Der Tiergartenmörder - Susan Carner - E-Book

Der Tiergartenmörder E-Book

Susan Carner

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Beschreibung

Lieben Sie knisternde Spannung, ohne in Angst zu verfallen? Wenn das Zeitgeschehen eine Rolle spielt? Ein sympathisches Ermittlerduo am Werk ist? Dann ist "Der Tiergartenmörder" die optimale Lektüre! Brisant, topaktuell und berührend befasst er sich mit den Vorurteilen unserer Zeit, hält der Gesellschaft den Spiegel vor, ohne den moralischen Zeigefinger hochzuheben. Ein Routinefall für Kommissarin Rebecca Winter, so scheint es zuerst, als sie an den Tatort in den Berliner Tiergarten gerufen wird. Eine deutsche Studentin wurde tot aufgefunden. Doch der Schein trügt. Der Verdächtige - der syrische Freund der Toten. Und sofort greifen die pawlowschen Reflexe. Bei ihrem Vorgesetzten und der öffentlichen Meinung. Er muss schuldig sein. Doch Rebecca Winter und ihr Kollege Tom Krüger suchen nach dem Motiv, behutsam durchleuchten sie das Leben der Toten und stoßen auf andere Verdächtige. Wird es Rebecca gelingen, den wahren Täter trotz der aufgeheizten Stimmung zu überführen? Kommt Ihnen der Plot bekannt vor? Lassen Sie sich nicht abschrecken. Die Geschichte ist mehr als lesenswert. Die Rezensenten nennen den Krimi ein MUST-Read! Die Autorin zeigt in der Geschichte die Heucheleien der Gesellschaft auf. Ob bei Befürworter oder Gegner der Flüchtlingspolitik. Sie selbst fühlt sich oft hilflos, als Mensch, der sich in der Mitte der Gesellschaft befindet. Und schafft es meisterhaft, ihre Kommissarin genau diese Stimmung ausdrücken zu lassen. Dabei ist der Spannungsbogen so grandios gewebt, dass Sie den Mörder nie erraten werden.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Montag, 19. Dezember 2016

Dienstag, 20. Dezember 2016

Mittwoch, 21. Dezember 2016

Donnerstag, 22. Dezember 2016

Freitag, 23. Dezember 2016

Montag, 2. Januar 2017

Nachwort

Dankeschön

Quellen

Die Autorin

Leseprobe Mord am Campus

Leseprobe Mallorquinische Leiche zum Frühstück

Susan Carner

Der Tiergartenmörder

Ein Berlin-Krimi

Der erste Fall für Rebecca Winter.

Diese Geschichte ist rein fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, Orten und Ereignissen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt, auch wenn die Orte real sind. Alle Personen sind Schöpfungen der Autorin und keine der geschilderten Begebenheiten entspricht den Tatsachen, ausgenommen die Anschläge in Berlin und Graz.

© 2020 Susan Carner

2. überarbeitete Auflage 2020

Deutsche Erstausgabe 2018

© Copyright 2018 by Susan Carner

Susan Carner c/o Autorenservice Gorischek

Am Rinnergrund 14/5

8101 Gratkorn

Austria

Covergestaltung © by Catrin Sommer www.rausch-gold.com

Bildnachweis: shutterstock_676479070

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Ausführliche Informationen finden Sie auf

www.susancarner.com

Für Marie!

Eines der traurigsten Dinge im Leben ist, dass ein Mensch viele gute Taten tun muss, um zu beweisen, dass er tüchtig ist, aber nur einen Fehler zu begehen braucht, um zu beweisen, dass er nichts taugt.

George Bernard Shaw

Prolog

Grell zuckten die Lichter durch den Tiergarten. Vermischten sich mit den auf- und abheulenden Klagelauten der Folgetonhörner zu einem unheimlichen Crescendo. Er schaute sich erschrocken um. Wo könnte er sich verkriechen? Folgte mit bangen Augen den bläulichen Schatten, die über die kahlen Bäume und Sträucher huschten. Versuchte, den tanzenden Lichtern zu entkommen. Duckte sich eng hinter eine mächtige Kastanie.

Die Lichter kamen näher, der Geräuschpegel schwoll an. Angst kroch in ihm hoch. Die Angst, die er eigentlich überwunden dachte. Und plötzlich kehrten die Bilder zurück. Bemächtigten sich seiner. Deutlich zeichneten sich die Szenen hinter seinen geschlossenen Augenlidern ab, als sie mitten in der Nacht an ihre Haustür geklopft hatten, die Schergen des Assad-Regimes. Seinen Vater gefoltert und seine Schwestern vergewaltigt. Ihn hatte die Mutter vorher in einem Schrank versteckt, hinter einer doppelten Tür. Doch er hatte den Lärm gehört, durch die Ritzen die Lichter der Taschenlampen huschen gesehen, mit dessen Strahl sie ihn gesucht und immer wieder gerufen hatten: »Wo ist dein Sohn? Wo hast du den Hurensohn versteckt?«

Wieder spürte er die feuchte Angst, die sich damals über seinen Körper ausgebreitet hatte, als er sich flach gemacht und versucht hatte, nicht zu atmen, um die Männer nicht auf sich aufmerksam zu machen. Lange schon hatte er nur mehr das Wimmern seiner Mutter und der Schwestern gehört, bis er sich endlich aus dem Versteck gewagt hatte. Geschundene Körper und den Leichnam seines Vaters vorfindend. Wütend war er. Wollte sie rächen, sich mit seinen siebzehn Jahren den Widerstandskämpfern anschließen, doch seine Mutter hatte es verboten.

»Wir haben nur noch dich. Wenn du für die Ehre stirbst, wird das deinen Vater nicht lebendig machen, deine Schwestern nicht von ihrer Schuld befreien.« Sie hatte ihn mit dem Geld, das sein Vater für Notfälle versteckt hatte, auf den langen Weg nach Europa geschickt.

Es war kein leichter Gang, seine Familie zu verlassen und in einem Land, das ihn nicht wollte, Fuß zu fassen. Plötzlich erwachsen zu sein und alleine durchs Leben zu gehen, hatten in ihm Gefühle der Unsicherheit und Verlorenheit ausgelöst. Seine behütete Kindheit nur mehr als fernen Traum empfindend, manchmal fragend, ob diese überhaupt je Wirklichkeit war. Doch er wusste, seine Mutter setzte alle Hoffnung in ihn. Er sollte sie und die Schwestern nachholen. Das spornte ihn an, ließ ihn durchhalten, wenn er wieder einmal jede Zuversicht verloren hatte. Er hatte es fast geschafft.

Lichtkegel von Taschenlampen schweiften über seinen Kopf, er kauerte sich dichter an den dicken Stamm der winterlichen Kastanie. Was wollten sie von ihm? Er zitterte heftig, trotzdem rann der Schweiß in Bächen über seinen Körper.

Stimmen näherten sich. Laute, schrille Stimmen. Sie suchten etwas. Jemanden. Ihn? Aber warum?

Da rief einer aufgeregt. Schwenkte hektisch seine Lampe. »Hierher! Hierher! Hier liegt was!«

Er hatte Angst, unbeschreibliche Angst. Was, wenn sie ihn fänden? Ihn zurückschickten nach Syrien? In das Grauen! Wenn er die enttäuschten Augen seiner Mutter auf sich gerichtet sehen würde. In dem Moment erfasste ihn der Strahl einer Taschenlampe. Blendete ihn. Jemand rief: »Da ist einer!«

Er nahm allen Mut zusammen und lief los, tief in die Dunkelheit des winterlichen Tiergartens hinein.

Montag, 19. Dezember 2016

Gedankenverloren rührte sie Honig in ihren Tee. Dabei las sie den Spruch auf ihrem Teebeutel und musste schmunzeln: Das Leben ist ein Geschenk. Erlebe seine Schönheit!

Doch gleich darauf wurde sie ernst. Und ein Seufzer kam tief aus ihrem Inneren: »Wenn das so einfach wäre!«

Als Kommissarin der Mordkommission erlebte sie zu oft, wie unschuldigen Menschen das Leben böswillig genommen wurde. Traurig blickte sie aus dem Erkerfenster im vierten Stock ihrer Altbauwohnung auf einen Kastanienbaum, dessen kahle Äste leicht im abendlichen Licht der Straßenlaternen wippten. Aus der nahen Bundesallee wehten Polizeisirenen und Martinshörner herüber. Bitte, flehte sie, nicht heute Nacht. Bitte kein Einsatz!

Sie hatte Bereitschaft. Die letzte vor den Weihnachtsfeiertagen. Wenn sie diese Nacht überstand, konnte sie womöglich ein Weihnachtsfest in Ruhe verbringen.

Weihnachten – nur noch fünf Tage bis Heiligabend. Wo war die Zeit wieder einmal hin? Jedes Jahr nahm sie sich vor, die Adventszeit intensiver zu begehen. Die Lichter, die Vorfreude ... Doch ihr Beruf machte ihr konsequent einen Strich durch die Rechnung. Um in Stimmung zu kommen, kramte sie eine Weihnachts-CD aus dem Regal und legte sie in den Player.

Bald rockte Andy Lee Lang in voller Lautstärke mit Rockin´ Christmas durch ihr Wohnzimmer. Die Wände waren dick genug, um die Nachbarn nicht zu stören und ihr Mann Eric, der diese amerikanischen Weihnachtslieder auf den Tod nicht ausstehen konnte, hatte Dienst.

Sie tanzte durch das Wohnzimmer zur Couch, darauf bedacht, den Tee nicht zu verschütten. Ließ sich auf das beige Sofa mit den vielen kuscheligen Kissen in warmen Orangetönen sinken. Sofort sprang ihr Kater Timmy auf ihren Schoß, ringelte sich ein, in dem er sich ein paar Mal um seine eigene Achse drehte, bis er sich niederließ und anfing, laut und vernehmlich zu schnurren. Zehn Jahre lebte die Tigerkatze jetzt mit ihnen. Sie hatte Timmy als Katzenbaby vor dem Ertrinkungstod auf einem alten Bauernhof im Brandenburgischen gerettet. Mit der Fernbedienung stellte sie die Musik leiser, streichelte das Köpfchen des Katers und trank ihren Tee.

