Mallorquinische Leiche zum Sant Joan - Susan Carner - E-Book

Mallorquinische Leiche zum Sant Joan E-Book

Susan Carner

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Beschreibung

Sommer, Sonne Strand! Die Menschen auf Mallorca genießen das unbeschwerte Leben, freuen sich auf die magische Nit de Sant Joan. Mitten unter ihnen Kommissarin Mercédès Mayerhuber und ihr Ehemann Werner Hoffmann, die außerdem der Geburt ihres ersten Kindes entgegenfiebern. Da verschwindet die zehnjährige Emma spurlos aus dem Resort in Paguera, in dem Werner als Manager fungiert. Und das Drama nimmt seinen Lauf ... Der dritte Fall der sympathischen Ermittlerin Mercédès Mayerhuber geht unter die Haut. Unbeschwertes mallorquinisches Lebensgefühl trifft auf dramatische Entwicklungen. Für Mallorca-Fans ein MUSS!

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog

Tag 1 – Donnerstag, 13.6.

Tag 2 – Freitag, 14.6.

Tag 3 – Samstag, 15.6.

Tag 4 – Sonntag, 16.6.

Tag 5 – Montag, 17.6.

Tag 6 – Dienstag, 18.6.

Tag 7 – Mittwoch, 19.6.

Tag 8 – Donnerstag, 20.6.

Tag 9 – Freitag, 21.6.

Tag 10 – Samstag 22.6.

Tag 11. Sonntag 23.6.

Danksagung

Quellen

Wörterbücher

Die Autorin

Leseprobe: Mallorquinische Leiche zum Frühstück

Leseprobe: Mallorquinische Leiche zum San Rua

Susan Carner

Mallorquinische Leiche zum Sant Juan

Der dritte Fall für Mercédès Mayerhuber!

Mallorca-Krimi

Diese Geschichte ist rein fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, Orten und Ereignissen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt, auch wenn die Orte real sind. Alle Personen sind Schöpfungen der Autorin und keine der geschilderten Begebenheiten entspricht den Tatsachen.

© 2020 Susan Carner

Susan Carner c/o Autorenservice Gorischek

Am Rinnergrund 14/5

8101 Gratkorn

Austria

Covergestaltung © by Catrin Sommer www.rausch-gold.com

Bildnachweise: Flip Flops: shutterstock_1120650110 Strand von Paguera: © by Susan Carner

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Ausführliche Informationen finden Sie auf

www.susancarner.com

Für meine Familie!

Erfolg besteht nicht darin, dass niemals Fehler gemacht werden, sondern dass der gleiche Fehler nicht zweimal passiert!

George Bernard Shaw

Vorwort

Paguera oder Peguera. Da scheiden sich die Geister. Kastilische (spanische) Aussprache oder katalanische (mallorquinische). Den meisten Urlaubern ist der Badeort an der Südwestküste Mallorcas als Paguera bekannt, die Mallorquiner aber nennen ihn Peguera. Ich habe mich entschieden, in dieser Geschichte die katalanische Sprache zu verwenden. Es ist mir ein Herzensanliegen, Mallorqui unter Gästen der zauberhaften Insel bekannter zu machen. Für die mallorquinischen Ausdrücke finden Sie am Ende des Buches ein kleines Wörterbuch.

Schauplätze wie Ortschaften, Märkte, Bars und Restaurants sind real, doch die Protagonisten sind frei erfunden und leben nur in meinem Kopf. Mit kleinen Ausnahmen: Die umtriebige Wirtin Erna, die Maklerin Claudia und die Coworkerin Doris existieren tatsächlich.

Allerdings betreibe ich keine Werbung und erhalte keine Gegenleistung für die Erwähnung. Puzzleartig setze ich Orte, Sehenswürdigkeiten und Landschaften zusammen, um für den Leser ein stimmiges Mallorcabild zu erzeugen.

Prolog

Er beobachtete sie. Wie sie ihren Kopf in den Nacken warf und hell auflachte. Ihre kastanienbraunen, lockigen Haare, die bis zur Rückenmitte reichten, mit einer anmutigen Kopfbewegung mitnehmend. Fuhr mit den Blicken den langen, geschwungenen Hals entlang, spürte, wie seine Sinne reagierten. Er lauschte auf ihr glockenhelles Lachen, sah das Aufblitzen der makellosen weißen Zähne zwischen den Lippen, die voll und rot waren. Dunkle Augen unter einem dichten Wimpernkranz blickten in seine Richtung. Ihr fast schon koketter Augenaufschlag ließ ihn erstarren. Ob der ihm galt?

Da erhob sie sich geschmeidig. Atemlos verfolgte er jede ihrer Bewegungen. Sie zupfte an ihrem knappen Bikinioberteil, bevor sie mit einem grazilen Kopfsprung in den Pool sprang.

Sie tauchte erst am anderen Ende des Swimmingpools wieder aus dem Wasser auf. Ihre langen Haare jetzt eng am Kopf anliegend. Er war fasziniert von ihrem schönen, ebenmäßigen Gesicht, das in der Sonne strahlte wie ein Gemälde in einem Museum durch die Scheinwerfer, die es ins rechte Licht rückten. Sie drehte sich um und winkte lachend einem Mann zu, der neben ihr in einem Liegestuhl gelegen hatte. Der winkte zurück.

Mit ein paar kräftigen Kraulzügen durchschwamm sie das Becken erneut, zog sich mit den Händen abstützend am Poolrand aus dem Wasser. Seine Augen saugten sich fest an dem biegsamen Körper. Er konnte seine Unruhe, die tiefer unten in ihm rumorte, kaum noch unter Kontrolle halten. Er musste sie haben. Das stand fest. Seit er sie das erste Mal gesehen hatte, wie sie ihre Lippen um den Strohhalm gelegt hatte, um ihren Sundowner zu schlürfen.

Ein unbändiger Wunsch war in ihm aufgetreten, sie zu besitzen. Immer stärker wurde dieses Bedürfnis, bis es irgendwann völlig unkontrollierbar geworden war. Und er ihr überall hin folgte. Jetzt wartete er auf eine günstige Gelegenheit, um seinen Wunsch in die Tat umzusetzen.

Tag 1 – Donnerstag, 13.6.

So muss sich Gregor Samsa gefühlt haben, überlegte Mercédès im Dämmerlicht des verdunkelten Schlafzimmers. Auf dem Rücken liegend, Arme und Beine von sich gestreckt, unfähig, sich zu bewegen. Wie ein gestrandeter Käfer. Nur, dass sie kein kafkaeskes Ungeziefer war, sondern hochschwanger. Es fühlte sich grauenhaft an. Das dünne Sommerkleid klebte an ihrem Körper, obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief.

Seit Tagen lag eine drückende Hitze über Peguera. Sie hatte sich wie so oft in letzter Zeit in ihr Apartment verkrochen. Nur ein bisschen ausruhen, sie wünschte sich Ruhe und Kühle. So sehr sie sich gegen einen Umzug in Werners Wohnung gewehrt hatte, so glücklich war sie nun. Sie lag unter Pinien versteckt, keine direkte Sonneneinstrahlung. Abends beim Einschlafen lauschte sie dem Rauschen der Bäume, der betörende Duft drang durch die geöffneten Fenster und ließ ihr Herz weit werden vor Glück. Zwar vermisste sie das sanfte Plätschern des Meeres, das in ihrem alten Apartment die perfekte Untermalung beim Einschlafen gewesen war, dafür hatte sie nun stets ihren Liebsten an ihrer Seite.

Ein leises Lächeln schob sich trotz Erschöpfung in ihr Gesicht. Sie dachte an die erstaunten Augen ihres Mannes, als sie ihm von ihrer Schwangerschaft berichtet hatte. Unsicher, wie er reagieren würde, denn sie kannten sich zu diesem Zeitpunkt erst rund drei Monate. Doch er war einfach nur glücklich gewesen, dass sie ihn zum Vater machen würde. Hatte sie hochgehoben und stürmisch durch das Büro gewirbelt. In Werner hatte sie ihre große Liebe und ihren Seelenverwandten gefunden. Mit Mitte dreißig das ersehnte Glück.

Verliebt betrachtete sie das weiße Leinenkleid, das an der Schranktür hing und im Dämmerlicht leuchtete. Sie würde das erste Mal mit ihrem Ehemann die Nacht der Nächte verbringen. Die magische Nit de Sant Joan, die Nacht vom dreiundzwanzigsten auf den vierundzwanzigsten Juni, war berühmt, ein Fest der Liebe. Picknick am Strand, und um Mitternacht lief man ins Meer und wünschte sich etwas. Sie wusste schon, was sie sich wünschen würde, und streichelte glücklich über ihren dicken Babybauch. Würde es aber niemanden verraten, denn das brächte Unglück. Zumindest hatte ihre Mutter das immer behauptet.

Trotz aller Liebe und der Vorfreude auf das Baby und das Fest war sie im Moment leicht gereizt. Denn die Schwüle setzte ihr über die Maßen zu. Am liebsten würde sie sich trotz ihrer Glücksgefühle bis zur Entbindung nicht mehr bewegen und einfach abwarten, bis das Baby aus ihrem Bauch geschlüpft war. So schön es war, Mutter zu werden, so lästig war ihr der Umfang, den sie erreicht hatte. Gleich breit wie hoch, und dann noch ihr wuscheliger Lockenkopf. Wenn sie ihr Spiegelbild betrachtete, wandte sie sich nur gereizt ab. Wo war die schlanke, ranke Mercédès hin? Werner lachte sie dann aus, zog sie liebevoll in seine Arme und meinte, er liebe auch Weihnachtskugeln. Doch sie entzog sich ihm, fühlte sich wie ein Walross und nicht wie eine begehrenswerte Ehefrau.

