Mord am Campus - Susan Carner - E-Book

Mord am Campus E-Book

Susan Carner

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Beschreibung

Lust auf einen spannenden Gerichtsthriller? Der einen bis zur letzten Seite in Atem hält? Dann sind Sie hier richtig. Ben Warden, der demokratische Anwärter auf den Senatsposten des Staates Massachusetts, und seine Tochter Lilly kämpfen während eines dramatischen Gerichtsprozesses für ihre Unschuld. Angeklagt von einem republikanischen Staatsanwalt des Mordes an einem Harvard-Professor. Gelingt es Ben und Lilly, als freie Menschen den Gerichtssaal in Boston zu verlassen?

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Susan Carner

Mord am Campus

Gerichtsthriller

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Montag, 29. August 2016

Dienstag, 30. August 2016

Mittwoch, 31. August 2016

Donnerstag, 1. September 2016

Freitag, 2. September 2016

Dienstag, 6. September 2016

Mittwoch, 7. September 2016

Donnerstag, 8. September 2016

Montag, 12. September 2016

Dienstag, 13. September 2016

Mittwoch, 14. September 2016

Donnerstag, 15. September 2016

Freitag, 16. September 2016

Sonntag, 9. Oktober 2016

Montag, 10. Oktober 2016

Sonntag, 23. Oktober 2016

Montag, 24. Oktober 2016

Dienstag, 25. Oktober 2016

Mittwoch, 26. Oktober 2016

Donnerstag, 27. Oktober 2016

Freitag, 28. Oktober 2016

Montag, 31. Oktober 2016

Epilog – Dienstag, 8. November 2016

Dankeschön

Impressum neobooks

Prolog

Die Politik ist das Paradies zungenfertiger Schwätzer!

George Bernard Shaw

»Lass meine Tochter in Ruhe«, fauchte sie ihn wütend an.

Er lächelte. Sie war nach wie vor eine begehrenswerte Frau. Ihre grünen Augen blitzten zornig. Er erinnerte sich noch gut, wie sie ihn mit diesen Augen angesehen hatte, wenn sie in seiner Vorlesung gesessen war. Er aus dem Tritt gekommen war, weil er nur an das Schimmern dieser grünen Augen denken konnte, wenn er sie ...

»Was meinst du, meine Liebe?«, fragte er und zog seine linke Augenbraue in die Höhe. Eine Angewohnheit, die er seit Jahren pflegte, wenn ihm etwas missfiel.

»Du weißt genau, was ich meine«, schleuderte sie ihm entgegen. Immer noch stand sie im Türrahmen, den Türknauf umklammert, ihre Knöchel an der Hand traten weiß hervor.

»Wie bist du überhaupt hereingekommen?«, wollte er indigniert wissen.

»Das, mein Lieber, hat sich in den letzten zwanzig Jahren nicht geändert. Der Schleichweg, um ungesehen in dein Büro kommen zu können, funktioniert nach wie vor«, lächelte sie süffisant.

Diese Lippen. Wie hatten sie ihn fasziniert. Er spürte das Gefühl in sich aufsteigen, das diese Lippen bei ihm stets ausgelöst hatten ...

Er trat hinter seinem Schreibtisch hervor, griff an seine randlose Brille und legte diese achtlos auf den Schreibtisch.

»Komm her, lass dich ansehen. Hab dich schon lange nicht mehr gesehen«, und er streckte die Hand nach ihr aus. Sie trat zögernd näher. Ein eng anliegendes Kleid umspielte ihre hinreißende Figur. Sie hatte nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Im Gegenteil. Warum hatte er das Verhältnis eigentlich beendet?

»Du bist nach wie vor sehr begehrenswert, weißt du das?« Unbewusst leckte er über seine Lippen, doch sie registrierte es.

Scharf entgegnete sie: »Du willst wohl Mutter und Tochter zur selben Zeit!«

»Warum nicht?«, lächelte er mit gekräuselten Lippen. »Deine Tochter hat zwar nicht dein Temperament, aber hübsch ist sie allemal. Und unglaublich klug. Aus ihr könnte wirklich etwas werden. Wenn sie nur ein bisschen entgegenkommender wäre ...«

Wie eine Katze fuhr sie mit ihren Krallen in sein Gesicht, hinterließ links und rechts auf den Wangen blutige Spuren. Er fasste nach ihren Händen, bog diese nach unten, dann hinter ihren Rücken. Damit stand sie nun dicht vor ihm. Ihr Parfum stieg in seine Nase. Immer noch dasselbe, registrierte er belustigt. Und erinnerte sich, wie sie eines Nachts angerufen hatte, sie trage wie Marilyn Monroe nur Chanel Nº 5. Ob er nicht vorbei kommen wolle?

Und er war vorbeigekommen. Hatte sich wie ein Dieb aus seinem Haus geschlichen, um seine Frau und seine Söhne nicht zu wecken. Erst im Morgengrauen war er zurückgekehrt, nach einer leidenschaftlichen Nacht.

»Immer noch so stürmisch, meine Liebe?«, sagte er spöttisch. »Du warst schon immer ein kleiner Wildfang«, und mit diesen Worten schob er sie Richtung Schreibtisch und warf sie mit dem Rücken auf den Tisch. Das Brillenglas zerbrach unter ihr, verletzte sie an ihrem rechten Schulterblatt.

»Was soll das?« Sie versuchte, sich ihm zu entwinden.

»Was denkst du wohl, mein Wildkätzchen?«

»Hast du es mit meiner Tochter auch so gemacht?«, zischte sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor, denn sie versuchte verzweifelt, ihre Hände unter ihrem Rücken hervorzuziehen. Er hielt sie eisern fest.

»Nein, noch nicht. Ich warte darauf, dass sie wie du brav von selbst angekrochen kommt und mir ihre Gunst gewährt. Ich habe nur ein bisschen vorgefühlt«, grinste er genüsslich. Dabei dachte er an den festen kleinen Busen, den er unter seinen Händen gespürt hatte, als er sie auf diesen Tisch gezwungen hatte. Und wie seine Lust erwacht war ... aber er wollte der Kleinen Zeit geben. Er hatte versucht, sie zu küssen, hatte jedoch ihren Widerstand gespürt, so wie sie ihren Kopf zur Seite gebogen hatte. Es war nicht seine Absicht, sie zu verunsichern. Das war kein Mädchen, das man einfach nahm, wie er das mit vielen seiner Studentinnen trieb. Er hatte Geduld.

»Was bist du nur für ein Mensch«, fauchte sie böse, sich immer noch windend.