Leise summte sie bei Rudolph, the Red-Nosed Reindeer mit, spürte das leichte Vibrieren auf ihrem Bauch, verursacht durch das wohlige Schnurren ihres Katers, und lächelte in sich hinein. Das waren die kleinen Momente in ihrem Leben, die ihr Kraft und Zuversicht gaben. Das Glück liegt in den kleinen Dingen, hatte mal auf einem ihrer Teebeutel gestanden. Und bei ihrem Job wusste sie das nur zu gut. Langsam begann sie sich zu entspannen, trotz der eigenartigen Unruhe in sich, die sie nicht greifen konnte. Oder kam die daher, dass sie sich ein bisschen vor Weihnachten fürchtete? Vor dem Alleinsein mit Eric? Plötzlich ließ der schrille Ton ihres Smartphones sie hochschrecken. Der Kater sprang verschreckt auf den Couchtisch.

Verdammt! Dieser Sirenenton war der Einsatzzentrale zugeordnet, ärgerte sie sich und meldete sich mürrisch mit »Rebecca Winter«.

»Guten Abend, Frau Winter. Tut mir leid für die Störung. Es gabat a Leich!« Max Gruber, gebürtiger Bayer, konnte es nicht lassen, diesen aus den Rosenheim-Cops berühmten Spruch zu verwenden. Es gab einige Kollegen, die sich deshalb beschwert hatten, aber sie lächelte darüber. Wenn es ihm half, solche Nachrichten mit diesem Satz leichter weitergeben zu können, warum nicht? Solange er nicht Tantiemen an die Serienmacher dafür bezahlen musste ...

»Wo?«, fragte sie, sofort hellwach geworden.

»Im Tiergarten, in der Nähe vom Teehaus. Spusi ist schon vor Ort.«

»Danke, Max. Ist Thomas Krüger bereits verständigt?«

»Frau Winter!«, tat er richtig beleidigt. Natürlich, wie hatte sie daran zweifeln können?

»Gut, dann mach ich mich auf den Weg. Bin in circa zehn Minuten da.« Ein Tatort, nicht weit von ihrer Wohnung entfernt. Im Herzen der Stadt.

Sie zog ihren wohlig warmen Daunenmantel an, wickelte sich einen dicken Schal um den Hals, stülpte eine selbst gestrickte boshi-Mütze über die schulterlangen, naturblonden Haare und schlüpfte in ihre UGG-Boots, die sie extra für Einsätze wie diese erstanden hatte, um ihre Zehen warm zu halten. Sie schnappte noch ihre große, schwarze Handtasche mit den langen Henkeln und schon lief sie die vier Stockwerke hinunter.

Ihr Dienstwagen parkte direkt vor ihrem Haus in der Rheingaustraße. Selten ergatterte sie einen Parkplatz so nah beim Wohnhaus. Und hatte sie mal das Glück, dann rief sie ein Einsatz garantiert wieder fort ...

Wo werde ich wohl parken, wenn ich nach Hause komme?, überlegte sie bang, während sie sich durch die Seitenstraßen des ruhigen Wohngebietes schlängelte. Kurz vor dem Bundesplatz fuhr sie auf die Bundesallee, wo sie auf mehrere Einsatzfahrzeuge stieß. Hoffentlich nichts Großes, dachte sie still. Sonst könnte sie Weihnachten total abschreiben.

Sie folgte der Bundesallee weiter in die Joachimsthaler Straße, doch auf Höhe Kantstraße war die Straße plötzlich abgesperrt. Blaulichter wohin man sah. Leicht beunruhigt setzte sie ihr Blaulicht auf das Autodach, um durch die Absperrung zu kommen. Aber ein Kollege stoppte sie. Also ließ sie das Autofenster hinunter. Lärm von vielen Einsatzfahrzeugen drang an ihr Ohr. Laut rief sie den Kollegen an, was denn hier passiert wäre. Ihr Tatort konnte es nicht sein, vom Englischen Garten war sie noch ein Stück entfernt.

»Wohl ein größerer Unfall mit einem Lastwagen!«, schrie der ihr zu, um das Getöse ringsum zu übertönen.

Also wendete sie ihr Auto, wich über die Augsburger Straße aus, weiter auf die Lietzenburger Straße. Über den Lützowplatz und die Hofjägerallee versuchte sie, zum Tiergarten vorzudringen. In Höhe Großer Stern im Kreisverkehr mit der beleuchteten Goldelse beschlich sie ein merkwürdiges, diffuses Gefühl. Immer mehr Einsatzfahrzeuge kamen von allen Seiten, allesamt brausten diese in Richtung Zoologischer Garten. Was da wohl vorgefallen war?, grübelte Rebecca.

Nachdem sie den Kreisverkehr passiert hatte, bog sie bei der dritten Ausfahrt in die Altonaer Straße ein. Auch hier Einsatzfahrzeuge, aber nur zwei. Geparkt am Straßenrand. Ihre blinkenden Lichter warfen gespenstische Schatten auf die Bäume im Tiergarten, doch die Polizeisirenen waren stumm. Sie sah Toms Auto und parkte hinter seinem ein.

Sie lief den schnurgeraden Weg, der zum Teehaus führte und fühlte sich trotz der Pistole, die in ihrem Halfter steckte, unwohl, den kaum beleuchteten Pfad unter den hohen Bäumen entlangzugehen. Es war ihr noch nie derart bewusst geworden, wie bedrückend der Tiergarten im Winter wirkte. Im Sommer, wenn das Laub der gewaltigen Bäume im Licht flirrte, hatte der Park etwas Heiteres. Sie liebte es, sich auf einer Picknickdecke unter einen der Bäume zu legen und die Seele baumeln zu lassen. Ihre Gedanken schweiften dann nach Windsor Castle, dem Ort, von dem die meisten Bäume im Tiergarten stammten, die von der Queen höchstpersönlich gespendet worden waren, um den Tiergarten nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufzuforsten. Die Berliner hatten nach dem Krieg fast alle Bäume aus dem Tiergarten für Brennmaterial abgeholzt.

Gespenstisch tauchte das Teehaus mit seinem imposanten Reetdach vor ihr auf. Schwach strömte behagliches Licht aus dem Inneren durch die Glasfenster nach draußen auf die weitläufige Terrasse. Ob sich Füchse darauf tummelten?, überlegte sie, denn diese hatte sie schon des Öfteren hier beobachtet.

Sehnsüchtig dachte sie an den gewaltigen Kamin im Gastraum. Wie gerne würde sie jetzt dort sitzen und ihren heißgeliebten Afternoon Tea genießen, für den sie eine große Schwäche hatte. Vor allem für die Gurken-Sandwiches. Ihr Mann goutierte zwar nicht, wenn sie alleine in Restaurants ging. Doch hin und wieder nahm sie sich eine Auszeit und entspannte an dem ruhigen Ort, der wie ein britischer Landsitz wirkte, obwohl er mitten in der City lag.

Seufzend kehrte Rebecca ins Hier und Jetzt zurück. Ihr Tatort konnte nicht mehr weit sein, also zog sie ihr Handy aus der Manteltasche und drückte die Kurzwahl für ihren Assistenten Thomas Krüger.

Der meldete sich sofort mit den Worten: »Wo bist du?«

»Knapp vor dem Teehaus, von der Altonaer Straße her kommend.«

»Gut, bieg beim Teehaus links in den Weg ein, der Richtung Akademie der Künste führt. Wir sind nicht zu übersehen«, merkte er sarkastisch an.

Womit er recht hatte. Sie konnte bereits den hellen Schein ausmachen, der den Tatort ausleuchtete. Tom kam ihr entgegen. Sie erkannte ihn trotz der Dunkelheit, die seine Gestalt umgab, sofort. Niemand sonst war so groß wie er, obwohl er stets leicht nach vorne gebeugt ging, um den Eindruck etwas abzumildern. Mit seinen fast zwei Metern überragte er alle, was manchmal bei Befragungen von Nachteil war, da sich Menschen schnell von seiner Größe einschüchtern ließen. Er machte dies allerdings mit seiner sanften Art wett.

»Was haben wir?«, fragte sie statt einer Begrüßung.

»Hi Becca!« Er grüßte in seinem typisch amüsierten Tonfall, doch dann fuhr er bedrückt fort. »Eine junge Frau. Anfang zwanzig.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Die Polizei!«

»Die Polizei?«, fragte Becca verwundert nach. »Gehen die hier nachts auf Streife?«

»Die Kollegen haben einen Straftäter verfolgt, der sich in den Tiergarten geflüchtet haben soll und sind dabei über die Leiche gestolpert. Das Mädchen ist noch warm.«

Eine eisige Kralle legte sich um Rebeccas Herz. Solche Tatsachen gingen ihr nach zehn Jahren Mordkommission nach wie vor nahe. Oft zu nahe. Doch sofort machte sich ein anderer Gedanke in ihrem Kopf breit. Der Tod war damit erst vor kurzem eingetreten, somit gab es gute Chancen, verwertbare Spuren zu finden. Schnell schlüpfte sie unter dem rot-weiß-roten Absperrband durch, dabei dem Kollegen zunickend, der es für sie hochzog.

Ein Zelt spannte sich bereits über den Fundort. Da waren die Kollegen von der Spurensicherung ziemlich flott, dachte sie stirnrunzelnd. Wo waren die alle so schnell hergekommen? Meist gehörte sie zu einer der Ersten, die am Tatort erschienen.

Doch abrupt stoppten ihre Gedanken. Ein Mädchen lag auf dem Rücken, direkt hinter einem Gestrüpp, vollständig mit Mantel und Schal bekleidet. Jedoch ohne Mütze. Ihre langen Haare lagen ausgebreitet um ihren Kopf. Wo war ihre Mütze? Bei der Kälte würde sie wohl nicht ohne Mütze unterwegs gewesen sein, oder? Ein absurder Gedanke, ging ihr durch den Kopf, beim Anblick einer Leiche an die fehlende Mütze zu denken. Aber irgendwie hatte sie ein beklemmendes Gefühl ...

»Haben wir eine Mütze gefunden?«, rief sie in die Runde.

»Noch nicht!«, schallte es zurück.