Seufzend versuchte sie, leicht aufgerichtet, ihre Wasserflasche am Nachtkästchen zu erreichen, aber sogar das war ihr zu anstrengend. Also fiel sie zurück aufs Bett und blieb liegen, hörte auf das leise Surren der Klimaanlage. Und nickte ein.

»This is My Song«, Werners Klingelton auf ihrem Handy, riss sie aus dem leichten Schlaf. Gott sei Dank nicht der ihres Assistenten, dachte sie erleichtert, denn sie hatte Bereitschaft und beschloss somit, den Anruf zu ignorieren. Wenn Werner etwas von ihr wollte, sollte er doch hochkommen. Er wusste, dass sie im Schlafzimmer Zuflucht gesucht hatte. Und sein Büro war nur ein paar Schritte entfernt.

Da fing das penetrante Singen von Petula Clark wieder an. Was konnte so dringend sein, dass Werner so hartnäckig war? Da ihr nichts einfiel, überhörte sie es einfach. Nach dem Ende des Liedes hörte es schließlich von selbst auf. Nur, um danach sofort wieder zu beginnen. »Ja?«, meinte sie genervt, nachdem sie nun doch rangegangen war.

»Komm runter in die Rezeption. Es ist dringend.«

»Äh, wie bitte? Was kann so dringend sein, dass du mich, eine Kommissarin der PolicíaNacional, zuständig für Gewaltverbrechen an ausländischen Gästen, für dein Ferienresort benötigst?« Sie klang ärgerlich. Wahrscheinlich war wieder ein Gast beraubt worden. Seit sich unter den Gästen herumgesprochen hatte, dass die Ehefrau des Managers bei der Polizei arbeitete, kamen die mit ihren Raubgeschichten ständig zu ihr, um die Wartezeiten bei der Policía Local zu umgehen. Tausendmal hatte sie schon erklärt, dafür nicht zuständig zu sein. Doch deutsche Urlaubsgäste konnten hartnäckig sein.

»Bitte komm einfach, ja?«

Jetzt war sie hellhörig geworden. Werners Stimme klang angespannt, was ungewöhnlich für ihn war. Er war stets Herr der Situation und reagierte angemessen. Also musste etwas Gravierendes vorgefallen sein. »Okay, bin gleich da.«

Mühsam setzte sie sich hoch, betrachtete ihr Bild im Spiegelschrank gegenüber. Eigentlich müsste sie duschen und sich frisch machen, doch dafür fehlte ihr die Energie. Sie rappelte sich auf, kam schwerfällig auf die Beine und strich ihr Kleid so gut es ging glatt. Der Blick in den Spiegel zeigte ihr eine müde, verschwitzte Kugel. Allerdings keine strahlende Weihnachtskugel. Sie verfluchte ihre Schwangerschaft, schlüpfte in die Sandalen und machte sich auf den Weg.

»Seid ihr sicher, dass sie ins Apartment gegangen ist? Und nicht vielleicht zum Spielen mit einem anderen Kind?«, hörte sie Werner aufgeregt auf ein älteres Ehepaar und einen Mann Anfang vierzig einreden.

»Wir machen das immer so. Sie geht voraus ins Apartment zum Duschen. Wir kommen so eine halbe Stunde später nach«, antwortete der Unbekannte, der fast ebenso groß wie Werner war und sich nervös über sein spärliches Haupthaar strich.

»Mercédès, Gott sei Dank!«, hörte sich Werner bei ihrem Anblick erleichtert an und seine wie Bernstein funkelnden Augen drückten Dankbarkeit aus. »Gregor, das ist meine Frau, Mercédès Mayerhuber. Sie arbeitet bei der Polizei. Mercédès«, wandte er sich nun an sie, »das ist Gregor Berger. Ein Schulfreund von mir. Und das sind seine Eltern.«

Mercédès schüttelte allen die Hand. Und registrierte, dass niemand auf ihren eigenartigen Namen reagiert hatte, was sonst praktisch immer der Fall war. Ganz im Gegenteil. Sie nahmen sie kaum wahr. Die Mutter von Gregor war in Tränen aufgelöst, zitterte wie Espenlaub, sein Vater wirkte ausgesprochen nervös. Verlagerte sein Gewicht ständig von einem Bein auf das andere, was ihn zappelig wirken ließ. Fragend blickte sie Werner an.

»Gregors Tochter Emma ist verschwunden. Und da dachte ich ...«

Sie zog ihren Mann am Ärmel zur Seite. »Du holst mich wegen eines verschwundenen Kindes? Das wahrscheinlich irgendwo herumtollt? Ich komme erst dann, wenn das Mädchen als Leiche gefunden wird«, fügte sie noch ätzend an. Sie hatte wahrlich keine Lust, in ihren Umständen nach einem Mädchen zu suchen.

»Mercédès, bitte. Das sind Freunde von mir. Die Kleine ist besonders gut erzogen und würde nie irgendwohin gehen, ohne es ihrem Vater oder den Großeltern zu erzählen. Deshalb ...«

»Dann ruf die dafür Zuständigen an. Ich bin das nicht. Ich kann nicht einfach tätig werden, du kennst das Zuständigkeitsgerangel bei der spanischen Polizei«, war sie jetzt wirklich verärgert. »Die stellen einen Suchtrupp zusammen und werden das Mädchen wahrscheinlich in der nächsten Bucht am Strand finden.«

Die Platja de la Romana, um die sich das Ferienresort gruppierte, lag am weitesten vom Ortszentrum Pegueras entfernt und war mit der Platja de Torà über eine breite Promenade verbunden. Sie war überzeugt, dass das Mädchen einen kleinen Ausflug in den Ort unternommen hatte, um am quirligen Bulevar de Peguera ein bisschen zu shoppen. Wahrscheinlich war es ihr hier zu langweilig. Die Bucht zeichnete sich durch einen traumhaften, natürlichen Sandstrand aus, aber für ein junges Mädchen bot es nicht viel Abwechslung.

Sie wollte sich abwenden, doch Werner hielt sie am Arm zurück. »Vor zwei Jahren ist schon einmal ein Mädchen in Emmas Alter verschwunden. Man hat nie eine Spur von ihr gefunden. Bis heute nicht. Was, wenn sich das Ganze wiederholt? Damals hat man es auch damit abgetan, dass das Mädel irgendwo mit Freunden spielt. Und zuerst nichts unternommen. Dann war es zu spät. Ich will nicht, dass die lokale Polizei denselben Fehler wieder begeht.«

Jetzt war Mercédès Interesse geweckt. »Wo ist das passiert?«

»In Camp de Mar. Das Kind war ebenfalls in das Hotelzimmer vorausgegangen und ward nie mehr gesehen. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang?«

Das war nur eine Bucht weiter. Ob Werner recht haben konnte?, überlegte sie schnell. »D'acord, lass mich mit dem Vater reden und beschäftige die Großeltern, die wirken sehr gestresst.« Sie hatte mallorquí, ein Dialekt der katalanischen Sprache, gesprochen, was Touristen praktisch nie verstanden und damit so etwas wie eine Geheimsprache der Menschen war, die ständig auf Mallorca lebten. Ansonsten sprach sie mit ihrem Mann Deutsch, denn sie liebte seinen Wiener Dialekt, der so herrlich nach Schönbrunner Deutsch klang und in den sie sich auf Anhieb verliebt hatte.

Er nickte, trat zu den drei Personen, die wie verängstigte Kinder in der Mitte der Rezeption standen, legte beruhigend den Arm um die zuckenden Schultern der Großmutter und schickte den Vater zu ihr.

Der erzählte, die ganze Zeit hindurch über seinen Kopf streichend, dass die gesamte Familie den Tag am Swimmingpool oben bei der Luna Bar verbracht hatte. Emma gegen sechs Uhr ins Apartment vorausgegangen war. Sie kam sich so erwachsen vor, wenn sie allein gehen durfte. Außerdem lief da ihre Lieblingsvorabendserie und sie wollten der Kleinen nicht den Spaß verderben. Als sie gegen halb sieben zum Apartment gekommen waren, hatte die Tür offen gestanden. Das Handtuch, mit dem Emma normalerweise ihre langen Haare nach dem Duschen umwickelte, lag achtlos auf dem Fußboden im Eingangsbereich. Doch Emma war nirgends aufzufinden gewesen. Er war den Weg nochmal zurückgelaufen, in der Annahme, sie wäre vielleicht wieder zum Pool zurück. Auch am Spielplatz und in der Badebucht hatte er nachgesehen, aber nirgends eine Spur von ihr. Auf die Nachfrage von Mercédès, ob er sich an etwas besonders an diesem Tag erinnern könne, meinte er nur, dass nichts Außergewöhnliches vorgefallen war. Emma hatte an diesem Tag mit niemanden Kontakt außer mit ihnen. Da er das »an diesem Tag« so betonte, hakte sie nach.

»Na ja, da gibt es ein Mädchen, mit dem Emma ein paar Mal gespielt hat. Sie hat sie bei der Piratenshow des Mini&Maxi-Clubs kennen gelernt. Aber Emma hat sich von dem Mädel belästigt gefühlt und ist ihr daher ausgewichen.«

»Kann es nicht sein, dass sich die zwei wieder vertragen haben? Und jetzt irgendwo Eis essen?«

Er schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Ganz sicher nicht. Sie hatte sich so auf die Sherlock Maxi & Dr. Mini Show heute Abend gefreut. Der Mini&Maxi-Club des Resorts veranstaltet die doch heute Abend auf der Bühne vor dem Tentación.« Er formulierte das so, als wenn Mercédès wissen müsste, dass eine bedeutende Show diese Nacht im Resort über die Bühne gehen würde.

