Malvenflug - Ursula Wiegele - E-Book

Malvenflug E-Book

Ursula Wiegele

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Beschreibung

Emmas Arbeit als Köchin in Davos ist hart. Wenig Freizeit bleibt der Kärntnerin, doch sie muss Schulden abbezahlen und spart Geld für ihre Kinder: Die Zwillinge Lotte und Fritz sind bei den Großeltern in Brünn untergebracht, Alfred geht in St. Paul auf die NAPOLA, die älteste Tochter Helga aber ist in der Steiermark in ein Kloster eingetreten. Während der erste Teil dieses vielstimmigen Romans den einzelnen Familienmitgliedern zwischen 1940 und 1945 folgt, wird Helga im zweiten Teil zur erzählenden Figur. Nach Kriegsende verlässt sie den Orden und wagt mit 27 ein neues Leben in Italien. Sie verlebt ungewöhnliche, prägende Jahre und erhebt sich gegen die Konventionen ihrer Zeit. Jahrzehnte später kommt sie in einem Haus am Meer zur Ruhe. Mit ihrem Partner Max bereitet Helga das jährliche Familienfest vor, alle haben ihr Kommen angekündigt, doch ein Platz an der Tafel soll frei bleiben. Ausgehend von dieser Leerstelle erzählt Helga in der Rückschau die Wege der Familienmitglieder, bewertet Geschehnisse völlig neu, urteilt, hinterfragt, zweifelt. "Malvenflug" ist ein großes Familienpanorama, getragen von starken Frauenfiguren.

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Ursula Wiegele

Malvenflug

Ursula Wiegele

Malvenflug

Roman

OTTO MÜLLER VERLAG

Meinen Großeltern mütterlicherseits

Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert von:

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1306-8

eISBN 978-3-7013-6306-3

© 2023 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Rechberger

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Druck und Bindung: Flojančič tisk

Coverbild: Fresko aus der Villa Livia in Prima Porta, 1. Jhr. n. Chr. | Röm. Nationalmuseum Palazzo Massimo alle Terme

(Alamy Stock Photo)

Umschlaggestaltung: Leopold Fellinger

Inhalt

Personenverzeichnis

Teil I

Lotte Prochazka, Brünn, 1940

Pavel Prochazka, Graz, 1940

Emma Prochazka, Davos, 1940

Alfred Prochazka, 1941, St. Paul im Lavanttal

Lotte Prochazka, Brünn, 1941

Pavel Prochazka, Graz, 1941

Emma Prochazka, Davos, 1941

Pavel Prochazka, Brünn, 1942

Alfred Prochazka, Turnersee/St. Kanzian, 1942

Emma Prochazka, Davos, 1942

Lotte Prochazka, Brünn, 1942

Emma Prochazka, Davos, 1943

Lotte Prochazka, Brünn, 1943

Alfred Prochazka, St. Paul/Spanheim, 1943

Lotte Prochazka, Brünn, 1944

Emma Prochazka, Davos, 1944

Alfred Prochazka, St. Paul/Spanheim, 1944

Pavel Prochazka, Pettau, 1944

Pavel Prochazka, St. Paul/Spanheim, 1945

Lotte Prochazka, Kirchbach, 1945

Emma Prochazka, Davos, 1945

Teil II

DANK

Personenverzeichnis

Emma Prochazka, geborene Burger, geb. 1903 in Kirchbach im Gailtal, arbeitet seit Ende 1935 in Davos

Pavel Prochazka, Emmas geschiedener Ehemann, geb. 1895 in Brünn, lebt in Graz

Gisela Prochazka, geb. 1920, Pavels zweite Ehefrau, mit der er zwei Kinder hat: Herkules und Penelope

Walter, geb. 1919, Pavels unehelicher Sohn

Die vier Kinder von Emma und Pavel:

Helga Prochazka, geb. 1920 in Kirchbach im Gailtal, 1937-45 Mitglied des Ordens der Schulschwestern in Graz, arbeitet nach Auflösung des Ordenshauses durch die Nazis im Odilien-Blindeninstitut Graz

Alfred Prochazka, geb. 1928 in Kirchbach, wohnt bei Verwandten in Klagenfurt und ab 1941 im Internat der NAPOLA in St. Paul im Lavanttal

Lotte und Fritz Prochazka, Zwillinge, geb. 1929 in Graz, leben 1939-44 bei den Brünner Großeltern

Josefa Burger, die Kärntner Großmutter der Kinder, Besitzerin eines Gasthofs in Kirchbach im Gailtal