»Ein schlichter Mann, dem das schöne Geschlecht am Herzen liegt. Vor allem bei den hübschen und meist sehr freizügigen Studentinnen, die hier herumlaufen. Da kann MANN nicht widerstehen. Das verstehst du doch, oder?«, fragte er und lächelte verächtlich auf sie herab.

Er stellte sich vor, ihre junge, hübsche Tochter läge hier vor ihm. Gleich morgen würde er sie einbestellen, keinen Tag länger wollte er warten. Schon zu lange sehnte er sich nach ihr. Er war ihr Tutor, da hatte sie keine Wahl, musste seiner Einladung folgen. Heute die Mutter, morgen die Tochter. Abermals glitt ein Lächeln über sein Gesicht.

»Komm, halt still«, meinte er genervt an die sich windende Frau. »Hattest doch früher auch nichts dagegen. Wir machen einfach dort weiter, wo wir vor ein paar Jahren aufgehört haben. Wir hatten schließlich Spaß miteinander, oder etwa nicht?« Dabei lockerte er seinen Griff, nahm eine Hand weg und fuhr damit an seinen Hosenbund.

Während er seinen Gürtel öffnete, fragte sie lauernd: »Und du lässt meine Tochter dann in Ruhe?«

Als er ihr Kleid hochschob, lächelte er erneut. »Nach wie vor ohne Slip«, bemerkte er und leckte sich diesmal mit seiner Zunge sehr bewusst über seine Lippen.

Sie wurde flammend rot. Eigentlich war sie unterwegs, um den neuen Mann in ihrem Leben zu treffen. Wollte nur schnell vorher diesen Mistkerl zu Rede stellen. Und jetzt ...

Jetzt lachte er. »Du wirst dich doch dafür nicht genieren? Bist früher ständig ohne Unterwäsche herumgelaufen, weil du damit die Jungs um den Verstand bringen konntest. Vor allem den Idioten von einem Mann, der später dein Ehemann wurde.«

Sein Lachen kotzte sie an. Aber sie konnte sich nicht wehren, eine seiner Hände drückte mit voller Kraft auf ihren Brustkorb, sodass sie sich nicht befreien konnte. Außerdem stand er ausgesprochen knapp vor ihr, presste mit seinem Unterleib ihre Beine gegen den Tisch.

Plötzlich spürte sie seine erigierte Männlichkeit an ihren Oberschenkeln. Nach wie vor der gleiche gierige Mistkerl, der er schon in ihrer Studentenzeit war. Wie viele Mädchen haben auf diesem Tisch wohl ihre Unschuld verloren?, überlegte sie grimmig.

»Zier dich nicht so. Warst doch immer offen für hübsche Spielchen«, rief er ungeduldig.

»Und meine Tochter? Du behelligst sie dann nicht mehr?«, fragte sie hoffnungsfroh. Er nickte, also gab sie ihren Widerstand auf. Dabei lockerte er seinen Griff und sie schaffte es, eine Hand unter ihrem Rücken hervorzuziehen. Da keuchte er selig lächelnd: »Muss ich mir noch überlegen. Hängt von deinen Gefälligkeiten ab.«

Als sie ging, lächelte er nicht mehr.

Montag, 29. August 2016

Gestern hat ihn seine Frau verlassen.

Ben Warden lächelte leicht bei dem Gedanken. Andere würden wahrscheinlich wütend oder traurig sein, er empfand nur Erleichterung.

Sein Leben lag damit zwar in Trümmern, aber er fühlte sich seit Jahren endlich wieder frei. Musste nicht befürchten, dass sie jeden Moment ins Zimmer stürmen würde, um ihm aus heiterem Himmel eine Szene zu machen.

Gemütlich saß er in seinem Lieblingssessel in der Bibliothek und nippte an seinem schottischen Whisky aus Dufftown in der Region Speyside, nicht nur einer der ältesten christlichen Orte Schottlands, sondern auch ein Ort mit Tradition im Brennen von Whisky.

Sein Großvater hatte stets behauptet ›Rom wurde auf sieben Hügeln erbaut, Dufftown steht auf sieben Brennblasen‹. Angeblich hatten schon seine Vorfahren bei der Überfahrt mit der Mayflower diesen Scotch getrunken. Zumindest hatte ihm sein Großvater diese Geschichte erzählt, als er ihn zu seinem sechzehnten Geburtstag zu seinem ersten Scotch einlud, ebenfalls in dieser Bibliothek. Sein Vater hatte getobt, dass er den Jungen zu einem Alkoholiker erziehen würde. Doch Großvater hatte nur verächtlich geantwortet, Scotch aus der alten Heimat hätte noch keinem aus der Familie geschadet. Ganz im Gegenteil. Und war danach mit der Anekdote der Mayflower gekommen und hatte ihn auf die Familie und die Familientradition eingeschworen. Kurz darauf war Großvater gestorben.

Was der alte Herr wohl zu seiner Noch-Ehefrau gesagt hätte? ›Nicht standesgemäß mein Junge, aber ein Prachtweib‹, und hätte sich genüsslich seine Lippen geleckt. Das hatte er selbst ebenfalls getan, als er sie kennenlernte. Dabei leider seinen Verstand verloren. Er seufzte. Was wäre ihm erspart geblieben, hätte er damals sein Gehirn benutzt und nicht nur ...

Im Grunde war er froh, dass sie die Konsequenzen gezogen hatte, aus dieser misslichen Ehe auszubrechen. Doch seinen Traum, Senator von Massachusetts zu werden, konnte er begraben. Die Amerikaner wollten keine geschiedenen Politiker in einer höheren Position, schon gar nicht in den Neu-England Staaten. Da musste eine intakte Familie hinter einem Kandidaten stehen. Der Puritanismus aus der Gründerzeit lebte in Boston weiter und weiter ...

Trotzdem hatte ihn ihre Aktion in Erstaunen versetzt und er musste schmunzeln, als er an die Situation von gestern Abend dachte.

Überrascht hatte er auf die vielen Koffer geblickt, die er bei seiner unerwartet frühen Heimkehr in der Vorhalle stehend angetroffen hatte, seine Frau gerade dabei, sich ihre Pelze aus dem Schrank zu nehmen.

»Was wird das?«, hatte er von ihr wissen wollen.

»Wonach sieht es denn aus?«, hatte sie herablassend gefragt. Auf seinen verständnislosen Blick hatte sie ihn verächtlich wissen lassen, dass sie zu ihrer neuen Liebe ziehen würde, mit der sie endlich so leben könnte, wie sie sich das immer schon vorgestellt hätte. Ein Mann, der sich um sie und ihre Belange kümmern würde und nicht nur um seinen Beruf und die ständigen Wohltätigkeitsveranstaltungen.