Sie würde ihm nicht verraten, dass sie noch keine einzige der Aktionen miterlebt hatte, die von den Animateuren tagtäglich für die Gäste veranstaltet wurden. Sie war kein Fan davon. Lieber ging sie abends am Meer spazieren, wenn die Schatten schon lang waren, das Licht des Tages ins Dämmerlicht wechselte, das Meer ruhig und glatt wurde und einen so eigenartigen metallenen Schimmer annahm. Dann überkam sie eine unendliche Ruhe, der Tagesstress fiel von ihr ab und sie war nicht mehr Kommissarin, sondern Ehefrau und baldige Mutter.

Das wünschte sie sich im Moment ebenfalls. Nicht als Kommissarin hier zu stehen. Betrachtete Herrn Berger, der sich mehrmals über sein schütteres Haupthaar strich. Ein Schulfreund von Werner also. Der erste Mensch aus einem früheren Leben Werners, den sie kennenlernte. Wie gerne würde sie ihn ein bisschen über ihren Ehemann ausfragen, wie er als Kind so war.

Eine zögerliche Aussage Bergers ließ sie wieder aufmerksam werden: »Emma würde nie ohne meine Erlaubnis ...«

»Herr Berger?«

Er schien zu überlegen. Seine Blicke wanderten unruhig durch die Rezeption, bevor sie sich auf Mercédès hefteten. »Sie ... sie ist einmal mit diesem Mädchen unerlaubterweise in die Nachbarbucht gegangen. Die ist zwei Jahre älter als Emma und spielt gerne die Erwachsene und Neunmalkluge. Und wollte Emma zeigen, dass man nicht immer gehorchen muss ...«

»Vielleicht ist das wieder passiert?« Mercédès war sich sicher, dass es genauso war. Die zwei saßen irgendwo am Torà-Beach und hatten einen Heidenspaß, dass sie den Erwachsenen solche Angst einjagten.

»Nein. Das glaube ich nicht. Emma hat einen richtigen Bammel vor Chantal. Die war so bestimmend.«

»Okay, dann reden wir mit dieser Chantal. Wie heißt sie noch?«

»Keine Ahnung«, zuckte er bedauernd die Schultern.

Mercédès konnte es nicht fassen: »Sie lassen Ihre Tochter mit einem Kind um die Häuser ziehen, dessen Nachnamen Sie nicht wissen? Kennen Sie die Eltern? Wissen Sie wenigstens, wo sie wohnen?«

Er schaute sie aus waidwunden Augen an.

Männer, dachte sie, sind wie Kinder. Sie musste Werner unbedingt zu einem verantwortungsvollen Vater erziehen. Dabei, wenn sie ihn so betrachtete, wie er sich um die verzweifelte Großmutter kümmerte, war er ein Mensch, der sich sorgte und Verantwortung übernahm.

»Wie alt ist Emma eigentlich?«

»Wir haben hier vor zwei Tagen ihren zehnten Geburtstag gefeiert«, presste Herr Berger unter Tränen hervor.

Mercédès ließ ihn einfach stehen und rief ihren Mann zu sich, erzählte ihm von dieser Chantal und ihrem Verdacht, dass die Mädchen irgendwo Eis essen würden.

»Lass uns Chantal fragen«, meinte Werner.

»Herr Berger weiß allerdings nicht, wie das Mädchen mit Nachnamen heißt«, meinte sie geringschätzig.

»Aber ich. Klarsen. Eine Familie aus Berlin. Die verbringen ihren Urlaub schon seit Jahren bei uns. Das Mädchen ist ziemlich oft auf sich alleine gestellt. Und daher sehr selbstständig.« Den letzten Satz betonte Werner eigenartig und Mercédès musste lachen. Also ein eigenwilliges Kind, hieß das in Werners Sprache. »Komm, wir gehen zu ihnen.«

Werner bat Familie Berger, in ihrem Apartment zu warten, während sie mit Chantal reden wollten. Vielleicht kam Emma in der Zwischenzeit zurück. Mercédès forderte die Großmutter auf, nachzusehen, was Emma beim Verschwinden an Kleidung getragen haben könnte.

Sie verließen gemeinsam die Rezeption, überquerten den Parkplatz. An den Stufen hinauf zur Luna Bar verabschiedeten sie sich. Die Bergers wohnten direkt dort in der roten Villa Mañana.

Als Mercédès fragen wollte, woher Werner die Familie kannte, sagte er schon: »Du willst sicher wissen, woher ich die Familie kenne, oder?«

»Ja, denn du scheinst sie gut zu kennen.«

»Das sind ehemalige Nachbarn von mir aus Hietzing. Rudolf Berger und seine Frau Anna waren die besten Freunde meiner Eltern, mit Gregor bin ich zusammen aufgewachsen.«

Jetzt war ihr klar, warum die Bergers den gleichen weichen Wiener Dialekt wie Werner sprachen.

»Wir haben uns zwar in den letzten Jahren mehr und mehr aus den Augen verloren, doch sie kommen jedes Jahr mit dem Enkelkind zu mir, um Urlaub zu machen. Ich kenne Emma von Geburt an.«

Sie hörte den Schmerz in seiner Stimme, konnte ihn auch nachfühlen, trotzdem war sie verwundert, dass es ihm so nahe ging. Er hatte nie von dieser Familie erzählt. Doch wenn sie genau überlegte, wusste sie eigentlich noch immer ziemlich wenig von ihm. Sie hatten beim Kennenlernen vereinbart, dass jeder sein Päckchen mit sich herumschleppte und dass das ihr gemeinsames Leben nicht beeinträchtigen sollte. Sie wollten so wahrgenommen werden, wie sie waren und nicht, warum sie so geworden waren. Deshalb funktionierte ihre Beziehung so gut, weil keiner ergründen wollte, warum der andere gerade so oder so reagierte. Sie stellten sich auf die jeweilige Situation ein und ließen jeden so, wie er war.

»Gibt es auch eine junge Frau Berger?«

»Es gab eine. Sonja oder Sabine ... zumindest so ähnlich.«

Mercédès lachte hell auf. »Du weißt nicht, wie die Ehefrau deines Freundes heißt?«

Werner überlegte angestrengt. Sie liebte es, wenn er seine Stirn so in Falten legte. Am liebsten würde sie ihm diese glatt streichen, mit ihm auf ihr Apartment gehen und die Welt draußen vergessen. Aber zuerst mussten sie diese Göre finden. Sie würde ihr die Leviten lesen, das hatte sie sich vorgenommen. Denn es strengte sie unheimlich an, mit Werner Schritt zu halten. Nicht nur, weil er durch seine Größe bedingt immer Riesenschritte machte, sondern weil die Schwüle sich wie ein Spinnennetz auf sie legte. Sie hasste es, verschwitzt durch das Resort zu laufen, um irgendein Mädchen zu befragen, und keuchte hinter Werner die Stufen hoch. Die Apartmenthäuser zogen sich die Hügel hinauf, lagen teilweise unter dem dichten Pinienwald, teilweise direkt an den Klippen. Am Pool unter der Luna Bar blieb sie kurz stehen, um Luft zu holen, und beneidete die Menschen, die bei einem Sundowner in der Bar saßen und das Leben genossen. Warum musste Familie Klarsen ausgerechnet das Apartment 108 bewohnen, das am höchsten Punkt der Anlage lag?, schimpfte sie still vor sich hin, als sie sich wieder in Bewegung setzte.

Werner hatte nach der Bar auf sie gewartet, nahm sie liebevoll an der Hand. Seine Stirn hatte sich geglättet. »Sabine. So heißt Gregors Ex-Frau. Wir haben sie Biene genannt. Doch seit vier, fünf Jahren sind sie geschieden. Sie lebt mit neuem Freund irgendwo in Wien. Emma bei ihr, bis auf die Besuchswochen bei ihrem Papa.«

»Ist Emma gerne bei ihrem Vater? Oder den Großeltern?«

»Also, die Großeltern liebt sie abgöttisch. Vor allem den Opa. Und ja, sie verbringt gerne Zeit bei Gregor. Er beschäftigt sich intensiv mit ihr. Das kann ich hier jeden Tag sehen. So, wir sind da.« Werner klopfte an die Tür des Apartments.

Ein grobschlächtiger Mann öffnete. Nackter Oberkörper, tätowierte Oberarme, vor allem die Tätowierung am rechten Oberarm stach Mercédès ins Auge. Eine Schlange, die sich ein paarmal um den Arm wickelte und deren Kopf den Hals entlang züngelte. Sie zwang sich, dem Mann in die Augen zu sehen, so angewidert war sie von seinem Tattoo.

»Wat woll'n Se?«

»Guten Abend, Herr Klarsen, ich bin Werner Hoffmann, der Manager ...«

»Ick wees, wer Sie sind. Wat woll'n Se?«, unterbrach der unhöflich.

»Ist Ihre Tochter Chantal da?«

»Wozu woll'n Se dit wissen?«

»Emma ist verschwunden und wir wollten nur abklären, ob sie vielleicht mit Chantal unterwegs ist.«

»Nee, isse nich. Den feinen Herrschaften hat der Umjang mit meiner Kleenen nich jepasst. Noch wat?«

»Könnten wir kurz mit Chantal sprechen, vielleicht weiß sie, wo Emma sich aufhält.«

»Nee, ich sach doch, die zwee ham keenen Kontakt mehr. Und nu Tschüss, sonst wird meene Stulle kalt.«

Herr Klarsen war im Begriff, die Tür zu schließen, als Mercédès ihm ihren Dienstausweis unter die Augen hielt und eisig, aber höflich, um Einlass bat, ansonsten müsste sie die ganze Familie aufs Revier zur Befragung mitnehmen. Und das wolle Herr Klarsen doch nicht, oder?

Widerwillig trat dieser einen Schritt zurück und ließ Mercédès und ihren Mann eintreten.

»Schantalle, da will eener wat von dir.«

»Wer denn?«, und ein hübsches rothaariges Mädchen mit einem sommersprossigen Gesicht steckte ihre Nase von der Terrasse neugierig in Richtung der Eingetretenen.