Anni und Petr Prochazka, die Brünner Großeltern der Kinder, bis 1945 Inhaber einer Kleiderfabrik in Brünn

Renate Salcher, Emmas Schwester; sie und ihr Mann Otto haben drei Söhne und leben in Kirchbach

Irene Ransburg, taubblinde Freundin von Helga im Odilien-Institut, 1944 nach Theresienstadt deportiert

Mauro De Luca, Vater von Helgas unehelichem Sohn Michael

Michael Prochazka, geb. 1950, Sohn von Helga und Mauro

Max, Helgas Lebensgefährte in späteren Jahren

Teil I

Lotte Prochazka, Brünn, 1940

Bluse. Langer Rock. Stöckelschuhe. Die Frau auf dem Prospekt lächelt. Der Rock hat Schlitze. Die Bluse einen V-Ausschnitt.

Neben der Frau steht eine Wäscheschleuder. Darüber ein Schriftzug: Schleudern oder wringen? Schleudern!

Vorsichtig schneidet Lotte die Frau aus. Die Schere ist groß und hat spitze Enden. Mit kleinen Schnitten den Arm entlang und die Schulter. Jetzt den Hals hinauf. Und dann schneidet Lotte der Frau den Kopf weg. Die Papierreste mit Schleuder, Werbespruch, Kopf und dem Namen der Firma zerknüllt sie.

Von Großvaters Sekretärin hat sie Klebstoff bekommen. Sie öffnet die Tube und drückt leicht an, so wie man es ihr gezeigt hat. Dann trägt sie dünne Bahnen von Klebstoff auf die Rückseite der Schleuderfrau auf. Klebt sie mittig auf ein Blatt weißes Papier. Jetzt mit dem Zeigefinger leicht andrücken. Rumpf, Beine, Schuhe, Arme, Hände. Lotte ist zufrieden, dass nirgends Klebstoff herausquillt. Sie schließt die Tube.

Lauter Vögel. Auf dem Klebstoff steht Uhu drauf. Auf den Buntstiften Pelikan. Lotte öffnet die Metallschachtel mit den Stiften. Zuerst Mutters Kopf. Mit zarten Strichen setzt sie das Gesicht auf den Halsstumpf. Dann die Haare. Mutters lächelndes Gesicht vom Foto im silbernen Rahmen. Da steht sie inmitten ihrer vier Kinder.

„Wohin soll ich dich heute zaubern?“, sagt Lotte leise vor sich hin. „Wieder ans Meer?“ Vom Meer hat ihr die Mutter oft erzählt. Vom Schaum der Wellen, von der Weite des Horizonts. Einmal ist sie dort gewesen, auf ihrer Hochzeitsreise.

Lotte zeichnet Segelboote in die Luft. Fliegen oder schwimmen? Fliegen! Sie schaut lange ins Gesicht der lächelnden Mutter und auf die Boote in der Luft. Dann nimmt sie doch den blauen Stift aus der Schachtel. Zeichnet Wellenlinien bis zum oberen Rand des Blattes. Und mit schwarzem Stift ein paar Vögel über den Wellen. Unter die Füße der Mutter kommen Steinplatten.

„Damit du nicht einsinkst“, sagt Lotte, „mit Stöckeln kannst du nicht im Sand gehen.“ Das hat sie am Spielplatz der Denis-Gärten beobachtet, als eine Frau in den aufgeschütteten Sand trat, um ihr Kind zu schnäuzen.

„An die Wand oder ins Kuvert?“, fragt Lotte. Die Mutter lächelt nur. Lotte kann sich nicht entscheiden. Also wieder Münzwurf. Zahl für Zimmer, Kopf für Kuvert. Lotte wirft die Münze bis fast zum Plafond. Zahl. „Du bleibst hier“, sagt Lotte, geht zum Nähkorb und nimmt die Stecknadeldose heraus. Mit vier Nadeln fixiert sie die Mutter an der Stofftapete des Zimmers. Lotte zählt. Achtundzwanzig Blätter. Achtundzwanzig Mal lächelt die Mutter.