»Dann sucht eine«, befahl sie.

»Geht in Ordnung!«

Sie kniete sich neben die Tote, stellte ihre Handtasche neben sich. Strich einzelne Strähnen des seidigen, honigfarbenen Haares, die sich über das Gesicht gelegt hatten, zur Seite. Was für eine Verschwendung!, dachte sie bekümmert. So ein apartes Mädchen. Grell strahlten die Lichter der aufgestellten Lampen auf bildhübsche Gesichtszüge, sanft geschwungene Lippen, eine kleine, gerade Nase, große, erschrocken aufgerissene Augen. Blaugrün, wie das Meer, sinnierte Becca, bevor sie sanft mit ihrer rechten behandschuhten Hand über die Augenlider fuhr, um diese zu schließen.

»Hast du das Entsetzen in ihren Augen gesehen?«, fragte sie Tom, als sie sich erhob und zu ihm umdrehte.

Dieser nickte erschüttert. Wann würde er sich an die Toten in seinem Beruf gewöhnen? Wahrscheinlich nie. Zweifelte wie stets in so einem Fall an seiner Berufsentscheidung, wusste aber im selben Moment, dass es die richtige Wahl gewesen war. Denn er konnte den Verursacher für diesen abscheulichen Mord zur Verantwortung ziehen. Und dieser Gedanke war der einzige, der ihn nachts einschlafen ließ, wenn er wieder einmal das Gesicht einer Leiche vor sich sah.

Martin Handlos von der Spurenermittlung trat neben sie. »Guten Abend, Becca. Sie wurde hierher geschleift. Schleifspuren und der Abrieb auf ihren Stiefeln unterstützen diese These. Von der Abzweigung da vorne«, und er deutete in die entgegengesetzte Richtung des Teehauses. »So, wie es aussieht, an ihrem eigenen Schal.«

Der Schal war um ihren Hals geschlungen, und wie es den Anschein hatte, ziemlich eng. Die Enden des langen weinroten Strickschals liefen hinter dem Kopf auf beiden Seiten schnurgerade nach hinten. Becca blickte entsetzt auf die Rechtsmedizinerin, ihre beste Freundin im normalen Leben, wie Mona immer betonte.

Frau Doktor Mona Mertens nickte. »Sie wurde wahrscheinlich mit ihrem eigenen Schal erdrosselt. Das ist im Moment aber nur meine Arbeitshypothese.«

»Spuren einer Vergewaltigung oder Misshandlung?«

»So wie es derzeit aussieht, nein. Sie ist vollständig bekleidet, mit Bluse, Rock und Strumpfhose. Kein Hinweis auf eine Misshandlung, welcher Art auch immer«, meinte Mona Mertens bestimmt, aber distanziert.

Doch Becca wusste, dass das nur ihrer professionellen Art geschuldet war, denn ein Mord wie dieser ging Mona genauso unter die Haut wie ihr selbst. Mona Mertens war Rechtsmedizinerin geworden, weil sie die Verbindung zwischen Polizeiarbeit und Medizin so spannend fand. Und, weil sie sich nicht auf ein Gebiet der Medizin spezialisieren musste. In ihrem Fach musste man breit aufgestellt sein, um nichts zu übersehen. Ein ganzheitlicher Ansatz, das war ihre Devise. Becca sah das ähnlich. Deshalb verstanden sich die beiden so gut, weil sie die gleichen Denkansätze verfolgten und dementsprechend agierten. Obwohl beide berührt waren vom Anblick des toten Mädchens, der Verschwendung jungen Lebens, so waren sie schon zu lange im Geschäft, als sich persönlich damit belasten zu lassen.

»Bis wann kannst du uns Genaueres mitteilen?«

»Ich werde mich beeilen. Je früher wir verwertbare Spuren und Hinweise finden, desto mehr Chance haben wir, den Täter so schnell wie möglich zu überführen. Kann ich sie mitnehmen?«

Becca blickte noch einmal auf die am Boden ausgestreckte Leiche, die Arme, die vom Körper abstanden. Sie nahm das Bild in sich auf und stellte sich vor, wie das Mädchen hierher geschleppt worden war. War es schwierig, sie die paar Meter vom matt beleuchteten Weg hinter diese Büsche zu ziehen? Konnte dies auch eine Frau bewerkstelligen? Oder war der Täter ein Mann? Ein kräftiger Mann?

»Ich brauche ihr Gewicht. Möchte wissen, wie strapaziös es war, sie hierher zu schleifen«, merkte sie mit einem Blick auf Mona Mertens an.

Diese nickte. Und veranlasste, dass der tote Körper des Mädchens in die Rechtsmedizin gebracht wurde.

Das war wieder so ein Tag, seufzte Mona Mertens innerlich, als sie zuschaute, wie das tote Mädchen in den Sarg aus Aluminium gelegt wurde. In der Früh aufgewacht, sich auf das Weihnachtsfest gefreut und jetzt das. Das war die Herausforderung an ihrem Job, das Nicht-Wissen, was auf einen zukommen würde. Doch Fälle wie diesen verabscheute sie. Spürte trotzdem die Energie, die sie erfasste, als der Deckel des Sarges geschlossen wurde. Denn mit ihrer Arbeit konnte sie den Verantwortlichen hinter Gitter bringen. Gründliche Gutachten waren wichtig, um die Täter zu überführen. Und damit half sie den Toten. Das war ihre Motivation. Sie drehte sich abrupt um und verließ ohne ein Grußwort den Tatort.

Becca schaute ihr hinterher und wusste, dass Mona nicht ruhen würde, bis sie den Täter überführt hatten. Dass sie die ganze Nacht damit verbringen würde, die Spuren an dem Mädchen zu sichern. Meistens nahm Becca direkt an der Sektion teil. Doch sie hatte eine Übereinkunft mit Mona, dass sie bei Nachtsektionen nicht anwesend war, um am nächsten Morgen mit frischen Erkenntnissen und ausgeschlafen die Ermittlungen aufnehmen zu können.

Ein Räuspern ließ Becca aufblicken.

Martin Handlos streckte ihr ohne Worte einen deutschen Personalausweis hin. »Tabea van Horten«, las sie. Einundzwanzig Jahre jung. Eindeutig das tote Mädchen. Wohnhaft in Dahlem, bester Berliner Bezirk.

»Was macht sie dann abends hier im Tiergarten?«, wunderte sich Becca.

»Werden wir herausfinden«, kam es grimmig von Tom.

Sie legte ihre Hand auf seinen rechten Oberarm. Sie wusste, dass ihm solche Anblicke nahegingen. Ihr auch, doch sie war schon länger mit dem Grauen befasst. Tom war gerade Dreißig geworden, glaubte noch an das Gute im Menschen. »Wir kriegen den Teufel«, flüsterte sie ihm zu.

An Martin gewandt wollte sie wissen: »Haben wir ihr Handy?«

»Wir haben ein Smartphone gefunden, vorne, bei der Abzweigung. Wird höchstwahrscheinlich ihres sein«, vermutete Martin.

»Können wir es auswerten?«

»Leider nein. Die Sperre ist aktiv. Aber ich kümmere mich darum.«

Sie nickte. Mit Martin arbeitete sie gerne. Er war gründlich, schnell und einfallsreich.

»Kann ich mit einem der Kollegen sprechen, die sie gefunden haben?«, wandte sie sich wieder Tom zu.

»Dort drüben«, zeigte dieser auf einen jungen Polizisten, der erschüttert hinter der Absperrung stand und das Ganze fassungslos beobachtete. Sie gingen zu ihm hin.

»Klaus Peter Bauer«, stellte er sich vor. »Bin neu. Und dann gleich sowas.«

»Warum waren Sie hier unterwegs?«

»Wir haben einen Funkspruch erhalten, dass ein Verdächtiger in den Tiergarten geflohen ist. Also sind wir ihm nach. Und dabei bin ich buchstäblich über das Mädchen gestolpert«, schüttelte er sich.

»Wir?«

»Ja, wir waren eine ganze Einsatztruppe. Wir sind gezielt zu einem Einsatz gerufen worden, um einen Flüchtigen zu stellen.«

»Wo sind die Kollegen jetzt?«, schaute sich Becca um.

»Sind alle wieder abgezogen worden. Scheint da irgendwo einen größeren Fall zu geben. Mich haben sie zur Bewachung der ... des Mädchens hiergelassen.« Er schluckte schwer, bevor er fortfuhr. »Soviel ich weiß, haben die Kollegen einen Mann festgenommen. Ob der aber damit«, und zeigte auf den Tatort, »was zu tun hat, kann ich nicht sagen.«

»Haben Sie etwas beobachtet?« Neugierig betrachtete Becca den jungen Kollegen. Sie spürte förmlich, wie leid es ihm tat, dass er keine Hinweise geben konnte.

Klaus Peter schüttelte frustriert den Kopf.

»Okay, danke vorerst. Tom, kannst du dich erkundigen, wer verhaftet worden ist und wo derjenige ist?«

»Geht klar, Chefin!« Dabei tippte er mit der rechten Hand an seinen Kopf, wie bei einem militärischen Gruß.

Becca seufzte. Sie sehnte sich nach ihrem gemütlichen Bett, wollte nur mehr die Decke über den Kopf ziehen und das Bild dieses toten Mädchens aus ihrem Gedächtnis löschen. Doch zuerst musste sie den Staatsanwalt verständigen. Also zog sie mit klammen Fingern ihr Handy aus der Manteltasche, denn ihre schicken Lederhandschuhe schützten nicht wirklich vor der beißenden Kälte. Sie wunderte sich kurz, dass drei verpasste Anrufe ihrer Eltern auf dem Display aufschienen und zahlreiche WhatsApp-Nachrichten eingegangen waren. Die müssen warten, seufzte sie innerlich und wählte die Nummer von Oberstaatsanwalt Michael Reise. Wahrscheinlich klingle ich ihn aus dem Schlaf, sinnierte Becca, während sie die Klingeltöne zählte.

»Zu so später Stunde kann das kein erfreulicher Anruf sein«, hörte sie nach dem siebten Klingelton die so vertraute Baritonstimme. Aus dem Hintergrund drangen gedämpfte Geräusche. Also war der Herr Staatsanwalt noch unterwegs. Privat oder beruflich?, überlegte sie neugierig. Doch was ging es sie an?