Sie bräuchte keinen Mann, der von ihr erwartete, sich auf seinen Wahlpartys blicken zu lassen und die glückliche Ehefrau vorzuspielen. Nein danke, dazu hätte sie keine Lust mehr, hatte sie ihn herablassend angelächelt.

»Bisher haben dir der Lebensstil und das Geld aber ganz gut gefallen. Was hat sich geändert?«, hatte er spöttisch gefragt. Obwohl er verwundert gewesen war, hatte es ihm nicht eine Sekunde leidgetan, dass sie ihn verlassen wollte. Er hätte es vor Jahren tun sollen.

»Jimmy liebt mich. Um meinetwillen. Nicht wegen eines Kindes. Mein Geld ist ihm auch egal und ...«

»Dein Geld?«, hatte er sie gereizt unterbrochen.

»Natürlich ist das genauso mein Geld. Schließlich war ich über zwanzig Jahre deine dich treuumsorgende und liebende Gattin, also steht mir die Hälfte deines Vermögens zu«, hatte sie schnippisch geantwortet.

Er hatte höhnisch gelacht. »Schon vergessen? Du hast bei der Heirat einen Ehevertrag unterschrieben. Dir steht nichts zu, wenn du mich verlässt oder ich dir eine Affäre nachweisen kann. Und ich könnte dir mehr als eine beweisen ...«

»Und ich dir ebenso viele«, hatte sie ihn unwirsch unterbrochen. »Und diese Tatsache wäre ausgesprochen hinderlich bei einer Bewerbung um den Senatsposten, den du so heiß anstrebst. Du weißt ja, unsere Mitbürger stehen nicht auf fremdgehende Ehemänner. Und ich kann mich gut als die betrogene Ehefrau verkaufen, die ihren Mann verlassen hat, weil sie diese Betrügereien nicht mehr hinnehmen konnte.« Ihre Stimme hatte nur so vor Verachtung getrieft.

Ja, er konnte sich sehr gut vorstellen, wie sie diese Show abzog. Sie war eine Meisterin der Selbstdarstellung.

»Also mein Lieber, du wirst nicht darum herumkommen, mir einen großzügigen Unterhalt zukommen zu lassen. Du willst doch nicht, dass deine heiß geliebte Tochter in einem Loch hausen muss, wenn sie ihre Mommy besucht? Oder dass deine Klienten erfahren, wie fürsorglich du dich um ihre Ehefrauen kümmerst?«

Ihr schadenfrohes Lachen klang immer noch in seinen Ohren, als er entspannt seinen Scotch im tulpenförmigen Glas beobachtete, wie sich die dunkle Flüssigkeit beim Drehen des Glases an der Glasinnenwand festsetzte. Er liebte die Zähigkeit dieses Getränks, die nur erreicht wurde, wenn der Alkoholgehalt zwischen dreiundvierzig und sechsundvierzig Prozent betrug. Seine Vorfahren wussten schon, warum sie sich für diese Sorte entschieden hatten.

Warum nur hatte er sich vor zweiundzwanzig Jahren für diese Frau entschieden? Weil sie schwanger gewesen war. Ein paar mal nur hatte er mit ihr geschlafen. Sie hatte ihn gereizt. Mit ihren provokanten Aussprüchen und ihrem umwerfenden Dekolleté. Und dann hatte sie ihm aus heiterem Himmel eröffnet, dass sie ein Kind erwartete. Sein Kind.

Natürlich hatte er um ihre Hand angehalten, sehr zum Leidwesen seiner Eltern, die sich eine gute Partie für ihn gewünscht hatten. Genug Mädchen aus der besten Neu-England Gesellschaft waren Schlange gestanden, den Spross einer alt eingesessenen Familie zu heiraten. Aber nie hätte er eine Frau im Stich gelassen, die sein Kind unter ihrem Herzen trug. Wobei er sich nicht sicher war, ob sie überhaupt ein Herz hatte. So, wie er sie die letzten Jahre kennengelernt hatte.

Ständig hatte sie ihm vorgeworfen, er schränke ihre Entfaltungsmöglichkeiten ein, weil er sie mit Kind in ein spießiges Wohlstandsleben presste, wo sie die Vorzeige-Ehefrau zu geben hatte. Es allerdings genoss, vor ihren Freundinnen mit dem stilvollen Stadthaus im geschichtsträchtigen Beacon Hill prahlen zu können. Er hatte nach wie vor ihr geschwollenes ›das Haus ist im Federal Style erbaut, es stammt aus der Zeit um 1815‹ im Ohr, wenn ihre Freundinnen das erste Mal zu Besuch kamen. Und wie schätzte sie erst die Dinnerpartys, die er für seine verwöhnte Klientel oder verschiedene Wohltätigkeitsvereine geben musste. Schließlich hatte er als direkter Nachkomme von einem der Unterzeichner des Mayflower Compact, der ersten von Freien formulierten Verfassung Amerikas, seine Verpflichtungen.

Sie sträubte sich ebenso wenig gegen das hübsche Anwesen in Chilmark auf Martha’s Vineyard. Monate hatte sie an diesem Ort verbracht, als Lilly klein war, während er in Boston seiner Arbeit nachgegangen war und sich vor Sehnsucht nach seiner Tochter verzehrt hatte. Seine Frau hatte er nie vermisst, aber Lilly ...

Er war überzeugt davon, dass sie deshalb so viel Zeit auf Martha’s Vineyard verbracht hatte, weil sie ihm damit die Tochter entziehen und ihre zahlreichen Liebhaber treffen konnte. Was ihn seit längerem nicht mehr tangierte. Im Gegenteil. Er hatte sich reichlich revanchiert.

So hatten sie sich beide arrangiert, ohne je darüber zu sprechen. Sie genoss die Vorzüge, eine reiche Frau zu sein und über viel Freizeit zu verfügen. Kindermädchen und Hausangestellte nahmen ihr schließlich alles ab, was lästig gewesen wäre. Und auf den für ihn wichtigen Partys glänzte sie. Sie war nicht nur eine vorzügliche Gastgeberin, sondern auch eine schöne Frau und wusste ihre Reize einzusetzen. Und nutze diese zu ihrem Vorteil. Manchmal nutzten sie ihm ebenfalls.

Mehr als einmal gewann er einen Klienten, weil Caroline diesem schöne Augen gemacht hatte. Der sich erhoffte, seine Angebetete so öfter zu sehen, wenn er in der seit Generationen berühmten Anwaltskanzlei Warden&Son seine Geschäfte abwickeln würde. Und wenn er Glück hätte, würde Caroline ihn sogar erhören. Sie hatte fast alle erhört. Wollte ihn damit verletzen.