»Chantal, ich bin Kommissarin Mayerhuber und auf der Suche nach Emma. Weißt du zufällig, wo sie ist?«

»Nee, sollte ick?« Das Mädchen legte beim Sprechen den Kopf leicht schief, wodurch ihr Pferdeschwanz hervor baumelte.

»Nein. Aber sie ist verschwunden. Ihre Großeltern und ihr Vater machen sich große Sorgen. Also, weißt du was?« Mercédès schaute ihr eindringlich ins Gesicht.

»Nee, keen Schimmer. hab’ se schon länger nich jesehn.«

Das Mädchen lügt, dachte sich Mercédès. Die Kleine zog die Nase so eigenartig kraus und schaute frech in ihre Augen. »Bist du dir sicher?«, bohrte sie nach.

»Ham Se nich jehört? Sie hat jesacht, sie hat die Jöre schon länger nich jesehen. Und jetzt machn Se 'nen Abjang.«

»Nur eine Frage noch, Chantal. Wüsstest du, wohin Emma gehen würde, wenn sie allein unterwegs wäre?«

Sie schüttelte den Kopf so heftig, dass der lange Pferdeschwanz um ihr Gesicht flog.

»Du weißt, dass es strafbar ist, die Polizei anzulügen?«

»Jetzt machen'se mal halblang, meene Tochter lügt nich. Und jetzt raus.«

Werner berührte Mercédès sanft am Ellbogen, die drehte sich nach einem scharfen Blick auf Chantal um und verließ vor Werner das Apartment.

»Das Mädchen verbirgt was. Es muss aber nichts mit dem Verschwinden vom Emma zu tun haben.«

»Ach, glaubst du jetzt auch, dass sie verschwunden ist?«

Das Gespräch mit Chantal hatte ein mulmiges Gefühl in Mercédès ausgelöst. Und da sie meist auf ihre Gefühle hörte, war sie nun überzeugt, dass etwas nicht stimmte. Nur was?

Sie löste Alarm aus. Und die Maschinerie setzte sich in Gang. Jeder Stein wurde im Resort und in Peguera umgedreht. Man hatte folgende Beschreibung an die Suchmannschaft ausgegeben: zehnjähriges Mädchen, circa ein Meter und fünfundvierzig Zentimeter groß, ungefähr fünfunddreißig Kilo schwer, schlaksiger Körperbau mit langen Gliedmaßen, braun gebrannt, kastanienbraune Lockenmähne, ovale Gesichtsform mit besonders großen, dunklen Augen, einen vollen roten Mund. Bekleidet war sie mit weißen Shorts und einem rosa T-Shirt mit Spagettiträger, auf dem eine glitzernde Minnie-Maus aufgedruckt war. Dazu trug sie ihre geliebten rosa Flipflops. Ein Bild des Mädchens, am Nachmittag am Pool aufgenommen, wurde ebenfalls verteilt. Es zeigte ein fast sinnliches Gesicht, leicht geöffnete rote Lippen, die weißen Zähne blitzten dazwischen hervor. Die Haare hatte sie in den Nacken geworfen und blickte mit den dunklen Augen keck in die Kamera. Ein bildschönes Mädchen. Beim Betrachten des Bildes zog es jedem das Herz zusammen.

Bernat Palou aus der Abteilung für Vermisstenfälle leitete den Einsatz persönlich. Ruhig und sachlich hatte er seine Leute eingeteilt, die daraufhin ausgeschwärmt waren. Man hatte sofort die Behörden an Flughäfen und Fährstationen alarmiert, die Häfen informiert. Von der Insel konnte der Entführer mit Emma auf alle Fälle nicht verschwinden, wenn es denn eine Entführung war.

Trotz der intensiven Suche auch vieler Freiwilliger fand sich keine Spur des Mädchens. Nach Einbruch der Dunkelheit fanden sich alle im Resort ein. Deprimiert, aber frohen Mutes, morgen früh bei Tagesanbruch mehr Glück zu haben.

Werner hatte die Suchmannschaft als Dank auf einen besonderen Tapas-Abend eingeladen. Man hatte die Tische auf der Terrasse vor dem Restaurant zusammengeschoben, nachdem die Show des Kinderclubs vorbei war. Da saßen nun erschöpfte Männer und Frauen unter den bunten Lampen und labten sich an den Köstlichkeiten. Die Küche hatte hervorragende Arbeit geleistet und in Überstunden verschiedenen Tapas gezaubert. Es gab Spanisches Omelette, gedämpfteMuscheln, mallorquinischen Salat, Kabeljau-Fritten mit Allioli. Oktopus mit Parmentier-Kartoffeln, Schweinebäckchen in Vermuth gekocht, Seehecht mit Schinkensauce.

Mercédès hatte sich unter die Leute gemischt, wie Werner auch. Beide bedankten sich bei den Suchmannschaften, bevor sie sich an einem der Tische niederließen.

Trotzdem war Mercédès und Werner nicht nach Essen zumute. Mercédès wusste nur zu gut, was es bedeutete, keine Spur zu haben. Außerdem bereitete ihr das besorgte Gesicht von Werner Kopfzerbrechen. Warum ging ihm das Ganze so nahe?

Nur Miquel, ihr Assistent, langte ordentlich zu. Mit Mitte zwanzig nur natürlich. Er saß aber nicht bei Mercédès am Tisch, sondern bei den Kollegen der PolicíaLocal. Er hatte nur unterstützt, um ihr einen Gefallen zu tun. Denn das Verschwinden des Mädchens fiel nicht in ihre Zuständigkeit.

Mercédès blickte liebevoll auf ihren jungen Kollegen, der sich die Muscheln hineinschob, als gebe es morgen nichts zu essen. »Ob es ihm noch schmecken würde, wenn er wüsste, dass der Sud mit deutschem Bier hergestellt wurde?«, meinte sie lächelnd zu Werner.

»Wahrscheinlich nicht«, schmunzelte der.

Beide wussten, dass Miquel kein Freund der Touristen war, weil er als echter Mallorquiner Angst um den Ausverkauf und Raubbau seiner Insel hatte. Und von dem Massentourismus überhaupt nichts hielt.

Mercédès stocherte im Russischen Salat, der hübsch in einem Einmachglas serviert worden war, nur lustlos herum, obwohl sie ihn normalerweise liebte. Auch der mallorquinische Salat fand heute nicht den rechten Anklang bei ihr. Es war ihr einfach zu heiß. Immer noch, gegen elf Uhr abends. Die Schwüle wollte nicht verschwinden. Das ungute Gefühl wegen Emma hatte sich ebenso wenig verflüchtigt. Aber es freute sie, dass die Kollegen sich auf die Tapas stürzten. Nur bei der Nachspeise griff auch sie zu. Leche frita, eine typisch mallorquinische Süßspeise mit Milch, Mehl und Zucker. Zum Abschluss spendierte Werner eine Runde Hierbas, den mallorquinischen Kräuterschnaps aus Fenchel, Rosmarin, Zitronenstrauch, Kamille, Zitrone, Orange und Apfelsinenblüte. Die Zutaten mussten auf Mallorca gewachsen sein, sonst durfte sich der Schnaps nicht so nennen. Trotz ihrer Schwangerschaft hätte sie gerne ein Schlückchen genommen, um das böse Gefühl wegzuspülen. Tat es aber natürlich nicht.

Später, als sie nackt in ihrem Bett lagen und wegen der Hitze nur die Hände ineinander verschränkt hatten, fragte Werner: »Denkst du, wir finden sie lebend?«

Mercédès gab keine Antwort. Sie hatte keine.

Tag 2 – Freitag, 14.6.

»Guten Morgen, Herr Hoffmann«, flötete eine Dame Anfang fünfzig den attraktiven Mann mit einem verschwörerischen Lächeln an, der mit einer schwangeren Frau vor dem Supermarkt in der Ferienanlage in Peguera stand.

»Küss die Hand, Frau Sommer«, begrüßte Werner die Dame charmant wienerisch, »darf ich Ihnen meine Frau vorstellen?«

Überraschte Augen wandten sich der Frau mit dem wilden Lockenkopf zu. »Seit wann sind Sie denn verheiratet?«, fragte sie deprimiert, verdrossen die Ehefrau betrachtend. Vor allem den hochschwangeren Bauch. »Ist ziemlich schnell gegangen«, fügte sie noch bissig hinzu.

»Da muss ich Ihnen recht geben. Mercédès und ich haben uns an dem Tag kennengelernt, als Sie das letzte Mal bei uns waren.« Und er dachte voller Selbstzweifel an die lustvollen Minuten, die er mit diesem Gast in einer Umkleidekabine des Hallenbades verbracht hatte, während im Pool seine damalige Geliebte ermordet worden war.

»Waren Sie auch Gast hier?«, wollte Frau Sommer von Mercédès wissen.

»Nein, ich habe in einem Mordfall ermittelt. Dabei haben Herr Hoffmann und ich uns kennengelernt.«

»War das der Mord an dieser Erotikschriftstellerin, wo sie da ermittelt haben?« Neugierig wurde Mercédès gemustert.

»Genau. Das war der Fall«, antwortete sie einsilbig.

»Frau Sommer, war nett, mit Ihnen zu plaudern. Ich freue mich, Sie wieder als Gast begrüßen zu dürfen. Vielleicht haben wir ein anderes Mal mehr Zeit«, hakte seine Ehefrau unter und marschierte davon.

»War das auch eine von deinen ...«, fragte diese amüsiert.

Er nickte nur.