»Entschuldigen Sie die Störung zu dieser späten Uhrzeit. Aber wir haben die Leiche einer jungen Frau im Tiergarten gefunden.« Kurz und bündig schilderte Becca die Umstände.

»Wissen wir, wer sie ist?« Genauso kurz seine Fragen. Immer die gleiche Routine.

»Es handelt sich ihrem Ausweis nach um Tabea van Horten. Wohnhaft in Dahlem. Ein Mädchen aus gutbürgerlichem Haus, würde ich sagen.«

»Wie kommt dann dieses Mädchen als Leiche in den Tiergarten?« Sarkasmus war aus seiner Stimme zu hören.

»Das ist die Eine-Million-Euro-Frage«, seufzte Becca.

Leise lachte der Staatsanwalt auf.

Sie mochte sein Lachen und das Geplänkel, das immer wieder zwischen ihnen ablief. So ließen sich die dunklen Geschehnisse, mit denen sie konfrontiert waren, leichter aushalten.

»Ich werde mich morgen früh mit den Eltern unterhalten, wenn Frau Doktor Mertens eindeutig ihre Identität festgestellt hat. Vielleicht können wir dann schon mehr sagen. Im Laufe des Tages komme ich bei Ihnen vorbei, ja?«

Das »Ja« war eher rhetorisch. Sie wusste, dass er sie lieber früher als später sprechen wollte. Doch sie bevorzugte das Vorhandensein von konkreten Anhaltspunkten, die sie diskutieren konnten.

»Wie Sie meinen, Frau Kollegin. Sie halten mich auf dem Laufenden.« Sie konnte das zustimmende Lächeln in seiner Stimme hören. Er wusste, wie sie tickte. Seit Jahren arbeiteten sie Hand in Hand, da lernte man sich zwangsläufig kennen und den anderen einschätzen.

»Wie immer, Herr Staatsanwalt«, meinte sie vergnügt und freute sich, ihn morgen zu treffen. »Danke und nun eine angenehme Nachtruhe.«

»Die werd´ ich wohl nicht haben«, kam es betrübt aus dem Hörer. In einer so bedrückten Stimmlage, dass Becca hellhörig wurde. »Haben Sie noch nichts von dem Vorfall am Breitscheidplatz gehört?«

»Welchen Vorfall?« Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Wie immer, wenn sie spürte, dass Gefahr drohte oder Ungemach.

»Ein Lastwagen ist auf den Weihnachtsmarkt gerast. Noch weiß man nicht, ob es sich dabei um einen Unfall oder einen Anschlag handelt. Alle verfügbaren Kräfte sind vor Ort. Nach dem Unfallfahrer wird gefahndet.«

Jetzt kroch Angst über ihren Rücken. Ihr Mann Eric hatte als Mitglied des Sondereinsatzkommandos Bereitschaftsdienst.

»Oh Gott, deshalb die vielen Sirenen. Ich habe mich gewundert, was da los ist.« Sie war überrascht, dass keiner der Kollegen etwas verlauten hatte lassen. Aber wahrscheinlich vermuteten diese, dass sie durch Eric Bescheid wusste.

»Ist ... ist jemandem von uns was passiert?« Sie stotterte fast in ihrer Angst um ihren Mann.

»Nein, keine Sorge, allen geht es gut!« Warm klang die Stimme des Staatsanwaltes. Er wusste, wem ihre Sorge galt. Sprach es aber nicht an.

Reise hörte Becca Winter erleichtert aufatmen. Eine kleine Pause trat ein. Da kam ihm ein Gedanke. »Vielleicht hängt ja Ihr Fall mit dem Vorfall zusammen? Dass der Täter auf der Flucht ...«

»Das ist möglich. Danke für den Hinweis. Wir werden dem nachgehen«, und sie drückte das Gespräch weg.

Verstört ging sie zurück zu Tom. »Hast du von dem Ereignis am Breitscheidplatz gehört?«, fragte sie beklommen.

»Nix Genaues. Aber deshalb waren all die Kollegen so schnell vor Ort, weil sie einen angeblich Verdächtigen verfolgten, der in Richtung Tiergarten geflohen sein soll.«

»Denkst du, die beiden Vorfälle hängen zusammen?«

»Keine Ahnung. Solange wir nicht wissen, was wirklich los ist, sind das nur Spekulationen.«

»Lass uns ins Präsidium fahren und die Sache klären, ja?«

Er nickte. »Die Kollegen haben einen Mann in der Nähe unseres Tatorts verhaftet. Er erwartet uns.«

Sie machten sich auf den Weg, als ein Kollege der Spurensicherung ihr nachrief: »Frau Winter, Ihre Handtasche!«

Ihre Henkeltasche war zu ihrem Markenzeichen geworden. Am Anfang von den Kollegen belächelt. Aber nun akzeptiert. Und immer gut bewacht. Lächelnd bedankte sie sich bei dem Kollegen.

»Was würdest du nur ohne deine Handtasche anfangen?«, lästerte Tom.

»Du weißt, sie hat schon gute Dienste geleistet«, konterte sie.

»Stimmt. Wir sind für alle Fälle gerüstet«, grinste er.

Ein scheeler Seitenblick seiner Chefin ließ ihn milde fortfahren. »Ja, du hast ja recht. Ist fast wie ein BUKO!«

»Ein ... was?« Ein irritierter Blick von schräg unten traf Tom.

»Ein BUKO. Ein Beischlaf-Utensilien-Koffer!« Ein herzliches Lachen folgte.

Sie boxte ihm erbost in den Oberarm. »Ich habe da meine Handschellen drinnen, Wattestäbchen, Behälter für DNA-Proben ...«

»Ja, ja, ich weiß. Die Lupe nicht zu vergessen.« Wieder grinste er wie ein Lausbub.

Sie schmunzelte. Und dachte an eine Szene ihrer Lieblingsserie. Kate Beckett hatte doch glatt an einem Tatort eine Lupe zur Hand gehabt. Dabei trug sie nichts als eine enge Hose, knappes Shirt und eine kurze Lederjacke ... Sie wunderte sich oft, wie wenig wirklichkeitsnah solche Serien waren. Trotzdem stand sie auf Castle. Vor allem mochte sie seinen Humor und das Einverständnis bei Ermittlungsarbeiten zwischen ihm und Kate. Das war wie bei Tom und ihr.

Auf dem Weg ins Präsidium wählte sie mehrmals sorgenvoll die Handynummer ihres Mannes. Aber immer kam nur die stereotype Ansage: Diese Nummer ist derzeit nicht erreichbar!

Heftige Diskussionen empfingen sie im Besprechungsraum des Präsidiums. Viele Kollegen, uniformierte und nicht uniformierte, waren anwesend, auch solche, die nicht im Dienst waren. Also hatte sich der Unfall auf dem Weihnachtsmarkt herumgesprochen. Becca fing Satzfetzen wie »Scheißflüchtlinge! Hängen sollte man alle!«, oder »Schickt sie dorthin, wo sie hergekommen sind!« auf.

»Was ist los?«, fragte sie in die angespannte Atmosphäre hinein.

»So ein Scheißflüchtling hat einen Lastwagen in die Menschenmenge auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gelenkt«, spie ihr Herbert Keller, ein Kollege aus dem Streifendienst, zu.

Erschrocken blickte sie in die Runde. »Und?«

Ihr Kollege Ralf Schmidt, ein Mordermittler kurz vor dem Ruhestand, bemerkte sachlich: »Noch ist nichts Konkretes bekannt. Ein Lastwagen soll von der Hardenbergstraße kommend ungebremst in eine Budengasse des Weihnachtsmarktes an der Gedächtniskirche gefahren sein. Buden sind zerstört worden. Schlimmer ist aber, dass zahlreiche Besucher überrollt worden sind.

Angeblich gibt es Tote und Schwerverletzte. Alle verfügbaren Kräfte sind vor Ort. Und bereits alle Politiker Berlins und sämtliche Journalisten.« Die letzten Worte kamen etwas gallig, denn Ralfs Erfahrungen mit Journalisten waren nicht die besten.

»Wir haben schon einen festgenommen, der verdächtig wird, den Lastwagen gelenkt zu haben«, erklang triumphierend die Stimme Herbert Kellers. »Ein Zeuge hat uns auf einen Mann hingewiesen, der aus dem Lastwagen geflüchtet sein soll, als der LKW auf der Budapester Straße zum Stehen gekommen ist. Den haben wir bei der Siegessäule gestellt. Irgend so ein dunkler Typ.«

»Und ihr seid sicher, dass das derjenige ist, der den Lastwagen gefahren hat?« Es war Tom, der sich erkundigte.

»Klar. Der Bürgermeister hat schon davon gesprochen, dass die Situation unter Kontrolle ist. Warum sonst wäre der Typ auch vor uns davongelaufen?«

»Es ist noch nicht geklärt, ob es ein Anschlag oder ein Unfall war. Unser diensthabender Polizeiführer denkt, es war eher eine Amok-Fahrt«, merkte Schmidt an. Man sah dem Kollegen an, wie nahe ihm die Sache ging. Nicht nur ihm. Alle wirkten bedrückt, verunsichert, keiner wusste genau, was eigentlich passiert war. Bei den einen zeigten sich Sorgenfalten im Gesicht, andere wirkten hitzig und aufgebracht.

Keller gehörte zur lauten Truppe, die sich keine Kommentare verkneifen konnten. »Wie auch immer. Er wird schon verhört und Kollegen sind unterwegs in seine Flüchtlingsunterkunft in die Hangars am ehemaligen Flughafen Tempelhof.« Er klang zufrieden, seinem Gesichtsausdruck war allerdings abzulesen, was er gerne mit dem Verdächtigen angestellt hätte.

Becca hatte mit wachsender Sorge zugehört. »Könnte der auch für den Mord an der jungen Frau im Tiergarten verantwortlich sein? Vielleicht kreuzte sie unabsichtlich seinen Fluchtweg?«, fragte sie in die Runde.