Doch er nutzte ihr Potenzial. So war sie in seinen Augen wenigstens für etwas zu gebrauchen. Seine Frau wollte sich zwar mit ihren Liebhabern an ihm rächen, aber an ihm prallte dies ab. Wenn sie ihm wieder einmal mit schadenfrohem Lächeln eine ihrer Affären unter die Nase rieb, berührte ihn das nicht.

Ihr Reiz war ziemlich schnell verflogen, als er erkannt hatte, welche Persönlichkeit in ihr steckte. Sie wollte nur einen reichen Ehemann. Und er war darauf hereingefallen.

Also vergnügte er sich, wie sie treffend festgestellt hatte, mit den betrogenen Ehefrauen seiner Klienten. Kaum ließ sie ihn wissen, wer ihr derzeitiger Geliebter war, lud er die betreffende Ehefrau ein.

Gab sich als verständnisvoller Freund, aufmerksamer Gentleman, hörte ihnen zu. Alles Dinge, die sie von ihren Ehemännern nicht mehr kannten. Nicht eine war darunter, die sich nicht über kurz oder lang tröstend von ihm in die Arme nehmen ließ. Dann kam, was kommen musste.

Er goss sich einen weiteren Scotch ein. Leise lächelnd dachte er daran, wie er jedes Mal zum Zug gekommen war.

Eigentlich lief es bei allen gleich ab. Er traf die Damen in einem verschwiegenen kleinen Restaurant außerhalb von Boston, brachte sie danach gentlemanlike bis vor ihre Haustür. Alle luden ihn auf einen Kaffee oder einen Digestif ein. Einige schüchtern, andere herausfordender. Die ihn zum Kaffee einluden, waren die Schüchternen. Da wusste er, dass er viel Geduld brauchen würde, und so manche Tränenausbrüche über sich ergehen lassen musste.

Doch irgendwann lagen sie alle schluchzend in seinen Armen, ihre Körper bebten, als sie ihm gestanden, dass ihre Männer vermutlich eine Affäre hätten. Klammerten sich hilfesuchend an ihn. Er strich beruhigend über ihren Rücken, über ihre Haare, über ihr Gesicht.

Legte einen Finger unter ihr Kinn, hob ihren Kopf, schaute sie mitfühlend an und meinte leise: »Kein Mann ist es wert, dass man sich wegen ihm Kummer macht«, und ließ seine Lippen sanft auf die gegenüberliegenden treffen. Einige wenige reagierten überrascht, die meisten erwarteten diesen Kuss bereits.

Waren sie überrascht, strich er zärtlich über ihre Wangen, schaute tief in ihre Augen. »Es ist nur ein Kuss, um dir zu zeigen, wie attraktiv du bist und dass dein Mann dich nicht verdient, wenn er dich hintergeht. Wo er doch eine so bezaubernde Frau zu Hause hat.«

Dann schimmerten meist Tränen in ihren Augen, bevor sie diese schlossen und ihren Mund für weitere Küsse darboten. Es folgten sanftes Streicheln und liebevolle Worte. Über kurz oder lang ergab sich jede seinem Werben.

Mit manchen schlief er nur einmal. Entweder, weil diese Damen sofort ein schlechtes Gewissen bekamen oder er spürte, das könnte gefährlich werden und sie könnten mehr von ihm wollen als tröstenden Beistand. Manche langweilten ihn sofort. Wobei das selten vorkam. Die meisten unbeachteten Ehefrauen waren einem Abenteuer nicht abgeneigt. Und sehr freizügig mit ihrer Gunst. Wenn er nur an Deborah dachte …

Für ihn war seine Ehe somit ein perfektes Arrangement, sein Leben allerdings hatte er sich so nicht vorgestellt. Der einzige Grund, warum er sich nicht scheiden ließ, war seine Tochter Lilly.

Er liebte Lilly abgöttisch. Und sie ihn. Dafür war er sicher, dass sie ihre Mutter hasste. Denn Caroline hackte ständig auf ihr herum. Ließ sie wissen, dass sie sich in dieser Ehe gefangen fühlte, weil er – und damit deutete sie jedes Mal mit dem Zeigefinger anklagend auf ihn – sie geschwängert hatte. Es wäre besser gewesen, abzutreiben, als diesen spießbürgerlichen Moralapostel zu heiraten, polterte sie stets.

Lilly lief dann weinend nach oben in ihr Zimmer. Es kostete ihn immer viel Überredungskunst, bis sie ihr Zimmer aufschloss und er sie trösten konnte. Er wiegte sie in seinen Armen, liebkoste ihr goldenes Haar, sprach beruhigend auf sie ein.

»Warum hasst sie mich so?«, hatte sie vor kurzem nach einem heftigen Streit mit ihrer Mutter zornig ausgerufen. »Was nur habe ich ihr getan?«

Er konnte nur hilflos die Schultern zucken. Seit mehr als zwanzig Jahren bereute er jeden Tag, mit dieser Frau geschlafen zu haben. Er bereute aber nicht das Produkt dieser Tat. Lilly war so liebreizend, klug und von schneller Auffassungsgabe, dass es ihm eine Freude war, sie aufwachsen zu sehen.

Jetzt wird er sie bald verlieren, ging ihm bekümmert durch den Kopf. Sie setzte die Familientradition fort und studierte ebenfalls an der Harvard University. Schon seit sie das Harvard College besucht hatte, an dem sie letztes Semester ihren Bachelor in Soziologie erworben hatte, wohnte sie am Campus in einem der schönen Wohnheime, die den Studenten zur Verfügung standen. Nur mehr an den Wochenenden war sie zu Hause, wenn überhaupt. Um den ständigen Streitereien mit ihrer Mutter zu entgehen.

Kam sie nicht nach Hause, traf er sich Samstag Mittag mit ihr in Boston, an der Faneuil Hall, einem der ältesten Gebäude Bostons, in dem bereits ihre Vorfahren Hummer gegessen hatten, während sie über die Unabhängigkeit von England debattierten. Lilly liebte das geschäftige Treiben rund um die Hall und den anschließenden Quincy Market. Schon als Kind war es ihre größte Freude gewesen, dort mit einer Portion Zuckerwatte in der Hand zu flanieren.