Fritz hantiert mit Lineal und Winkelmesser. Seitdem die Kinder ihren Kostplatz im Gailtal verlassen haben und hier in Brünn wohnen, rückt Fritz immer weiter von Lotte weg. Es gibt keine gemeinsamen Kameraden mehr, keinen gemeinsamen Schulweg. Fritz besucht die Deutsche Oberschule für Jungen in der Straßengasse, die bis vor Kurzem Hybešova oder Hibeschggasse hieß, die meisten nennen sie immer noch so. Lotte besucht die Deutsche Oberschule für Mädchen in der Horst-Wessel-Straße, die früher Husova oder Husstraße hieß. Und erstmals wohnen die Zwillinge nicht mehr zusammen in einem Zimmer. Schlafen nicht mehr zusammen in einem Bett. Als kleine Kinder wurden sie oft verwechselt, wenn sie das gleiche Gewand trugen. Erst zu Beginn der Volksschulzeit bekam Fritz eine echte Bubenfrisur, davor hatten beide einen Pagenschnitt. Eine Kochtopffrisur.

Fritz misst auf der Landkarte Längen und Winkel, mit Bleistift hat er ein Dreieck gezeichnet, mit den Eckpunkten Davos, Brünn und Graz. Das überträgt er jetzt in sein Heft. „Ein stumpfwinkeliges Dreieck“, sagt Fritz. „In der Bubenschule seid ihr schon weiter mit Mathematik und Geometrie“, sagt Lotte. „Die Strecken Graz-Davos und Graz-Brünn haben einen Innenwinkel von 115 Grad“, sagt Fritz. Lotte schaut zu, wie er die Höhe ins Dreieck einzeichnet. Dann berechnet er den Flächeninhalt.

Ob er noch etwas dazuschreiben möchte für Mama, fragt Lotte, auf ihrem Briefbogen sei noch Platz für einige Sätze.

„Warte“, sagt Fritz und zeichnet die Strecken zwischen Davos und Klagenfurt und Klagenfurt und Brünn auf der Landkarte ein, mit feinen Bleistiftstrichen, wie schon davor. Misst wieder die Strecken und die dazugehörigen Winkel.

„Gib her.“ Mit blauem Buntstift setzt Fritz dieses Dreieck auf die freie Fläche von Lottes Brief. Größer als die Ortsnamen schreibt er „Mama“, „Alfred“, „Lotte und Fritz“ an die Scheitelpunkte des Dreiecks.

„Wenn Mama die Schulden abgezahlt hat, wenn sie aus Davos zurückkommt und wir wieder zusammen wohnen“, sagt Lotte, „dann gibt es kein Dreieck mehr, dann führt von uns weg nur mehr eine Linie nach Graz zu Papa und Helga.“

Dass Großmama die Zwillinge nach Brünn geholt hatte, um etwas an ihnen gutzumachen, das hat Lotte schon auf ihrem Lauschplatz erfahren. Als Frau Dermus zu Besuch war, eine Busenfreundin aus Großmamas Schulzeit in Wien. Die beiden saßen im Herrenzimmer. Lotte sollte sich vorstellen kommen, was vor allem Knicks machen hieß und auf Fragen antworten, das kannte sie schon. Fritz war an diesem Nachmittag mit den Pimpfen unterwegs zum Helgolandfelsen. Lotte beneidete ihn. Dafür konnte sie ungestört hinter den Türflügeln stehen und lauschen. Dass Papa ein Luftikus sei und sie sich dafür geniere, hörte sie Großmama sagen. Wie sie zu so einem Sohn käme, der Berufe und Frauen wechsle wie Unterhosen.

Lotte wunderte sich über diese Worte. Von Papas wechselnden Berufen und Frauen und Unterhosen hatte Großmama vor Leuten noch nie etwas gesagt, es war immer nur von einem Beruf die Rede: Hoteldirektor. Großmama hatte das den Kindern gleich am Tag ihrer Ankunft gesagt, am Abend, als ihr Sohn schon wieder unterwegs war nach Graz.

„Euer Vater ist Hoteldirektor am Semmering. Das glauben hier alle, und sie sollen es weiterhin glauben.“

Papa hatte einmal am Semmering gearbeitet, vor langer Zeit, das wussten die Kinder. Als Buchhalter im Südbahnhotel. Und zur gleichen Zeit arbeitete Mama dort in der Küche. Dann kamen Papa und Mama zusammen, hieß es, obwohl Papa schon eine Liebschaft hatte unter den Angestellten. Papa ist einer, der ständig irgendeine Liebschaft hat, das hörten die Kinder von klein auf, die Kärntner Großmutter sagte es immer wieder, und dass sie sich da kein Blatt vor den Mund zu nehmen gedenke. Ihre Tochter hatte auf ein falsches Pferd gesetzt, das wussten alle Besucher von Großmutters Gasthof in Kirchbach.