»Möglich«, äußerte sich Keller erneut. »Aber nicht wahrscheinlich.«

»Ach«, meinte Becca süffisant, »sind Sie jetzt schon Profiler?«

»Nee, aber ganz in der Nähe der Toten haben wir einen anderen Araber dingfest gemacht. Der hat sich vor Angst in die Hosen g´schissen«, lachte er niederträchtig. »Des is Ihr Täter, Frau Kommissarin!«, klang er sehr bestimmt. »Auch so ein dahergelaufener Moslem. Hat sich wahrscheinlich geärgert, dass eine Frau nachts allein unterwegs war. Oder er hat sie angemacht. Und sie wollte nicht. Wir wissen ja, wie scharf diese Araber auf unsere Weiber sind!«

»Ach, wissen wir das?«, klang Becca verächtlich. »Niemand wird hier wegen seiner Herkunft, seiner Hautfarbe oder seiner Religion vorverurteilt! Ist das klar?« Ihre zornigen Augen blitzten nur so.

Herbert Keller duckte sich förmlich unter dem Blick weg.

»Wenn mir noch einer mit solchen Argumenten kommt, dann ...«, vollendete sie den Satz nicht. »So, und jetzt bringt mir den Mann, damit ich mich mit ihm unterhalten kann.«

Tom bewunderte sie, denn der letzte Satz war wieder völlig ruhig gesprochen und zeigte die besonnene Rebecca Winter, Hauptkommissarin der fünften Mordkommission, so, wie er sie kannte. Dass sie richtig zornig werden konnte, hatte er noch nicht oft erlebt.

»Du musst ihnen allerdings zugutehalten, dass sie es seit der Flüchtlingskrise nicht wirklich leicht haben«, versuchte er, für seine Kollegen eine Entschuldigung zu finden.

»Aber das gibt ihnen nicht das Recht ...«

»Schon gut, schon gut«, fiel ihr Robert Koch, ein anderer Mordermittler, ins Wort. »Doch du musst zugeben, dass diese Flüchtlinge Unruhe in unseren Alltag bringen. Schau dich um, nicht nur hier in Berlin. Es herrscht eine angespannte Unruhe. Denk an die sexuellen Übergriffe zu Silvester am Kölner Hauptbahnhof. Der Bevölkerung kommen immer mehr Bedenken, ob wir das wirklich schaffen. Die Integration nämlich. Und dann die Anschläge weltweit. Wetten, hinter diesem Massaker heute Abend steckt ein Flüchtling?«

Ein strafender Blick aus Beccas Augen, welche jetzt eisblau waren, traf ihn. Ihre Iris hatte die Fähigkeit, sich je nach Gefühlslage zu verfärben. »Erstens haben wir noch keine gesicherten Erkenntnisse über den Vorfall heute Abend. Und zweitens sind es nicht die Flüchtlinge, die Unruhe bringen. Es sind Menschen oder Mächte, die unser Land destabilisieren wollen. Nicht von ungefähr sind zur selben Zeit Tausende aufgebrochen, um nach Deutschland zu kommen. Und wie kann man am besten Unsicherheit verbreiten? Indem einerseits die Angst vor Fremden ausgenutzt wird und anderseits Flüchtlinge angestachelt werden, solche Straftaten zu begehen!«

Bevor sie ihre Argumente weiter ausführen konnte, wurde sie von einem jungen Kollegen unterbrochen, der ihr mitteilte, der Verdächtige sei in Vernehmungsraum B gebracht worden. Becca bedankte sich, zeigte mit dem Kopf Richtung Ausgang und fixierte dabei Toms Augen. Der nickte und folgte ihr mit einem Kaffeebecher in der Hand.

Als sie den Vernehmungsraum betraten, schrie Becca entsetzt auf: »Was ist denn da passiert?«

Eine zerlumpte Gestalt mit blau geschwollenem Gesicht und Blutkrusten an den Schläfen und aufgeplatzten Lippen stand verkrümmt vor ihr. Sie trat näher, schob sein zerfetztes Hemd höher, entdeckte rote Abdrücke.

»Der ist auf der Flucht hing´fallen«, ließ Herbert Keller hämisch fallen und trottete von dannen.

»Das wird ein Nachspiel haben, Keller, ist Ihnen das klar?« Laut hallten diese Worte durch den Raum.

»Ich krieg´ eine Medaille, weil ich das Schwein eing´fangen hab´«, kam es über die Schulter zurück, bevor er lautstark die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ.

Dienstag, 20. Dezember 2016

Rebecca Winter stand mit Tom Krüger vor der Haustür der van Hortens. Ein geschmackvoller Weihnachtskranz, an dem weiße und rote Weihnachtskugeln baumelten, zierte die Tür. Jetzt kam das Schlimmste in ihrem Job. Sie musste Eltern die Nachricht vom Tod ihres Kindes überbringen. Unruhig zupfte sie an den Henkeln ihrer Tasche herum. Mit ihrem Klingeln begann der Albtraum für diese Menschen. Manche schafften es, ihr Leben weiterzuleben wie bisher, andere gingen daran kaputt. Sie hoffte für die van Hortens, das sie zur ersteren Sorte gehörten.

Sie nahm einen tiefen Atemzug, dann drückte sie den Klingelknopf. Ein altmodischer Knopf, keine moderne Anlage, dachte sie überrascht. Denn die zweigeschossige Villa, die zurückgesetzt von der Straße lag, und der gepflegte Garten, den sie durchquert hatten, ließen auf eine wohlhabende Familie schließen. Der Klang, der nun durch das Haus schallte, erinnerte Becca an den Klingelton bei ihren Großeltern. Unwillkürlich musste sie lächeln und freute sich einen kurzen Moment, dass nicht überall modernisiert wurde, sondern noch hin und wieder Reminiszenzen an die Vergangenheit zu finden waren.

Ein attraktiver Mann Ende Vierzig mit kurzen dunklen, von feinen Silberstreifen durchzogenen Haaren, öffnete. Er war in eleganten beigen Freizeithosen und einem blauen Hemd mit offenem Kragen gekleidet, einen dunkelblauen Pulli hatte er lässig über die Schultern geworfen.

»Ja, bitte?«, fragte er höflich und in seinem sympathischen Gesicht stand ein Lächeln.

Dieses Lächeln wird gleich verschwunden sein, schoss es Becca bekümmert durch den Kopf. Sie schloss kurz die Augen, dann erklärte sie betont freundlich, während sie ihren Ausweis zeigte: »Rebecca Winter, Kriminalpolizei. Mein Kollege Krüger. Herr van Horten?«

Dieser nickte überrascht.

»Dürfen wir hereinkommen?«

»Kriminalpolizei? Es ist doch nichts mit Bea?«, sorgte sich der Mann sofort und öffnete die Tür einladend.

Während Rebecca Winter über die Schwelle trat, fragte sie, Herrn van Horten aufmerksam betrachtend: »Warum fragen Sie nach Bea?«

»Sie geht seit gestern Abend, seit dem Anschlag am Breitscheidplatz, nicht an ihr Handy. Wir versuchen die ganze Zeit, sie zu erreichen, und sind in Sorge, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte.«

Mittlerweile war klar, dass es kein Unfall war, sondern dass der LKW vorsätzlich in eine Menschenmenge gesteuert worden war. Ein gemeiner Anschlag auf friedlich feiernde Menschen. Zwölf Todesopfer waren zu beklagen. Zahlreiche Schwerverletzte lagen in den Berliner Krankenhäusern, einige kämpften um ihr Leben. Bis acht Uhr in der Früh hatte das SEK die Flüchtlingsunterkunft im früheren Flughafen Tempelhof durchsucht, wo der festgenommene Verdächtige lebte.

Rebecca hatte trotz vieler Versuche nach wie vor nichts von ihrem Mann gehört. Sie ging davon aus, dass er beim Einsatz nicht die Zeit gefunden hatte, sie zurückzurufen. Dafür hatte sie zahlreiche WhatsApp-Nachrichten beantwortet, die sich alle um sie besorgt gezeigt hatten. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viele Mitteilungen auf einmal erhalten. Sogar ihr Neffe hatte versucht, sie zu erreichen. Was sie richtig gerührt hatte.

Ihre Eltern hatte sie noch in der Nacht zurückgerufen, denn die hatten unzählige Benachrichtigungen auf ihrer Mailbox hinterlassen. Für ihre Mutter musste die Ungewissheit besonders schlimm gewesen sein, denn sie hatte im Juni 2015 die Amokfahrt in der Grazer Innenstadt nur dadurch überlebt, dass sie einen beherzten Sprung zur Seite gemacht hatte, als der SUV gezielt auf sie zugesteuert war. Sie hatte sich dabei zwar das Bein gebrochen, war aber sonst unverletzt geblieben. Doch der Schock saß nach wie vor tief. Damals hatte noch niemand sofort »Terroranschlag« gerufen.

Ihre Mutter hatte vor Erleichterung geweint, als sie Beccas Stimme gehört hatte. »Gott sei Dank!« war das Einzige, was sie hervorgebracht hatte. Wie viele Mütter, wie viele Väter, wie viele Kinder hatten ebenfalls gebangt, ob ihre Lieben unter den Opfern waren? Weltweit, denn Berlin war in der Vorweihnachtszeit ein beliebtes Reiseziel. Und der Weihnachtsmarkt im Herzen der City-West erst recht. Was für eine perfide Idee, diesen Ort für einen Anschlag auszuwählen.

»War Ihre Tochter denn gestern auf dem Breitscheidplatz?«

»Das wissen wir nicht. Es könnte allerdings möglich sein. Sie geht in der Adventszeit öfter nach der Arbeit mit Kollegen dorthin. Er liegt auf ihrem Heimweg. Aber sagen Sie schon, was wollen Sie von uns?«, fragte Herr van Horten drängend.

Mittlerweile war eine besorgt aussehende Frau Anfang Vierzig an seine Seite getreten. Becca wusste sofort, dass es die Mutter der Toten war. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Dasselbe sanft schimmernde honigfarbene Haar, das zu einem weichen Knoten geschlungen war. Einzelne Strähnen hatten sich gelöst und rahmten ihr ausgesprochen apartes Gesicht ein. Ein paar Fältchen um die Augenwinkel, ein etwas härterer Zug um den Mund machten den Unterschied aus, doch die sportliche Figur könnte auch von einer Zwanzigjährigen sein.