Oft spazierten sie den Freedom Trail entlang, der die wichtigsten historischen Sehenswürdigkeiten Bostons miteinander verband und plauderten über dies und das. Als sie klein war, erzählte er ihr Anekdoten über die einzelnen Stätten, bis sie alt genug war, die Geschichte der Stadt Boston und ihre Rolle im Unabhängigkeitskrieg gegen England zu verstehen. Stundenlang konnte sie im Granary Burying Ground verbringen, einem der ältesten und schönsten Friedhöfe Bostons, wo ihre Vorfahren begraben liegen. Sie konnte nicht genug bekommen von Erzählungen über die berühmten Personen, die dort bestattet sind. Ehrfürchtig stand sie vor dem Obelisken, der an die Familie Benjamin Franklins erinnern sollte und lachte fröhlich, als er ihr erzählte, dass seine zwei Vornamen auf Benjamin Franklin zurückzuführen seien, der in Boston geboren wurde.

Er lächelte, als er sich das fröhliche Gesicht der kleinen Lilly vorstellte. Nun war sie eine junge Dame und hatte andere Interessen. Letzte Woche hatte er mit ihr den Parteitag der Demokraten in Philadelphia verfolgt und die Ansprache Hillary Clintons, als sie ihre Kandidatur für die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten annahm. Beide fanden sie, dass es eine großartige Rede war. Kämpferisch, allerdings auch selbstkritisch.

Sie hatten Hillary schon öfter persönlich erlebt, da wirkte sie wesentlich gelöster und lockerer als bei Ansprachen vor einer Menschenmenge. Ihr Mann Bill konnte die Massen begeistern, sie wirkte stets ein wenig kalt. Doch das war sie nicht. Im Gegenteil. Er hoffte so sehr, dass sie das Rennen machen würde. Und Lilly mit ihm.

Lilly, dachte er betrübt. Bald wird sie ganz ausgezogen sein. Hoffentlich findet sie einen jungen Mann, der ihrer wert war.

Um seine Traurigkeit zu bekämpfen, schenkte er sich einen dritten Scotch ein. Und seine Gedanken schweiften zu Deborah ... Sie hatte er gestern angerufen, als Caroline das Haus verlassen hatte.

»Hallo Deborah, heute Abend schon etwas vor? Oder hast du Lust auf einen kleinen Ausflug?«, hatte er sie mit seiner tiefen Stimme verführerisch gefragt.

»Woran denkst du denn so?«, hatte sie kokett geantwortet. So, wie sie es als Person ebenfalls war. Irgendwie Caroline ähnlich. Jedoch aufrichtiger und ehrlicher. Ihn faszinierte ihre ungenierte Art. Obwohl mit einem Kongressabgeordneten verheiratet, hielt sie sich nicht an die starren Konventionen. Seit fünf Jahren eine praktische Geliebte. Sie hatte keine Ambitionen, ihren wesentlich älteren Mann zu verlassen, denn über kurz oder lang würde sie ein Vermögen erben. Aber sie hatte viel Motivation, sich bis dahin trotzdem zu vergnügen.

Vor allem, da sie wusste, dass ihr Mann nach wie vor fremdging. Das schien in seinen Genen zu liegen. Schon sein Vater war als der größte Schürzenjäger der Ostküste bekannt, sein Sohn stand dem in nichts nach.

»Du wolltest doch schon mal in meiner Bibliothek ein bisschen schmökern. Heute Abend wäre sie frei«, hatte er ins Telefon gelächelt.

»Isst Caroline wieder mal auswärts?«, hatte sie spöttisch wissen wollen.

»Nein, sie hat mich verlassen«, hatte er kalt geantwortet.

»Das glaub ich jetzt nicht. Hat sie sich einen Reicheren geangelt?« Denn lange Zeit war es Deborahs größte Sorge gewesen, ihr Mann könnte sie für Caroline verlassen. Sie hatte ebenfalls einen Ehevertrag unterschrieben. Bei Scheidung gab es nichts. Gleich, wie die Schuldfrage lautete.

Ben hatte nie verstanden, warum Caroline mit dem alten Frank Williams ein Verhältnis begonnen hatte. Er war tattrig, ständig lief ihm Speichel aus dem Mund. Böse Zungen behaupteten, er träumte immerzu von jungen vollbusigen Frauen.

Caroline hatte wahrscheinlich gedacht, mit dieser Affäre könnte sie ihn besonders erniedrigen. Auch seine Mutter war jahrelang die Geliebte dieses Mannes gewesen. Es hatte seinem Vater fast das Herz gebrochen, denn der hatte seine Frau aufrichtig geliebt. Allerdings wurde seine Mutter bei der Wahl ihres Ehemannes nicht um ihre Meinung gefragt. Sie war William Warden schon in jungen Jahren versprochen worden, die Familien waren seit Generationen befreundet und heirateten gegenseitig. So war das bei der Ostküstenelite. Dass seine Mutter Frank Williams geliebt hatte, interessierte keinen. Frank war ein Möchtegern, wollte groß herauskommen und man hatte ihm unterstellt, dass er mit Hilfe der jungen und hübschen Mildred Fletcher seine Ziele erreichen wollte.

Er hat es auch ohne Mom geschafft, ging Ben durch den Kopf. Frank ist ein Arbeitstier und ein gerissener Geschäftsmann. Bald ist er reicher gewesen als die Familie meiner Mutter und meines Vaters zusammen. Ob Großvater sich manchmal geärgert hat, weil er Mom nicht ihren Willen gelassen hat?

»Ben? Bist du noch da?«

»Ja, ja natürlich. Entschuldige, habe mich etwas in Träumereien verloren. Nein, im Gegenteil. Es ist der neue Trainer aus eurem Fitnessstudio, von dem alle Ladys so schwärmen«, hatte er verächtlich erklärt.

Ein erfrischendes Lachen erklang in seinen Ohren. »Na, da wird sie ganz schnell wieder angekrochen gekommen. Der hat es auch bei mir probiert. Mehr als ein kurzes Abenteuer war er mir allerdings nicht wert. War mir zu süß, zu schmeichelnd. Außerdem taugte er als Liebhaber nicht viel. Der will nur ihr Geld.«

»Davon gehe ich aus. Sie hat mir schon verkündet, dass sie die Hälfte meines Vermögens möchte.«

»Und?«

»Keinen Cent mehr als notwendig bekommt sie. Und das nur wegen Lilly.«

»Na ja, vielleicht findet sie andere Sponsoren«, hatte sie gehässig gemeint.

»Wie sieht es aus? Lust auf einen Besuch bei mir?«

»Natürlich. Schließlich war ich bis jetzt nie in deinem Heiligtum. Kannst schon mal den Champagner kalt stellen.«

Er freute sich auf sie. Auch, dass er sie in seinem Haus empfangen würde. Noch nie hatte er Damenbesuch in seinem komfortablen Heim, aus Rücksicht auf Caroline, aber vor allem wegen Lilly. Er wusste, dass Caroline ihre Liebhaber in seinem Schlafzimmer empfing, das störte ihn allerdings nicht. Die Haushälterin hatte die Aufgabe, sein Bett jeden Abend frisch zu beziehen, kurz bevor er eintraf.