Sie lachte hell auf. »Na, hoffentlich gehen dir nicht die Gäste aus. Ich habe aufgehört zu zählen, aber du hattest mindestens mit der Hälfte deiner weiblichen Gäste eine Affäre.«

»Das ist übertrieben«, entgegnete er entrüstet. Liebte sie aber für ihr Lachen, ihre Toleranz. Sie waren übereingekommen, nachdem sie sich damals, nach der Lösung des Falles Sabrina Schneider, ausgesprochen hatten, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Keine Fragen zu stellen. Jeder Mensch hatte ein Vorleben, er war auf seines nicht unbedingt stolz, aber Mercédès hatte verstanden, was ihn dazu bewogen hatte, verschiedene Frauen glücklich zu machen. Sie trug es ihm nicht nach, obwohl sie ständig mit enttäuschten Verflossenen konfrontiert wurde.

Er liebte sie aber auch für das kleine Wesen, das sie unter ihrem Herzen trug. Wahrscheinlich gezeugt am Tag des Todes seiner Geliebten. Da wurden seine Gedanken von einem flott einfahrenden Auto unterbrochen, das abrupt vor ihnen abbremste.

»Könntest du Miquel bitten, nicht immer so stürmisch in unsere Einfahrt zu rauschen? Womöglich überfährt er noch jemanden«, bat Werner ärgerlich.

»Ich werd´s versuchen. Aber du weißt ja, auf mich hört er nicht immer ...« Und sie warf ihm lachend eine Kusshand zu, während sie um das Auto herumging und einstieg.

Wie wahr, dachte Werner, und blickte dem Auto hinterher. Wenn es nach Miquel gegangen wäre, würde er jetzt in Palma in Auslieferungshaft sitzen, denn dieser war fest davon überzeugt gewesen, den Mörder Sabrina Schneiders in Werner gefunden zu haben. Mercédès hatte Mühe, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Werner hatte Glück, dass eine so fähige Ermittlerin den Fall geleitet und den wahren Schuldigen überführt hatte.

Jeder andere hätte wie Miquel automatisch auf den Liebhaber getippt. Die Indizien hätten ausgereicht, bei einer eingehenden Überprüfung seines Alibis wäre man darauf gestoßen, dass er zur fraglichen Zeit im Hallenbad gewesen war. Und er hätte nie und nimmer die Identität der Frau preisgegeben, die sein Alibi hätte bestätigen können.

War amüsant, sehr prickelnd, schmunzelte Werner bei den Gedanken an diese Abenteuer. Doch er trauerte dieser Zeit nicht nach. Er hatte eine Frau gefunden, für die es sich lohnte, treu zu sein. Bald würden sie Eltern sein. Eine neue Erfahrung. Darauf freute er sich schon wahnsinnig. Hatte Tag für Tag Angst, wenn Miquel seine Frau zur Arbeit abholte und bedankte sich jeden Abend bei der Mutter Gottes, wenn sie wieder wohlbehalten nach Hause gekommen war.

Das einzige Zugeständnis, das sie ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft machte, war der Umstand, dass sie nicht mehr selbst mit dem Auto fuhr. Was sie oft fluchen ließ, denn sie hasste es, abhängig zu sein. Doch er hatte ihr eindringlich vor Augen gehalten, was es für das Ungeborene bedeuten würde, sollte sie einen Unfall haben und das Lenkrad sich in ihren Bauch bohren.

Also fuhr er sie oder Miquel. Er war Miquel dankbar, dass der jeden Tag den Umweg von Calvià über Peguera auf sich nahm, um Mercédès abzuholen.

Er blickte auf, als er vor seinem Büro ein Paar auf Wienerisch streiten hörte. Durch das offene Fenster konnte er eine hübsche Blondine mit einer hinreißenden Figur im superkurzen Minirock erkennen, die ihren Mann anfauchte, er könne sie mal.

»Gern«, lachte dieser böse, »aber du lässt mich ja nicht ran!«

Werner konnte ihre Antwort nicht verstehen, doch er musste ebenfalls lachen. Immer dasselbe. Kaum haben sich zwei gefunden, kommt es zum Streit. Warum eigentlich? Er hoffte inständig, dass ihm und Mercédès das erspart bleiben würde. Auch wenn ein Kind sicher Unruhe in die Beziehung bringen würde.

Neugierig geworden, trat er hinter seinem Schreibtisch hervor und beugte sich aus dem Fenster. Konnte noch sehen, wie der Mann schimpfend mit zwei Kleinkindern Richtung Strand verschwand und die Frau mit schweren Einkaufstüten Richtung Apartmenthaus. Da stellte sie die vollen Taschen nieder, beugte sich leicht nach vorn. Was er dabei unter ihrem Rock hervorblitzen sah, ließ kurz seinen Verstand aussetzen, und er beschloss, ihr beim Tragen behilflich zu sein. Knapp vor den Stufen, die zu ihrem Apartment führten, holte er sie ein.

»Darf ich Ihnen beistehen, gnädige Frau?«, bot er höflich mit seinem unwiderstehlichen Lächeln an.

Sie nickte erleichtert. »Gerne!«, und ein auffordernder Blick aus tiefgrünen Augen traf ihn.

Er hob die Taschen auf, ließ ihr ganz Gentleman den Vortritt. Sie kicherte, als sie die Stufen vorauslief.

Still lächelte er in sich hinein. Denn was er unter ihrem kurzen Röckchen sah, ließ ihn frohlocken. Er folgte ihr eilig.

***

Im Präsidium in Palma erkundigte sich Mercédès nach den Fortschritten bei der Suche von Emma. Doch die Nachrichten waren keine guten. Es gab keine einzige Spur oder auch nur einen Anhaltspunkt, wo sie suchen sollten. Trotz der Veröffentlichung von Emmas Bild durch die Medien und einem Aufruf, sich zu melden, falls jemand eine Beobachtung gemacht haben sollte, gab es bisher keine Hinweise.

Man hatte am Morgen den Pinienwald Richtung Santa Ponça mit Hunden durchsucht. Jetzt war man dabei, den Weg von Peguera bis hinüber nach Cala Fornells unter die Lupe zu nehmen. »Die Hunde haben eine Spur von ihr aufgenommen, die vom Apartment zum Parkplatz vor dem Haus führt, haben dann allerdings die Spur verloren. Wir vermuten, dass die Kleine in ein Auto gestiegen ist. Sie könnte sonst wo sein«, seufzte Bernat Palou, ein Kollege, den sie wegen seines Einfühlungsvermögens sehr schätze.

»Das stimmt.« Mercédès fröstelte bei dem Gedanken, obwohl der Schweiß durch die Schwüle ihren Rücken entlang lief. Unbewusst strich sie über ihren Bauch.

»Wann ist es denn soweit?«, fragte der Kollege interessiert.

»Errechnet ist der fünfte August, aber ich fühle mich so, als wäre ich schon überfällig.« Wieder strich sie über ihren Bauch und verdrehte dabei leicht die Augen. Doch der glückliche Gesichtsausdruck ließ den Kollegen warm lächeln. »Ich wünsche euch alles Gute. Was wird´s denn?«

»Ein Mädchen«, strahlte sie ihn an.

»Habt’s schon einen Namen?«

»Nein. Wir denken, wenn wir sie das erste Mal in den Armen halten, wird uns der passende Name einfallen.«

Er lachte. »Wir haben bei unserem Buben tausende Namen gewälzt und uns vor der Geburt für einen entschieden. Und dann ist es doch ein ganz anderer geworden. Ihr macht das richtig. Jetzt muss ich aber. Halte dich auf dem Laufenden.«

Dankbar blickte sie zu ihm, hoffend, dass die Nachrichten gut sein würden.

***

»Könntest du ins Resort kommen?« In Werners Stimme lag etwas Bittendes. Aber auch Drängendes. Das fühlte sie sogar durch das Telefon.

»Warum?« Sie hatte keine Lust, ihr gut gekühltes Büro zu verlassen. Die Schwüle und ihre Schwangerschaft machten ihr heute immens zu schaffen.

»Da ist eine Frau, die behauptet, etwas über das Verschwinden von Emma zu wissen.« Jetzt war das Drängende in seiner Stimme stärker.

»Werner, du weißt, das behandeln die Kollegen.«

»Kannst du es nicht zu deiner Sache machen?« Wieder das Bittende.

Sie schwieg. Sie konnte wohl, aber wollte sie das? Wenn das Mädchen nicht mehr auftauchte, wie würde das ihre Beziehung zu Werner beeinflussen? Diese Familie bedeutete ihm viel, das hatte sie gestern gespürt. Vor allem die Großmutter.

»Ich werde sehen, was ich machen kann.«

»Was ist los?«, wollte Miquel wissen, noch bevor Mercédès ihr Handy vom Ohr genommen hatte.

Sie erzählte von Werners Anliegen.

»Und? Was wirst du tun?«

Sie antwortete mit einem Schulterzucken, obwohl sie die Antwort schon kannte. Werner benötigte ihre Unterstützung, also würde sie ihm diese gewähren. »Wir haben im Moment nicht so viel zu tun. Und streng genommen fällt Emmas Fall doch auch in unsere Zuständigkeit, oder? Sie ist Ausländerin ...«

Jetzt lachte Miquel herzlich. »Du biegst dir die Verantwortlichkeit auch zurecht. Genau genommen sind wir nur für Gewaltverbrechen zuständig. Mord, Vergewaltigung ...«

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach sie ihn. »Aber soll ich warten, bis das Mädchen irgendwo tot aufgefunden wird? Und wir sie vielleicht noch hätten vorher finden können?« Energisch schob sie ihre Locken hinter die Ohren. Ein Zeichen, dass sie sich unsicher war. Eine Geste, die sie selber hasste, aber nicht unter Kontrolle bringen konnte.

Er schaute sie an. Und wusste, dass sie ohnedies nicht aufgeben würde. »D’acord, lass uns hinfahren. Wir sprechen mal mit der Lady und dann sehen wir weiter.«

Siegessicher lächelte sie ihn an und schritt eilig zur Tür hinaus.