Was Liebschaft bedeutet. Bei Besuchen in Kirchbach mussten Lotte und Fritz im Zimmer der Kellnerin schlafen. Wenn die spätabends kam, war manchmal ein Gast an ihrer Seite. Im Halbdunkel konnten die Kinder sehen, wie die Kellnerin zuerst zum Waschtisch ging. Sich Gesicht und Hände und unter den Achseln wusch. Dann den Haarknoten löste. Eine sehr reinliche Person nannte die Großmutter ihre Kellnerin. In der Früh, wenn der nächtliche Besuch schon weg war, leerte sie das Wasser vom Abend in den Kübel. Goss frisches Wasser ein. Mit dem nassen Lappen fuhr sie zuerst übers Gesicht. Danach öffnete sie die Knöpfe ihres Nachthemdes und wusch ihre Brüste, dann die Achseln. Zum Schluss stellte sie die Schüssel vom Waschtisch auf den Boden und hockte sich darüber, um sich unten zu waschen. Das Nachthemd wie ein Zelt über der Schüssel.

In der Wirtsstube hörten die Kinder über die Liebschaften der Kellnerin reden. Wenn sie in der Nacht Besuch gehabt hatte, wechselte sie in der Früh das Leintuch, das war den Kindern aufgefallen. Die Großmutter hielt viel von sauberen Leintüchern und nichts von dreckigen. Weil die Kellnerin eine so saubere Person war, muss der Dreck von den Männern gekommen sein.

Emmas Unglück mit ihrem böhmischen Mann hatte sich herumgesprochen, und wie sie dieser Ehe ein Ende gemacht hatte. Wie sie eines Tages mit demselben Zug wie Pavel von Kirchbach nach Villach gefahren ist, mit dem Wintermantel und der Pelzkappe einer Freundin. Wie sie in Villach und in Bruck an der Mur umgestiegen, immer mit demselben Zug wie Pavel bis Graz weitergefahren ist. Wie sie dort mit derselben Straßenbahn in die Stadt hineingefahren und Pavel bis zu dem Haus gefolgt ist, in dem sie immer noch ihre Mietwohnung hatten, in der Klosterwiesgasse. Wie sie dort bei den Nachbarn gewartet hat, bis im Schlafzimmer nebenan das Licht ausging. Wie sie dann die Wohnungstür aufgesperrt hat und durch den dunklen Gang geschlichen ist. Wie sie die Schlafzimmertür geöffnet hat. Wie Pavel gesagt hat: „Emma, bitte schalt das Licht nicht ein!“ Wie sie dann die Nachbarin herbeigeholt und wie Pavel vor dieser Zeugin endlich in die Scheidung eingewilligt hat.

In flagranti, dieses Wort machte in Kirchbach die Runde, für die Kinder klang es exotisch, mindestens italienisch. In der Wirtsstube und auf dem Dorfplatz hörten Lotte und Fritz, dass sie stolz sein könnten auf ihre Mutter, die ihren Mann in flagranti ertappt habe. Mut und Entschlossenheit habe die Mutter gezeigt. Das ganze Dorf fand, dass dieses Inflagranti das richtige Mittel gewesen war, den Schürzenjäger loszuwerden. Nur die Kellnerin sagte kein Wort dazu.

Pavel Prochazka, Graz, 1940

Pavel sitzt vor dem Restaurant im Hilmteichschlössl an einem Tisch und stopft seine Pfeife. Dann schaut er sich um. Ob inzwischen jemand gekommen ist, den er kennt. Fast immer ist irgendwer auf der Terrasse, mit dem er ein Gespräch führen kann, zumindest ein paar Worte wechseln. Heute ist kein bekanntes Gesicht zu sehen. Niemand erwidert seinen Blick. Der Kellner kommt und bringt ein Glas Rotwein. Pavel zündet die Pfeife an und beginnt zu paffen. Er liebt diesen Teich. Die Spiegelungen der Bäume und Büsche im Wasser. Das Beobachten der Paare und Familien bei ihrem Spaziergang rund um den Teich. Auch mit Gisela, seiner jungen Verlobten, ist er schon am Ufer entlangpromeniert. Sie trug ein eng tailliertes Kleid, blau, mit weißen Tupfen. Vorne eine Schleife. Nach einer Runde um den Teich saßen sie hier auf der Terrasse. Pavel erzählte Gisela von Brünn. Dass ihn Graz immer an seine Heimatstadt erinnere. Der Schlossberg hier sei der Spielberg dort. Die vielen Jahrhundertwendehäuser in beiden Städten. Als junger Mann wollte er weg von Brünn, das er wie so viele nur als Vorort von Wien angesehen hatte. Mittlerweile spürt er manchmal Heimweh. Bei seiner nächsten Fahrt nach Brünn sollte Gisela ihn begleiten. Doch weder seine Eltern noch die Zwillinge wissen etwas von ihr. Stattlicher Herr sucht Dame mit Vermögen, lautete das Inserat, auf das hin er siebenundzwanzig Briefe erhielt. Die meisten Frauen stellten sich als Witwen vor und fragten, ob Pavel auch noch einrücken müsse. Nein. Das hatte er regeln können. An Kontakten fehlt es ihm nicht. Er ist Mitglied der NSDAP. Sogar Frauen haben sich für ihn bei ihren Männern verwendet. Ein ärztliches Zeugnis und Kontakte bewahren ihn vor der Kriegsfront.