Es hatte nicht lange gedauert, und Deborah hatte an der Tür geläutet. Seinen Angestellten hatte er für diesen Abend frei gegeben, also öffnete er selbst. Sie war in einem Trenchcoat und High Heels im matten Schein der Gaslaterne von der Straße auf der mittleren der drei Stufen gestanden, die zu seinem eleganten Stadthaus führten. Er hatte sie hereingebeten, doch sie war stehen geblieben.

Überrascht hatte er aufgeblickt. Da hatte sie langsam den Gürtel ihres Trenchcoats geöffnet. Der war aufgeklafft. Und hatte eine hinreißende Frau in schwarzen Spitzen preisgegeben. Sie hatte die Reizwäsche getragen, die er ihr vor vier Jahren zu seinem Geburtstag geschenkt hatte, mit dem Wunsch, dass sie nur mit dieser Wäsche bekleidet in das Hotelzimmer nach New York zur intimen Feier kommen sollte.

Er hatte sie angelächelt. »Du hast es nicht vergessen.«

»Wie könnte ich«, hatte sie mit brüchiger Stimme geantwortet.

Ja, es war eine unvergessliche Nacht gewesen in New York. Fast hätte er sie damals gebeten zu bleiben, für immer. Aber wegen Lilly ...

Er hatte sie lange angeblickt, wie sie da im fahlen Licht stand und ihn herausfordernd anblickte. Doch da war noch etwas in ihrem Blick, das er nicht deuten konnte ...

So hatte er ihr die Hand entgegengestreckt, sie hatte ihre sanft in seine gelegt. Zart hatten seine Lippen ihren Handrücken berührt. Danach war sie in die Vorhalle getreten und hatte wie unbeabsichtigt ihren Mantel fallen gelassen.

»Also, wo geht´s zur Bibliothek?«, hatte sie forsch, doch immer noch leicht brüchig, gefragt.

»Wenn die Dame mir folgen möchte«, hatte er eine Verbeugung angedeutet und war vorausgegangen.

Dann war sie in der Mitte seines Heiligtums gestanden, sanft beleuchtet von seiner Leselampe.

»Du siehst zum Anbeißen aus«, hatte er geflüstert. »

»Dann beiß an«, hatte sie zurück geflüstert.

Er wollte auf sie zutreten und sie stürmisch umarmen, da hatte er sich auf seine Gastgeberverpflichtungen besonnen und für beide Champagner eingeschenkt, der in einem silbernen Sektkühler bereit gestanden hatte.

»Auf dich!« Es hatte ihm viel bedeutet, dass sie gekommen war. Sie war so herrlich unkompliziert, ein Kumpeltyp, trotzdem extrem weiblich.

Sie hatte ihr Glas in einem Zug leer getrunken. War sie nervös?, hatte er überlegt. Er war es gewesen. Denn so nah waren sie sich noch nie. Es machte einen Unterschied, ob man eine Frau im Hotel oder bei sich zu Hause empfing. Und diese Frau, das spürte er, bedeutete ihm mehr als seine sonstigen Abenteuer.

In seinem Sessel zurückgelehnt sah er sie vor sich, wie sie sich zu seinen Füßen gesetzt und ihn mit ihren Lippen fast um den Verstand gebracht hatte. Wie damals Caroline. Als er noch jung und dumm war.

Aber nun war er nicht mehr so leicht zu beeindrucken, obwohl er zugeben musste, dass es mit Deborah ein wirklicher Genuss war. Sie verstand es, einen Mann zu verwöhnen. Er schätze ihre Hingabe und Leidenschaft.

Sollte er sie heute Abend erneut einladen? Das gestern war mehr als eine leidenschaftliche Nacht. Er hatte ihr sogar angeboten, in seinem Ehebett zu übernachten.

»In deinem Ehebett?«, hatte sie überrascht gefragt und ihn dabei eigentümlich schräg mit ihren grünen Augen angesehen. Doch die Einladung angenommen. Und so hatten sie sich noch öfter in dieser Nacht geliebt. In seinem Ehebett. Im Morgengrauen hatte sie sich verabschiedet. »Danke«, hatte sie nur geflüstert und dann war sie verschwunden.

Gestern hat ihn seine Frau verlassen, dachte er erneut belustigt, diesmal allerdings bereits leicht beschwipst.

Immer noch saß er mit dem Scotch-Glas in der Hand auf seinem Lieblingssessel in der Bibliothek. Lange hatte er nach diesem Sessel gesucht. Er hatte sich einen typisch englischen Bibliothekssessel eingebildet, der einen alten Ledergeruch an sich haften hatte und in dem man auch als großgewachsener Mann versinken konnte, wenn man seine Zigarre und seinen Scotch darin genoss. Er hatte ihn durch Zufall in London bei einer Auktion gefunden und sich nach Hause schicken lassen. Seine Frau war nicht begeistert gewesen, aber die Bibliothek betrat sie ohnedies so gut wie nie. Das war sein Rückzugsort. Und der Lillys.

Wie gern kam seine Tochter schon als kleines Mädchen zu ihm in die Bibliothek und ließ sich von ihm vorlesen. Als sie klein war, saß sie auf seinem Schoß, kuschelte sich vertrauensvoll an ihn. Je älter sie wurde und somit größer, kauerte sie sich auf den Boden und lehnte sich an seine Beine. Und er las ihr vor. In letzter Zeit diskutierten sie viel miteinander, denn sie war wie er politisch interessiert und was sich zur Zeit in Amerika abspielte, war zum Fürchten.

Hat es dieser Trump doch tatsächlich geschafft, zum Präsidentschaftskandidaten für die Republikaner aufgestellt zu werden, überlegte er schaudernd. Noch mehr grauste ihm vor den Gedanken, was Amerika, was der Welt mit einem US-Präsidenten Donald Trump bevorstand.

Viel mehr würde er Hillary Clinton den Sieg wünschen. Es wäre ein historischer Erfolg, eine Frau auf Amerikas Präsidentenstuhl. Dann würde er eine Zukunft für seine Tochter sehen. Bei Trump dagegen ... was konnten Frauen da erwarten? Wenn er nur an die marionettenhaften Puppen dachte, mit denen sich Trump umgab. Jetzt hatte Ehefrau Nummer drei den Fauxpas begangen, die fast wortwörtlich geklaute Rede der jetzigen First Lady Michelle Obama zu wiederholen, die diese vor acht Jahren auf dem Parteitag der Demokraten zur Nominierung ihres Mannes gehalten hatte.