***

»Du bist schuld. Warum nur habe ich sie mit dir mitfahren lassen. Kannst du nicht einmal etwas hinkriegen?«, keifte eine Frau und schlug mit den Händen auf Gregor Berger ein. Sie war fast so hochgewachsen wie Gregor, schlank und wirkte in ihrem Jeansmini, aus dem lange Beine ragten, und dem Top, das kräftige Oberarme sehen ließ, unglaublich durchtrainiert. Aber auch ausgesprochen sexy.

»Immer bin ich schuld. Hast du schon einmal überlegt, dass es deine Erziehungsmethoden sind, die Probleme verursachen? Dass du sie manipulierst?«, schrie der Mann gequält zurück.

»Gib nicht mir die Schuld. Du hast ...«

»Wer hat mich betrogen und ist dann abgehauen? Wer? Wer ist hier die Hure? Und zieht Emma ins Unglück?«

Mercédès und Miquel waren unbemerkt in Werners Büro getreten und lauschten fasziniert dem Disput der beiden Menschen. Außer den Streithähnen war das Büro leer.

Das musste Emmas Mutter sein, überlegte Mercédès und betrachtete sie genauer. Eine Frau, die wusste, wie sie sich zurechtmachen musste, um auf Männer zu wirken. Sinnlich geschminkt, ohne dass man die Schminke als Mann wahrnehmen würde. Immer wieder fuhr sie sich mit ihren rot lackierten Fingernägeln durch die wilde Lockenmähne. Keine Krauslocken wie sie selbst sie hatte, sondern weiche Wellen, die äußerst verführerisch wirkten.

Unvermittelt schlug die Dame hysterisch auf ihren Mann ein. Energisch schritt Mercédès ein und trat zwischen die beiden Streithähne. »Aufhören! Schluss! Was macht das für einen Sinn, sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben?«

Beide schauten entgeistert auf Mercédès hinunter.

»Was erlauben Sie sich ...«, begann Emmas Mutter.

»Sparen Sie sich Ihre Schimpftirade. Ich bin Mercédès Mayerhuber von der hiesigen Polizei und kümmere mich um Emmas Verschwinden.«

»Haben Sie schon etwas herausgefunden?« Fast atemlos klang die Stimme der Frau jetzt, nicht mehr so übergeschnappt wie noch vorhin.

»Nein. Ein Suchtrupp ist unterwegs ...«

»Was stehen Sie dann da herum und bevormunden mich? Sie sollten unterwegs sein und nach Emma suchen!«, unterbrach sie Mercédès rüde.

»Ach, denken Sie, wenn alle kopflos durch die Gegend laufen, finden wir Ihre Tochter? Die kann bereits sonst wo sein. Ermittlungsarbeit besteht ...«

»Dann ermitteln Sie schon, Sie Trampeltier!«, unterbrach sie erneut und blickte verächtlich auf die verschwitzte Mercédès hinab.

Die fühlte sich unter lauter hochgewachsenen Menschen sowieso immer klein und unbedeutend, und nun auch noch der Blick dieser perfekt gestylten Frau. Sie spürte regelrecht, wie sie schrumpfte. Hörte dieses Gefühl der Unzulänglichkeit nie auf? Auch wenn man erfolgreich im Beruf und glücklich im Privatleben war? Bevor sie sich in Selbstmitleid verlor, riss die schneidende Stimme Werners sie aus ihren Gedanken.

»Sabine!« Hochaufgerichtet stand er an der Tür, die Hand noch auf der Klinke. »Du vergisst dich wieder einmal!«

»Ja, was denkst du denn? Da kommt so eine Polizistin mit einem komischen Namen daher, meint, Emma könnte sonst wo sein und bevormundet mich!«

»Sabine, das ist meine Frau, Comissària der Policía Nacional. Du kannst von Glück sagen, wenn sie sich um das Verschwinden deiner Tochter kümmert. Mercédès hat ein untrügliches Gespür. Normalerweise klärt sie Morde auf.«

Verblüfft schaute Sabine Berger auf Mercédès, die zurückgetreten war und sich an die Kante von Werners Schreibtisch lehnte. Und ihre widerspenstigen Locken hinter die Ohren schob.

»Das ... das ist DEINE Frau?« Dabei warf sie ihre Lockenmähne mit einer gekonnten Kopfbewegung nach hinten. Ihr Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass sie nicht glaubte, was sie eben gehört hatte. Ihre meisterhaft geschminkten Schlafzimmeraugen auf Werner gerichtet.

Die Haare hatte Emma eindeutig von ihr, urteilte Mercédès, als Sabine Berger ihre Locken so theatralisch nach hinten geworfen hatte. Genauso Kastanienbraun und lockig. Hoffentlich hatte sie nicht auch ihre Art geerbt.

Sie beobachtete diese Frau. Das genaue Gegenteil von ihr. Eine Femme fatale, wie sie im Buche steht. Blickte interessiert von Sabine Berger zu Werner und zurück. Zwischen den beiden lief gerade etwas ab. Aber was?

Werner trat zu Mercédès, legte seinen rechten Arm um ihre Schulter und meinte lakonisch: »Eine bessere Ermittlerin wirst du auf der Insel nicht finden.«

Der etwas dümmliche Gesichtsausdruck von Sabine Berger ließ sie innerlich frohlocken.

Mercédès war mit Werner allein im Büro zurückgeblieben. Sie hatte Miquel gebeten, mit Sabine Berger zu sprechen. Ihr war die Verachtung in Miquels Gesicht über den Ausbruch dieser Frau aufgefallen und sie wusste, er würde sie in die Zange nehmen.

»Sabine ist das Trampeltier hier. Sie benimmt sich immer wie der Elefant im Porzellanladen. Sie kommt aus einer zerrütten Familie, Gregors Eltern waren nicht begeistert über diese Schwiegertochter. Doch Gregor war vernarrt in sie und stolz, dass sie von ihm schwanger war. Dabei konnte sie jeder haben. Ihr Ziel war eine gute Partie. Sie schlief praktisch mit allen Freunden von Gregor.«

»Auch mit dir?«

Er schaute zu Boden. »Du hast sie doch gesehen ...«

»Was? Muss ich mir jetzt vorstellen, dass du mit allen Frauen schläfst, die lange Beine haben und einen superkurzen Rock tragen? Und dich aus Schlafzimmeraugen anstarren?«

Gequält blickte er auf. »Ich bin nicht stolz darauf ... Doch vor sechs, sieben Jahren, als sie auch hier ...«

»Du hast die Frau deines Freundes verführt?« Mercédès konnte es nicht fassen.

»Eigentlich sie mich. Ihre Ehe war da schon am Ende. Das konnte jeder sehen.«

»Aber du hast nicht NEIN gesagt.«

»Nein. Warum sollte ich?«

Ja, warum sollte er! Sie blickte zu ihm auf, sah seinen entgeisterten Gesichtsausdruck. Ihr fiel das Lied »Bel Ami« ein. »Du hast Glück bei den Frauen«, lautete eine Textzeile. Ein Schlager aus dem Jahre 1939, der perfekt auf Werner zutraf. Ein Mann, der sich täglich verliebte und keiner Frau treu blieb, doch die Frau, die ihn liebte, machte er glücklich. Das war sein Geheimrezept. Er gab einer Frau das Gefühl, die einzig Wahre zu sein. Und meinte es so. Sie wusste, dass er sie liebte. Doch ob er ihr treu war? Sie wollte es gar nicht wissen. Denn was bedeutete körperliche Treue schon? Ihr war wichtiger, dass er zu ihr und dem Baby stand. Darauf konnte sie sich verlassen.

»Ach Werner, was mach ich nur mit dir? Wann wirst du mich das erste Mal betrügen?« Jetzt hatten sich doch Tränen in ihre Augen geschlichen, die sie weg blinzelte.

Werner jedoch waren sie aufgefallen. »Mercédès, ich liebe dich, das weißt du. Und das ist keine Floskel. T'estim!« Zärtlich fügte er seine Liebesbezeugung auf Mallorquí hinzu, zog sie in seine Arme, legte sein Gesicht auf ihren Lockenkopf. »Doch ich bin, wie ich bin. Auch das weißt du. Ich habe dir bewusst nicht ewige Treue geschworen, weil ich weiß, dass ich das nicht halten kann. Aber ich habe dir ewige Liebe geschworen, bis dass der Tod uns scheidet. Und darin wird sich nie etwas ändern! Du bist die Liebe meines Lebens.«

Seufzend hob sie ihren Kopf. »Ich weiß ... trotzdem ... es ist nicht leicht, ständig auf Verflossene zu treffen.« Und hoffte im Stillen, nie auf eine Aktuelle zu treffen.

»Wie ist die Beziehung der beiden? Könnte einer von ihnen an dem Verschwinden schuld sein?«

Entsetzen breitete sich auf Werners Gesicht aus. »Mercédès! Wie kommst du auf so was?«

»Na, kann doch sein, dass sie ihre Streitigkeiten auf dem Rücken des Kindes austragen und einer allein das Sorgerecht bekommen möchte. Wäre nicht das erste Mal. Ausschließen können wir weder Eltern noch Großeltern.«

Werner war aschfahl geworden. »Bei der Scheidung damals ... das war die reinste Schlammschlacht. Ich habe es zwar nur aus der Ferne mitgekriegt, aber ...«

»Was aber?«, drängte sie.

»Sabine wollte das alleinige Sorgerecht. Gregor auf Wunsch seiner Eltern ebenfalls.«

»Na, das sind ja schöne Verhältnisse. Warum?«

»Bei Sabine war es reine Rache. Gregor hatte die Scheidung eingereicht, weil er hinter ihre Betrügereien gekommen war.«

»Auch hinter deine?«, fragte sie süffisant nach.

»Dann würde er wohl nicht mit Emma hierherkommen, oder?«

»Vielleicht gerade deshalb? Weil er dich bestrafen möchte?«

»Und inszeniert dann eine Kindesentführung? Wozu?«

»Du hast doch gemeint, sie ist mit jedem ins Bett gegangen. Kann Emma einen anderen Vater haben als Gregor?«

Jetzt wurde Werner unter seiner Bräune noch eine Spur blasser.