Sie stellte sich nah zu ihrem Mann, der schützend den Arm um sie legte, als wüsste er, welches Unglück gleich über sie hereinbrechen würde. Beide blickten mit wachsender Sorge auf die Kommissarin.

Diese räusperte sich. Richtete ihren Blick auf eine hohe, breite Glasvase, gefüllt mit Orangen, die auf einem Tischchen neben einem Treppenaufgang stand, als würden diese Orangen ihr die Kraft für das Folgende geben. »Es tut mir wahnsinnig leid, Ihnen diese Nachricht überbringen zu müssen ...«

Weiter kam sie nicht. Tabeas Mutter unterbrach sie mit einem entsetzten Schrei. »Nein«, krümmte sie sich, »nein, nicht Bea. Bitte sagen Sie mir, dass Bea nicht bei dem Anschlag ums Leben gekommen ist.«

Adrian van Horten hatte seine Frau aufgefangen, sie hing wie ein Mehlsack in seinen Armen. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Die Fältchen um die Augen und den Mund traten nun deutlich hervor. Sie war innerhalb von Sekunden um Jahre gealtert.

Behutsam gab Becca Auskunft. Ihren Blick jetzt wieder aufmerksam auf die Eltern gerichtet. »Es war nicht der Anschlag, der sie getötet hat. Ihre Tochter wurde gestern in der Nähe des Teehauses im Englischen Garten tot aufgefunden.«

»Sind Sie sicher, dass es Tabea ist?«, erklang eine dünne, weibliche Stimme, in der noch Hoffnung schwang.

Becca nickte nur. Mona hatte sie am Morgen informiert, dass der Zahnstatus mit Tabea van Horten übereinstimmte. Sofort nach dieser Nachricht waren sie losgefahren, um die Eltern zu benachrichtigen.

»Was ist passiert?«, fragte Herr van Horten tonlos.

»Das wissen wir noch nicht. Die Ermittlungen stehen erst am Anfang.«

»Wurde sie ...« Adrian van Horten konnte nicht weitersprechen.

Becca sah das Entsetzen in seinen Augen, wusste, woran er dachte.

»Wie gesagt, die Untersuchungen sind gerade angelaufen. Doch so, wie es aussieht, eher nicht. Wir haben sie vollständig bekleidet gefunden.«

Sie wusste, dass diese Nachricht kein Trost war, trotzdem den Schmerz etwas erträglicher machte, wenn sich Eltern nicht vorstellen mussten, ob ihre Tochter sexuell missbraucht worden war.

»Allerdings liegt eindeutig Fremdverschulden vor. Wir haben einen Mann namens Said Abdel verhaftet, der vor meinen Kollegen geflüchtet ist, als diese das Gelände nach dem Attentäter von gestern Abend durchsuchten.«

»Said?«, kam es gedehnt von Frau van Horten. »Da haben Sie den Falschen. Er liebt Bea! Said ist ein so sanfter Mensch, der keiner Fliege etwas zu Leide tun könnte. Er hat das Grauen selbst erlebt. Nein, Said ist nicht Ihr Täter.« Sie hatte sich gefangen, stand wieder aufrecht neben ihrem Mann.

Und trat zur Verblüffung der Kommissarin für jemanden ein, der im Verdacht stand, ihre Tochter getötet zu haben. Bemerkenswerte Frau, durchzuckte es Becca.

»Können Sie mir etwas über die Beziehung Ihrer Tochter zu Said erzählen? Und was sie zu später Stunde im Tiergarten wollte? Es mag Ihnen hart vorkommen, aber die ersten Stunden sind entscheidend, daher kann ich Ihnen keine Gnadenfrist einräumen«, erklärte Becca mit entschuldigendem Lächeln.

»Bea hat seit kurzem eine Wohnung in der Bartningallee, wo sie mit Said zusammenlebt ... lebte«, verbesserte sich Herr van Horten und schluckte schwer.

»Aber sie ist noch hier bei Ihnen gemeldet?« Es überraschte Becca, denn das Gesetz sah vor, sich spätestens nach der ersten Übernachtung im neuen Heim umzumelden.

»Sie wissen doch, wie schwierig es in Berlin ist, einen Termin im Bürgeramt zu bekommen. Bea hat einen für Mitte Januar.«

»Ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Mädchen aus bestem Haus mit einem Flüchtling zusammenlebt?« Man sah Becca ihre Verwunderung deutlich an.

»Warum?«, begehrte Hélène van Horten auf. »Wir haben unsere Tochter zu Offenheit und Toleranz erzogen, nicht zu Engstirnigkeit und kleinbürgerlichem Denken. Jeder Mensch hat verdient, geachtet und mit Respekt behandelt zu werden, gleich, wo er herkommt oder welche Umstände ihn in unser Land gespült haben. Bea und Said haben sich bei der Flüchtlingshilfe kennengelernt, bei der Bea ehrenamtlich tätig ist. Sie war so berührt von seiner Geschichte. Ein junger Mann, der in seiner Heimat Politikwissenschaften studieren wollte und hier jetzt das Dasein eines unterprivilegierten Flüchtlings führen musste. Sie hat sich für ihn eingesetzt, ihm ermöglicht, dass er die Berechtigung für ein Studium in Berlin erhalten hat, mit ihm deutsch gepaukt. Und sich dabei verliebt ...« Ihr brach fast die Stimme, doch sie fing sich wieder.

»Said ist ein warmherziger und liebenswürdiger junger Mann, da könnte sich manch Deutscher eine Scheibe abschneiden, zum Beispiel Lars«, meinte sie verächtlich.

»Wer ist Lars?«, hakte Becca ein.

»Lars Aschenbach, Beas erste Liebe. Er ist der große Bruder ihrer besten Freundin Emily. Eine Freundin, seit sie gemeinsam die Erich-Kästner-Grundschule hier um die Ecke besucht haben. Bea war jahrelang unsterblich in ihn verliebt, hat Lars regelrecht angehimmelt. Eine richtige Teenager-Schwärmerei. Doch er hat sie nie beachtet. Nur die lästige Freundin der kleinen Schwester in ihr gesehen. Aber auf ihrem Abschlussball ... seit damals waren sie ein Paar. Bis Said aufgetaucht ist.«

»Hat sich Bea von Lars getrennt?«

»Ja, sie hat kurz und bündig die Beziehung beendet, nachdem sie ihre Gefühle für Said entdeckt hatte. Bea spielt mit offenen Karten, sie will keine Heimlichtuereien. Sie hatte gehofft, mit Lars befreundet bleiben zu können«, endete sie traurig.

»Aber Lars hat das nicht so gesehen?«, fragte Becca taktvoll nach.

»Nein«, antwortete Beas Vater. »Er hat ihr vorgeworfen, sie verletze seine Ehre, wenn sie sich mit einem wie Said abgibt. Das hat Bea tief getroffen. Und sogar ihre Freundschaft zu Emily beeinträchtigt, was Bea fast noch mehr aufgewühlt hat.« Diesmal endete der Vater traurig.

»Können Sie mir sagen, warum das Ende der Beziehung zu Lars die Freundschaft Ihrer Tochter mit Emily getrübt hat?«

»Leider nein, darüber hat sie sich ausgeschwiegen. Aber wir spürten, dass sie einen inneren Kampf austrug.«

»Wie können wir Emily Aschenbach erreichen?«

»Sie wohnt gleich drei Häuser weiter. In der 31.«

Bevor Becca sich bedanken konnte, erklang die besorgte Stimme von Hélène van Horten.

»Wir müssen für Said einen Rechtsanwalt besorgen. Was meinst du, Adrian? Die Vorurteile in diesem Land nehmen derart überhand, dass er es schwer haben wird, seine Unschuld zu beweisen. Denn man kann immer Indizien finden, wenn man schnell einen Täter braucht. Und ich fürchte, das könnte hier der Fall sein.« Der letzte Satz klang bitter. Sie stellte sich knapp vor Becca, musste ihren Kopf heben, da die Kommissarin fast einen Kopf größer war. »Versprechen Sie mir, nicht aufzugeben, bis Sie den tatsächlichen Mörder meiner Tochter haben!«, flehte Beas Mutter händeringend.

Becca fühlte mit ihr. Trotzdem gab sie bei Mordermittlungen prinzipiell keine Versprechen ab. Doch plötzlich hörte sie sich sagen: »Ich verspreche Ihnen, alles in meiner Macht stehende zu tun, um den wahren Schuldigen zu überführen.«

Tom, der bisher schweigend gelauscht hatte, schaute verblüfft auf seine Vorgesetzte. Die kühle, stets zurückhaltende Ermittlerin zeigte Gefühle. Das zweite Mal bei diesem Fall. Das war untypisch. Er runzelte leicht die Stirn.

Becca glaubte hoffentlich nicht wirklich, dass dieser Said unschuldig sein sollte? Das wäre doch gelacht. Bei den Beweisen. Und seine dunklen, verschlagenen Blicke, die er Becca bei der Befragung gestern Abend zugeworfen hatte. Er hatte einen anderen Eindruck über diesen Mann gewonnen, als die van Hortens ihn soeben geschildert hatten. Keinen einzigen Ton hatte Said von sich gegeben, aber Becca mit seinen Blicken aufmerksam unter den geschwollenen Augenlidern verfolgt, die nur wissen wollte, wer er sei und was er im Tiergarten zu suchen hatte. Doch er hatte beharrlich geschwiegen. Seine ganze Körperhaltung hatte Abwehr ausgedrückt. Sie hatten die Befragung schließlich abgebrochen und Said in ärztliche Betreuung übergeben.

Danach hatte Becca eine interne Beschwerde wegen der Verletzungen des Verdächtigen eingereicht. Tom hatte zwar versucht, sie davon abzubringen, da es für keine gute Stimmung unter den Kollegen sorgen würde. Doch Becca hatte darauf bestanden.

Adrian van Horten schaltete sich ein. »Ich pflichte meiner Frau bei. Said braucht die bestmögliche Verteidigung, um nicht das Bauernopfer zu werden. Ich rufe Peter an«, und damit entfernte er sich rasch.