In dem Moment hörte er die schwere Eingangstür ins Schloss fallen.

»Lilly«, rief er. Nichts rührte sich. Aber es konnte nur Lilly sein. Niemand sonst hatte einen Schlüssel. Caroline hatte ihren gestern lässig auf den antiken Tisch in der Vorhalle geworfen, wo die Briefe sortiert von der Haushälterin abgelegt wurden, als sie ihm verkündet hatte, sie werde ausziehen und »dieses Ding nicht mehr brauchen«.

»Lilly«, rief er erneut. Wieder nichts. Er erhob sich aus seinem Stuhl, leicht schwankend, auf nüchternen Magen spürte er den dritten Scotch.

Als er aus der Tür in die geräumige Vorhalle trat, stand dort Lilly. Wie immer machte sein Herz einen Freudensprung, wenn er seine Tochter sah. Sie war das einzig Gute, das dieser Ehe entsprungen war. Ohne sie hätte er Caroline schon vor Jahren verlassen. Sie erst gar nicht geheiratet. Denn nur ihrer Schwangerschaft mit Lilly hatte sie die Hochzeit zu verdanken.

Er hatte schnell herausgefunden, dass sie ihn nur benutzt hatte. Ein Sohn aus reichem Elternhaus, dem eine wunderbare Karriere als Anwalt bevorstand, schließlich hatte sein Vater bereits eine gut gehende Anwaltskanzlei mit mehreren Partnern. Sie hatte sich ins gemachte Nest gesetzt. Und ihm die Hölle bereitet. Ohne Lilly …

»Was ist los?«, fragte er erschrocken, als er ihr kreidebleiches Gesicht und ihre aufgerissenen Augen sah, aus denen die Tränen herausschossen.

»Lilly, Schatz, was ist geschehen?«, fragte er besorgt nach.

Laut schluchzte sie auf, dann lief sie an ihm vorbei in das obere Stockwerk. Nach kürzerster Zeit hörte er ihre Zimmertür krachend ins Schloss fallen. Nun war er beunruhigt. Das sah Lilly nicht ähnlich. Sie kam mit allen Problemen zu ihm, schüttete ihr Herz nie ihrer Mutter aus, denn die machte ihr stets aufs Neue klar, wie sehr sie es bereute, nicht abgetrieben zu haben. Das hatte Lilly und ihn nur noch enger zusammengeschweißt.

Er schritt die Treppe in den oberen Stock hinauf, sich festhaltend an dem Geländer. Er hätte dem Scotch nicht so zusprechen sollen, schalt er sich aus. Was wird Lilly von mir denken, wenn sie merkt, dass ich zuviel getrunken habe? Er riss sich zusammen, wenn Lilly zu Hause war. Aber seit sie am Campus wohnte und nur gelegentlich ins elterliche Nest zurückkam …

Warum ist sie heute vorbei gekommen? Was bewegte sie so sehr, dass sie nach Hause gefahren ist?, überlegte er fieberhaft. Gott sei Dank war sie gestern Abend nicht herein geschneit, als er mit Deborah … wäre das peinlich gewesen!

»Lilly«, rief er eindringlich, als er an ihre Tür klopfte. »Lilly, komm, mach auf. Erzähl mir, was dich bedrückt.«

Keine Reaktion. Nur lautes Schluchzen.

»Lilly«, rief er erneut und klopfte heftiger.

»Geh weg«, schrie sie hysterisch.

»Aber Lilly, was ist nur los mit dir? Warum willst du nicht mit mir sprechen?«, fragte er verzweifelt.

»Frag Mom«, schluchzte sie nur.

Caroline?, dachte er verblüfft. Was hatte die damit zu tun?

»Hat sie dir von unserer Trennung erzählt?«, wollte er besorgt wissen. Das würde Caroline ähnlich sehen, Lilly die Schuld in die Schuhe zu schieben.

»Nein, noch etwas viel Schlimmeres«, brach es aus ihr heraus.

Sein Herz krampfte sich zusammen. Was hatte sie ihrer Tochter jetzt wieder angetan?

»Lilly, sag schon, was ist es«, drang er nun heftiger in sie.

»Nein, ich kann nicht«, und das Schluchzen wurde verzweifelter.

Mittlerweile war er nüchtern. Die Sorgen um Lilly brachten ihm den klaren Kopf zurück.

Ich muss Caroline anrufen, vielleicht kann sie mir sagen, was hier vorgefallen ist, überlegte er bestürzt. Falls sie mir überhaupt die Gnade erweist, mit mir zu reden, dachte er sarkastisch, während er in die Küche hinabstieg.

Dort ließ er sich einen starken Espresso durch seine Luxuskaffeemaschine laufen. Caroline war immens stolz auf diese Rocket R58 aus Stahl. Ihre Freundinnen kamen nur wegen des Kaffees ständig auf einen Schwatz. Wahrscheinlich auch ihre zahlreichen Liebhaber, dachte er spöttisch. Wobei, damit tat er Caroline unrecht. Wenn sie etwas konnte, dann Männer glücklich machen. Allerdings nur, wenn sie Lust verspürte oder es ihren Zwecken dienlich war.

Sie hatte eine unheimliche Gabe, einen Mann mit der Zunge zu verwöhnen, sodass er davon abhängig werden konnte. Er war als junger Student so gierig danach gewesen, dass er schon während der Vorlesung nur ihren Mund beobachten konnte, wenn sie kokett mit Dr. Sommersby flirtete und er wusste, wenn er sie nach der Uni in seinem schicken Cabriolet mitnahm …

Es war atemberaubend gewesen, mit offenem Verdeck über die Landstraße zu fahren, auf Carolines blonden Hinterkopf zu blicken, die ihren Kopf in seinem nackten Schoß vergraben hatte. Er musste das Lenkrad jedes Mal fest umklammern, um nicht in den Straßengraben zu lenken bei den himmlischen Genüssen, die sie ihm bereitet hatte.

Allerdings war es nach der Heirat damit vorbei. Zuerst hatte sie ihre Schwangerschaft als Vorwand genommen, dann postpartale Depression und schließlich … Vorbei ist vorbei. Und er wäre nie in diese Ehe geschlittert, wäre er nicht so dumm gewesen. So gierig nach dieser Frau. Immer hatte er ein Kondom verwendet. Nur einmal nicht.