»Was ist?«, fragte Mercédès irritiert und schaute interessiert in Werners Gesicht. »Nein! Sag jetzt nicht ...«

Doch er nickte. »Ich war auf Kurzurlaub zu Hause. Gregor gab ein Fest im Sommerhaus seiner Eltern auf dem Semmering. Es war eine bunte Mischung von Menschen. Der Alkohol war in Strömen geflossen ...« Kurz verlor er sich. Lächelte träumerisch vor sich hin.

Sie sah ihn vor ihrem geistigen Auge in einer Runde voller Menschen sitzen, lachend, vergnügt, flirtend. Der von allen Frauen umschwärmte Mittelpunkt.

Werner war wieder in der Gegenwart angekommen und fuhr betont sachlich mit seiner Erklärung fort: »Da ist es passiert. Kurz darauf hat Sabine verkündet, sie wäre schwanger. Hat es mir per E-Mail mitgeteilt und auch, dass sie Gregor heiraten würde, weil er der Vater des Kindes sei. Ich war zwar verwundert, dass sie wirklich Gregor, den sie immer als langweiligen Versicherungsjuristen belächelt hatte, heiraten wollte, aber wenn er der Vater des Kindes war, klang das für mich logisch. Weiter habe ich mir ehrlich keine Gedanken gemacht. Ich war auch nicht auf ihrer Hochzeit. Doch sie waren mit dem Baby gleich hier auf Urlaub.«

»Emma könnte also von dir oder einem anderen sein ...«

Wieder nickte er nur. »Was ...«

»Ich werde Miquel beauftragen, deine DNA mit der von Emma zu vergleichen.«

»Aber dann ...«

»Keine Sorge. Emmas DNA muss ich sowieso herausfinden, denn sollten wir irgendwo ...« Sie musste nicht weitersprechen, es war klar, was sie meinte. »Und deine haben wir schon.« Als Tatverdächtiger im Fall Sabrina Schneider hatten sie damals eine DNA-Untersuchung bei Werner durchgeführt.

»Und wenn ...«, stoppte er hilflos.

»Wir werden jetzt nicht spekulieren. Ich werde eine Überprüfung der Lebensumstände von Familie Berger Senior und Junior durchführen, um die Familie ausschließen zu können. Doch kein Wort zu niemanden, klar? Nur Miquel wird eingeweiht.«

Wieder antwortete er nur mit einem Nicken.

Mercédès sprach vor der Rezeption mit dem Einsatzleiter der Suchaktion, als Miquel mit Sabine Berger aus dem Haus trat. Sie entschuldigte sich bei Bernat Palou und begab sich zu Frau Berger. »Wir benötigen eine DNA-Probe von Emma.«

»Hat man ...«

»Nein, nein«, beschwichtigte Mercédès sofort. »Doch sollten wir irgendeinen Anhaltspunkt finden, dann ist es gut, wenn wir schon mal eine DNA zum Vergleich haben.«

Sie bat Miquel, Frau Berger zu begleiten und eine Probe zu besorgen. Danach sollte er sie in der Villa Mañana im Apartment 501 treffen.

Werner war in der Zwischenzeit zu ihnen getreten. »Sabine ...«

Doch Mercédès unterbrach sofort. »Frau Berger ist beschäftigt.« Dann wartete sie, bis Miquel mit Emmas Mutter außer Hörweite war. »Du wirst NICHT mit ihr sprechen. Versprichst du mir das?«

»Hast du Angst, ich könnte sie bumsen?«

Die Art, wie Werner diesen geschmacklosen Satz formulierte, traf sie in ihrem Innersten. Wortlos drehte sie sich um.

»Entschuldige«, rief er nach. »Ich ...«

»Es ist besser, du sagst jetzt nichts mehr!« Sie entfernte sich schnell. Sie wollte mit der Frau sprechen, die etwas über den Fall auszusagen hatte.

***

Frau Mahringer wanderte ungeduldig im Wohnzimmer auf und ab, während sie Mercédès und Miquel erzählte, was sie beobachtet hatte.

»Es war halb sieben, da beginnt meine Lieblingsserie, deshalb bin ich da immer im Apartment. Ich hörte eine eindringliche Stimme und ärgerte mich, dass der Mann so laut sprach, denn somit verpasste ich wichtige Sätze von Meredith Grey an ihren McDreamy.« Verdrossen zog die weißhaarige Dame ihre Stirn in Falten. »Ich drehte den Fernseher lauter, doch die Stimme war nicht zu überhören.«

»Was haben Sie denn gehört?« Mercédès wurde langsam ungeduldig.

Frau Mahringer erzählte, dass der Mann gerufen hatte, dass der Opa der Kleinen einen Unfall gehabt hätte und die Oma ihn schickte, damit er sie ins Krankenhaus bringen konnte.

Die Kleine habe daraufhin ängstlich reagiert und weinerlich gerufen: »Ist der Opa schwer verletzt?«

Der Mann hatte gemeint, das wüsste er nicht, das würden sie aber erfahren, sobald sie im Krankenhaus seien. Sie solle sich beeilen. Emma hatte daraufhin gefragt, warum nicht ihr Papa sie holen komme. »Aber Emma, du kennst doch deine Oma. Die regt sich so auf, dass dein Papa sie nicht allein lassen konnte. Er hat mich geschickt, weil ich direkt danebengestanden habe. Komm schon, oder willst du deinen Opa nur mehr tot sehen?«

Daraufhin hatte Emma zu weinen begonnen und die Tür geöffnet.

»Und das ist Ihnen gar nicht merkwürdig vorgekommen?«, fragte Mercédès entsetzt nach.

»Nein, warum? Es ist auch ruhig geworden, nachdem die zwei die Treppen hinuntergelaufen sind.«

»Haben Sie den Mann gesehen?«, fragte Mercédès hoffnungsfroh.

»Ich sagte doch schon, dass ich Grey’s Anatomy geguckt habe!«

»Waren Sie nicht neugierig? Wollten Sie nicht überprüfen, ob die Geschichte des Mannes stimmt?«

»Wieso? Was gehen mich die anderen an? Der wird schon einen Grund gehabt haben.«

»Warum haben Sie uns heute doch verständigt?«, fragte Mercédès verständnislos nach.

»Ich habe gestern den Wirbel mitbekommen und mich heute Nacht gefragt ... na, ja, ob der Mann vielleicht ... geschwindelt hat und Emma entführt ...«

»Warum haben Sie nicht sofort angerufen, als Ihnen der Verdacht gekommen ist?«

»Mitten in der Nacht?« Entgeisterte Augen hefteten sich auf Mercédès. »Erstens war ich mir nicht sicher und zweitens geht es mich eigentlich gar nichts an. Es ist reine Höflichkeit, dass ich mich doch gemeldet habe.«

»Es ist definitiv Ihre Pflicht als Staatsbürger, solche Beobachtungen der Polizei zu melden«, warf Miquel hart ein. »Was denken Sie denn, wie wir Emma finden sollen, wenn Sie uns Details verschweigen?«

»Ich wollte nichts mit der spanischen Polizei zu tun haben ... ich bin hier auf Urlaub.« Trotzig blickte die alte Dame Miquel an.

Es war ihr nicht klar, dass sie damit Beihilfe geleistet oder zumindest die Ermittlungen erschwert hatte. Diese Menschen, dachte Miquel verächtlich, nur auf sich bezogen.

»Würden Sie die Stimme des Mannes wiedererkennen?« Einen kleinen Funken Hoffnung hegte Mercédès noch.

»Weiß nicht. Habe mich eher auf McDreamys Stimme konzentriert. Wissen Sie, wie hinreißend der ist? So einen Mann hätte ich auch gerne gehabt ...«

Verständnislos blickte Mercédès in Miquels Richtung. Der zuckte mit den Schultern. Er hatte ebenfalls keine Ahnung, wovon die Dame sprach.

»Es scheint tatsächlich eine Entführung zu sein!«, meinte Mercédès erschüttert, als sie das Apartment der alten Dame verlassen hatten. »Warum hat sich die Frau nicht gestern schon gemeldet?« Jetzt war die Wut deutlich aus ihrer Stimme zu hören. »Nur weil sie ihre Lieblingsserie nicht im Fernsehen verpassen wollte ... Der Wagen des Mannes parkte wahrscheinlich direkt vor ihrem Fenster.«

Während sie noch schimpfte, kramte sie bereits ihr Handy aus dem kleinen Rucksack, der sie seit ihrer Schwangerschaft begleitete. Die Hosen mit den praktischen Taschen für Ausweis und Handschellen passten ihr nicht mehr, zwickten und zwackten überall, also hatte sie sich auf weite Leinenkleider verlegt. Ihre Pistole im Halfter wollte sie auch nicht um ihren schwangeren Bauch tragen. So hatte sie einen schicken, schwarzen Rucksack als ihren Begleiter ausgewählt.

Kaum hatte sie das Handy in der Hand, wählte sie schon die Nummer des Kollegen Palou. »Bernat, wir haben hier eine Zeugin, die behauptet, dass Emma gestern mit einem Mann weggegangen ist. Sie dürfte tatsächlich in ein Auto gestiegen sein, deshalb haben die Hunde die Spur verloren.« Kurz schilderte sie ihm die Umstände. »Ich würde gerne in den Fall miteinbezogen werden. Könntest du das veranlassen?«

Sie spürte förmlich, wie Bernat überlegte, das Für und Wider durchging. Begeistert war er sicher nicht. Doch schließlich meinte er: »Wird wohl das Beste sein. Du bist da nah am Ball. Mach dich mal schlau, ich kümmere mich um das Formelle.«

Triumphierend schaute sie auf Miquel. »Wir sind dabei!« Eilig verständigte sie die Kriminaltechniker für eine forensische Untersuchung des Tatorts. Hoffentlich war es dafür nicht schon zu spät.

