Uwe Becker. Ein Blick, der um Unterstützung bat. Seine Frau zuckte zusammen.

Mercédès fiel auf, dass sich die beiden Frauen stark ähnelten. Schlank und hochgewachsen. Frau Kirsch vielleicht eine Spur kleiner. Außerdem erschien sie weiblicher, runder. Haarfarbe und Frisur waren fast identisch. Konstanze Beckers Haare schienen nur eine Nuance dunkler, aber gleich lang. Bei beiden fielen die glatten Haare offen über die Schulter.

»Wollen Sie auch mit den Kindern sprechen?«, fragte Frau Kirsch. Ihre Stimme klang beherrscht, doch Mercédès als guter Zuhörerin war aufgefallen, dass die Stimme der Frau leicht zitterte. Warum?

»Nein ... nein, ist im Moment nicht nötig. Könnte Ihr Sohn mit den Mädchen wohl irgendwohin zum Spielen gehen? Frau Becker, Sie haben doch nichts dagegen?«, fragte Mercédès sofort nach, als sie sah, wie Frau Becker ihre Tochter an sich drückte.

»Wenn es sein muss ...«, meinte diese und ließ die Kleine zögerlich los.

»Oh ja, Mami, darf ich? Ich bin auch gaaanz brav«, piepste die süße Maus. Auf das Nicken ihrer Mutter zog ein fröhlicher Ausdruck über ihr Gesichtchen.

Der Junge erhob sich ohne Murren und zog seine Schwester mit hoch. Drehte den Kopf zu seiner Mutter: »Mom, ist es okay?« Als diese nickte, trottete er mit je einem Mädchen an der Hand zur Tür.

Uwe Becker meinte trocken. »Geht in unser Apartment«, und streckte dem Jungen den Schlüssel hin.

Mercédès bedeutete Aina, ihnen zu folgen. Blickte den dreien nach, wie alle anderen ebenfalls. Die Mädchen schauten mit ihren baumelnden Locken allerliebst aus. »Was für entzückende Mädchen«, merkte sie an. »Und wie ähnlich sie sich sehen.«

»Das liegt an den Kleidern«, meinte Herr Becker schnell, »ich habe die Kleidchen bei Zara gesehen und konnte nicht widerstehen.« Er lächelte leicht, Stolz sprach aus Stimme und Blick.

»Ich kann mir vorstellen, dass es den Mädchen gefällt, wie Zwillinge aufzutreten. Sie haben hier im Resort wahrscheinlich für einiges Aufsehen gesorgt.«

»Davon können Sie ausgehen«, lachte er jetzt offen.

»Schön. Aber ich muss Ihnen leider ein paar nicht so angenehme Fragen stellen.« Mercédès registrierte, dass sich alle drei Gesichter verschlossen wie Austern.

»Woher kennen Sie sich?« Freundlich begann sie, um die Atmosphäre ein bisschen aufzulockern.

»Wie gesagt, wir haben uns hier im Resort kennengelernt«, antwortete Herr Becker eilig. »Wenn man Tür an Tür wohnt, bleibt es nicht aus, dass man sich über den Weg läuft, und die Mädchen haben gleich Kontakt zu einander aufgenommen.«

Er erzählte, dass es zuerst gemeinsame Treffen am Spielplatz gegeben hatte. Sie dann dazu übergegangen waren, das Mittagessen im resorteigenen Restaurant zusammen einzunehmen. Und da sie sich gut verstanden hatten, wurde bald der erste gemeinsame Ausflug unternommen. Das Ganze hatte soweit geführt, dass zwischendurch eine Familie auf beide Mädchen aufpasste, damit das andere Ehepaar etwas in trauter Zweisamkeit unternehmen konnte.

Bei dieser Aussage kam ein trockenes Lachen von Frau Becker. Auf Mercédès fragenden Blick antwortete Sonja Kirsch, dass es nie nur die Mädchen waren, die eine Familie begleiteten, sondern dass Daniel immer bei den Mädchen war. Ihre Tochter Sarah liebe ihren Bruder abgöttisch und hätte nie etwas ohne ihn unternommen. So war es vorgekommen, dass er mit den Mädchen alleine unterwegs war und die Erwachsenen unter sich.

Uwe Becker berichtete, dass es daher möglich war, am Abend ins Restaurant essen zu gehen, weil Daniel die Mädchen beaufsichtigt hatte. Er und seine Frau hatten das sehr geschätzt.

»Wie lange sind Sie schon auf Mallorca?«, flocht Miquel eine Frage ein.

Wieder war es Becker, der antwortete. »Wir sind gestern vor einer Woche angekommen. Übrigens mit dem gleichen Flug aus Berlin«, und er lächelte dabei ein warmes Lächeln.

»Welche schöne Erinnerung verbinden Sie denn mit dieser Reise?«, reagierte Mercédès auf sein Lächeln.

»Die Mädchen haben sich bereits am Flughafen Tegel gefunden. Und gleich einen Draht zueinander gehabt. Was war das für eine Überraschung, als wir uns hier Tür an Tür wiedergefunden haben.«

Schöner Zufall, dachte Mercédès, was für ein Glück, auch noch einen so besorgten jungen Mann zu haben, dem man die Mädchen ohne Bedenken überlassen konnte.

»Sie leben in Berlin?« Diesmal hatte sich Mercédès mit ihrer Frage gezielt an Frau Becker gerichtet.

Diese nickte hoheitsvoll.

»Und Sie kannten sich vorher nicht?« Ihr Blick ruhte immer noch auf Frau Becker.

Doch Herr Becker gab rasch die Antwort. »Nein!«, sagte er sehr bestimmt.

Mercédès drehte ihm ihren Kopf zu. Irgendetwas in seiner Stimme hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Aber er wirkte völlig relaxed. Vielleicht hatte es sie auch nur irritiert, dass er auf die Frage geantwortet hatte, obwohl sie gezielt an seine Frau gerichtet war.

»Gut. Dann erzählen Sie uns kurz, wie sich der heutige Tag abgespielt hat.«

Sie erfuhren, wieder von Uwe Becker, dass nach dem Frühstück beschlossen worden war, zum Kinderkarneval nach Palma zu fahren. Sie hatten am Tag zuvor von dem »Sa Rueta« gehört und fanden es lustig für die Mädchen. So gegen elf Uhr waren sie aufgebrochen. Die Mädchen hatten vorher Zeit mit Daniel am Spielplatz verbracht, er sei spazieren gewesen, allein, wie er betonte.

Die Damen hatten den Morgen am Balkon mit Sonnen verbracht, wie sie unisono erklärten.

Mercédès stellte sich die beiden Frauen vor, wie sie auf nebeneinanderliegenden Balkonen die Sonne angebetet hatten. »Und Ihr Mann?«, wandte sie sich an die Witwe.

»Mein Mann? Ich habe keine Ahnung, was Robert gemacht hat. Er war jedenfalls nicht da. Fast die ganze Zeit nach dem Frühstück bis zur Abfahrt, wenn ich darüber nachdenke.«

»Könnte er jemanden getroffen haben?«

Frau Kirsch machte großen Augen. »Wen soll er denn getroffen haben? Wir kennen doch niemanden auf Mallorca!«

»Haben Sie außer den Beckers mit sonst niemand Kontakt geknüpft?«

»Ich nicht. Bei Robert weiß ich das nicht ... Er ist sehr kommunikativ und war auch des Öfteren allein unterwegs. Kann schon sein, dass er sich mit jemandem angefreundet hat.«

»Würde er Ihnen das nicht erzählen?«