»Peter?« Becca richtete einen fragenden Blick auf Frau van Horten.

»Peter ist ein Freund von uns. Der Vater von Lars und Emily. Der beste Strafverteidiger der Stadt.«

Becca erinnerte sich. Sie kannte Peter Aschenbach, wenn auch nicht persönlich, aber ihm eilte der Ruf voraus, fast jeden Mandanten frei zu bekommen.

Beas Mutter hatte indes weiterberichtet: »Er ist ein Vorbild für Bea und ihr Patenonkel. Deshalb studiert sie Rechtswissenschaften an der Humboldt Universität. Bea absolviert in seiner Kanzlei zur Zeit ein Praktikum ...« Sie stockte. Fuhr dann im Flüsterton fort: »Hat dort ein Praktikum absolviert ...« Danach versagte ihre Stimme endgültig und ein herzzerreißendes Schluchzen brach aus ihr hervor.

Becca sah Tom an und konnte erkennen, dass er das gleiche dachte. Frau van Horten hatte eben erst begriffen, was tatsächlich geschehen war. Sie nickten sich kurz zu, wie sie es immer taten, wenn sie übereinstimmten.

Becca wandte sich an den herbeistürzenden Ehemann und meinte leise: »Wir gehen dann. Ich denke, Ihrer Frau ist gerade die ganze Tragweite bewusst geworden. Kümmern Sie sich um sie«, und legte dabei vertrauensvoll ihre Hand auf seinen Unterarm. »Nur noch eines. Haben Sie den Anwalt schon erreicht?«

Er schüttelte den Kopf.

Becca bat Tabeas Vater, den Anwalt noch nicht zu informieren, da sie ihm die Nachricht gerne selbst überbringen würde, schließlich hatte Bea für den Anwalt gearbeitet. Sie versprach Adrian van Horten, ihm Bescheid zu geben, wenn die Befragung zu Ende war.

Er nickte abwesend, drehte sich zu seiner Frau um, nahm die immer noch schluchzende in seine Arme.

»Es wird alles gut«, flüsterte er und strich ihr liebevoll über das Haar. Doch auch seine Stimme klang erstickt, als würden Tränen in seinem Hals sitzen.

Nichts mehr würde gut werden, dachte Becca traurig, nie mehr. Ab jetzt gab es für die van Hortens ein Leben davor und danach. Sie würden nie mehr in ihr altes, glückliches Dasein zurückfinden. Das Einzige, was ihnen helfen könnte, war, wenn sie den Täter seiner gerechten Strafe zuführte. Und sie nahm sich vor, ihr Versprechen so schnell als möglich einzulösen.

»Warum hast du versprochen, den wahren Schuldigen zu überführen?«, wollte Tom wissen, noch bevor sie den Gartenzaun erreicht hatten.

»Weil sie es verdient haben. Sie haben ihre Tochter zu einem wertvollen Menschen für diese Gesellschaft erzogen. Und irgend so ein Nichtsnutz hat dieses Leben sinnlos zerstört.« Wütend hörte sie sich an. Und so fühlte sich Becca auch. Wütend! Warum war die Welt so schlecht? Warum hatte ein Mädchen wie Tabea van Horten den Tod verdient? Manchmal hasste sie ihren Job. Aber gleichzeitig spürte sie, wie diese Wut sie beflügelte. Ihre Motivation war. Den wahren Schuldigen für diese Tragödie zu finden.

»Komm, lass uns sehen, was Emily Aschenbach zu sagen hat. Wir brauchen mehr Information über Tabea. Und eine gute Freundin ist da hilfreicher als Eltern.«

Sie spazierten den gepflasterten Weg entlang, eine stille Seitenstraße in einem eleganten Villenviertel in der Nähe der Freien Universität. Selten kam sie in diese Gegend, obwohl es nicht weit von ihrem Zuhause entfernt lag.

»Ist es nicht schön hier?« Beccas Blick streifte über die stilvollen Häuser mit den gepflegten Gärten. Viele davon waren weihnachtlich geschmückt. Nicht überladen wie bei den Amerikanern, sondern dezent und geschmackvoll. Ihr Blick blieb auf Rosenstöcken hinter einem schmiedeeisernen Zaun hängen, die mit grüner Jute vor dem Winterfrost geschützt und mit roten Bändern umschnürt waren, an denen kleine, weiße Weihnachtskugeln hingen, die aussahen wie Schneeflocken.

Sie hatte ihre Wohnung und ihren Balkon in diesem Jahr nicht geschmückt. Wozu auch? Eric verachtete das »Getue«, wie er es nannte. Und sie hatte resigniert. Schade, dachte sie. Nächstes Jahr hole ich meinen ganzen Krimskrams wieder hervor. Es ist doch schön, die verschiedenen Jahreszeiten und Feste zu begehen. Weihnachten war etwas Besonderes. Wie dieser Kiez.

»Na ja«, antwortete Tom ausweichend, »wenn man ländliche Idylle mag ...«

Becca musste ob seiner gerümpften Nase lachen. »Also, ich finde es himmlisch. Der ganze Bereich um die Ecke Thielallee und Königin-Luise-Straße hat noch dörflichen Charakter, trotz der prachtvollen Villen ringsum.«

»Mir ist mein hippes Friedrichshain lieber«, kam die trockene Antwort.

»Ja, ich denke, dass du dort auch besser hinpasst. Schon toll, wie unterschiedlich unsere Kieze so sind. Das fasziniert mich an Berlin. Jeder findet seinen Platz. Ob vornehm, wild, elegant, jugendlich, elitär oder bio, es gibt einen Kiez dafür. Das kenne ich sonst von keiner Stadt der Welt dermaßen ausgeprägt«, schwärmte sie. »Hast du das alte Wirtshaus gesehen vorne beim Dorfanger, wo wir abgebogen sind?«

»Meinst du das, das aussieht wie aus der Zeit gefallen?«

»Genau. Der Alte Krug. Das Haus ist denkmalgeschützt. In diesem heimeligen Gasthaus wird seit hundertsechzig Jahren Gastronomie betrieben. Ist das nicht bemerkenswert? Ich war mit Mona zum Brunch da ...«, verloren sich ihre Gedanken an einen unbeschwerten Sonntag vor mehr als zwei Jahren, als Eric zur Fortbildung war und sie mit Mona die bodenständige Landhausküche genossen hatte. Sie hatten im Garten gesessen, unter einem riesigen Kastanienbaum, dessen Blüten auf ihr Essen gesegelt waren. Kein Wölkchen hatte den strahlendblauen Himmel getrübt, sie hatten sich mit frischem Spargel aus Beelitz den Magen vollgeschlagen und Prosecco geschlürft. Ein sorgenfreier Tag inmitten vieler fröhlicher Familien in einem herrlichen Gastgarten. Sie hatte sich leicht wie der Wind gefühlt. Den Fliederduft hatte sie heute noch in der Nase. Doch seit damals war sie nicht mehr hier gewesen. Warum eigentlich?

»Möchtest du hier wohnen?«, wollte Tom skeptisch wissen.

»Ich weiß nicht. Ich mag die Idylle, das ländliche Umfeld. Es erinnert mich sehr an zu Hause, an Maria Trost, den Teil von Graz, in dem ich aufgewachsen bin ...«

Sie blieb stehen, drehte sich langsam um ihre eigene Achse, ließ den Blick schweifen. Seit bald fünfundzwanzig Jahren lebte sie in Berlin, länger, als sie in Österreich gelebt hatte. Trotzdem verspürte sie nach wie vor Heimweh. Obwohl sie deutsche Staatsbürgerin war. Das war ihr Zugeständnis an Eric und den Polizeidienst. »Ja, ich denke, ich würde mich hier wohlfühlen. Wer in Dahlem wohnt, ist zweifelsohne auf der Sonnenseite des Lebens gelandet. Meinst du nicht?«

Zweifelnd blickte er auf sie. »Und die van Hortens?«

»Da schieben sich grad Wolken vor die Sonne. Dunkle Wolken!« Ihre Stirn umwölkte sich ebenfalls, als sie an die verzweifelte Mutter dachte.

»Du glaubst nicht, dass Said der Mörder von Tabea ist?«, fragte Tom vorsichtig.

»Nein. Das ist mir zu einfach. Ich sehe es wie die van Hortens. Ein billiges Bauernopfer.«

»Aber was ist mit der WhatsApp-Nachricht von Bea an ihn, sie wolle ihn im Teehaus treffen?«

Sie hatten gestern Abend noch Saids Handy ausgewertet, das er bei seiner Verhaftung dabei gehabt hatte, und diese Mitteilung gefunden. Martin Handlos hatte mit Saids Handy die Nummer dieser Benachrichtigung angerufen, und es hatte in dem Plastikbeutel gebimmelt, in dem das Telefon steckte, das sie beim Tatort gefunden hatten. Eine Überprüfung hatte ergeben, dass die Telefonnummer Tabea van Horten gehörte. Trotzdem hatte Said auf ein Foto von Bea nicht reagiert, sondern nur verstockt vor sich hingestarrt.

»Wer sagt, dass die Nachricht von ihr ist? Die kann auch ihr Mörder geschrieben haben.«

Skeptisch blickte Tom Becca von oben herab an. Er war einer der wenigen Männer, der auf Grund seiner Größe auf Becca herabblicken konnte, denn mit ihren knapp ein Meter achtzig war sie für eine Frau großgewachsen. »Ein bisschen viel Mühe, denkst du nicht? Kostet dazu Zeit. Und so unbelebt ist der Weg nicht, wo wir Tabea aufgefunden haben. Außerdem beleuchtet, wenn auch nur schwach. Die Gefahr für den Mörder war also ziemlich groß, beim Schreiben einer Nachricht beobachtet zu werden.«

»Du vergisst, dass wir das Handy nicht bei der Leiche gefunden haben, sondern vorne am Weg. Dort kann der Täter unter dem Schein der Laterne in aller Ruhe seine Benachrichtigung eingetippt haben, denn Tabea lag hinter den Sträuchern, nicht einsehbar vom Weg aus. Ohne die Suche nach dem Attentäter wäre ihre Leiche vermutlich nicht so schnell gefunden worden. Da hätten wir schon auf einen Hund warten müssen, der sie beim Gassigehen erschnuppert hätte.«

Fast hätte Tom gelacht, aber er spürte, dass seiner Chefin nicht nach Lachen zumute war.