So schnell ihr Körper es ihr erlaubte, stieg sie die Stufen zum Apartment 503 der Bergers in den ersten Stock hinauf. Darüber lag nur noch ein Apartment, das wie eine Krone auf dem roten Haus thronte. Die Villa Mañana war kleiner als die anderen Apartmenthäuser, bot lediglich Platz für fünf Wohnungen.

Hektisch klopfte sie. Emmas Vater riss die Tür auf: »Haben Sie ...«

»Nein, aber ich möchte Sie kurz unter vier Augen sprechen.«

Erstaunen war aus seinem Gesicht abzulesen. Aus dem Hintergrund kreischte Sabine Berger: »Was wollen Sie von Gregor? Hat er was mit der Sache zu tun?« Und schon war sie hinter ihm und drosch mit ihren Händen auf seinen Rücken.

»Frau Berger«, rief Mercédès streng, »jetzt beherrschen Sie sich doch. Warum denken Sie ständig, Ihr Mann hat etwas mit Emmas Verschwinden zu tun?«

»Er will doch das Sorgerecht. Vielleicht hat er sie entführt?«

»Sabine«, kam es leidend von Gregor Berger.

»Sie trauen Ihrem Mann also zu, dass er sein eigenes Kind entführt? Wie soll er dadurch das Sorgerecht erlangen?«, fragte Mercédès zweifelnd.

»Keine Ahnung. Aber er hat ohnedies nicht den Schneid dazu. Wenn, dann steckt sein Vater dahinter. Weil ich nämlich vorhabe, ihnen Emma für immer zu entziehen! Das war der letzte Urlaub, den ich ihnen zugestanden habe!« Voll Hass blickte sie auf ihre Schwiegereltern, die im hinteren Teil des Raumes auf dem Sofa saßen und sich an den Händen hielten.

Was für eine Frau, dachte Mercédès voller Abscheu. Wie konnte Werner mit der ins Bett gehen? Laut sagte sie: »Jetzt ist Schluss mit Ihren sinnlosen Verdächtigungen. Sie kosten uns nur Zeit. Mir scheint, Sie sind nicht wirklich besorgt um Ihre Tochter, sondern mehr damit beschäftigt, Ihren Mann reinzureiten. Wenn aus Liebe Hass wird ...« Sie konnte es sich nicht verkneifen, dieser Frau den Spruch unter die Nase zu reiben. Hoffte für sich und ihre Beziehung zu Werner, dass nie Hass ausschlaggebend werden würde für ihr Handeln.

»Liebe«, meinte Sabine Berger abwertend, »wird überbewertet.« Drehte sich um und ging.

»Einen Moment noch«, rief Mercédès ihr nach. »Wo sind Sie eigentlich so schnell hergekommen?«

Sabine blieb kurz stehen, schaute hoheitsvoll über ihre Schulter: »Was geht Sie das an?«, dann rauschte sie davon.

Gott sei Dank war diese fürchterliche Frau fort, dachte Mercédès, während sie sich verstohlen über das verschwitzte Gesicht fuhr.

»Gut, dann lassen Sie uns hier sprechen«, wandte sie sich Berger Junior zu. »Mit Ihren Eltern gemeinsam.« Dabei trat sie an den Esstisch und ließ sich unaufgefordert auf einen der Stühle sinken. Ihre Beine trugen sie nicht mehr.

Miquel stellte sich neben sie. Betrachtete besorgt seine Chefin.

»Ich habe Sabine gestern spät abends angerufen. Sie wird wohl die erste Maschine genommen haben ...«, versuchte Gregor Berger zur unbeantworteten Frage von Mercédès Stellung zu beziehen und ließ sich auf dem Stuhl ihr gegenüber nieder.

Mercédès betrachtete ihn kühl. Konnte sein, überlegte sie, konnte aber auch nicht sein. Gregor wirkte nervös. Doch war das nicht normal in seiner Situation?

Um sich etwas Zeit zu verschaffen, ließ sie ihren Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Im Prinzip sah es aus wie ihr altes Apartment. Offener Küchenbereich, großer Esszimmertisch gleich dahinter. Nur, dass hier sechs Stühle standen, da mehr als vier Personen in dem Apartment Platz finden konnten. Sie registrierte zwei Türen auf der einen Seite, Bad und Schlafzimmer, wie sie das kannte, und eine offene auf der anderen. Sie riskierte einen Blick und erkannte, dass dieser Raum vermutlich das sogenannte Kinderzimmer war. Denn da stand kein Ehebett, sondern zwei Einzelbetten, die jeweils an die Wand geschoben waren. Wahrscheinlich das Zimmer von Emma und ihrem Papa. Bevor sie sich den Bergers zuwandte, ließ sie ihren Blick noch durch das zimmerbreite Panoramafenster über die großzügige Terrasse bis hinunter zum Meer wandern. Nicht schlecht, überlegte sie, unter Pinien versteckt und trotzdem Blick zum Meer. Ob sie mit Werner hierher umziehen konnte? So hätten sie ein Zimmer für das Baby extra und ihren geliebten Meerblick.

Doch dann wandte sie all ihre Aufmerksamkeit den Bergers zu. »Wir haben gerade mit einer Frau gesprochen«, begann Mercédès vorsichtig, »die gestern eine Beobachtung gemacht hat.« Sie erzählte von Frau Mahringers Aussage.

»Oh Gott, wer könnte das denn gewesen sein?«

»Das frage ich Sie!« Dabei schaute sie jedem Einzelnen nacheinander fest in die Augen. Der Blick von Emmas Großmutter war herzzerreißend, aber noch mehr traf sie der bis auf das Tiefste getroffene Ausdruck von Emmas Großvater. »Emma ist alles für uns. Wir würden nie ...«

»Sie haben also keine Ahnung, was da vorgefallen ist. Haben niemanden zu Ihrem Apartment geschickt, um Emma abzuholen?«

Beide schütteln den Kopf. Berger Senior überaus entschieden.

»Was hat es mit den Vorwürfen Ihrer Schwiegertochter auf sich?«

»Ex-Schwiegertochter«, ließ sich Berger Senior verächtlich vernehmen. »Das einzig Gute, was diese Frau je hervorgebracht hat, ist Emma. Und die will sie uns wegnehmen.«

»Warum?«

»Weil ich meinen Sohn gezwungen habe, sie aus dem Treuhandfonds zu streichen, den wir für Emma eingerichtet haben. Sabine wäre dort die Begünstigte, wenn uns was zustoßen sollte, bevor Emma achtzehn ist. Ich wollte nicht, dass Sabine das Geld in die Hände bekommt. Denn dann wäre für Emma nichts mehr übrig. Außerdem hat Gregor die Unterhaltszahlungen an Sabine eingeschränkt und zahlt nur mehr für Emma. Bisher musste er auch für ihren Lebensunterhalt aufkommen, doch da sie nun zu diesem Mann gezogen ist ...«

»Zu diesem Mann« – diese drei Worte hatte Herr Berger mit einer eigenartigen Betonung ausgesprochen. Hellhörig geworden fragte Mercédès nach: »Was genau meinen Sie mit dieser Aussage?«

»Ich bin mir nicht sicher. Aber ich denke, der ist so etwas Ähnliches wie ein Zuhälter ...«

»Vater, bitte, das kannst du so nicht sagen. Er hat uns deswegen schon verklagt!«

»Aber er ist einer. Und ich wette, Sabine geht für ihn anschaffen. Schau sie dir doch an, Junge. Mach endlich deine Augen auf. Diese Frau ist eine Nutte. Nichts sonst!«

Erbost war Herr Berger aufgestanden. Fast hüpfte er jetzt im Stand, so aufgeregt war er. »Was, wenn der dahintersteckt? Diese Entführung arrangiert hat, weil er ...«

Ein erstickter Schrei war hörbar. Frau Berger presste sich die Faust in den Mund.

»Entschuldige, Anna!«

»Wie heißt der Lebensgefährte Ihrer Frau?«

»Doktor Alexander Kofler!«

»Welche Art von Doktor?«

»Rechtsanwalt. Ein windiger ...«, antwortete Berger Senior für seinen Sohn.

An Miquels Gesichtsausdruck konnte sie ablesen, dass er den Begriff nicht kannte. »Und Emma wohnt mit ihrer Mutter jetzt bei diesem Mann?« Auf das Nicken von beiden Berger Männern fragte sie nach: »Wo?«

»Im ersten Bezirk. Er besitzt ein weitläufiges Penthouse am Graben. Eine der Wohnungen, die es laut Gesetz gar nicht geben dürfte. Aber mit großzügigen Spenden ...«

Mercédès und Miquel wechselten einen Blick. Miquel hatte verstanden und entfernte sich ohne großes Aufheben.

»Was wissen Sie über den Lebensgefährten Ihrer Ex-Schwiegertochter?«

»Nicht viel. Er hat eine Kanzlei, aber die fungiert nach meinen Recherchen nur als Alibi.«

»Als Alibi wofür?«, hakte Mercédès nach.

»Ich habe einen Privatdetektiv auf ihn angesetzt, nachdem Emma immer öfter eigenartige Reaktionen gezeigt hat, wenn wir sie auf ihn angesprochen haben. Und der hat herausgefunden, dass er  ...«

»Wir haben gar nichts herausgefunden«, unterbrach ihn sein Sohn unwirsch. »Kofler hat uns auf üble Nachrede verklagt. Wir wissen nichts, außer, dass er eine schicke Kanzlei und eine prächtige Wohnung hat und als Anwalt arbeitet.«

»Kennen Sie ihn persönlich? Würden Sie ihm zutrauen, dass er hinter einer Entführung Ihrer Tochter steckt?«