Gut konnte er sich noch an die Situation erinnern. Es war nach einer dieser ewig langen Vorlesungen bei Dr. Sommersby, die nur deshalb interessant waren, weil der Professor Caroline dabei ständig in ihr ausgesprochen einladendes Dekolleté gestarrt hatte und sich alle Studenten lustig darüber machten. Einige waren überzeugt, dass die beiden ein Verhältnis hatten. Sommersby war damals so alt wie er heute. Vierundvierzig Jahre, gut verheiratet und ein Ehrenmann. Außerdem Vater von zwei kleinen Söhnen. Ließ sich zwar von Caroline reizen, aber mehr war da nicht. Ein Mann mittleren Alters und eine Studentin. Er hatte alle ausgelacht, wusste er doch, dass Caroline mit ihm ins Bett ging und nicht mit Dr. Sommersby.

Jedenfalls waren sie auf der Landstraße dahingefahren, sie hatte ihn mit ihrem Mund in Ekstase versetzt und dabei um einen klaren Kopf gebracht. Er dachte daran, wie sie ihre Zunge nur leicht über seine Spitze hatte gleiten lassen, bevor diese in ihrem Mund verschwunden war. Dachte an ihre saugenden Lippen und den kecken Blick, dem sie ihm zwischendurch zugeworfen hatte. Er war ihr verfallen gewesen. Gänzlich.

Zwar hatte er bereits mit einigen Kommilitoninnen Sex praktiziert, doch keine hatte es ihm je mit dem Mund besorgt. Caroline war einzigartig. Er hatte sich glücklich geschätzt, dass sie mit ihm geschlafen hatte. Er hatte keine ernsten Absichten gehegt, dazu war sie ihm zu vulgär. Vor allem zu wenig intellektuell. Er hatte damals schon nicht verstanden, was sie in Harvard eigentlich gewollt hatte. Wie war sie nur zu ihrem Stipendium gekommen? An der außergewöhnlichen intellektuellen Begabung konnte es nicht gelegen sein ... Aber was interessierte es ihn? Er hatte nur eines im Sinn: Sie zu vögeln. Nicht mehr. Und sie war willig gewesen.

Wieder kam ihm das Bild von der Cabrioletfahrt in den Kopf. Kurz vor seinem Höhepunkt hatte sie ihren Mund zurückgezogen, sich aufgerichtet und bestimmt gesagt: »Fahr rechts ran!«

Er hatte gehorcht. Kaum waren sie am Straßenrand gestanden, hatte sie sich über seinen Schoß geschwungen. Sie hatte wie stets keinen Slip getragen, was ihn noch mehr gereizt hatte.

»Nein Caroline, nicht ohne Schutz«, hatte er trotz der Lust, die er empfunden hatte, heiser gebeten.

»Psst«, hatte sie nur geantwortet und begonnen, auf ihm zu reiten. Ihre vollen roten Lippen leckend. Durch halb geschlossene Augenlider hatte sie lasziv auf ihn geblickt, ihre Hände auf seine Schultern gelegt und sich dort abgestützt, während sie sich gemächlich gehoben und gesenkt hatte. Jedes Mal, wenn sie ihren Körper in seinen Schoß gepresst hatte, war ihr ein leises Stöhnen entkommen und sie hatte sich auf die roten Lippen gebissen. Das alleine hatte ihn verrückt gemacht. Und ihr üppiger Busen, der ohne Büstenhalter aus der dünnen Bluse gedrängt hatte.

So hatte er sich nicht beherrschen können. Er wusste, dass er kurzzeitig überlegt hatte, sich ein Kondom überzuziehen, die Lust aber stärker gewesen war und er gedacht hatte, was wird das eine Mal ohne Schutz schon ausmachen. So hatte er seine Männlichkeit in ihr versprüht, mit Stolz, dass sein Samen sich in dieser wundervollen Frau verbreiten konnte.

Sechs Wochen darauf hatte sie ihm mitgeteilt, dass sie schwanger war. Drei Monate danach hatten sie geheiratet, knapp sieben Monate später kam Lilly. Zart, denn sie war einige Zeit vor dem errechneten Termin. Er hatte gedacht, dass Lilly früher aus ihrer Mutter schlüpfen wollte, weil diese während dem Endstadium der Schwangerschaft nur mehr gestöhnt hatte, wie schrecklich sie sich fühlte. Wie ein Walross. Dabei wusste er genau, dass sie bereits zu dieser Zeit mit ihren Affären begonnen hatte. Es gab Männer, die auf Walrosse standen. So hatte sie sich einmal ausgedrückt.

Hastig trank er den heißen Espresso, verbrannte sich fast den Gaumen, wollte aber so schnell als möglich einen klaren Kopf. Dann wählte er Carolines Handy-Nummer.

»Was willst du?«, fragte sie gereizt.

»Was hast du Lilly angetan?«

Ein befriedigendes Auflachen auf ihrer Seite. »Hat sie es dir erzählt?«, fragte sie schadenfroh.

»Nein, sie wollte mir nichts sagen. Ich solle dich fragen«, antwortete er aufgebracht.

»Will dein Schätzchen dir nicht erzählen, was ihre liebe Mommy ihr gerade gebeichtet hat?«

Es troff vor Verachtung aus dem Telefonhörer. Warum nur hasste sie Lilly so sehr? Ein so liebreizendes Geschöpf, von der man nicht glauben konnte, dass sie von dieser Mutter stammte. Wobei Caroline in der Öffentlichkeit stets die hingebungsvolle Ehefrau und Mutter gespielt hatte, somit hatte nie jemand seine Klagen ernst genommen. Sah man Caroline auf einer Party an seiner Seite, war man überzeugt, das perfekte Paar vor sich zu haben. Waren sie alleine zu Hause, warf sie nicht nur mit bösen Worten um sich, sondern auch mit Geschirr, Möbeln und Ähnlichem.

Sein Wunsch war all die Jahre gewesen, Lilly zu beschützen, deshalb hatte er Caroline nicht verlassen. Wer weiß, was sie Lilly angetan hätte. So bildeten er und Lilly eine verschworene Gemeinschaft gegen Frau und Mutter. Natürlich fühlte sich Caroline ausgeschlossen, doch daran war sie selbst schuld.

Sie gab Lilly nicht einmal das Mindestmaß an mütterliche Liebe, ihm verweigerte sie den ehelichen Beischlaf. Den holte er sich zwischendurch mit Gewalt. Worauf er nicht stolz war, ihn dafür am Morgen in den Spiegel schauen ließ, weil er sich zur Wehr gesetzt hatte. Zumindest empfand er es so, obwohl es bei Tageslicht besehen lächerlich war, wie er sich verhielt.

Wenn sie es mit ihrer Zankerei wieder einmal auf den Höhepunkt getrieben hatte, fesselte er ihre Arme und Beinen an die Bettpfosten, während sie schlief.