Diese Witwen waren Frauen mit Kindern. Das war nichts für ihn. Er antwortete nicht einmal auf ihre Briefe. Er schrieb nur einer. Der Jüngsten. Einundzwanzig war sie. Ein schönes Gesicht. Und diese Offenherzigkeit, mit der Gisela sich bei ihm vorgestellt hatte in ihrem Schreiben auf teurem Papier. Sie gab an, dass sie Jungfrau sei und ein wenig hinke. Das Wort Jungfrau trieb sofort Blut in sein Geschlecht. Eine unerfahrene Frau zu beglücken erschien ihm jetzt als höchste Lust. Da konnte er leicht hinwegsehen über ihren holprigen Gang. Sie würde seine Schulden begleichen. Diese Aussichten fesselten seine Gedanken so sehr, dass er auf den Geburtstag der Zwillinge vergaß.

In Brünn würde er Gisela im Hotel am Krautmarkt einquartieren. Seitdem die Kinder bei den Eltern in der Pellicogasse wohnen, ist das Gästezimmer durch Lotte besetzt. Er selbst übernachtet nun auf dem Sofa im Herrenzimmer. Ob er Mama fragen sollte um das Gästezimmer für Gisela, vielleicht könnte Lotte für drei Nächte auswärts schlafen, bei einer Schulkameradin. Oder in seinem alten Zimmer bei Fritz. Die Kinder haben früher doch immer zusammen geschlafen in einem Bett. Morgen würde er vom Büro aus ein Ferngespräch führen, seit einem Jahr gibt es auch in seinem Brünner Elternhaus einen Telefonapparat. Davor musste er immer in der Kleiderfabrik anrufen, im Büro seines Vaters.

Pavel lehnt sich zurück und lässt Rauchkringel in die Luft aufsteigen. Vorne am Teich schwimmt eine Ente mit sechs Kücken. Eine Mutter hebt ihr Kind aus dem Sitzwagen. Deutet mit dem Arm hin zu den Wasservögeln. Pavel denkt kurz an Emma. Wie weit weg sie ist von ihren Kindern. Mama hat Emma neulich sogar eine Heldin genannt. Obwohl sie nie Freude hatte mit dieser Schwiegertochter. Seit fast einem Jahr sind die Zwillinge nun schon in Brünn. Eine große Erleichterung. Mama verlangt kein Kostgeld. Die beiden scheinen jetzt fröhlicher zu sein als auf ihrem letzten Wohnplatz im Gailtal. Da haben sie bei Frau Jamnik gewohnt, einer pensionierten Lehrerin. Emma war bei Frau Jamnik zur Schule gegangen.

Wie es Alfred, dem Zweitältesten geht, weiß Pavel nicht. Mit Alfred hat er keinen Kontakt mehr, der Bub ist ganz auf Seiten der Mutter. Die Zwillinge sind nicht so parteiisch, mit kleinen Geschenken kann Pavel sie jedes Mal von Neuem für sich gewinnen.

Über Helga, die Älteste, macht sich Pavel die meisten Gedanken. Ob sie unglücklich verliebt sei, fragte er sie, damals, als sie ihn um seine Einwilligung bat, ins Kloster gehen zu dürfen. Vielleicht war er zu streng mit ihr gewesen. Hatte ihr als Kind zu oft gesagt, sie würde keinen Mann bekommen mit ihren dicken Beinen. Elefantenstampfern. Und mit der großen Nase. Eine Zeit lang steckte Helga zu Hause eine Kluppe an die Nase. Atmete nur mehr durch den Mund, damit die Nase nicht weiterwuchs.