Mittlerweile waren sie am Haus der Aschenbachs angekommen. Eine alte Villa, stilgerecht restauriert, die mit ihrem weißen Anstrich etwas kühl und distanziert wirkte. Nicht so heimelig wie das Heim der van Hortens. Vielleicht lag es aber auch an dem abschreckend wirkenden Stahlzaun, der das großzügige Grundstück umgab. Becca betätigte einen im Stahl eingelassenen Knopf beim Tor und hoffte, dass es die Klingel war.

Eine Videokamera richtete stumm ein Auge auf sie, als eine Stimme aus dem Lautsprecher unter dem Kameraauge fragte: »Wer da?«

Was für ein Unterschied zu den van Hortens, wo sie das Gartentor selbst aufschieben konnten und Herr van Horten die Haustür höchst persönlich geöffnet hatte.

Spröde antwortete Becca: »Winter, Kriminalpolizei«, und hielt ihren Ausweis vor das Kameraauge. Nach einer Weile surrte es kaum vernehmlich und die Tür öffnete sich geräuschlos, in dem sie nach innen aufklappte.

Becca und Tom schauten sich an. Becca zog die Augenbrauen in die Höhe. Tom wusste, was sie damit meinte. Aber Becca musste es laut aussprechen. »Schnösel!«

Sie folgten dem Pfad durch den Garten zum Haus und stiegen die breite Treppe aus grauen Granitsteinen zum Eingangstor hinauf. Auf jedem Absatz standen schwarze Blumentöpfe, deren Inhalt mit grauer Jute vor dem Frost geschützt war. Farblich alles perfekt aufeinander abgestimmt, trotzdem fand Becca den Aufgang kalt und unpersönlich. Soll wohl nobel wirken, mutmaßte sie.

Die imposante Tür wurde von einem jungen, asiatisch aussehenden Mädchen geöffnet, das sehr verschüchtert wirkte.

»Maria, wer ist es denn? Sie können doch nicht so einfach Fremden die Tür öffnen«, hörten sie eine zornige Stimme aus dem Hintergrund.

»Polizei, Madame, Polizei, deshalb ich haben geöffnet«, und sofort verschwand das Mädchen den kühl eingerichteten Flur entlang hinter einer weißen Tür.

Eine hochgewachsene Frau Mitte vierzig, mit herben Gesichtszügen und streng nach hinten gekämmten dunkelgrauen Haaren stand ihnen gegenüber. Das schnörkellose, elegante Kostüm in Grautönen unterstrich ihre kühle Ausstrahlung und Becca fröstelte unwillkürlich beim Anblick dieser Frau.

»Frau Aschenbach?«, fragte Becca höflich, dabei ihren Ausweis zeigend und sich und Tom vorstellend.

»Frau Doktor Aschenbach, wenn ich bitten darf«, kam es kühl, wenn nicht sogar frostig zurück.

»Entschuldigung, Frau Doktor Aschenbach«, und Becca verdrehte innerlich die Augen. »Wir würden gerne Ihre Tochter Emily sprechen. Ist sie zufällig zu Hause?«

»Was will die Mordkommission von meiner Tochter?« Ein hochmütiger Blick traf Becca aus kalten Augen. Auch die grau.

»Wir hätten ein paar Fragen an Ihre Tochter. In Zusammenhang mit einem Mord.«

»Davon gehe ich aus, sonst würden Sie sich nicht herbemühen. Doch ich will wissen, worum es sich handelt.« Wieder dieser Hochmut in ihrer Stimme, aber auch in ihrer Haltung. »Ich bin Rechtsanwältin, meine Tochter muss keine Fragen beantworten. Oder legen Sie ihr etwas zur Last?«

Becca fiel es schwer, höflich zu bleiben. Diese Frau wollte sie nicht als Mutter. Und verstand nicht, wie ein so warmherziges Paar wie die van Hortens mit dieser Frau befreundet sein konnten. Wie war erst der Mann?

»Wir werfen Ihrer Tochter nichts vor. Wir möchten nur Auskunft über Tabea van Horten.«

»Was hat sie denn diesmal angestellt? Ihren schwarzen Geliebten ermordet?«, fragte die Dame des Hauses höhnisch.

»Wie kommen Sie darauf, Frau Doktor?«

»Na, seit sie mit diesem ... diesem ... Flüchtling unterwegs ist, weiß man doch nicht ...«, endete sie kryptisch. »Sie können alle in der Nachbarschaft fragen. Keiner war glücklich, dass Bea mit so einem hier herumgezogen ist. Die glühenden Blicke, die er uns weißen Frauen nachgeworfen hat«, schüttelte sie sich.

Also, dich hat er sicher nicht angesehen, vor dir hat er sich bestimmt gefürchtet, dachte Becca boshaft.

»Hat Herr Abdel jemals etwas angestellt, dass diese Sorge berechtigt erscheinen lässt?«, wollte Becca herausfordernd wissen.

»Nein, nicht direkt«, räumte Frau Doktor Aschenbach ein. »Aber man weiß ja nie ...«, endete sie gleich kryptisch wie zuvor.

»Ja, man weiß ja nie ...«, pflichtete ihr Becca spöttisch bei. »Was haben Sie gegen Herrn Abdel? Dass er syrischer Flüchtling ist?«

»Nein, ich habe nichts gegen Ausländer. Auch mein Hausmädchen ist Ausländerin. Sie kommt von den Philippinen. Aber man hört so viel ... und es sind eindeutig zu viele Flüchtlinge in der Stadt, all diese jungen Männer. Wohin sollen die mit ihrem Testosteron?«

Becca unterdrückte einen Seufzer. Dass ungebildete Menschen diese Vorurteile hatten, ließ sie noch durchgehen. Die wussten es nicht besser und ließen sich von der Stimmungsmache mitreißen. Aber eine gebildete Frau Doktor? Der hätte sie ein besseres Urteilsvermögen zugetraut. Natürlich hatte sich das Stadtbild verändert, Kulturen prallten aufeinander. Doch konnte man darin nicht auch eine Chance sehen? Anstatt alle Flüchtlinge über einen Kamm zu scheren?

Becca beschloss, nicht länger um den heißen Brei herumzureden. »Tabea ist ermordet worden und ...«, doch weiter kam sie nicht.

»Nein, die armen Eltern«, schrie die Frau auf, »haben Sie ihn verhaftet?«

»Wen sollen wir denn verhaftet haben?« Becca wusste sehr wohl, wen sie meinte, aber sie war trotzdem verblüfft über diese Frage. Wie bequem es sich die Menschen machten mit ihrem Schwarz-Weiß-Denken.

»Said natürlich. Er wird sie getötet haben. War er eifersüchtig auf Lars?«

»Warum eifersüchtig auf Lars? Bea hatte sich doch von Ihrem Sohn getrennt«, fragte Becca zweifelnd nach.

»Ja, das stimmt. Aber ich bin sicher, dass sie das längst bereut hat. Das meint auch mein Mann, bei dem Bea in der Kanzlei arbeitet. Lars liebt Bea immer noch, doch ich denke, er hätte sie nicht zurückgenommen.«

»Warum nicht?« Neugierig beäugte Becca die seltsamen Reaktionen dieser Frau und wunderte sich über ihre Äußerungen.

»Weil sie seine Ehre beschmutzt hat. Wie sieht das denn aus, wenn ein gutaussehender Junge aus bestem Haus von einem Mädchen wegen eines syrischen Flüchtlings verlassen wird?« Der Hochmut war zurückgekehrt.

»Wenn man ein Mädchen wirklich liebt, dann kann man einen Fehltritt verzeihen, meinen Sie nicht?«

»Vielleicht in Ihren Kreisen, aber nicht in unseren«, blickte sie hochnäsig auf Becca. Die wandte sich ab, denn sie fürchtete, dass ihre Selbstbeherrschung langsam verloren ging. Und in ihrem Gesicht konnte man gut lesen.

Tom verdrehte die Augen, lächelte ihr kaum merklich aufmunternd zu.

»Dürften wir mit Ihrer Tochter sprechen?«, bat Becca.

»Aber nur in meinem Beisein.«

Innerlich kochend erklärte Becca Frau Aschenbach allerdings ruhig, dass nur Fragen bezüglich Tabeas zu klären waren. Da Emily volljährig sei, sei ein Rechtsbeistand auch nicht notwendig.

Die beiden Damen maßen sich mit den Augen.

»Emily!«, schallte es plötzlich schrill durch den Flur, wehte über das Treppenhaus in den ersten Stock.

Von dort tauchte ein ausgesprochen hübsches Mädchen mit dunkelschwarzen Haaren auf, die ihr herzförmiges Gesicht weich einrahmten. Sie war etwas pummelig, strahlte dadurch allerdings eine sympathische Wärme aus. Becca wunderte sich, dass eine so streng und mürrisch wirkende Person eine so warmherzig wirkende Tochter hatte. Sie konnte keinerlei Ähnlichkeiten zwischen den Frauen erkennen.

»Ja, Mama?«, fragte eine weiche, kehlige Stimme.

»Tabea ist tot«, schleuderte Frau Aschenbach ohne jegliches Gefühl ihrer Tochter entgegen.

»Bea ist was?«, fragte diese verstört nach.

Noch bevor Frau Aschenbach antworten konnte, griff Becca ein. »Frau Aschenbach, wir hätten ein paar Fragen an Sie. Mein Name ist Winter, ich bin von der Polizei.« Die Mordkommission ließ Becca bewusst weg, um das Mädchen nicht weiter zu verschrecken.

Trotzdem blickten erschrockene Augen sie an. »Ist Tabea wirklich tot?«

Becca nickte.

Langsam ließ sich Emily auf den Stufen nieder, umklammerte das Stahlgeländer der Glastreppe. Becca setzte sich neben sie, legte ihren Arm um die Schulter des Mädchens, das lautlos weinte.

»Jetzt heul hier nicht rum. Sie ist selber schuld. Was lässt sie sich auch mit diesem Flüchtling ein?«